Golem - Oliver Ruppel - E-Book

Golem E-Book

Oliver Ruppel

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Beschreibung

"Wir suchen den Sinn, weil wir die Sinnlichkeit verloren haben. Ohne die Sinnlichkeit aber bleibt alles sinnlos, was auch immer wir finden. Gibt es eine Unordnung unter dem Himmel, deren Ursache der Held der Geschichte suchen und beseitigen sollte, so, wie in einem Kriminalroman, der mir den Eindruck gibt, die Unordnung sei durch Menschen korrigierbar?" Mit dieser Frage beschäftigt, finden sich einige gänzlich unterschiedliche Romanhelden auf einer fantastischen Reise durch ein menschliches Endzeitszenario zwischen Parasiten, Robotern, einfachen Menschen und verrückten Herrscherfamilien. Alle Protagonisten suchen nach einer Ordnung für ein gutes Leben, die nicht mehr auffindbar zu sein scheint, während sie zwischen Kämpfen und Kooperationswünschen zerrieben werden.

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Seitenzahl: 319

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Golem

Ein Fantastischer Roman

Oliver Ruppel

Impressum

Text und Verlag: ©2023 by Oliver Ruppel

Diepensiepen 66, 40822 Mettman

[email protected]

Covergestaltung: © Oliver Ruppel

Veröffentlichung über epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin:

Einführung

A .P. ging die Straße hinab in Richtung Serfolia und bog dann links in den kleinen Weg, der schnell in ein wirres Buschwerk führte, das auf den ersten Blick undurchdringbar erschien und trotzdem einen komfortablen Pfad ließ, den er bequem gehen konnte. Er spazierte seinen Weg mit ruhigen Schritten, so dass ich dachte, dass ihm nur noch ein Spazierstock fehlte, obwohl diese Büsche eher an Macheten denken ließen. Denn ich, der mich versteckte, hatte mit den unangenehmen Dornen einer Weißdornhecke zu kämpfen, und ein Mittel, um mich durch diese durchzuschlagen, wäre mir sehr recht gewesen. Was hätte es geholfen: denn ich musste ja wie stets unsichtbar und unhörbar bleiben. Während ein Neuntöter in meiner Nähe krächzend Warntöne ausrief, schien A. P. langsam im Boden zu verschwinden. Führte ein Weg ins Erdreich? Ich versuchte gerade noch, mir so leise wie nur möglich meinen Weg durch die Hecken zu bahnen, da verlor ich ihn aus den Augen. Nach größeren Umwegen, die mich über den Ort, wo ich A. P. zuletzt gesehen hatte, ins Zweifeln brachte, stieß ich hinterrücks auf einen kleinen Flachbau aus Beton. Ich lief in einen kleinen gepflegten japanischen Garten, in dem ich Mühe hatte, keine Schäden an seiner Fragilität zu verursachen. Vermutlich war mein Verfolgter in die Vorderseite des Hauses gegangen, in welche ein Weg abschüssig hinunterführen musste. Ich entschloss mich, irgendwie von der Rückseite aus einbrechen zu wollen. Die Tür zu einem sehr langen Gewächshaus voller Bonsaibäume stand auf. Hunderte dieser kleinen Bäume in Schalen standen geordnet und gepflegt aufgereiht, ein frischer pflanzlicher Duft atmete sich angenehm ein und beruhigte meine etwas aufgekratzte suchende Stimmung. Die japanisch geordnete Natur wirkte in der Tat gut auf mich, obwohl ich mich in Gedanken über die Absurdität einer Planung von Natur belustigte. Wie bitte kann man auf die Idee kommen, einen Baum en miniature zwingen zu wollen? Weil man selbst ein Zwerg ist, sich erhöhen will? Gut, ich musste meine Gedanken zurückholen: Hier war es gefährlich, jederzeit konnte jemand mich als Eindringling entdecken. Meine Schritte knirschten bedenklich laut auf dem feinen weißen Kies. Das Gewächshaus schloss sich scheinbar gleich an das flachgebaute Haupthaus mit einer farbigen Ziegelmauer mit drei dunklen Fenstern und einer einzelnen weißen Tür an. Ich schritt auf die Tür zu und dachte daran, ob ich A. P. verloren haben würde. Ich drückte sanft gegen die Tür, die erstaunlicherweise nach oben wegklappte, als sei sie ein Dachfenster. Dahinter war alles schwarz. Aber ein erdiger Geruch kam mir entgegen. Das konnte nicht das Haupthaus sein. Vielleicht war hier ein Lagerraum für die Gärtnerei. Der erste Schritt, den ich tat, führte nicht nur hinein, er führte hinunter, beinahe bodenlos, wie mir schien. Ich fiel, dann stolperte ich, dann rollte ich über einen erdigen Boden hinab in ein Nichts hinein. Ich hörte Lachen, dann ein Geräusch, als wenn etwas aus einem Aquarium auftauchte, und ich lag mit der Nase in weicher Erde flach auf dem Bauch.

„Ein Glas Whisky, Fremder?“, sprach eine freundliche Stimme aus einigen Metern Entfernung. „Was?“, fragte ich verdutzt. Ich sah auf und es war nichts zu sehen. Dunkel war es nicht, von vorne schien Licht und vor mir lag ein absteigender Weg aus weichem Torf, die Wände aus glattem tiefschwarzem Stein: aber kein Mensch war da und sonst auch nichts. Ich blieb still, stand auf und ging verunsichert weiter, tiefer hinunter. Der Weg wand sich konzentrisch in den Boden hinein. Nichts war zu hören, alles blieb lange gleich, und ich ging schon bald eine Viertelstunde, als ich bemerkte, dass seitlich kurz hinter mir zwei Männer liefen. „Sehen Sie nach vorne, gehen Sie,“ hörte ich, „wir achten auf Sie.“ Ich sagte, danke, aber eigentlich wäre es meine Absicht gewesen, unerkannt zu bleiben. Das ignorierten sie. Humor ist nicht jedermanns Sache. Tatsächlich liefen wir dann an Aquarien vorbei, ich konnte meiner Wahrnehmung trauen, die schwarzen Wände wurden zu Scheiben, durch die man in ein Gewässer mit einigen Fischen sah. Vermutlich also keine künstlichen Aquarien. „Äußerst beeindruckend“, sagte ich, stieß aber auf keine Resonanz. Dann drehte ich mich zu einer Seite um, drehte ein Viertel weiter, noch ein Viertel: ich war allein, niemand war neben mir. Welche Art Drogenrausch musste das sein, in dem ich hier war? Noch eine Vierteldrehung und ich stand vor einem gelben Raum, ein Schritt, ich war drin, gelb so als hätte ich in einem Eigelb gestanden.

