Gommer Winter - Kaspar Wolfensberger - E-Book

Gommer Winter E-Book

Kaspar Wolfensberger

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Beschreibung

Schwer lastet der Schnee auf den Dächern der Holzhäuser, zwischen Lärchen und Fichten ziehen sich verlassene Loipen und Winterwanderwege durch das Walliser Hochtal. Als in Münster und Reckingen zwei Frauen brutal ermordet werden, muss Kriminalpolizist a. D. Alois "Kauz" Walpen, ein Üsserschwiizer mit Gommer Wurzeln, ermitteln. Denn die Gommer haben Angst: Angst vor tödlichen Lawinen und Angst vor weiteren Morden. Es herrscht höchste Lawinenwarnstufe, das ganze Goms ist eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten, nicht mal die Polizei kommt durch. Eigentlich wollte Kauz friedliche Weihnachtstage in Münster verbringen, nun ist er bei der Suche nach einem Frauenmörder auf sich allein gestellt. Und je mehr Schnee fällt, desto dramatischer spitzt sich die Lage zu.

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Kaspar Wolfensberger

Gommer Winter

Der zweite Fall für Kauz

Kampa

Die Handlung dieses Romans ist reine Fiktion. Alle in der Erzählung auftretenden Figuren, auch wenn sie ortstypische Namen tragen, sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und wahren Begebenheiten wären rein zufällig.

 

Einzelne Gebäude, Örtlichkeiten und Flurnamen, denen im Rahmen dieser Kriminalgeschichte eine Bedeutung zukommt, sind realen Objekten, Orten und Bezeichnungen im Goms nachempfunden, existieren in der beschriebenen Form jedoch nicht.

PROLOG

Der Galenstock glimmt im letzten Abendlicht. Noch wölbt sich der Himmel blau über der Furka. Im Westen aber türmen sich dunkle Wolken, das Weisshorn ist kaum noch zu sehen. Die verschneiten Lärchen und Fichten auf beiden Talseiten stehen längst im Schatten. Feiner Nebel liegt über dem Rotten, der jungen Rhone. Durch das bläuliche Weiß der Talsohle ziehen sich Loipe und Wanderweg. Sie sind zu dieser Tageszeit nahezu verwaist. Nur vereinzelte Langläufer und ein paar wenige Wanderer sind noch unterwegs und streben den Dörfern zu.

Eisiger Wind kommt auf.

Zwei Spaziergänger in Schneestiefeln ziehen die Kapuzen hoch. In ihren langen weißen Daunenjacken sehen sie aus wie Schneemänner. Einer zeigt mit ausgestrecktem Arm zur Holzbrücke, die abseits von Loipe und Winterwanderweg über den Rotten führt. Die beiden Gestalten verlassen den Wanderweg und stapfen durch den Schnee über die Ebene. Sie betreten die Brücke. In der Mitte des schmalen Stegs bleiben sie stehen, treten ans Geländer und wischen den Schnee von der Brüstung. Weit vorn übergelehnt schauen sie auf den Rotten. Um die mit Schneehauben bedeckten Steine im Fluss herum gurgelt das Wasser.

Plötzlich richtet sich der eine Schneemann auf. Der andere dreht sich, noch halb übers Geländer gelehnt, nach ihm um. Der erste hält auf einmal etwas in der Hand, holt aus und stößt heftig damit zu. Der zweite greift sich ans den Hals, an die Brust, taumelt und geht in die Knie. Er rappelt sich hoch und schleppt sich dem Geländer entlang zurück. Umsonst: Er wankt und stürzt neben der Brücke in die Tiefe.

VORSAISON

Mittwoch, 5. Dezember

Von seinem Schneespaziergang zurück, saß Kauz in der Schlafkammer im Oberbau seines kleinen Speichers und schaute zum Fenster hinaus. Die dunkeln Wolken im Westen türmten sich höher, das Weisshorn war jetzt gar nicht mehr zu sehen. Nah und fern gingen die Lichter an. Die Wetter-App auf seinem Smartphone kündigte für die Nacht weiteren Schneefall an.

Gut, dachte er. Wir haben lange auf den Winter gewartet.

Seit bald zwei Wochen war er nun wieder im Goms. Er hatte sich vorgenommen, den Gommer Winter von Anfang an auszukosten. Den Wettervorhersagen vertrauend, hatte er damit gerechnet, dass schon Ende Oktober Schnee fallen würde. Er hatte sich vorgenommen, gleich den ersten Langlaufkurs der Saison zu buchen. Mit Waldläufen, Krafttraining und Gleichgewichtsübungen hatte er sich schon im Herbst dafür abgerackert. Er brannte darauf, seine Langlauftechnik aufzufrischen und dann den ganzen Dezember auf den Brettern zu stehen. Noch bis Ende Jahr war er freigestellt. Dann musste er sich entscheiden. Sollte er seinen alten Posten bei der Zürcher Kriminalpolizei wieder antreten oder nicht? Seine ehemalige Vorgesetzte, die ihn im Sommer gefeuert hatte, war auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Ihr Nachfolger ad interim, Senn, hatte ihn fast auf Knien gebeten zurückzukommen und ihn mit einem großzügigen Angebot geködert. Aber auch Bonvin, der Chef der Walliser Kriminalpolizei, hatte ihm eine Anstellung angeboten. Sollte er den Sprung ins Wallis wagen?

»Einen erfahrenen Kriminalpolizisten können wir immer brauchen, erst recht einen Walpen«, hatte Bonvin noch im Sommer gesagt, obwohl ihm Kauz’ siebenundfünfzig Jahre bekannt sein mussten. Bonvin hatte ihm für die Hilfe bei der Aufklärung des Mordfalls Imfang gedankt. Einen Walpen, damit hatte er auf Kauz’ Herkunft angespielt. Sein Vater war ein Gommer gewesen. Kauz selbst war im Herzen mindestens zur Hälfte einer, aber von der Sprache her unüberhörbar ein Zürcher. Ob man einen Üsserschwiizer im Walliser Polizeikorps überhaupt akzeptieren würde?

Alle Wettervorhersagen hatten Schnee in großen Mengen für die letzte Novemberwoche angekündigt. Doch als Kauz am letzten Sonntag des Monats im Goms eintraf, präsentierten sich die Berghänge in tristem Braun, die Felder in schmutzigem Grün. Die rosarot bemalten Markierungsstangen, die im Tiefschnee den Winterwanderweg weisen sollten, standen unnütz in der Landschaft. Eine Loipe, im Oktober eilig präpariert, als wirklich etwas Schnee fiel, hielt sich dank eisiger Nächte noch immer. Doch die Schneedecke wurde dünner und dünner. In der Nähe der ehemaligen Flugfelder standen zwei Schneekanonen, die tonnenweise Kunstschnee produzierten. Auf Lastwagen verfrachtet, wurde damit die Loipe ausgebessert. Bauern schoben mit ihren Traktoren Schneereste von den Feldern auf das schmale weiße Band, das sich durch die Talsohle zog, und halfen ebenfalls mit, die dürftige Loipe zu konservieren.

Sonderbare Welt, dachte Kauz. Was die Gommer Bauern vor fünfzig Jahren wohl zu diesem Treiben gesagt hätten?

Mit Max, seinem schwarzen Collie-Mischling, war er in den Tagen nach seiner Ankunft durch Münster und die Nachbardörfer gestreunt. Statt über Schneefelder waren sie über dürres Gras gewandert. Die Lärchen an den Bergflanken hatten ihr goldenes Herbstkleid schon abgestreift, doch war es tagsüber frühlingshaft mild. Hätte er das geahnt, wäre er mit seiner alten BMW statt mit der Bahn ins Goms gefahren.

 

Die Ellbogen auf dem Fensterbrett, den Kopf in die Hände gestützt, beobachtete Kauz das faszinierende und etwas unheimliche Wetterschauspiel im Westen. Was sich da ankündigte, war heftiger Schneefall, vielleicht gar ein Sturm. Er löste den Blick vom Horizont und streichelte Max, der unter dem Fensterbrett hervorgekrochen kam und ihn mit seiner feuchten Schnauze anstupste.

»Guter Kerl«, sagte Kauz und schnippte mit den Fingern. Er stand auf und ging mit ihm in den Unterbau des Speichers.

Drei Tage zuvor, am Sonntag, war ihm um den Hund angst und bange gewesen. Er hatte sich auf der Sonnenterrasse der Alpenrose niedergelassen, auf der er im Sommer oft gesessen hatte. Es roch nach welkem Gras. Denn die Sonne wärmte die schneelose Erde und entlockte ihr einen alles andere als winterlichen Duft. Es hätten nur die Gleitschirmsegler am Himmel und die gepressten Heuballen auf den Feldern gefehlt, und Kauz hätte sich wie im Sommer gefühlt.

Er krempelte die Ärmel hoch und nahm einen Schluck vom kalten Bier. Und das am zweiten Dezember! Es war irgendwie unwirklich.

Er bemerkte den Jungen nicht, bis er direkt vor ihm stand.

»Salü«, sagte er und streckte ihm die Hand entgegen.

»Damian?!«, rief Kauz erfreut. Mit dem Jungen verband ihn seit dem Sommer eine besondere Geschichte. »Du möchtest sicher Max ausführen«, sagte Kauz schmunzelnd und gab ihm die Hundeleine in die Hand. Stolz zog der Junge davon.

Kauz schaute ins Tal hinunter. Das Einzige, was aus dem Rahmen des sommerlich anmutenden Bildes fiel, war das weiße Loipenband, das sich durch die halbverdorrte Rottenebene schlängelte.

Grotesk, dachte Kauz.

