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Irgendwann ist es in uns Menschen zu einem andauernden Kriegszustand gekommen, auch wenn dieser draußen nicht zu finden ist. So entstehen viele psychoemotionale Symptome, die tagtäglich in den Praxen behandelt werden. Für diese wird der Einzelne verantwortlich gemacht, obwohl es sich um soziopolitische Symptome handelt. In dem vorliegenden Essay beschäftigt sich Oliver Ruppel mit der Frage nach dem Wie und dem Warum dieser scheinbar nicht enden wollenden Krise der Menschheit.
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Seitenzahl: 72
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Krise der Fantasie
Von Oliver Ruppel
Impressum
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Text und Verlag: ©2025 by Oliver Ruppel
Diepensiepen 66, 40822 Mettman
Covergestaltung: © Clea Lilith hellmann
Satz: Mary Niegot
Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin:
Wenn ich mir vorstelle, dass ich Teil eines unendlichen tatsächlichen Potentiellen bin, von dem ich keine echte Vorstellung habe, mir jedoch trotzdem und notwendigerweise eine Vorstellung mache, bin ich darauf zurückgeworfen, es mir irgendwie zu ermöglichen, eine innere Repräsentation von der Welt zu bekommen, die mir hinreicht, durch diese zu finden; selbstverständlich in dem Wissen, dass ich nur ein Modell bediene. Schließen Sie einmal die Augen und erinnern den Raum, in dem Sie gerade sind. Könnten Sie sich blind in ihm orientieren? Versuchen Sie es vielleicht einmal. Wieviel bildhafte Repräsentation haben Sie? Benutzen Sie auch noch andere Sinne, um sich zurechtzufinden? Vielleicht begleiten Sie sich mit einem inneren Kommentar, oder sie rufen Erinnerungen an Gerüche oder Geräusche ab? Öffnen Sie die Augen danach wieder, und denken Sie einmal darüber nach, wie und woher Sie wissen, was außerhalb des Raumes ist, in dem Sie sind. Oder beispielsweise, dass Sie sicher zu wissen meinen, dass es die Menschen, die Sie kennen auch tatsächlich gerade gibt. Vielleicht ist die Welt „da draußen“ ja in einem „quantenphysikalischen Katzenzustand“ und gleichzeitig tot und lebendig, existent und nichtexistent.
Wenn wir das nun eben etwas erforscht haben, stimmen Sie mir dann zu, dass wir uns innerhalb unserer Fantasie orientieren, um in der tatsächlichen Welt zu leben? Es ergeben sich folglich unterschiedliche Wirklichkeitsebenen: das „Gebiet“ als Wirklichkeit erster und die „Karte“ als Wirklichkeit zweiter Ordnung. Nun haben Sie eine Karte und ich habe eine Karte. Um uns über unsere jeweiligen Karten auszutauschen, wie wir es gerade tun, benutzen wir Symbole, die wir für die Eintragungen auf unseren Karten gefunden haben: die Wörter. Dieser Kartenvergleich stellt dann schon eine Wirklichkeit der dritten Ordnung dar. Damit stellen wir fest, dass jeder Schritt in eine fernere Wirklichkeitsordnung weniger lebendig wird. Die Geschichten aus Wörtern machen aus jedem Subjekt und jeder Beziehung ein Objekt. Im Symbolhaften entsteht erst eine Welt der Objekte, und diese Objekte werden dann auf Karten notiert.
Auf unseren Karten notieren wir gefundene Tatsächlichkeiten ebenso wie Möglichkeiten. Erst durch Erfahrungen kann das Mögliche überprüft und verworfen oder zu Tatsächlichem gemacht werden. Ebenfalls simulieren wir auf unseren Karten Planungen und spielen mögliche Ausgänge unserer Taten durch. Insofern beinhaltet unsere Karte auch ein Zeitmodell: die Karte enthält Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Innerhalb des Kartenabgleichs mit den Anderen in der Wirklichkeit der dritten Ordnung zeichnen wir große Gebiete, die zur Kategorie der Möglichkeiten gehören.
Wer nun über dieses konstruktivistische Modell nachdenkt, kommt zu der Erkenntnis, dass zumindest der Mehrheit unserer Mitmenschen die Klarheit der Unterscheidung der Kategorien Wirklichkeit erster, zweiter, dritter Ordnung, Tatsächliches, Mögliches, Vergangenheit, Gegenwärtiges, Zukünftiges, Planung, Erzähltes, Erfahrenes, Karte, Gebiet fehlt; alles läuft fast unterschiedslos ineinander über. Die Aufklärung hat nie in der Bevölkerung stattgefunden. Und die Notwendigkeit der Aufklärung war und ist hoch. Wer sich nicht seines eigenen Verstandes bedient und nicht konstante Erfahrungsprüfungen macht, geht im magischen Denken verloren.