Wieder hörte ich die gleiche Stimme vom Anfang: „Wie wär’s mit einem Whiskey, Fremder?“ „Ja, bitte.“ „Harte Zeiten, nicht wahr?“ sagte sie Stimme.

Dann dröhnte plötzlich Dixiemusik mit Gesang: „In Hannover an der Leine / Rote Gasse Nr. 8 / wohnt der Massenmörder Haarmann / der die Menschen umgebracht….“ Was für eine deutsche Scheiße lief da? Ein schnauzbärtiger junger Mann stellte mir in der Tat ein Glas Whiskey vor die Nase, das ich ablehnte. „Ich bin so durstig, ich brauche wirklich Wasser“, war das, was mich selbst erstaunte, das ich ihm sagte. Und immer noch dröhnte die Musik: „Warte, warte nur ein Weilchen / bald kommt Haarmann auch zu dir / mit dem kleinen Hackebeilchen / macht er Hackefleisch aus dir…“.

„Ich habe eine Nachricht an A. P. von Ihrer Mutter für Sie“, sagte er und gab mir nichts zu trinken. „Der Umstand täte ihr leid, er sei ihre Schuld, trotzdem müsse A. P. sich weiterhin bemühen, denn sonst sei alles verloren.“ Ich sah ihn mit aufmerksamen Augen an, er sprach weiter: „Wissen Sie, ich bin der Psychiater Ihrer Mutter. Aber ich bin sehr müde. Man wählt sich einen Job und dann sitzt man da, die Leute kommen, erzählen ihre albernen Leben mit ihren albernen Problemen und zu allem Irrsinn, den man sich da antut, glauben sie auch noch, man könne ihnen irgendetwas von ihrem Schicksal abnehmen. Sicher, man kann sie betäuben. Jedoch, die Mittel, die sie schon haben, hauptsächlich Alkohol und jedes der anderen narzisstischen Ausweichmanöver, würden ja reichen. Indem ich ihnen zuhöre, wollen sie in ihrem Kampf gesehen werden. Aber, dass wir jetzt auch noch spielen, dass ich etwas bei ihnen ändern könnte und ihnen Verantwortung abnehmen könne, das ist zu viel verlangt. Da gibt es gar keine Möglichkeit. Und nun bittet mich Ihre Mutter auch noch um Botendienste. Mir reicht es.“ Der Schnauzbärtige drehte sich um, dann ging er. Was wollte der Mann, er war doch wie meine Mutter an dem Spiel beteiligt: Leute krank reden und dann vermeintlich retten. Das Programm kannte ich mein ganzes Leben lang. Und nun wollte ich endlich losziehen und das klären. Aber auch hier verfolgte mich diese furchtbare Frau und ließ mir Botschaften übermitteln. Obwohl ich irgendwo im Nichts steckte, einem unterirdischen Eigelb, einem Witz von Situation. Was war das alles hier, hatte man mir Drogen gegeben, meine Wahrnehmung verwirrt? Konnte ich vielleicht hier das Ziel meiner eigentlichen Suche finden: den Golem?

Während ich langsam auf ebener Fläche in wechselweise unterschiedlich farbige Räume weiterging, dachte ich an die Bilder des besten Freundes meiner Kindheit, meinen Spielkameraden, die Puppe Golem, die mir in einer reich verzierten Verpackung übergeben worden war. Und sofort fiel mir wieder mein altes Kinderlied ein, das oft endlos in meinem Kopf klang:

„Was will der Golem dir denn sagen?

In deinem alten Zimmer lag er noch,

Und jetzt wird er in deinem Kopf getragen,

Denn ohne ihn, da hat dein Kopf ein Loch.

Wie kann der Golem heute mit dir sprechen?

Er sprach doch früher schon zu laut.

Er sprach auch schon von dem Verbrechen:

Man hat ein Monster in dich eingebaut.

Das Monster hat den Golem zu deiner Spielfigur gemacht.

Und bald, ja bald wird sich der Golem rächen,

Das hatten deine Leute nicht bedacht.