Aber wem wollte man es verübeln? Das Goms war auf die Wintersportgäste angewiesen. Andernorts wurden Rennpisten mit weit mehr Aufwand aus dem Boden gestampft, damit ein Skirennen durchgeführt werden konnte, nach dem die Fernsehwelt gierte. Hier waren nur zwei Schneekanonen und ein paar Lastwagen im Einsatz. Auf einem kurzen Loipenabschnitt war eine Beschneiungsanlage installiert. Das Resultat ließ sich sehen, wenn man vom ungewohnten Anblick einmal Abstand nahm: Die Langläufer kamen allmählich, die Hotels begannen sich zu füllen, Loipenpässe wurden verkauft. Als ob richtig Winter wäre, glitten die Sportler über die Loipe, trotz sommerlicher Temperatur in voller Langlaufmontur.

Ein Zug der Matterhorn-Gotthardbahn fuhr in den Bahnhof von Münster ein. Fahrgäste stiegen aus und ein, auf dem Feldweg zwischen Straße und Bahngleis schlenderten Spaziergänger. Eine gute halbe Stunde war vergangen, seit Damian mit Max davongezogen war, da ertönte plötzlich wildes Gebell.

»Verdammter Köter!«, schrie eine Männerstimme.

Kauz hörte seinen Hund bellen, dann winseln, als ob er geschlagen würde. Jetzt hörte er Damian brüllen. Kauz schoss aus seinem Stuhl hoch und blickte in die Richtung des alarmierenden Lärms. Er sah den Jungen, keine fünfzig Meter entfernt, in der Biegung des Feldwegs stehen. Ein stämmiger Mann hatte Hund Max am Halsband gepackt und schlug auf ihn ein. Ein zweiter Hund, ein Rottweiler, umkreiste kläffend den Fremden, den Jungen und Max. Mutig fiel Damian dem Mann in den Arm, damit er den Hund losließ. Es gelang. Dafür erhob der Fremde jetzt die Hand gegen den Jungen. Der Rottweiler fletschte die Zähne.

Kauz rannte über die Straße, auf die kleine Gruppe zu.

»Was ist da los?!«, rief er.

»Verdammter Bengel!«, schrie der Mann jetzt den Jungen an, ohne von Kauz Notiz zu nehmen. »Das ist mein Hund!«

»Nein! Meiner!«, schrie Damian zurück. Er versuchte tapfer, sich dem Erwachsenen gegenüber zu behaupten, war aber den Tränen nah.

»Was fällt Ihnen ein?!« Kauz packte den Rüpel am Arm. Der Mann war stämmiger, aber nicht größer als Kauz.

»Was geht Euch das an?!«, schrie der Fremde mit hochrotem Kopf und riss sich los. »Der Bengel da hat meinen Hund gestohlen!«

»Der hat gar nichts! Das ist mein Hund!«

Verflixt. Der Fremde musste Max’ ursprünglicher Besitzer sein. Der Collie-Mischling war Kauz im Sommer zugelaufen. Er hatte länger nach seinem Besitzer gesucht, doch umsonst. Schließlich hatte er den Hund zum Tierarzt gebracht. Der hatte festgestellt, dass das Tier nicht gechippt und somit herrenlos war. Er implantierte ihm einen Chip, und Max war von Kauz adoptiert.

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Kauz den Jungen, um ihn aus seinem Schock zu holen. Damian war noch ganz außer sich.

»Der ist mir mit seinem Rottweiler auf dem Feldweg entgegengekommen«, erzählte er atemlos. Er schaute dabei nur Kauz an, nicht den Fremden, und musste beim Reden ein Schluchzen unterdrücken. »Max ist auf dem Feld herumgetollt. Der da hat ihn gesehen und gleich zu schreien angefangen. Max hat sich geduckt und ist langsam mit eingezogenem Schwanz zu dem Mann gegangen.«

»Eben!«, schaltete sich der Mann ein. Seine Sprache konnte Kauz nicht einordnen. Ein Gommer war er auf jeden Fall nicht. »Ist doch klar! Der Köter hat ein schlechtes Gewissen. Das soll er auch! Er ist mir auf einer Bergwanderung abgehauen!«

»Er hat Max am Halsband gepackt und auf ihn eingeschlagen!«, berichtete Damian empört.

»Ach, halt die Klappe!«, schnappte der Mann. »Du hast meinen Filou geklaut. Irgendwann im Sommer. Entführt hast du ihn! Aber jetzt habe ich dich erwischt, du Bengel! Meinen Filou nehme ich sofort mit. Und du kannst was erleben! Dich zeige ich an!«

Damian suchte verdattert Kauz’ Blick. Der Junge war ein gebranntes Kind. Sein Vater, Fritz Pfefferle, genannt dr Güggäl, war ein notorischer Choleriker. Mit ihm hatte Kauz im Sommer so seine Erfahrungen gemacht. Aber mittlerweile hatte er ihn fast schon ins Herz geschlossen. Und seinen Sohn Damian erst recht.

»Nun mal langsam«, sagte Kauz ruhig und bestimmt. »Wie gesagt, das ist mein Hund …«

»Nichts da!«, rief der Mann aufgebracht, »der gehört mir!«

Derweil kläffte der Rottweiler wild und sprang an seinem Herrn und Meister hoch. Der trat ihn nur kurz in den Bauch. Der Rottweiler verdrückte sich winselnd. Kauz und Damian trauten ihren Augen nicht. Aber noch ehe sie etwas zu dem Kerl sagen konnten, fuhr der fort:

»Soll ich es beweisen?«

»Bitte schön!«, sagte Kauz, äußerlich gelassen, aber ihm wurde langsam mulmig.

»Also gut. Sehen Sie selbst!«, sagte der Mann, schon im Voraus triumphierend. Und damit entfernte er sich, seinen Rottweiler bei Fuß nehmend, von den beiden. Nach zwanzig Schritten blieb er stehen und drehte sich um.

»Filou!«, rief er barsch.

Max, der hinter Kauz und Damian in Deckung gegangen war, spitzte die Ohren, blieb aber stocksteif stehen und fixierte furchtsam den Mann.

»Hier!«, befahl der. Und da Max sich nicht gleich rührte, schrie er: »Ich will dir gleich …! Sitz! Aber sofort!«

Der Hund gehorchte aufs Wort.

Kauz konnte es kaum glauben.

»Platz!«, rief der Mann.

Max legte sich platt auf den Boden.

Kauz schnürte es den Hals zusammen.

»Und jetzt: Bei Fuß!«

Max stand auf und begann in geduckter Haltung und mit eingezogenem Schwanz auf den Mann zuzuschleichen, den Bauch fast am Boden. Dem Mann ging das zu langsam. »Wird’s bald?«, schimpfte er. »Fuß hab ich gesagt! Bei Fuß!«, rief er erneut und schlug sich mit der flachen Hand auf den linken Oberschenkel. Max duckte sich tiefer und schlich zögernd auf den Mann zu. Er war jetzt genau in der Mitte zwischen den beiden Männern.

»Max!«, rief da Kauz.

Max hielt an und sah sich nach ihm um.

»Filou!«, brüllte der Mann.

Mit Max geschah etwas Eigenartiges. Er schien in große Not zu geraten. Eine Weile sah es aus, als zerreiße es ihn. Er drehte sich nach dem jeweiligen Rufer um und setzte dazu an, entweder mit erhobenem Kopf stracks zu Kauz zurückzukehren oder unterwürfig zu dem Mann hinüberzukriechen. Jedes Mal, wenn Kauz rief, richtete er sich auf und setzte zu einem Galopp an. Schrie aber der Mann, so brach er seinen Lauf ab, machte kehrt, duckte sich von Neuem und klemmte den Schwanz noch stärker zwischen die Beine. Er konnte dem alten Reflex nicht widerstehen, dem Mann zu gehorchen und sich ihm zu unterwerfen. Trotz oder wegen seiner Angst vor Schlägen.

»Max«, sagte Kauz. Laut, aber ruhig. »Komm her!«

Er ging in die Knie und streckte die Hand aus. Wie bei seiner allerersten Begegnung mit dem damals verdreckten und verschreckten Tier oben am Berg. Max, völlig verunsichert, kam vorsichtig näher. Genau wie damals.

Kauz’ Widersacher nahm eine drohende Haltung ein.

»Filou!«, brüllte er, außer sich. Er hob den Arm und holte aus, als werfe er mit einem Stein nach dem Hund. Max hatte sich wieder gedreht, blieb im Kriechen stehen, schaute den Mann an, winselte leise und wich zurück, traute sich aber nicht wegzulaufen.

»Filou! Fuß! Marsch jetzt! Aber dalli!«

»Max!«

Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, wandte sich Max mal nach hüben, mal nach drüben, begann zu laufen oder winselnd zu kriechen. Gleich darauf brach er die Bewegung wieder ab. Das ging immer schneller, bis er sich wie verrückt um sich selber drehte. Auf einmal hockte er sich, genau in der Mitte zwischen den zwei Männern auf den Boden und kratzte sich am Kopf. Als habe er eine Entscheidung gefällt, gab er sich plötzlich einen Ruck: Er sprang auf die Beine – und rannte aus voller Kraft auf Kauz zu. Die wütenden Befehle des Mannes kümmerten ihn mit einem Mal nicht mehr. Er sprang an Kauz hoch, dann an Damian. Enthusiastisch versuchte er, jedem der beiden das Gesicht zu lecken, und da die es nicht zuließen, leckte er ihnen die Hände. Dann hockte er sich zwischen die beiden und schaute hechelnd mal zum einen, mal zum anderen hoch. Schließlich drückte er sich mit der Schulter fest an Kauz’ Bein und verharrte, heftig atmend, auf der Stelle.

Der Grobian konnte befehlen und schreien, soviel er wollte, Max ignorierte ihn ab da, als wäre er ein vollkommen Fremder.