Erzählt mir jemand etwas vom Osterhasen, so komme ich nicht umhin, diesen Osterhasen in meiner Karte zu verzeichnen. Geradezu bei jedem Mal, wenn mir vom Osterhasen erzählt wird, muss ich dies tun. Es sammeln sich so immer mehr Daten zum Osterhasen. Über die Penetration mit Wiederholungen werden auf diese Weise sehr leicht Lügen zu geglaubten Wahrheiten. Wenn ich meine eigene Karte ernst nehme, muss ich die Wirklichkeiten zweiter und dritter Ordnung gut unterscheiden können. Wie soll man gut durch das Gebiet finden, wenn die Karte nicht mit dem Gebiet übereinstimmt? Wenn ich eine Karte von Stockholm in Rom benutze, bekomme ich logischerweise Probleme. Wieso also lassen wir unsere Kinder Osterhasen auf ihren Karten einzeichnen, wenn wir doch wissen sollten, dass dies zu Problemen führen muss?
Ich kann mich noch an eine traurige Situation mit meiner damals noch kleinen Tochter Lilith erinnern. Sie saß neben mir in einem Restaurant und wir warteten auf Freunde. Plötzlich sagte sie: „Stimmt es, dass es das Christkind nicht gibt?“ Die Frage war mir wirklich peinlich. Ich hatte schon darauf gewartet, dass sie einmal kommen würde. Meine Tochter weinte. „Es tut mir echt leid. Ich weiß, es ist jetzt dumm zu sagen, dass deine Mutter das wollte, weil sie dachte, es sei schön für dich, an das Christkind glauben zu können. Aber du hast Recht. Das Christkind gibt es nicht. Ich habe dich belogen. Es tut mir leid, dass ich da mitgemacht habe.“ Schluchzend fragte sie: „Und den Osterhasen auch nicht?“ „Den auch nicht.“ Und zu dem Osterhasen gab es eine Geschichte, mit der ich es noch schlimmer gemacht hatte. Meine Tochter hatte den Osterhasen zu Ostern einmal fangen wollen, hatte vor dem Schlafen eine Möhre an einer Schnur befestigt und das andere Ende um ihren Knöchel gebunden. Nachts hatte ich von der Möhre abgebissen. Der Osterhase schien entkommen, seine Existenz aber schien bewiesen. Und nun sagte ich ihr, ich hatte sie auch dort betrogen. Es war eine traurige Sache. Heute ist meine Tochter erwachsen, und mir tut das Ganze immer noch leid. Sicher, ich hätte sagen können, schau, wir Menschen betrügen uns gegenseitig. Lerne das. Auch den Engsten ist nicht zu trauen. Sie sind im Namen eines Guten unterwegs, dass du nicht kennst und dein Gutes gar nicht sein muss. Die Erwachsenen sagen sich, dass „die Fantasie“ doch so wichtig ist, und was meinen sie mit der Fantasie: die Lüge, dass die Welt nicht so ist, wie sie ist, da sie nicht wollen, dass die Welt ist, wie sie ist. Die Erwachsenen glauben, die Welt sei schlecht und sie bräuchten eine neue, eine Welt, die sie sich ausdenken, obwohl sie selbst nicht an ihre Fantasie glauben können. Wir machen die Kinder zu Stellvertretern unserer Lust am Paradiesmotiv. Wenn irgendwer an den Erlösungsort glaubt, muss er doch möglich sein können. Insofern lieben wir die Idee der kitschigen Fantasie als Gegenveranstaltung zur Welt. Ganze Industrien haben den Kitsch zum Gegenstand ihres Handels gemacht und wir alle stecken tief mit drin. Ebenso wie ich, der Christkind und Osterhasen belebte. Die digitalen Medien, die Spieleindustrie, die Filmindustrie - Mehrheiten der Menschen stecken tiefer in den Fantasien des Kitsches und haben viel größere Anteile der Wirklichkeit dritter statt zweiter Ordnung in sich. Wenn wir hier klar sehen, wird deutlich, das, was wir nicht mehr wollen, das ist die Wirklichkeit der ersten Ordnung. Wir wollen den Kontakt zur Realität verlieren. Vermutlich wollen wir Menschen der Realität diktieren, wie sie sein soll. Wenn wir unsere Kinder Osterhasen auf ihre Karten zeichnen lassen, freuen wir uns über die Illusion, es der Realität mal so richtig gezeigt zu haben. Wenn wir Computerspiele zocken, sind wir froh, so wenig wie möglich von der Wirklichkeit der ersten Ordnung zu sehen. Jeder Blick in einen Bildschirm hat etwas Befreiendes.
Abbildung 1: Das Wirklichkeitsmodell
Es findet sich die Macht menschlicher Fantasie in den Vorstellungen der Anderen. Wer sich zum Definierer der Wirklichkeit dritter Ordnung erklärt, übernimmt die Deutungsmacht über die Vorstellungen der Anderen zur Welt. Er kann zum Magier aller dreier Wirklichkeit werden. Wenn die Anderen ihre Inkompetenz über die Deutung der Welt wahrnehmen, geben sie auch die Lenkung ihrer Aufmerksamkeit ab, und der Definierer wird zum Experten. So entsteht in Gruppen eine vertikale Spannung zwischen Experten und Gruppenmitgliedern, die sich als minder kompetent einschätzen. Der Eine sagt, mir ist der Osterhase persönlich bekannt, und der Andere staunt. Auf diese Weise wird der Eine ein Homo elitus und der Andere ein Homo defectus.