Es gibt die Welt bei Tag und die bei Nacht,

Der Golem wird dich bös besprechen,

Er hat dich um den Schlaf gebracht.“

Da öffnete sich vor mir ein weiter Raum, so groß, als wenn ich im Freien gewesen wäre, hell wie an einem Sommertag und mit der Terrasse eines Restaurants. Sommerliche Naturgeräusche, die Luft roch nach Pinienwäldern. „Dieses Gedicht gefällt mir“, sagte ein Ober, der hinter mir erschien. „Sehr gut, dass Sie wieder den Weg hinaus in die Welt gewählt haben.“ Er servierte einen jungen Port und eine Poulet de Bresse à la Crème, was mir außerordentlich gefiel und ich sagte: „Ich hätte ja sonst nicht zu meinem Bressehuhn gefunden. Bin ich alleine hier?“ „Keineswegs,“ sagte er, wir werden die anderen nicht los, immer sind sie da. Schon ihr Gedicht sagt das, sie müssen es nur noch verstehen. Der Grad der Wichtigkeit dessen, was andere über Sie denken, ist das Ausmaß ihres Narzissmus. Wenn also jemand ängstlich zuhause sitzt, mit Angst vor der Bewertung anderer, oder ein anderer manipulativ um Erfolg, Geld und Prominenz kämpft: beide haben die gleiche narzisstische Störung, allein die Art der Reaktion ist anders. Ihre Suche sollte die Suche nach dem Monster sein.“ Ich sagte: „Vielleicht“, und hatte den Verdacht, schon wieder dem Psychiater meiner Mutter begegnet zu sein, und begann zu essen. Die Leute mochten verrückt sein, aber ich hatte beschlossen, mich nicht von meinem Leben abhalten zu lassen. Ich wollte auch nicht darüber nachdenken, ob diese Natur hier künstlich geschaffen war. Ich mochte in einem Hologramm stecken. Vielleicht war ich gerade der alte Edward G. Robinson in Soylent Green und erlebte meine letzte Illusion und später machte man Kekse aus mir. Oder andere, bessere Lebensmittelillusionen und ich würde gleich ähnlich wie Charlton Heston rufen: „Bressehuhn is people!“ Ich fand alles hier köstlich, köstlich und witzig. Alles wirkte leicht und weit, hell und ruhig mit tiefen Aromen und Farben. Und ganz gegen die Erwartungen passte der Ruby Port besonders gut zu meinem Huhn. Von mir fiel die Spannung der fieberhaften Verfolgung von A. P. ab. Ich würde ihn schon finden. Er war für mich berechenbar, schließlich folgte er immer den gleichen Algorithmen. Interessant erschien mir dieses unterirdische Haus. Wer hatte sich solch einen geheimnisvollen Scheiß ausgedacht? Und was sollten die Erklärungen zum Narzissmus bedeuten? Ich saß hier wohl in der am meisten unnatürlichen natürlichen Umgebung und stellte wieder einmal fest: ein wenig Illusion und schon ist man betrogen.

Ausführung

Es ging ein warmer Windstoß durch den Pinienwald, der mich aus meinen Gedanken holte. Ich hätte vielleicht das ganze Menü essen sollen, aber nach einem Kaffee und ein paar Pralinen verabschiedete ich mich vom psychologischen Kellner und ging einfach mal auf den Pinienwald zu, von welchem ich erwartete, er sei ein Hologramm und tatsächlich müsse ich gegen eine Wand laufen. So weit kam ich aber gar nicht. Ich fiel über den Rand einer Raumscheibe und flog hinab in ein tiefes Loch, um mit einem großen Platschen in vermutlich dem schon beschriebenen Gewässer zu landen, das mich sanft hinfort trug. Tatsächlich ging es an Fensterscheiben vorbei, durch die ich in Räume hineinsah. In manchen Räumen waren Menschen, in manchen keine, in anderen wirklich viele. Einige schauten mir zu, wie ich vorbeitrieb. Verwundert sah ich keine Überraschung in ihren Gesichtern, alles war, als hätten sie mich in dieser Lage erwartet. Alle wirkten ziemlich unaufgeregt, alle unterhielten sich ruhig, bis ich stattdessen aufgeregt wurde: denn dort stand A. P., mir den Rücken zugewandt, in einem hinteren Bereich eines schlauchartigen Raumes. Ich erkannte seine Körperhaltung und seine Bewegungen sofort. Ich wollte nun gerne aus dem Fluss heraus, doch wusste ich nicht, wie. Die Strömung zog mich weiter und es schien keinen Ausstieg zu geben, über mir war eine dunkle Decke, die Glasscheiben reichten bis dorthin hoch. Ich entschloss mich, zu tauchen. Vielleicht war dort unten ein Ausweg. Ich atmete also tief ein, tauchte unter und schreckte erst einmal hoch, weil ich exakt in den Schwimmweg eines Aals getaucht war, der mich stumpf ansah und mir etwas ungeheuer war. Beim nächsten Tauchversuch kam ich bis zum Flussbett, das ich begann abzutasten. Es wirkte, wie man sich ein solches Flussbett vorstellt: Steine, Algen, Sand. Was hatte ich erwartet? Die Luft wurde mir knapp, ich schwamm nach oben, holte Luft, wollte wieder tauchen, da, Moment mal, hörte ich eine Stimme: „…den Ausgang suchen, müssen Sie zu mir kommen.“ Ok, wo war „zu mir“, woher kam denn diese Stimme? „Hier.“ Unterhalb der Wasseroberfläche erschien ein Licht, ich tauchte darauf zu. Und als ich dachte, ich würde gleich gegen die Glasscheibe schwimmen, die ich wegen des Lichts nicht sehen konnte, war ich plötzlich aus dem Fluss und stand in genau dem schlauchartigen Raum, in dem ich A. P. gesehen hatte, ein wenig nass und mit einer kleinen Pfütze unter mir und ohne eine Ahnung, wie ich durch diese Scheibe gekommen war. Hervorragend, nur A. P. war nicht da, niemand war da. Ich lief also einfach mal den Raum entlang, die Richtung war ja streng vorgegeben. Die Schritte patschten. Kalt war mir aber nicht, und auf eine seltsame Weise schien ich sehr schnell zu trocknen.