»Das mit der Anzeige lassen Sie besser bleiben«, sagte Kauz, als der Mann sich an ihnen vorbeidrückte.

»Ich denke ja nicht dran!«

»Wie Sie meinen. Aber dann müssen Sie mich anzeigen, nicht den Jungen. Walpen ist mein Name. Ich wohne hier in Münster an der Langen Gasse. Und Ihr Name ist?«, fragte er schroff. Er schlug absichtlich einen autoritären Ton an.

»Hinz«, antwortete der Mann wie aus der Pistole geschossen. Dann schien er zu merken, dass er Kauz gerade gehorcht hatte. »Walliser Grossrat, falls es Sie interessiert«, schob er nach, um etwas an Statur zurückzugewinnen.

Interessiert mich einen Dreck, dachte Kauz.

»Soso«, sagte er stattdessen. »Respekt!«, aber sein Sarkasmus war nicht zu überhören.

»Komm, Macho, wir gehen!«, sagte Hinz zu seinem Rottweiler und ging ohne weitere Worte davon.

»Was ist das für einer?«, fragte Kauz. »Kennst du den?«

»Kenä va hiä«, antwortete Damian. Das sei keiner von hier. »Än Hoornoggs, än värrukktä«, lautete sein Schluss.

»Gut, dass du dich gewehrt hast! Sonst hätte ich jetzt keinen Max mehr. Danke«, sagte Kauz, drückte dem Jungen die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. Der wischte sich verstohlen eine Träne weg.

Eine kleine Menschentraube, die sich zehn, zwanzig Meter entfernt gebildet hatte, löste sich wieder auf.

Glücklich ging Kauz mit Max in den Speicher.

Der schöne, uralte Holzbau an der Langen Gasse hatte seinem Freund Wendel Imfang gehört, der im Sommer ermordet worden war. Kauz spürte immer noch Traurigkeit und einen Anflug von schlechtem Gewissen, wenn er den Speicher betrat. Aber Mutter Imfang meinte, es wäre bestimmt ganz im Sinne Wendels, wenn er den Speicher bewohne. Im Unterbau hatte Kauz im Herbst vorsorglich einen kleinen Stahlholzofen mit Backfach und Kochstelle aufgestellt. Frau Imfang war bereit, die Kosten für das Kaminrohr zu übernehmen, das dafür eingebaut werden musste. Im Oberbau war an einer Wand der Schlafkammer seit je ein elektrischer Heizstrahler montiert. Vor dem Speicher war genügend Brennholz gestapelt. Er war also wintersicher eingerichtet.

 

Wenn Kauz mit Einheimischen plauderte – doorffä nannte man das im Goms –, kam man unweigerlich aufs Wetter zu sprechen. Da hörte er die widersprüchlichsten Kommentare. Die einen sagten voraus, weiße Weihnachten könne man vergessen. Es sei gut möglich, dass in diesem Winter überhaupt kein Schnee mehr falle. Das wäre eine Katastrophe, nicht nur für den Tourismus, sondern auch für die Erde, der Boden sei vollkommen ausgetrocknet. Aber was wolle man machen? Man müsse es nehmen, wie es komme. Es wäre ja nicht das erste Mal. Auch anno 1964 habe es kein einziges Mal geschneit. Papperlapapp, sagten andere, der Schnee komme bestimmt, sogar der ganz große Schnee! Man müsse sich auf alles gefasst machen. Es könne durchaus so kommen wie im Lawinenwinter 1999. Oder im fatalen Jahr 1970. Das wäre dann eine Katastrophe.

Katastrophe, so oder so?, dachte Kauz. War das Gommer Pessimismus? Oder bäuerliches Jammern auf Vorrat?

Wenn einer den Winter 1970 erwähnte, spürte Kauz eine Beklemmung in der Brust. Bei dem gewaltigen Lawinenniedergang auf Reckingen waren viele Menschen ums Leben gekommen, darunter zwei entfernte Verwandte von ihm. Das Unglück hatte das ganze Land erschüttert. Er war damals fünfzehn, sein Vater lebte schon nicht mehr. Für Jahre war das Goms danach tabu gewesen, denn Mutter hatte ihm verboten, je wieder Ferien bei den Großeltern in Reckingen oder bei Onkel und Tante in Ernen zu verbringen. Im Goms hole man sich den Tod, hatte sie gesagt. Der Bann verlor erst Jahrzehnte später seine Kraft.

Noch bevor der Schnee kam, war Kauz mit Hund Max nach Reckingen marschiert. Im Sporthotel Galenblick herrschte schon reger Betrieb. Denn dort waren die Teilnehmer des Saisoneröffnungskurses einquartiert. Die mit dem bescheideneren Budget wurden in der Alpenrose in Münster untergebracht, das eigens auf diesen Zeitpunkt hin öffnete. Der Galenblick stand im Dorfteil Uberrotten, also jenseits des Rotten. Das Haus war dem traditionellen Gommer Holzbaustil nachempfunden, ein komfortables Sporthotel mittlerer Größe mit erstklassigem Restaurant. Vor zwei Jahren war ein Erweiterungsbau mit Wellnessbereich und Fitnessraum eröffnet worden, ein für Gommer Verhältnisse geradezu avantgardistischer kubischer Bau, der viel zu reden gab. Gleich daneben lag das Sporthaus Steffen mit der Langlaufschule. In fast jedem Dorf des Obergoms gab es ein Sportgeschäft, und die meisten boten auch Langlaufunterricht an. Aber nur die Langlaufschule Steffen hatte schon in der Vorsaison Kurse im Programm. Kauz ging zu Steffen Sport, um sich eine Langlaufausrüstung zu besorgen und für den ersten Kurs einzuschreiben.

Carlo Steffen bediente ihn persönlich.

»Klassisch oder Skaten?«, fragte er als Erstes.

»Wie bitte?«, fragte Kauz zurück.

Carlo Steffen schaute ihn verdutzt an und kratzte sich am Hinterkopf. Dann nahm er die Kursausschreibung zur Hand und öffnete sie auf der Doppelseite mit den Fotos.

»Laufen Sie so?«, fragte er und zeigte auf den Sportler, der sich auf seinen Brettern elegant in der Loipenspur fortbewegte. »Oder so?«, und jetzt tippte er auf die junge Frau, die mit gegrätschten Beinen vollkommen neben der Spur daherflog.

»Ach so«, machte Kauz. Jetzt entsann er sich, dass er am Fernsehen einmal ein Langlaufrennen verfolgt hatte, in welchem sich die Läufer in diesem modernen Stil abrackerten. Er war seit seiner Kindheit nicht mehr auf Langlaufskiern gestanden. Dieses Skaten war vollkommen an ihm vorbeigegangen, das hatte in seiner Jungend kein Mensch praktiziert.

»Nein, nein«, erklärte er. »So«, und zeigte auf den Mann. »Einfach langlaufen, ganz normal.«

»Alles klar«, lachte Steffen.

Carlo Steffen war ein Mann um die fünfzig, der vor Kraft und Frohmut nur so strotzte. Er war einst ein Elitesportler gewesen, der fast alle Langlaufwettkämpfe im In- und Ausland gewonnen hatte, die es zu gewinnen gab. Die Langlaufwelt kannte und bewunderte ihn. Man riss sich darum, von ihm trainiert oder im Laden von ihm beraten zu werden.

Eine halbe Stunde später hatte Kauz Langlaufjacke, Hose und Handschuhe gekauft und alles, was es sonst noch brauchte. Ein Paar klassische Langlaufskier samt dazugehörigen Schuhen gab ihm Steffen zum Ausprobieren mit.

»Wir sehen dann im Kurs, ob du damit zurechtkommst«, erklärte er. Nachdem Kauz ihm gesagt hatte, dass er sich für einen Kurs einschreiben wolle, war Carlo Steffen sofort zum Du übergegangen.

»Kauz heißt du?« Dann ging ihm ein Licht auf: »Ach so, dann bist du dr Chüzz«, lachte er. »Von dir habe ich gehört. Thomas hat mir von dir erzählt.«

Kleine Welt, dachte Kauz. Hier oben kennt jeder jeden.

Thomas Abgottspon war der Mann der Polizistin Ria Ritz. Mit ihm hatte er im Sommer Freundschaft geschlossen. Schon im Herbst hatte Thomas angekündigt, er werde regelmäßig auf der Loipe anzutreffen sein. Nicht wenige Paraplegiker frönten im Goms dem Langlaufsport.

Mit Chüzz, Gommertitsch für Kauz, sprachen ihn nur Ria und Thomas an. Dass man ihn seit frühester Jugend Kauz nannte, hatte mit seinem eulenartigen Blick zu tun: Er litt an einer angeborenen Schwäche der Lider, weshalb er die Augen nicht ganz öffnen konnte. Das verlieh ihm einen verschlafenen Gesichtsausdruck, selbst wenn er hellwach war. Seinen Taufnamen konnte er nicht ausstehen. Er stellte sich deshalb stets mit dem Spitznamen vor, der ihm bei den Pfadfindern verpasst worden war: Kauz. Auch für alle seine Polizisten war er einfach »der Kauz« gewesen.

 

In der Nacht nach der denkwürdigen Begegnung mit dem Walliser Grossrat Hinz gab es einen Temperatursturz. Am Montag, nach zehn Tagen frühsommerlicher Wintervorsaison, begann es sachte zu schneien. Zwar waren es bloß einige Zentimeter, aber das Goms war weiß überzuckert. Die Menschen freuten sich wie die Kinder, als sie am Dienstagmorgen aus den Fenstern sahen. In der Nacht auf Mittwoch fiel nochmals Schnee, insgesamt waren es jetzt schon gut und gern zwanzig Zentimeter. Schneepflüge räumten die Straßen, Pistenfahrzeuge waren unterwegs. Jedermann schippte vor der Haustür Schnee. Für Gommer Verhältnisse handelte es sich um eine bescheidene Menge, aber für die kommenden Stunden war nochmals Schneefall angesagt, und das nicht zu knapp. Der Winter war da!

 

Kauz streichelte Max den Kopf. Dann kraulte er seine Brust, dort, wo der weiße Fleck war. Er schaute auf die Uhr. Der Apéro für die Kursneulinge war auf sieben Uhr im Galenblick angesagt. Daran wollte er teilnehmen, auch wenn er auf so was sonst nicht scharf war. Denn bei diesem Anlass wurden die Informationen zum Langlaufkurs gegeben, der morgen anfing.

Er führte Max Gassi. Als er mit ihm zurück war, sagte er: »Ich geh weg«, und hob den Zeigefinger, was so viel hieß wie: Und du bleibst da! Max legte den Kopf schief, spitzte die Ohren und sah sein Herrchen aufmerksam an. Kauz füllte den Futternapf und stellte frisches Wasser hin. Dann ging er zum Bahnhof und nahm den Zug nach Reckingen.

Es war kein Problem gewesen, statt am allerersten erst am dritten Kurs des Winters teilzunehmen. Im Grünen Langlaufen zu gehen, hatte Kauz nicht gereizt. Die Frau, die die Administration der Langlaufschule besorgte, hatte ihn zwei Tage zuvor ganz unkompliziert umgebucht.

»Kein Problem, Herr Walpen«, hatte sie gesagt. »Sie haben das Kursgeld ja schon bezahlt. Kurs ist Kurs, das Datum können Sie frei wählen. Kursteilnehmer und Belegschaft sagen sich übrigens Du. Einverstanden?«

»Klar.«

»Zara«, sagte sie. Mit ernstem Gesicht streckte sie die Hand aus.

»Kauz.«

»Kauz?«

So ging es immer. Er hatte sich längst daran gewöhnt.

»Ja.«

»Witziger Name«, sagte sie, hob den Blick und musterte ihn. Sie musste sich ein Lächeln verbeißen. »Dein Spitzname?«

Kauz nickte.

Zara war eine brünette, sportliche Frau mit einem aparten, etwas kantigen Gesicht. Sie mochte knapp vierzig sein. Ihr Mund war voll und breit, doch sie zog die Mundwinkel, wenn sie auf den Bildschirm blickte, nach unten. Das verlieh ihr einen seltsam beleidigten Ausdruck. Ihre braunen Augen mit den kräftigen Brauen standen eher nah beisammen. Zara schielte ein ganz klein wenig; Kauz fand das irgendwie reizvoll.

»Machst du nur die Administration oder …?«

»Was heißt da nur?«, unterbrach sie ihn. Sie sah vom Bildschirm auf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Nein, ich arbeite auch im Laden. Verkauf, Vermietungen, Bestellungen und so. Aber du liegst nicht falsch, mein Hauptjob, das sind die Kurse. Da ist recht viel los, glaub mir. An jedem Kurs nehmen fünfzig, sechzig Schwänze teil, in der Hochsaison hundert und mehr.«

Kauz staunte. Und fragte sich, ob er richtig gehört habe. Hatte sie wirklich Schwänze gesagt?

»Wieso fragst du?«, fragte sie.

»Ich wollte bloß wissen, ob du auch Langlaufunterricht gibst«, erklärte er und versuchte charmant zu lächeln. Er hätte sie sich gut als Sportlehrerin vorstellen können.

»Schön wär’s«, sagte sie und warf ihm, über einen Papierausdruck neben dem Computer gebeugt, von unten herauf einen Blick zu. »Würde ich gern«, meinte sie und zuckte mit den Schultern. »Aber leider nein.«

»Schade«, sagte er augenzwinkernd.

Für Kauz’ Verhältnisse war das schon fast eine Anmache. Die Frau hatte etwas sonderbar Verführerisches an sich. War es ihr herber und melancholischer Gesichtsausdruck, der ihn an eine französische Filmschauspielerin erinnerte? Wie hatte die schon wieder geheißen?

Na, egal!, stellte er sogleich fest und schob allfälligen inneren Regungen einen Riegel vor: Ein Kapitel Zara würde es in seinem Leben nie geben. Auch wenn sie ihm einen Blick zugeworfen hatte, auch wenn er zurückgezwinkert hatte. Nach seiner Scheidung hatte er den Frauen, und damit auch jeder Art von Liebelei, abgeschworen. Sein Leben als Mönch, wie er es manchmal nannte, war denn auch entschieden einfacher, als es das mit Chantal gewesen war. Und mit all den anderen davor. Mit seinen siebenundfünfzig Jahren konnte er das Kapitel Frauen getrost seinem Sohn überlassen. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte Xaver seit Herbst eine Freundin. Die gönnte er ihm von Herzen. Und zwar neidlos.

Nun ja, Frauenfreundschaften wollte er nicht ausschließen. Das war etwas anderes. Ria Ritz, die Chefin des Polizeiposten Goms in Fiesch, war ja auch eine Freundin geworden.

Der Papierkram war rasch erledigt gewesen. Zum Schluss sagte Zara: »Verpass den Apéro nicht! Der findet am Vorabend des Kurses im Hotel Galenblick statt. Dort hörst du alles, was du wissen musst.«

*

Zara war immer noch etwas außer Atem. Als im Laden und im Schulbüro Flaute herrschte, war sie an die frische Luft gegangen und hatte sich ausgetobt. Sie hatte gedacht, sie würde sich danach besser fühlen. Es war ein langer, ein nervenaufreibender Tag gewesen. Der zweite Kurs des Winters war am Mittag zu Ende gegangen, morgen würde der dritte beginnen. In einer Stunde musste sie beim Apéro für die Neuen assistieren. Ihr Arbeitstag war noch nicht zu Ende.

Sie stand am Waschtisch im Badezimmer ihrer kleinen Wohnung und wusch sich gründlich die Hände. Dann strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn und musterte im Spiegel ihr Gesicht. Glücklich machte sie der Anblick nicht.

Manconi hatte recht, dachte sie: Ich sehe verbittert aus! Ist ja wohl kein Wunder. Aber sie entdeckte nichts, was hätte in Ordnung gebracht oder kaschiert werden müssen. Schminke und solches Zeug hatte sie sowieso nicht. Sie richtete Zahnbürste, Kamm und alle anderen Toilettenutensilien peinlich genau aus, sodass jedes Stück senkrecht zur Waschtischkante und zum Spiegel lag oder stand, strich das Handtuch über der Stange glatt und wusch sich ein weiteres Mal gründlich die Hände.

In Gegenwart von andern konnte sie sich recht gut zusammennehmen. Aber wenn sie allein war, nahm ihr Tick, der ihr seit ein paar Wochen zu schaffen machte, überhand. Heute war er noch stärker als sonst. Eine ausgewachsene Zwangsstörung sei es nicht, hatte Manconi gesagt, aber es könnte sich eine daraus entwickeln, wenn sie nicht lerne, den Impulsen zu widerstehen.

Sie trocknete sich die Hände und zog dann resolut ihre Trainingskleidung aus. Sie schob alles, was sie getragen hatte, in die kleine Waschtrommel neben der Badewanne und ließ die Maschine laufen. Dann stellte sie sich unter die Dusche und seifte sich energisch von Kopf bis Fuß ein. Bald fühlte sie sich wie neu geboren.

Jaja, die Gommer Luft, dachte sie. Vielleicht war sie wirklich so heilsam, wie viele sagten. Deswegen war sie ja ins Goms gekommen: um Geist und Seele zu kurieren, um ein neues Leben anzufangen. Frei von dieser Seelenmarter. Wenn es nur schon so weit wäre!, dachte sie. Aber erst muss ich da durch.

Seit Antonio nicht mehr lebte, war ihr Leben nicht mehr, was es einmal war. »Sein Tod war ein Trauma«, hatte Manconi gesagt. Trotz der schwierigen Beziehung, die sie geführt hatten. Allerdings! Es war wie ein Erdbeben gewesen, kein Stein war auf dem andern geblieben. Sie hatte ihre Stelle bei der Staatsanwaltschaft schon im Jahr davor gekündigt – nicht ganz freiwillig zwar – und arbeitete zuerst bei einem Bewachungsdienst, dann als Sportlehrerin, an einer Privatschule, die nicht auf dem Lehramtsdiplom bestand. Nach einem halben Jahr hatte sie die Nase voll. Sie hatte daran gedacht, einen Winter lang als Tauchlehrerin am Roten Meer zu jobben. Doch dann sah sie im vorletzten Herbst auf dem Portal für Touristikjobs diese Ausschreibung: »Lust auf Gommer Winter?«

Lust nicht gerade, hatte sie gedacht. Sie kannte das Goms ja kaum. Aber sie nahm die Anzeige als einen Wink des Schicksals und bewarb sich. Carlo Steffen stellte sie sofort ein, aber nicht als Langlauflehrerin – obschon sie das Zeug dazu bestimmt hätte! –, sondern als Mitarbeiterin in der Administration und im Verkauf. Als seine rechte Hand, hatte er gesagt, und damit hatte er sie natürlich um den Finger gewickelt.

Ob der komische Kauz heute Abend wohl wirklich kommt?, fragte sie sich, als sie sich die Haare trockenrieb. Versprochen hat er es ja. Ausnahmsweise benützte sie noch den Fön, denn sie wollte nicht mit feuchtem Haar in die Kälte hinaus.

Vor zwei Tagen hatte dieser Walpen an der Theke des Kursbüros gestanden und doch tatsächlich mit ihr geflirtet! Ziemlich unbeholfen zwar, er war nicht gerade ein Don Juan. Trotzdem, so etwas war schon lange nicht mehr vorgekommen.