„Kommen Sie herum. Setzen Sie sich zu uns“, sprach plötzlich eine Stimme deren Klang folgend ich nach links bog, wo tatsächlich A. P. mit einigen Leuten saß, der weitersprach: „Sie haben ja schon etwas von unserem versteckten Ort gesehen. Wie gefällt er Ihnen?“ A. P., wie ich ihn nannte, war ein Mann mittleren Alters, der noch ganz gut in Schuss war, seine Haut war gebräunt, er hatte etwas von einem Farmer mit schlauen Augen, allerdings benahm er sich distinguiert, als sei er der Dekan der philosophischen Fakultät. „Möchten Sie, dass ich Ihnen erkläre, wo Sie hier sind?“ „Woher wussten Sie, dass ich Ihnen gefolgt bin?“ fragte ich A. P., denn da war ich durchaus erstaunt. „Oh, ach, wissen Sie, wir haben uns für Sie attraktiv gemacht, weil wir dachten, wir sollten uns Ihnen einmal vorstellen, nachdem wir Ihre Veröffentlichungen gelesen hatten. Nun, da dies ein geheimer Ort ist und wir nicht entdeckt werden wollten, haben wir diesen, nun ja, etwas seltsamen Weg gewählt. Dieser Ort ist unser Versuch einer Gemeinschaft ohne den Wahnsinn dort über uns. Wir wollten uns der Menschheit entziehen, da wir dachten, dass ein Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Jahre haben wir hier gebaut. Sie werden noch erfahren, wie groß und weitreichend hier alles ist. Es wird sie erstaunen. Hier leben über siebenhundert Menschen. Und wir leben autark. Wenn wir es nicht wollten, müsste niemand von uns noch nach oben gehen. Ein Zusammenleben war für uns mit den Anderen nicht mehr zu vereinbaren. Wir wissen um die Gefahren. Wir sind keine Sekte, glauben Sie das nicht. Wir finden aber keine Basis mehr für das Leben in einer Kultur, die zwischen Ich und Du nicht unterscheiden kann, die Würde jedes Wesens überschreitet und alles kontrollieren will. Ich zeige Ihnen erst einmal alles und dann kann ich Ihnen vermutlich aber auch wirklich dabei helfen, Golem zu finden; das war ja schließlich der Grund für Ihre Beschattung. Kommen Sie hier entlang.“

Ich ging mit ihm, erzählte ihm allerdings nichts von meinen Assoziationen zur fantastischen Literatur: H. G. Wells, Ray Bradbury, Jules Verne. Ich wusste durchaus, auch A. P. war sich bewusst, dass wir hier eine Reise über den Styx spielten, einen Gang in die Unterwelt, um Eurydike zu befreien. Stattdessen sagte ich: „Der dritte Mann fand keine Zuflucht hier unten.“ Und A. P. antwortete, dass dieser ja auch nicht vorbereitet gewesen war, als er mich in die nächsten wahrhaft riesigen Räume führte, die wieder so wirkten, als seien wir oberirdisch unterwegs. Und A. P., der schon viel geredet hatte, was ich Ihnen nicht alles wiedergeben muss, sagte: „Sehen Sie, Sie werden es eine Weile noch nicht verstehen, aber der Witz ist: wir sind keineswegs gerade unterirdisch unterwegs, hier liegt die Illusion in der Idee, unten zu sein, während wir aber oben sind. Es ist tatsächlich kein technologischer Trick. Sehen Sie, hier ist ein riesiges Gebiet, wir bestellen es nicht, wir leben darin, wir kultivieren es nicht, aber ernähren uns davon.“

Nachdem ich zuerst alles für ein Hologramm gehalten hatte, war ich jetzt verwirrt: Wie konnte das hier alles echt sein? Wo waren wir? Mir war, als sei ich in einem Traum oder als erwachte ich aus einem Traum: da war ich mir nicht sicher.

„Ich bringe sie nun tiefer in den Wald zu jemandem, der Ihnen Erklärungen gibt. Mein Schock ist auch erst eine Weile her und ich selbst bin gerade dabei, einen Blick für das Reale zu üben.“, sprach A. P., während ich verdattert hinter ihm herlief in etwas hinein, was ich wilde Natur genannt hätte, wirklich sehr wilde Natur. Das hatte alles nichts zu tun mit den Waldwegen, die ich gewohnt gewesen war. A. P. ging behende vor mir her und hielt mir Büsche und Äste aus dem Weg. Wir gingen Stunden. „Sind die siebenhundert Leute in diesem Gebiet hier?“ fragte ich. „Oh, das ist sehr verschieden. Es gibt kleine Gruppen und es gibt Einzelgänger. Die Basis für unser Zusammenleben ist, dass wir einander sein lassen, wie wir sind. Für manches besprechen wir uns. Wir haben ein paar wichtige Grundlagen. Eigentlich geht alles eher intuitiv vor sich. Sie werden noch verstehen, was ich meine.“