Sie warf einen weiteren prüfenden Blick in den Spiegel.

»Zara, Zara!«, sagte sie laut und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, als ob sie sich wachrütteln müsse.

Wieso nistete sich ausgerechnet dieser Mensch in ihrem Kopf ein? Weil er, auch wenn er kein Don Juan war, Selbstsicherheit ausstrahlte? Zugegeben, sie hatte eine Schwäche für selbstsichere Männer. Für solche, die wussten, was sie wollten. Nicht immer war das gut ausgegangen.

Was soll das?, dachte sie und schlug sich nochmals auf die Stirn, vergiss es! Sie beschloss, den Kauz, wenn er überhaupt kam, während des Apéros nicht zu beachten. In ihrem verwundeten Herzen war sowieso kein Platz für einen anderen Mann.

Seit sie ihren Entschluss gefasst hatte und wieder im Goms arbeitete, seit Oktober, war sie innerlich ruhiger geworden. Und durch die Beschäftigung mit den Kursen und den Kursteilnehmern – sie kannte den Job vom letzten Winter her – ging es ihr schon deutlich besser. So etwas wie Seelenruhe schien auf einmal in Reichweite. Oder war es bloß eine Ruhe vor dem Sturm?

*

Kauz stand im kleinen Saal des Sporthotels Galenblick, inmitten der Teilnehmer, die morgen mit ihm den Kurs begannen. Er schaute um sich. Zu mehr als einem Salü hier oder einem Händedruck dort fühlte er sich nicht verpflichtet. Salznüsschen und trockene Häppchen – Käsebissen auf Roggenbrot – standen herum, Fendant und Dôle wurde ausgeschenkt.

So freundlich und unkompliziert wie er Kauz im Laden bedient hatte, so locker begrüßte Carlo Steffen jetzt die Anwesenden. Mit ein paar witzigen Bemerkungen sorgte er sofort für eine entspannte Atmosphäre. Ohne dick aufzutragen, stellte er seine Schule und deren Kursprogramm vor. Dann erkundigte er sich, ob alle mit der Unterkunft zufrieden waren.

»Für den Fall, dass es Wünsche oder Fragen an die Adresse des Hotels gibt, hole ich jetzt den Hoteldirektor«, kündigte Carlo an und verschwand aus dem Saal. Gleich kam er wieder herein und fragte im Ton eines Hoteldirektors händereibend: »Alles zu Ihrer Zufriedenheit, meine Damen und Herren? Irgendwelche Wünsche, Klagen oder Fragen?«

Es gab ein Schmunzeln und leichtes Kopfschütteln. Die Insider kannten den Gag schon.

Aha, dachte Kauz, vermutlich ist der Hoteldirektor gerade nicht da, Carlo schlüpft zum Schein in seine Rolle und macht ein bisschen auf Hotelier.

Da kam ein zweiter Carlo herein, der dem ersten glich wie ein Ei dem andern: die gleiche athletische Statur, das gleiche gesunde Gesicht, den gleichen südländischen Einschlag. Und, das war natürlich der Clou des Abends, das exakt gleiche schicke Sportoutfit. Der zweite Carlo, der in Wirklichkeit der erste war, sagte lachend ins Publikum: »Darf ich euch meinen Bruder vorstellen? Für die, die ihn noch nicht kennen: Matteo, der Direktor des Galenblick.«

Alle lachten. Die, die wie Kauz nichts von den Zwillingsbrüdern gewusst hatten, staunten.

»Im Übrigen«, ergänzte Carlo, »ist Matteo Bergsteiger und Bergführer. Einer der besten.«

Matteo winkte bescheiden ab.

»Er war auf dem Everest«, flüsterte einer der Teilnehmer, der in Kauz’ Nähe stand.

Der einzige erkennbare Unterschied zwischen den Zwillingen war die Frisur. Carlo hatte eine nicht übermäßig lange, aber immer noch wilde, struppige Berglermähne. Matteo trug sein Haar, wie es sich für einen Hoteldirektor gehörte, kürzer geschnitten. Für seinen Auftritt hatte er sich, damit die Täuschung gelang, wild verstrubbelt, jetzt strich er die Haare mit den Händen wieder glatt.

Da es nichts zu meckern gab und nichts zu wünschen übrigblieb, verabschiedete sich Matteo wieder. Es gab freundlichen Applaus für die kleine Show.

Carlo stellte nun seine Mitarbeiter vor. Zuerst einen älteren Sportartikelverkäufer mit Namen Noldi. Er hatte schütteres graues Haar und einen ebenso schütteren Schnurrbart. Noldi arbeite auch in der Werkstatt, sagte Carlo, und sei dort für das Wachsen und Präparieren der Skier zuständig. Auch die meisten Reparaturen führe er im Handumdrehen aus.

Dann winkte Carlo Zara nach vorne. Sie sei im Laden und im Büro seine rechte Hand und für die Administration der Kurse zuständig, erklärte er.

»Än Üsserschwiizeri«, lautete sein Kommentar, »aber keine Sorge, sie hat alles im Griff«, lachte er. Sie sei jetzt den zweiten Winter dabei und habe sich prima eingearbeitet. Viele wüssten ja, dass sie eine ausgezeichnete Langläuferin sei. Wann immer sie eine freie Stunde habe, sei sie auf der Loipe anzutreffen.

Die Skilehrer-Mannschaft trat auf. Neun Sportler, Frauen und Männer, junge und auch reifere, stellten sich neben Carlo auf. Der wollte eben anfangen, sie einzeln vorzustellen, da flüsterte Zara ihm etwas ins Ohr.

»Wirklich?«, fragte er und zählte wie zum Scherz die in einer Reihe dastehenden Skilehrer mit dem Finger ab. »Eins, zwei, drei, vier …«, lachte er dann, »da fehlt noch einer. Wo bleibt der denn?«

Wieder sagte ihm Zara etwas ins Ohr.

»Das darfst du laut sagen«, lachte Carlo erneut. Und zu den Teilnehmern gewandt, meinte er locker: »Eine fehlt, nicht einer. Wo ist sie, Björn?«, fragte Carlo jetzt.

Dieser, ein athletischer großgewachsener Mann, zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte er und blickte um sich, »sie müsste längst hier sein.«

»Allerdings«, bestätigte Carlo. »Sorry, Sportsfreunde«, wandte er sich wieder an die Kursteilnehmer. »Eine unserer Skilehrerinnen, Fabienne, ist noch nicht da. Kein Problem, dann werde ich sie euch eben morgen früh vorstellen.«

 

Nach dem Apéro machte sich Kauz wieder auf den Weg zum Bahnhof. Es hatte erneut zu schneien begonnen, ein kalter Wind blies. Kauz zog sich die neu erstandene Skimütze über die Ohren. Er näherte sich der gedeckten Rottenbrücke, da hörte er plötzlich etwas Unerwartetes: Kuhglocken! Es klang wie ein Alpaufzug. Doch halt, das war kein normales Kuhglockengeläut! Was war das?

Treicheln! Da wurden Treicheln, nicht Glocken geschwungen, von Menschenhand. Rhythmisch und kraftvoll. Feierliche Töne mit einem fast unheimlichen Beiklang.

Es war acht Uhr abends vorbei und stockdunkel. Kauz stand jetzt auf der alten Holzbrücke und blickte dorfaufwärts, dorthin, woher die Treicheln tönten, in Richtung Kirche. Das Treicheln kam näher, doch noch war nichts zu sehen. Kauz ging weiter. Ein paar Neugierige, die wie er der Dinge harrten, säumten die Dorfstraße.

Auf einmal war Bewegung im Unterdorf. Die Speicher, die Stadel und Ställe wurden flüchtig erleuchtet, Schatten flackerten über die Holzwände. Und jetzt kam sie um die Biegung, beim großen, dreihundertjährigen Stadel: eine Art Prozession. Eine Schar von vielleicht drei Dutzend Männern, mehrheitlich jungen, in schwarzen Hosen und blauen Kutten, schwarze Zipfelmützen auf dem Kopf. Sie gingen, von der Kirche herkommend, im Gleichschritt unterdorfabwärts, auf die Brücke zu. Jeder trug an seinem Hüftriemen eine große Treichel vor sich her. Mit jedem Schritt ertönte der Treichelklang. Fackelträger in weißen Kutten begleiteten den Zug. An der Spitze schritt ein strenger Mann, wie ein Bischof gekleidet. Ein hölzernes Gerät in der Hand, das er in der Luft auf- und niederschlug, gab er den Takt vor. Die Männer blickten, ganz aufs Treicheln konzentriert, vor sich auf den Boden.

Keine Menschenstimme war zu hören.

Kauz lief ein Schauer über den Rücken. Das Ganze wirkte auf ihn feierlich, ja fast mystisch.

»Was ist das?«, fragte er flüsternd eine alte Frau, die wie er auf der Brücke stehen geblieben war.

»Was das ischt? He, deich Santigleistrichjiär«, gab sie zurück.

Es dauerte einen Augenblick, bis Kauz verstand: Santigleis musste so viel wie Sankt Nikolaus heißen, Trichjiä, das waren natürlich die Treicheln, das Treichelschwingen. Und Trichjiär waren die Männer mit den Treicheln, die Treichelträger. »Aber heute ist doch der fünfte, nicht der sechste Dezember«, wandte er ein. »Der Sankt Nikolaustag ist erst morgen.«

»Bi insch nit«, sagte die Frau kurz. Hier im Goms werde der Heilige Nikolaus eben am fünften gefeiert.