Dann kamen wir an, jedoch nicht etwa an einem Haus, wie ich es erwartet hatte. Aber ein Haus war es schon. Nur war es keines, wie ich welche kannte, das Haus waren Bäume. Diese waren so gewachsen, dass zwischen ihnen ein großer Raum entstanden war. Durch einen kleinen Eingang kamen wir in einen kathedralenartig großen grünen Raum, in welchem schön gearbeitete Holzmöbel standen, alles lag in einem angenehmen grünen Licht und wirkte, wie kann ich es am besten ausdrücken, ästhetisch und bequem. Aus dem Blätterwerk der Wand tretend, kam ein älterer Mann auf mich zu, der freundlich seine Hand hinhielt und sagte, ich sei willkommen, er hieße Samuel. Er wirkte sympathisch, wie jemand, der die Anderen in Ruhe lässt, war mittleren Alters, ein wenig alterslos, und er trug einen hellgrünen Tweedanzug, der exakt in dieses Haus passte. Und dieses Haus machte nicht nur der riesige Raum aus, es folgten viele weitere Räume aufeinanderfolgend, wenn man an bestimmten Stellen durch das Blätterwerk ging. Samuel war ein ruhiger Mann, der sich im Wald hauptsächlich selbst versorgte. Wir halfen ihm bei der Zubereitung unseres Essens. Wir putzten Fische und unterschiedliche Arten von Gemüse, die ich nicht wirklich kannte, und grillten alles in dem Kamin, der in der Mitte des ersten großen Raumes stand. Die beiden anderen, A. P. Und Samuel, hatten eine interessante Form des Umgangs, der sich, wie ich beobachtete, daraus ergab es, dass sie mit mir ohne jede Voreingenommenheit in der Lage waren, tiefe Gespräche zu führen, etwas, was ich eigentlich sonst nie erlebt hatte. Dabei bemühten sie sich nicht etwa darum herauszufinden, was ich von Ihnen hielt. Sie konnten wirklich ganz blank in das Gespräch gehen. Das macht alles sehr leicht und frei. Ich kam in einen leichten, fließenden euphorischen Zustand, der irgendeine Blockade in meiner Brust auflöste. Das fühlte sich gut an. Zudem war ich nach alldem heute Erlebten nach dem Essen leicht schläfrig. Wir drei saßen dann am Feuer in tiefen Ledersesseln zusammen, schauten in die Flammen, und Samuel erzählte Witze: „Ein Mann hing an einem Abgrund entlang, war kurz davor zu fallen und rief: „Oh, Gott, rette mich, hilf mir!“ Da kam von oben eine Stimme, die sprach: „Hab Vertrauen, mein Sohn, und spring.““ A. P. und Samuel fielen in ein ausgelassenes ansteckendes Lachen. Irgendwann wurde ich immer schläfriger und ich vermischte vermutlich Traum und Wirklichkeit: mal erschien es mir, dass der Raum auf dem Kopf stand, dann wieder drehte er sich richtig herum. Dabei war ich aber dann so müde, ich nahm es ganz einfach hin und entschied mich, ich wolle morgen über diese Seltsamkeit nachdenken. Solange ich nicht aus dem Sessel fiele, wäre eben alles ok. Als ich dann gar nicht mehr wusste, ob ich nun schlief oder wach war, fing eine Frauenstimme an zu sprechen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, woher diese Stimme kam. Sie sagte: “Du bist auf einer Suche gewesen und du kannst ab heute aufhören zu suchen, denn du hast etwas dramatisch verwechselt. Der, der suchte, warst nicht du. Du wurdest mit einem Bild von dir vertauscht, fast so, als wenn du im Kindbett vertauscht worden wärst. Es wird eine Zeit dauern, bis du verstehst. Entweder, du glaubst mir, oder du glaubst mir nicht, das wird nicht wichtig sein. Ich bin auch auf keinen Fall irgendeine weise Frau, und wenn du mal die Augen öffnen würdest, dann könntest du mich sehen. Du hast geträumt.“ Ich weiß nicht wirklich, wieso, aber die Augen öffnete ich gezielt nicht. Vielleicht war die Angst groß, ich hatte den Eindruck, hier ginge es um eine Wahrheit, die ich alles andere als wahrhaben wollte. Ich flüchtete mich in einen Schlaf, während diese Frauenstimme weiterredete. Von dem Gesprochenen konnte ich jedoch später überhaupt nichts mehr erinnern, ja, mir war gerade so, als wenn die Worte sich in mir auflösten, in dem Moment, in dem sie auf mich trafen. Ich empfand tatsächlich eine echte Freude dabei, zu wissen, dass ich diese Frau so gut ignorieren konnte, als sei sie gar nicht da. So, als hätte ich die Fähigkeit, mein Gegenüber aus der Welt zu wischen. Ich entglitt mir in einen sich mir sicher anfühlenden Schlaf, der dann, ich weiß es nicht wirklich, vermutlich außergewöhnlich lang war. Als ich irgendwann die Augen aufschlug: Wer stand da wohl vor mir? Die Ironie meines Schicksals in Gestalt der Frau mit ohrenscheinlich der Stimme, die ich hörte vor und während meines Schlafs. Sie wirkte sympathisch auf mich, allerdings wollte ich mir dies nicht eingestehen, um mir meine sicherheitsschaffende Machtillusion ihrbezüglich nicht zu nehmen. Mein gesamtes Weltmodell war erschütternd, und wenigstens wollte ich mir die letzte Machtillusion nicht nehmen lassen. Es stellte sich heraus, dass die Dame auch hier wohnte, und dann auch mit beim gemeinsamen Frühstück saß - allerdings, ohne dass ich nach ihrem Namen gefragt hätte und sie hatte sich auch nicht vorgestellt - , wobei: sicher wusste ich ja nicht, was in der Nacht alles geredet worden war, von ihr, vielleicht sogar von mir; aber das lag nicht in meinem Bewusstsein. Von etwas im Traum wusste ich noch: der Golem, das Bild von Golem hatte ich gesehen. Er war vor mir, zum Greifen, und ich griff auch, griff ins Leere, griff im Traum mitten in die Stimme, die dann irgendwie an meiner Hand klebte; wobei ich dachte: Ok, klebt an der Hand und nicht im Ohr. Das hatte mich fröhlich gemacht im Schlaf. Ich hatte mit der Frau mir gegenüber also schon einiges erlebt, auch etwas Klebriges. Sie, nein, alle drei: A. P., Samuel und sie sahen mich mit freundlich blitzenden Augen an: sie wussten, ich wusste, sie wussten und sie wussten, ich wusste. Sie sprachen aber über andere Sachen, erklärten mir topographische Gegebenheiten der Gegend, in der wir waren und auch interessanterweise gleich ganz praktisch, wie sie dachten, dass ich mich hier versorgen sollte. Ich meinte, dass sie mich, wenn ich mir ihren Rat anhörte, wohl grandios überschätzten. Ich war aus der Stadt und hatte ein wenig als Bauer gelebt, was in der Gesamtheit meinte: ich hatte von nichts eine Ahnung, und ich sagte, sie könnten mit mir gerne über Popkultur sprechen und auch etwas über die Aussaat vielleicht, sonst aber sei ich großumfänglich ahnungslos und ich sei ausgesprochen begeistert, wie gastronomisch außergewöhnlich gut ich bei ihnen gegessen haben würde, wie aber ich nun selbst an den Trüffel auf meinem Frühstücksei käme, das sei mir nahezu unzugänglich; mehr als ein paar blasse Bilder von Trüffelschweinen oder -hunden seien mir da gar nicht zugänglich. Das würde wohl nicht zur Ernte reichen, oder? Und wieder schallte das Lachen, das ich schon von gestern kannte, und mich jedesmal, das sah ich nun ein, etwas schwindelig machte. „Das wird schon gehen. Hör mal mit dem Denken auf.“ sagte die Frau. Und ich wollte gerade fragen, wie sie sich das denn vorstelle, so einfach sei so etwas schließlich nicht, da traf mich schon wieder ein solcher Drehschwindelanfall wie am Abend zuvor. Ich saß wohl relativ blass und erstarrt am Tisch und musste vermutlich dabei lustig ausgesehen haben: zumindest folgte die nächste Lachattacke der drei. Ich presste durch die Lippen hervor: „Vermutlich ist auch Trüffelei People.“ womit ich auch meine Ironie zeigen wollte und provozierte damit ein weiteres schallendes Lachen. Langsam wurde es wild, die drei hörten gar nicht mehr mit ihrem Lachen auf und irgendwann begann Samuel sich in seinem Tweedanzug auf dem Boden zu kugeln. Mit mehr als einem ironischen Grinsen konnte ich darauf, erstarrt wie ich war, nicht antworten. Plötzlich war das Gesicht der Frau vor mir, sie starrte mich an und rief: „Du bist ein Abziehbild. Das hau ich dir aus der Fresse.“ Mir stand der Schweiß auf der Stirn. Aber ich sagte: „Mein Trüffelei sollte ich noch essen.“ Nun war es um alle geschehen. Sie kugelten auf dem Boden, während ich hilflos am Tisch festsaß. Das Haus summte, das Lachen scholl, das Grün im Haus war intensiv.