Er erfuhr, dass der Umzug durchs ganze Dorf führte, auch nach Gluringen, und dass er mehrere Stunden dauerte. Dafür wurden die Männer unterwegs mit warmem Wein und zum Abschluss des feierlichen Umzugs um Mitternacht mit einer herzhaften Suppe verköstigt. Die Frau wurde langsam warm mit ihm. Sie sagte, dass am Nachmittag das Santigleistrichjiä der Kinder stattgefunden habe, wie in den anderen Dörfern des Goms auch. Aber in keinem der umliegenden Dörfer, außer in der Grafschaft, gebe es nachts diesen Umzug der Männer.

»Nummä bi insch, z Reckigä«, sagte sie stolz.

Kauz sah den Treichlern und Fackelträgern nach, bis sie hinter dem Galenblick in der Dunkelheit verschwanden und weiter Richtung Stalenkapelle zogen. Die Trichjiär waren noch lange zu hören.

Donnerstag, 6. Dezember

Der Langlaufunterricht sollte punkt zehn Uhr beginnen. Kauz war eine Viertelstunde früher erschienen – Hund Max hatte er im Speicher zurückgelassen – und reihte sich aufgrund seiner Selbsteinschätzung bei den Anfängern des klassischen Stils ein.

Carlo Steffen stand draußen vor der Schule und gab, Zara an seiner Seite, den Langlauflehrern letzte Anweisungen. Kauz’ Klasse stand am nächsten bei der Gruppe.

»Nein«, hörte Kauz eine Stimme, »sie ist nicht da.«

Er sah auf: Björn, der Skilehrer, den Carlo gestern angesprochen hatte, schüttelte besorgt den Kopf. Er sah übernächtigt aus.

»Zara, was machen wir jetzt?«, fragte Carlo.

Zara gab im Flüsterton Antwort.

Carlo sah sie einen Augenblick überrascht an. Dann sagte er: »Gut gemacht. Danke.«

Jetzt wandte er sich den wartenden Kursteilnehmern zu.

»Güätä Tag!«, rief er über das Schneefeld neben der Loipe, auf dem sich die Kursteilnehmer aufgestellt hatten. »Gut geschlafen?«

Ein beifälliges Raunen war die Antwort.

»Seht euch den Neuschnee an! Ist das nicht ein Geschenk?!«, rief er weiter, machte eine weitausholende Geste und blickte nach oben. »Und blauer Himmel. In einer Stunde haben wir Sonnenschein! Ähm«, machte er und räusperte sich, »es gibt eine kleine Änderung bei den Instruktoren, die euch unterrichten. Fabienne, die die Klassisch-Anfänger betreut, fällt leider aus. Aber wir haben vollwertigen Ersatz: Nik springt ein, einer unserer, ähm«, an dieser Stelle räusperte sich Carlo, »einer unserer ehemaligen Instruktoren. Einige kennen ihn vielleicht von früher. Er wird gleich hier sein. Also dann, Sportsfreunde, einen schönen Tag wünsch ich euch!«

Die Skilehrer gingen zu ihren Klassen. Zara, die draußen stehen geblieben war, trat zur Anfängerklasse und sagte, in wenigen Augenblicken werde ihr Instruktor eintreffen.

»Bin schon da!«, rief da jemand. Ein jüngerer Mann, Typ Naturbursche und etwas außer Atem, gesellte sich zur Anfängerklasse.

»Ich bin Nik«, stellte er sich vor und drückte jedem die Hand. Er roch nach Stall.

Als der Unterricht am Mittag zu Ende war, nahm er Kauz beiseite. Er sei bei den Anfängern eigentlich falsch, meinte er. Seine Technik stamme zwar aus dem letzten Jahrhundert. Skiwandern nenne er so was, nicht Langlaufen.

»Aber du stehst sicher auf den Brettern und kommst zügig voran. Geh besser in die Mittelstufe. Dort machen sie in kurzer Zeit einen guten Langläufer aus dir.«

Kauz sah ihn zweifelnd an.

»Doch, doch, glaub mir. Das sehe ich.«

»Wenn du es sagst«, sagte Kauz und drückte Nik die Hand, »dann wechsle ich die Klasse. Schade, ich wäre gern bei dir geblieben. Danke für deine Tipps.«

»Ich behalte dich im Auge«, lachte Nik und verabschiedete ihn mit einer aufmunternden Handbewegung.

Mit ein paar wenigen Schlittschuhschritten war Nik bei den anderen Skilehrern, die jetzt Instruktoren hießen, wie Kauz schon gelernt hatte. Sie hatten sich vor der Schule versammelt und fragten gerade Björn aus. Der stand da, zuckte die Schultern und schüttelte nur immer wieder den Kopf.

Fabienne, die Skilehrerin, die gestern den Apéro verpasst hat, ist wohl krank, dachte Kauz. Oder verunfallt. Den Gesichtern nach zu schließen ging es um etwas Ernstes.

Kauz stieg aus der Bindung und schulterte die Skier. Er ging an den Skilehrern vorbei.

»Vermisst? Seit wann?«, fragte jemand.

»Seit gestern Nachmittag«, murmelte Björn.

Den Nachmittag verbrachte Kauz mit Max auf der Hundeloipe. Max hatte bald begriffen, dass er ihm nicht in die Quere kommen durfte. Der schwarze Hund tollte in angemessenem Abstand zur Spur durch den Schnee, preschte übermütig voraus und kam wieder zurückgerannt. Kauz versuchte indessen hartnäckig, Niks Anweisungen umzusetzen: Abstoßen!, hatte der gesagt, nicht die Füße vorwärtsschieben! In die Knie! Und wieder hoch! Oberkörper nach vorne! Aber das war einfacher gesagt als getan.

In regelmäßigen Abständen blieb er stehen und warf einen Schneeball, sodass Max etwas zu schnappen hatte. Der duckte sich jedes Mal sprungbereit und kläffte, bis der Schneeball flog, dann stob er hinterher und überschlug sich im Schnee, wenn er den zerberstenden Ball zu fassen kriegte.

Gegen Ende des Nachmittags waren beide ziemlich erschöpft. Da Kauz, wenn er Max dabeihatte, die normale Loipe meiden musste, nahm er mit ihm den Zug nach Münster. Vom Bahnhof ging er durchs Dorf, Richtung Lange Gasse.

»Kaffemili« – Kaffeemühle –, so war ein kleines Lokal angeschrieben, das Kauz bisher noch nie gesehen hatte. Das Café befand sich in einem alten Holzhaus, mitten im Dorf, nicht weit von der Margarethenkapelle. Ein Café in Münster, das ist ja was Neues!, staunte Kauz. Das hat bisher gefehlt. Gepflegt dinieren konnte man in der Auberge – Relais et Auberge du Sauvage lautete der volle Name des noblen Hauses –, und selbstverständlich wurde dort nach dem Essen Kaffee und Kuchen serviert. Aber wer bloß eine Tasse Kaffee trinken wollte, der suchte den Gommereggä, eine andere Dorfbeiz oder eines der Hotels am Dorfrand auf. Dort musste er sich wohl oder übel mit den Biertrinkern abfinden. Kaffee und Kuchen, das war in Münster ein bisher unbekanntes Angebot. Kauz wollte gerade das Lokal betreten, da tippte ihn jemand auf die Schulter.

»Bischäs dü, Chüzz?«

Er wandte sich um. Ria Ritz stand in voller Polizeimontur da, das Haar unter der Uniformmütze wie gewohnt zum Pferdeschwanz gebunden. Sie lachte ihn breit an.

»Du bist also wieder hier. Und treibst Sport?«, spöttelte sie. »Wusste ich gar nicht.«

Sie begrüßten sich herzlich. Die Art, wie sie im Sommer beim Mordfall Imfang zusammengearbeitet hatten, war der Beginn einer echten Freundschaft gewesen.

»Und du?«, fragte Kauz. »Dienstlich hier?«

»Richtig«, bestätigte sie, »ich muss einer Vermisstmeldung nachgehen.«

»Die Skilehrerin? Fabienne, oder? Die wird wohl seit gestern Nachmittag vermisst …«

»Woher weißt du das?«, fragte Ria.

»Ich habe da was aufgeschnappt. Ich mache nämlich einen Langlaufkurs.«

»Bei Carlo Steffen?«

»Genau.«

»Ach so. Na gut, wenn du es schon weißt: Ja, Fabienne Bacher wird vermisst. Seit gestern Abend spurlos verschwunden. Ihr Mann …«

»Björn?«

»Donnerwetter, Chüzz. Ja, Björn hat sie gestern Nacht als vermisst gemeldet. Zuerst dachte er, sie sei ins Unterland gefahren. Dachten wir auch, es war das Naheliegendste. Das Paar hatte einen Streit. Aber das behältst du für dich, klar?«

»Klar.«

»Dort war sie aber nicht. Auch bei ihren Eltern, bei Freunden und Bekannten nicht. Also haben wir noch in der Nacht eine Rettungskolonne losgeschickt – ohne genau zu wissen, wo suchen. Wir fürchten das Schlimmste: dass sie vielleicht verunfallt ist und irgendwo im Schnee liegt …«

»Dann wäre sie erfroren. Es war sehr kalt in der letzten Nacht.«

»Eben«, sagte Ria mit besorgtem Gesicht. »Jetzt muss ich noch mal mit diesem Björn reden. – Aber wir sehen uns, nicht wahr? Wie lang bleibst du im Goms?«

»Bis Ende Jahr.«

»Wunderbar! Da liegt mehr als ein Treffen drin.«

»Grüß mir Thomas.«

»Klar. Er wird sich freuen.«

»Und die kleine Emma.«

Kauz war im Sommer bei der Familie Ritz-Abgottspon ein und aus gegangen.

»Tschau«, sagte Ria herzlich und ging.