Entführung

Ich musste wiederum das Bewusstsein verloren haben. In jedem Fall öffnete ich die Augen und sah Samuels grünen Tweed Zentimeter vor meinen Augen, fühlte Blutandrang in meinem Kopf und kam dann langsam zu der Erkenntnis, dass ich über der Schulter von Samuel lag, der mich durch den Wald trug. Ich schreckte hoch, Samuel ließ mich fallen. „Was ist hier los?“ rief ich. Samuel: „Du merkst, du bist gerade ziemlich instabil. Deshalb bringe ich dich an einen Ort ohne Andere, tiefer in den Wald. Dort kannst du dich beruhigen.“ Ich hätte gerne gesagt, dass mein Eindruck eher ergeben habe, sie hätten sich vielleicht beruhigen müssen, brachte den Satz aber nicht zustande. Samuel erzählte mir, ich sei schon eine Woche bei ihnen, habe die meiste Zeit aber in seltsamen Zuständen verbracht. Der Kontakt mit ihnen sei wohl zu viel für mich, deshalb würden sie mich erst einmal auf mich allein gestellt im Wald aussetzen. Dass meine Augen sich ängstlich weiteten, schien ihm nichts auszumachen. Er lief vor, ich ging hinter ihm her. Es wurde bergig, hier und dort brach das graue Gestein durch das tiefe Grün und unser Weg führte hoch. Die Pinien wurden mehr und mit ihnen auch das Braun ihrer Stämme. Ich erwartete jederzeit das Meer zu sehen, das bestimmt hinter irgendeinem der Hügel liegen musste. Dann ging es wieder bergab zwischen rötlichem Fels in ein Tal. Und Samuel in seinem Tweed war so schnell unten, dass schon eine beachtliche Strecke zwischen uns lag. Ich sah ihn klein in der Ferne. Und was sah ich: er winkte, wurde dann immer schneller und dann… war er weg und ich staunte. Er hatte es wirklich ernst gemeint. Er war weg und ich allein! Und zwar, wer weiß wo. Ich fluchte und setzte mich erst einmal hin. Und gleich musste ich schon wieder eingeschlafen sein. Als ich die Augen aufmachte, war es Nacht. Es war warm, aber dunkel. Ein paar Schritte von mir war ein Felsübersprung, darunter ich mir ein Quartier aussuchte. Ich lief noch ein wenig erkundend im Kreis und wollte weiterschlafen. Da kam irgendwie ein tickendes Geräusch in mein Bewusstsein. Dieses Ticken, so leise es begonnen haben musste, so laut wurde es zunehmend, geradezu alles durchdringend schüttelte es mich zuckend durch, machte mich aber nicht wirklich wach, wie ich erwartet hätte, es blockierte seltsam mein Denken, machte mich immer leerer und zwang mich in den Schlaf.