Kauz betrat die Kaffemili. Es war erst vier Uhr nachmittags, zu früh für ein Feierabendbier, gerade richtig für Kaffee und Kuchen. Kaffemili, das klang nach frisch gebrühtem Filterkaffee. Er zog die Tür hinter sich zu und schaute sich um: ein schnuckeliges, altmodisch eingerichtetes Lokal mit ein paar kleineren Tischchen, darauf gehäkelte Tischdecken. In einem Erker stand ein runder Tisch, an dem fünf Gäste Platz hatten. Kauz staunte nicht schlecht, als er die Frau hinter der Theke an einer riesigen modernen Kolbenmaschine hantieren sah.

Italienisches Modell vom Feinsten, staunte er, das Ding könnte in einer italienischen Bar stehen. Espresso aus einer solchen Maschine, das dürfte im Goms einmalig sein.

»Darf ich den Hund reinnehmen?«, fragte Kauz.

Die Frau wandte sich um. Eine kleine Person mit kurzen braunen Haaren, die er in Münster noch nie gesehen hatte. Sie war hochschwanger, ihr Bauch kugelrund.

»Lieber nicht«, sagte sie. »Nasse Hunde stinken.« Doch dann schien sie es sich anders zu überlegen, es waren ja noch kaum Gäste da. »Ach, egal«, sagte sie. »Kommt herein. Wenn jemand reklamiert …«

»… dann gehen wir wieder«, kam ihr Kauz zuvor. »Da gibt’s ja richtigen Espresso!«, sagte er und zeigte anerkennend auf die Maschine.

Die Frau strahlte. Die Maschine war offensichtlich ihr ganzer Stolz. »Nicht nur das«, sagte sie. »Auch Ristretto, Macchiato, Cappuccino, Lungo, alles, was du willst.« Damit war klar, dass die Frau ihre Gäste duzte. »Und hausgemachten Kuchen haben wir auch«, fuhr sie fort. Sie zeigte auf die Theke, auf der ein halbes Dutzend Kuchen und Torten standen. Sie waren angeschnitten, sodass man ihr Innenleben sehen konnte, und mit einer durchsichtigen Haube abgedeckt.

»Einen Ristretto, bitte. Und ein Stück von dem da«, er zeigte auf einen flachen, gelblichen Kuchen auf der Theke.

»Zitronentarte? Gern. Die wird dir garantiert schmecken.«

»Seit wann gibt’s denn das Lokal?«, fragte Kauz, als die Frau die Sachen auftischte.

»Das zweite Jahr.«

»Wirklich? Das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Warst du im letzten Winter nicht hier?«

»Nein, nur im Sommer und Herbst.«

»Aha, darum. Wir haben nur im Winter offen. Von Dezember bis März. In der übrigen Zeit würde das Geschäft kaum gehen. Wenn es einmal richtig angelaufen ist, öffnen wir vielleicht auch während der Sommer- und der Herbstferien.«

»Die Gommer haben wohl keine Zeit für Kaffee und Kuchen? Nur die Touristen.«

»So ist es«, lachte die Frau. »Und zu denen gehörst du doch, oder? Er stinkt gar nicht so schlimm«, fuhr sie fort und zeigte auf Max, der sich unter Kauz’ Tischchen gelegt hatte.

»Du bist ja auch keine Gommerin«, erwiderte Kauz, denn die Frau sprach nur gebrochen Wallissertitsch. »Kommst du aus Österreich?«

»Nein, aus dem Südtirol. Aber ich lebe seit drei Jahren im Goms.«

»Ach so! Aus Italien, jetzt ist alles klar. Ich habe mich schon über die tolle Espressomaschine gewundert.«

Kauz plauderte noch eine Weile mit der jungen Frau. Sie hieß Mimi und war seit drei Jahren mit einem Bauern aus Reckingen verheiratet. Als gelernte Konditorin arbeitete sie zwar von Frühjahr bis Herbst auf dessen Hof, im Winter, wenn in Münster die meisten Gäste da waren, betrieb sie aber nachmittags die Kaffemili. Nachdem er den feinen Ristretto geschlürft und die köstliche Zitronentarte verdrückt hatte, ging er in die Lange Gasse und blieb vor seinem kleinen Speicher stehen. Meistens dachte er – und manchmal sagte er tatsächlich – mein Speicher, obwohl es doch der Speicher seines Freundes Wendel Imfang gewesen und jetzt, wo er tot war, der seiner Mutter war. Wendels Vater war im Herbst, nicht lange nach dem Tod des Sohnes, ebenfalls gestorben.

Er stand vor einem wahren Postkartensujet: Der Oberbau des Speichers ruhte auf acht Steinplatten, die ihrerseits auf hölzernen, auf den Unterbau gesetzten Stadelbeinen standen. Durch den freien Raum zwischen Ober- und Unterbau hindurch sah Kauz direkt aufs Weisshorn. Der Berg war auch am heutigen Abend dunkel umwölkt.

Wenn die Suchtrupps die vermisste Fabienne noch nicht gefunden haben, dachte Kauz, dann besteht keine große Hoffnung, dass sie noch am Leben ist. Es sei denn, sie liegt gar nicht draußen im Wald oder neben der Loipe, sondern sitzt im Unterwallis oder sonst irgendwo gemütlich bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein. Oder sie liegt in einem fremden Bett unter der warmen Decke. Als Kriminalpolizist hatte er schon die kuriosesten Auflösungen einer Vermisstmeldung erlebt.

Max hockte sich geduldig auf den Küchenboden, bis Kauz den Napf füllte. Dann machte er sich über sein Futter her.

»Nicht so gierig!«, brummte Kauz.

Er holte die Sachen, die er fürs Abendessen vorgesehen hatte, und legte sie auf den Küchentisch: Polenta vom Vortag, eine Birne, ein Stück Gorgonzola, Crème fraîche und die passenden Gewürze. Nur wenn er schlecht drauf war, ließ er sich gehen und verdrückte eine Fertigmahlzeit oder ein Schinkenbrot. Normalerweise kochte er sich etwas Anständiges, das war eine Frage der Selbstachtung. Nichts Aufwendiges, überkandidelte und exotische Gerichte waren nicht sein Ding. Er war ein Freund der einheimischen und italienischen Küche, von einfachen, mit Liebe zubereiteten Gerichten. Er öffnete die Flasche Amigne, die er kühl gestellt hatte, und goss sich ein Glas ein.

Hund Max scheuerte sich im leeren Napf fast die Zunge wund, um Kauz zu demonstrieren, dass er noch immer hungrig war.

»Nichts da! Mehr gibt’s nicht«, sagte Kauz und streckte ihm ein Hundebiskuit hin. Max schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.

»He!«, rief Kauz. »Nicht so gierig. Das war eine Delikatesse! Was glaubst du denn?«

Max leckte sich das Maul, hockte sich hin und schaute Kauz mit schräg gelegtem Kopf erwartungsvoll an.

»Jetzt ist aber Schluss«, sagte Kauz, gab ihm aber doch noch ein Biskuit. Er wusch sich die Hände, schälte die Birne, schnitt sie klein, karamellisierte die Stücke in einem Pfännchen auf dem Campinggaskocher neben dem Schüttstein, löschte mit einem Schluck Weißwein ab und ließ alles ein Weilchen köcheln. Dann drückte er die Reste der Polenta vom Vortag flach und schnitt sie in quadratische Stücke. Die gab er in eine feuerfeste Schüssel, legte den in Würfel geschnittenen Gorgonzola darauf, streute Thymian darüber und pfefferte kräftig. Dann platzierte er auf jeder Polentaschnitte eine Portion Birnenkompott und einen Klacks Crème fraîche und schob alles in das Backfach des Ofens. Darunter loderte hinter einer Glastür das Holzfeuer.

Gut geschützt in einem Windlicht stand eine Kerze auf dem Küchentisch, die zündete er an. Er schloss sein Smartphone an den kleinen Verstärker an, den er im Sommer installiert hatte, und tippte auf eines seiner Lieblingsalben.

Come Rain or Come Sunshine, sang die unforgettable Billie Holiday aus den kleinen, aber feinen Boxen. Blues und alter Jazz war das, was Kauz am Feierabend hören wollte. Anders als in seiner mit skandinavischen Möbeln eingerichteten Dreizimmerwohnung im Zürcher Stadtquartier Altstetten war in der spartanischen Küche seines Gommer Schpiichärs kein Lounge Chair, in den er sich fläzen konnte. So setzte er sich auf einen der zwei stabilen Holzstühle am Küchentisch, kippte ihn, nahe genug an der getäferten Wand, sodass er nicht rücklings umstürzen konnte, nach hinten, wippte vor und zurück und legte dann die Füße auf die Sitzfläche des zweiten Stuhls. In dieser halb sitzenden, halb liegenden Stellung, eingelullt von seiner Lieblingsmusik, schaute er in den Schein der Kerze.

Der perfekte Feierabend!, sinnierte er. Er dachte an Wendel und an die traurigen ersten Tage seiner Sommerferien zurück. Als das Essen fertig war, tischte er für sich selber auf, stellte das dampfend heiße Gericht auf den Tisch und setzte sich. Er war mit seiner Improvisation zufrieden: Die Polenta schmeckte sogar besser als am Vortag, die Birnenstücke hatten gerade noch etwas Biss und die Verbindung der Geschmacksnuancen salzig und süß, würzig und mild machte ihn geradezu glücklich. Auch der Amigne passte perfekt dazu. Nachdem er den Tisch abgeräumt hatte, lehnte er sich wieder zurück und wippte in seinem Schaukelstuhl hin und her. Die Füße, die in wollenen Socken steckten, legte er jetzt auf den Küchentisch und hörte das Billie-Holiday-Album zu Ende. Nachdem er Max kurz Gassi geführt hatte, stieg er mit dem Hund in den Oberbau hinauf.