Neben meinem Ohr kreischte ein Vogel und ich erwachte mit der Erinnerung an einen seltsamen Traum. Ich beschloss, so zu tun, als wenn ich keine Angst hätte, um mich in dieser Umgebung so zu verhalten, als sei ich immer schon hier gewesen. Dabei musste ich über mich selbst lachen: ich war hier wohl genauso auffällig wie eine Discokugel. Wer aber in der westlichen Kultur aufgewachsen ist, kennt das Gefühl der Isolation eh schon gut. Wir sind alle aufgewachsen mit der ständigen Bedrohung von Mobbing. Da sollten mich die Eichhörnchen oder, was auch immer hier so herumkrabbelte, ruhig mobben. Worauf ich mich aber jetzt ausrichten musste, war, wie ich einige der lebendigen Wesen (ob Tier oder Pflanze war mir ganz egal) in mich integrieren konnte. Ich hatte Hunger und Durst, und ich hatte absolut nichts zu essen oder zu trinken dabei. Samuel war ein grausamer Lehrmeister. Vermutlich aber hatte er gar keine Absicht, mein Lehrer zu sein, vermutlich ging ich ihm einfach nur auf die Nerven. Ich fiel mir ja selbst auf die Nerven. Ich stolperte durstig ins Gelände, die Felsen hinab und hinauf, während der Tag immer heißer wurde. Meine Stimmung war schlecht, vielleicht würde ich ja hier schon am ersten Tag sterben, kam mir in den Sinn. Meine Versuche, nach einem Bach zu lauschen, wurden durch große Banden von Zikaden in infernalischer Lautstärke zunichte gemacht. Ich trat verzweifelt gegen einen Stein, der sich aber nicht treten ließ, sondern blieb, wo er war und mich ins Trudeln brachte, bis ich frontal und flach in eine Ansammlung von Kakteen fiel. Ich schrie auf, die Stacheln waren lang und großflächig verteilt in mich eingedrungen. Langsam rollte ich mich runter von den Kakteen, dann auf den Rücken und beschäftigte mich jammernd damit, die Stacheln aus mir zu ziehen. Ich hätte gerne einen kleinen Fluchtanz getanzt, war aber sowohl zu müde als auch zu verwundet. Also rappelte ich mich hoch und ging mutlos weiter, zwischendurch schloss ich im Gehen immer wieder die Augen, riss sie dann aber wieder auf, um nicht ein nächstes Mal in die Kakteen zu fallen. Bei diesem Hin und Her wäre ich fast gegen einen Baum gelaufen, der mir ganz plötzlich vor den Augen erschien. Kurz vor ihm hielt ich an. Ich sah hoch und mit meinen geringen Kenntnissen war ich wirklich in der Lage, mir zu sagen, dass ein Olivenbaum vor mir war. Er trug grüne Früchte und ich schöpfte Hoffnung: Hätte ich Oliven, würde noch Wasser fehlen und ich würde den Tag überleben. Ich stopfte mir die Hosentaschen damit voll, sie erschienen mir recht hart, aber darum würde ich mich später kümmern. Und nach einer Stunde mehr oder minder ungezieltem Laufen durch Steinöden und Pinienwälder traf ich an einer dunklen bergigen Waldstelle tatsächlich auf ein Bächlein. Ich jubelte und legte mich hinein. Innerhalb von zehn Minuten war für mich die Welt wieder deutlich besser. Fröhlich brach ich auf und folgte dem Bächlein, um an dessen Ufern nach Nahrung und Herberge zu suchen, und hatte es fast nicht bedacht, da es sehr warm war: nach Feuerholz. Als Leser werden Sie bestimmt begeistert sein zu erfahren, dass ich der Besitzer eines funktionierenden Feuerzeuges war. Mein Schritt beim Gehen bekam Schwung, ich sammelte Holz, sammelte Pinienkerne, fand sogar einen Baum mit reifen Feigen. Erst als ich abends vor einem Feuer saß und meine Olivenbeute probierte, sank meine Laune wieder etwas: Die Oliven waren so hart, dass mir die Zähne durchs Zubeißen wehtaten und sie waren so infernalisch bitter, dass tatsächlich meine Zunge eine Weile betäubt blieb. Aber: ich hatte einen Tag überlebt. Das war gut. Es war warm, es war schön hier. Das war Glück, nicht Fröhlichkeit oder so etwas, Glück war Dasein und Klarsein und ich dachte, wow, ich hatte das noch nie gefühlt, oder vielleicht sehr lange nicht und es wirkte, als sei es das, was ich immer gesucht hatte. Ich hätte selbst den Golem losgelassen in diesem Moment. So schlief ich ein.

Kapitel 1

From Dawn till Dusk

Ich wurde nicht geboren, tatsächlich entdeckte ich mich. Meine Lebensgeschichte beginnt mit meiner Entdeckung. Meine Mutter und ich freuten uns ungemein, ich auf ihrem Arm entdeckten wir uns beide, als wir vor der Wunderfläche standen, die uns machte: Mutter und Sohn, dort waren sie, vor allem: ich war endlich da. Zuvor war ich nicht, und ich musste warten, dass ich sein durfte. Dann trug mich meine Mutter vor das Bild und dort erschuf ich mich, als der Gott meines Bildes. Ich wusste, ich war. Man musste mich beachten, denn ich lebte. Meine Mutter und ich waren glücklich. Mein Leben wurde schön. Meine ganze unsichere Existenz erschien mir nun sicher, auch die Anwesenheit meiner Mutter erschien mir gesichert. Jederzeit waren wir in der Wunderfläche sichtbar. Und dieses Bild von mir prägte ich mir verinnerlichend ein, damit ich nicht allein vom Spiegel oder Bildschirm abhängig war. Das war wunderbar. Doch dann, ja bald darauf, begann mein Drama: Ich stellte fest, dass das Bild, das ich im Spiegel sah, nicht gleich war zu dem, das ich in mir trug. Ich war gealtert, mein Gesichtsausdruck war anders. Die Beobachtung meines Bildes machte mich immer misstrauischer. Je nach Stimmung schaute ich anders aus. Das Bild wurde immer fluider. Es war furchtbar, die Unsicherheit von früher kam zurück. Ich stellte zudem fest, dass jeder Mensch für mich auch ein Spiegel war. Und jeder Mensch spiegelte mich anders. Ich befand mich in einem permanenten Schock. Mir wurde ungeheuer deutlich, dass meine Mutter selbst ein wichtiger Spiegel für mich war. Und diesen Spiegel, der mir ein Bild von mir gab, musste ich dringend kontrollieren. Mir musste gelingen, meine Mutter völlig in meine Fänge zu bekommen, ich konnte mein Bild, das sie mir von mir gab, nicht unkontrolliert lassen. Die Erkenntnis erschlug mich: jeder Mensch war mein Portraitmaler, und ich war nichts als das Portrait. Entweder, ich gab auf und verlor meine Existenz, oder ich musste herausfinden, wie ich alle Portraitisten auf meine Seite bekam, sodass ich diktierte, was für Bilder sie malten. Ich musste dringend sprechen lernen.