Max legte sich in seinen Korb in der Ecke, Kauz setzte sich ans Fensterbrett seiner Schlafkammer und nahm die Kamera zur Hand. Auf seinem Winterspaziergang am Vortag hatte er einige Landschaftsbilder geschossen. Er betrachtete die Schwarz-Weiß-Bilder auf dem Kameradisplay. Mit dem Galenstock im letzten Abendlicht und mit der Nebelbank in der Rottenebene war er recht zufrieden. Die Sturmstimmung talabwärts mit dem gerade noch sichtbaren, umwölkten Weisshorn hatte er gut eingefangen. Er löschte die Bilder, die ihm nicht gefielen, und sicherte einige, die ihm besonders gelungen schienen. Er ging auf dem Display weiter zurück und schaute sich auch die Bilder von der skurrilen, sommerlichen Winterlandschaft mit dem unnatürlichen weißen Band in der Talsohle an. Diese Bilder erfreuten zwar nicht das Herz, aber sie waren eine gelungene Dokumentation der Realität.

Letzten Sommer, als er nach seiner unerwarteten Freistellung bei der Zürcher Kriminalpolizei Hals über Kopf ins Goms geflüchtet war, hatte er die fast in Vergessenheit geratene Freizeitbeschäftigung der digitalen Schwarz-Weiß-Fotografie wiederbelebt. Seither ging er im Goms kaum ohne Kamera ins Freie. Zum Langlaufen nahm er das sperrige Ding natürlich nicht mit, da begnügte er sich mit dem Fotografieren per Smartphone.

Samstag, 8. Dezember

Zwei Tage lang war es ordentlich kalt gewesen, die Sonne schien, und es lag knöchelhoch Schnee. Jetzt schlug es wieder um. Es schneite zwar den ganzen Tag, aber nur ganz sanft. Ein Temperaturanstieg war angesagt, bald würde der Niederschlag als Regen fallen, und dann war es mit der Winterpracht wohl wieder vorbei.

Im Langlaufen machte Kauz rasche Fortschritte.

»Prima, Kauz! Sehr gut! Du kannst es!«, rief ihm Claire zu. »Es ist wie Velofahren: So was verlernst du nie, wenn du es mal gekonnt hast.« Schonungsvoll benannte sie ab und an Mängel seiner Lauftechnik, die es zu korrigieren galt.

Claire war eine der Üsserschwiizer Instruktorinnen, die Carlo für die Saison angeheuert hatte. Die Hälfte der Skilehrer an der Langlaufschule Steffen waren Gommer, die andere Hälfte stammte aus dem Unterland. Anders als Nik, der die Technik seiner Schüler trocken kommentierte, lobte Claire immerzu, wenn sie mit ihren Kursteilnehmern sprach. Kauz vermutete, dass sie im Hauptberuf Heilpädagogin war. Meist begann sie den Unterricht mit Aufwärmübungen, die an Ringelreihetänzchen erinnerten. Auch Ballzuwerfen zur Schulung von Gleichgewicht und Beweglichkeit sowie Merkspielchen, darauf angelegt, sich die Namen aller Teilnehmer einzuprägen, gehörten in ihr Programm. Kauz war leicht genervt davon. Aber er hatte in den zwei Tagen trotzdem eine Menge von Claire gelernt.

»Ihr habt gaaanz tolle Fortschritte gemacht!«, lobte Claire am Schluss des zweistündigen Unterrichts überschwänglich. »Ich bin echt stolz auf euch! Morgen ist Kursende. Übt heute Nachmittag also fleißig weiter! Ihr seid die beste Klasse, die ich je hatte!« Sie klatschte der Klasse mit behandschuhten Händen Beifall.

Als die Teilnehmer auseinandergegangen waren, blieb Kauz neben ihr stehen und fragte: »Weiß man etwas von Fabienne?«

»Leider nicht«, murmelte Claire.

Kauz spürte, dass sie gern mehr gesagt hätte, aber nicht recht wusste, ob sie durfte. Vor und nach dem Unterricht wurde bei den Skilehrern über das Thema Fabienne rege getuschelt. Es war durchgesickert, dass es zwischen Fabienne und Björn Zoff gegeben hatte und dass Fabienne im Zorn – einige wussten zu berichten: in tiefer Verzweiflung – davongelaufen sei. Es war nicht mehr auszuschließen, dass Fabienne nicht bloß schmollte, sondern dass ihr etwas zugestoßen war. Oder dass sie sich etwas angetan hatte.

»Will Carlo nicht, dass ihr darüber sprecht?«, fragte Kauz.

»Na ja«, wand sich Claire. »Er will halt nicht, dass man es an die große Glocke hängt.«

»Verständlich«, meinte Kauz. »Wann hat man Fabienne denn das letzte Mal gesehen?«

»Am Mittwochnachmittag. Auf dem Weg zum Bahnhof, heißt es.«

»Ach so«, sagte Kauz, »vielleicht ist sie ja bloß weggefahren.« Aber er glaubte seinen Worten selbst nicht.

Schon am Mittwochabend war ein Streifenwagen der Walliser Kantonspolizei vor Steffen Sport vorgefahren. Zwar war alles diskret abgelaufen, aber dennoch bekamen einige mit, dass tags darauf der Skischulleiter Carlo Steffen, die Kursadministratorin Zara und der Skilehrer Björn von der Polizei befragt wurden. Die Gerüchteküche brodelte demzufolge, wenn auch auf kleiner Flamme.

Kauz nahm sich Claires Empfehlung, weiter zu üben, zu Herzen und lief nach dem Unterricht auf den Skiern nach Münster zurück. Er nahm einen Imbiss und machte sich für die Hundeloipe bereit. Die war jenseits von Reckingen angelegt, und so nahm er den Zug. Auf dem Rückweg ging er mit Max in der Langlaufschule Steffen vorbei, um sich für einen weiteren Kurs einzuschreiben. Er wollte seine frisch gemachten Fortschritte vertiefen.

»Okay, Kauz«, sagte Zara, als er im Kursbüro an der Theke stand. »Wenn du nahtlos anschließen willst, dann wäre das ein Dreitages-Kurs, Beginn am Montag. Oder willst du eine ganze Woche buchen?«

»Drei weitere Tage, fürs Erste«, sagte Kauz und versuchte, Zara wenigstens zu einem Blickwechsel zu bewegen. Doch sie sah konstant auf den Bildschirm oder blätterte in ihren Papieren.

»Viel zu tun?«, fragte er.

»Ja«, antwortete sie knapp und hämmerte auf die Tastatur. »Die Kurse sind recht busy«, ergänzte sie, vielleicht um nicht unhöflich zu sein. »Du wirst sehen, die Klassen sind nächste Woche eher größer.«

»Sind dann auch mehr Instruktoren da?«

»Nein«, erwiderte sie. »Das nicht, außer …«

»Außer Fabienne taucht wieder auf, meinst du?«

Zara nickte und beschäftigte sich wieder mit ihren Papieren.

»Weiß man …?«

»Nein«, unterbrach sie ihn, ohne aufzusehen. »Aber Carlo gibt heute vor dem Abendessen ein kurzes Communiqué heraus.«

»Ein Communiqué? Schriftlich?«

»Nein, er sagt einfach ein paar Worte zu den Teilnehmern, die im Galenblick logieren. Damit die Gerüchte nicht überkochen. Und damit man Björn in Ruhe lässt.«

»Verstehe. Aber ich wohne nicht hier im Hotel.«

»Ach so, stimmt. Na dann«, sagte sie, die Augen fest auf den Bildschirm geheftet.

Zicke!, dachte Kauz.

Doch noch ehe er sich abwandte, sah sie plötzlich doch noch auf, blickte ihn aus ihren braunen, etwas eng stehenden Augen intensiv an, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und fügte, dann aber ohne den Hauch eines Lächelns, hinzu: »Mach’s gut.«

Sonntag, 9. Dezember

In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag fiel mehr Schnee, der nach und nach in Regen überging. Am Sonntagnachmittag, die Temperatur war mittlerweile auf über zehn Wärmegrade gestiegen, regnete es in Strömen. Im Unterland blies der Fön. Der Schnee verwandelte sich in unappetitlichen Matsch. Schneepflüge waren unterwegs, schoben den Matsch beiseite, damit das Regenwasser von den Straßen abfließen konnte und nicht die Keller der Wohnhäuser überschwemmte. Die Bäume, die vor zwei Tagen noch wunderschön verschneit dagestanden hatten, waren nun wieder schäbig und braun anzusehen.

Der Langlaufkurs konnte am Sonntagvormittag nur noch schlecht und recht beendet werden. Eilig lösten sich die Klassen nach der letzten Unterrichtsstunde auf. Niemand hatte Lust, noch lange im Regen herumzustehen. Wer an diesem Tag abreiste, verabschiedete sich von Claire und den anderen Teilnehmern mit dem Versprechen, nächstes Jahr wiederzukommen. Diejenigen, die noch etwas länger blieben, wünschten sich gegenseitig besseres Wetter.

Ein Tag zum Vergessen!, dachte Kauz, als er nach dem Unterricht, die Skier geschultert, durch die Lange Gasse watete. Vor seinem Speicher stand der Schneematsch knöcheltief. Er ließ Max aus dem Speicher, holte die Schneeschaufel aus dem gegenüberliegenden Ziegenstall und schob den Matsch beiseite, damit das Wasser abfließen konnte. Indem er Max mit der Hand Regenwasser ins Gesicht spritzte, brachte er den Hund dazu, sich draußen energisch zu schütteln. Sonst hätte der das in der Küche getan, und diese Dusche wollte Kauz sich und dem Mobiliar ersparen.