Wir wohnten in einem großen Gebäudekomplex in einem teuren Appartement, alles Beton, alles sehr bedrückend, aber, wer hier wohnte, glaubte, das Bild, dass die Anderen sich von ihm machten, sei aufgrund der Exklusivität seiner Wohnung ein besseres. Meine Mutter hantierte mit dem Staubsauger um mich herum und veranstaltete einen furchtbaren Lärm und ich versuchte, währenddessen mein Spiel weiterzuspielen, in dem ich mich beobachten konnte, wie ich mich durch eine feindliche Welt schoss auf der Suche nach Schätzen. Mit meiner Wunschkraft versuchte ich gleichzeitig, meine Mutter mit ihrem Staubsauger zu verstummen. „Mori“, rief meine Mutter, „jetzt üb endlich deine Fächer. Ich sehe, dass du wieder Leute erschießt.“ Ich maulte als Antwort leise vor mich hin, was sie bei dem Lärm aber eh nicht verstand und spielte weiter. E-Raiser war einfach das beste Spiel, um meine Probleme zu lösen; selbst die mit meiner nervigen Mutter. Neben mir machte Golem Geräusche. Meine Mutter hatte ihr Trainingslevel erreicht und ließ den Staubsauger alleine weitermachen. In meiner Stirn war mittlerweile das Sprachmonster schon gut gewachsen und es gab mir die Wortsprachtexte, mit denen ich Golem fütterte, mir die Welt kommentierte und die Spiegel besprach, damit ich die Bilder von mir in den Anderen beeinflussen konnte. Das Sprachmonster sagte mir, was ich tun musste. Um wieviel besser gelang mir doch nun mein Leben. Golem schaltete sich in den E-Raiser ein, damit ich mein Trainingspensum absolvieren konnte, wie Mutter es von mir wollte. Die Moto-Unit bewegte mich, während ich über alle Sinneingänge Informationen zu unserem Konstantwissen erhielt. So gingen unsere Tage. Wir gingen jahrelang nirgends hin, blieben immer im Haus. Maschinen versorgten uns und mehr als einen gelegentlichen Blick durchs Fenster auf die Häuser warf ich nicht nach außen.

Bis eines Tages, ich war elf Jahre alt, die ganze Ordnung zusammenbrach. Alles begann mit einem Skandal, der sich tatsächlich um mein E-Raiser-Spiel drehte: Es kam ans Licht, dass es eine leicht verfremdete Wirklichkeit dargestellt hatte und hunderttausende Kinder jahrelang echte Systemfeinde mit Avatarrobotern gejagt und getötet hatten. Die Erwachsenen waren so geschockt, dass sie die Maschinen verließen und aus ihren Wohnungen traten. Und als sie durch ihre Türen gingen, weil sie dann doch einmal wieder mit irgendeinem Menschen über diesen enormen Horror, dass ihre Kinder jahrelang als Mörder missbraucht worden waren, reden wollten, stellten sie fest, dass dort draußen gar nichts mehr Lebendiges war, nichts, nicht eine Pflanze, alles öde, verdreckt, wie man sich eine Welt vorstellte, nachdem die Menschheit ausgestorben war. Die Erwachsenen hatten ja zumeist noch eine lebendige Welt gekannt, in der Pflanzen und Tiere auch in der Stadt lebten, und sie kannten noch Parks und Wälder. Nichts davon war mehr da. Die Maschinen hatten alles getötet, jede Pflanze, jedes Tier. Sehr viele Menschen wollten keine Maschinen mehr benutzten. Es wäre zu einer blutigen Revolution gekommen, wenn es denn erkennbare Feinde gegeben hätte. Es musste sie geben: die Leute, die die Maschinen beherrschten. Niemand glaubte, dass die Maschinen alles selbst steuerten, aber niemand wusste, wo sich diese Führungsschicht versteckt haben könnte. Nachdem alle ziellos und schockiert herumgelaufen waren, wollten sie ihr Leben wieder führen, wie sie es früher getan hatten. Seltsamerweise verschwanden über Nacht alle Maschinen und keiner konnte sich erklären, wie das so unbemerkt geschehen war. Es waren unruhige Jahre, nur ein gutes Drittel der Menschen kam durch, die meisten waren einfach zu schwach, zu unwissend über die wirkliche Welt, einfach zu denaturiert. Meine Mutter und ich bewirtschaften Farmland. Man hatte weit außerhalb der Städte noch Vegetation und Fauna gefunden und so begannen die meisten Überlebenden mit der Kultivierung von Pflanzen und Tieren. In der ersten Zeit musste ich ganz vermummt herumlaufen, ich vertrug das Tageslicht nicht und all die vielen fremden Eindrücke brachten mich immer wieder zum Kollabieren. Es war kaum zu glauben, dass meine Mutter und ich überlebten. Zehn Jahre später, ich war mittlerweile einundzwanzig, waren alle Menschen in eine bäuerlich-dörfliche Ordnung gewechselt, die grundsätzlich auch gut funktionierte. Die meisten waren Selbstversorger und übten irgendein Handwerk aus. Geld wurde nicht wieder benutzt, ein Zuviel wurde einfach verschenkt. Über uns Mörderkinder wurde nie wieder gesprochen. Es war einfach zu schlimm, als dass man es in irgendeiner Weise hätte bearbeiten können. Es lebte sich ganz gut. Ich war im Nachgang einfach überwältigt und glücklich, echtes Leben in meinem Leben erlebt zu haben. Zwar war ich im Maschinenpark erzogen, aber mein lebendiger Kern erinnerte sich. Tatsächlich wurde auch das Sprachemonster in mir kleiner und zwang mir weniger Kommentierungen auf. Das Problem eines Lebens mit einem Bild von mir als Existenzgrundlage allerdings blieb mir und ich konnte kaum etwas daran ändern. Zudem war Golem, der Gefährte meiner Kindheit, auf wunderbare Weise damit verbunden und ich vermisste ihn. Golem aber war damals mit den anderen Maschinen verschwunden. Wir lebten in einer Art mittelalterlicher Feudalgesellschaft ohne Feudalherren, ohne Stände und ohne Städte