Gott hat auch mal 'nen schlechten Tag - Lucy Astner - E-Book
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Gott hat auch mal 'nen schlechten Tag E-Book

Lucy Astner

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Beschreibung

Manchen Menschen schickt das Leben ein Wunder. Anderen schickt es die achtjährige Lupi …

Der TV-Moderator Jacob Chrissen führt ein Leben in Saus und Braus – bis er bei einem Helikopterabsturz seine Frau und seinen Sohn verliert. Dass er selbst nahezu unversehrt davonkommt, grenzt an ein Wunder. Doch Jacob sieht keinen Sinn mehr im Leben, und von Wundern hält er auch nicht viel.
Die achtjährige Lupi dagegen könnte dringend ein Wunder gebrauchen. Als sie Jacob trifft, steht für sie fest: Dieser Mann muss Gott persönlich sein! Wer sonst überlebt einen Sturz vom Himmel? Und so ist Lupi wild entschlossen, Jacob zu zeigen, dass das Leben schön ist – und die Welt ihn noch braucht.

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Seitenzahl: 482

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Buch

Der TV-Moderator Jacob Chrissen führt ein Leben in Saus und Braus – bis er bei einem Helikopterabsturz seine Frau und seinen Sohn verliert. Dass er selbst nahezu unversehrt davonkommt, grenzt an ein Wunder. Doch Jacob sieht keinen Sinn mehr im Leben, und von Wundern hält er auch nicht viel.

Die achtjährige Lupi dagegen könnte dringend ein Wunder gebrauchen. Als sie Jacob trifft, steht für sie fest: Dieser Mann muss Gott persönlich sein! Wer sonst überlebt einen Sturz vom Himmel? Und so ist Lupi wild entschlossen, Jacob zu zeigen, dass das Leben schön ist – und die Welt ihn noch braucht.

Autorin

Lucy Astner, Jahrgang 1982, lebt mit ihrem Mann und den vier gemeinsamen Kindern in Hamburg. Als Drehbuchautorin schreibt sie Kinokomödien für Filmgrößen wie Til Schweiger und Matthias Schweighöfer. Ebenso erfolgreich ist Lucy Astner als Autorin von Kinderbüchern, zum Beispiel mit der Serie um Polly Schlottermotz. Mit »Gott hat auch mal ’nen schlechten Tag« hat sie ihren ersten Roman geschrieben.

Weitere Infos zur Autorin finden Sie bei Instagram

@lucyastner oder unter: www.lucyastner.de

Lucy Astner

Gott hat auch mal

’nen schlechten Tag

Roman

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Originalausgabe April 2020

Copyright © 2020 by Lucy Astner

Copyright © dieser Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: GettyImages/Westend61 GettyImages/AF-studio

FinePic®, München

Redaktion: Anne Fröhlich

LS · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-24461-3V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Lotti, Leni, Emil und Anton.

Und für Philipp.

Ihr seid mein alles – und ohne euch ist alles nichts.

»Komm schon, Kumpel, mach die Tür auf! Oder willst du, dass ich nebenan auf die Klobrille steige und zu dir rüberklettere?« Jacob rüttelte an der Klinke, aber hinter der Tür blieb es still.

Jimmy war schon immer ein ruhiges Kind gewesen, so ruhig, dass es Jacob manchmal unheimlich war. Wie konnte ein fünfjähriger Junge derart lange stillsitzen, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben? Kein Rascheln, kein Knacken, nicht einmal das Geräusch von Atemzügen drang aus der Kabine nach draußen. Wenn Jacob nicht die kleinen glänzenden Lederschuhe unter der Tür gesehen hätte, die Sarah ihrem Sohn für diesen Abend gekauft hatte, hätte er schwören können, die Kabine wäre leer.

Vor ein paar Wochen hatte Jimmy sich schon einmal im Bad eingeschlossen, allerdings zu Hause und nicht in einer Hoteltoilette, die nach einer aufdringlichen Mischung aus Zitrusfrüchten und Rosenwasser roch. Jacob hatte Karten für eine Motocross Show gehabt, zu der auch Markus mit seinem Sohn kommen wollte. Aber Jimmy hatte sich beharrlich geweigert, die Badezimmertür zu öffnen.

»Er fürchtet sich vor dem Motorenlärm«, hatte Sarah sich irgendwann eingemischt, obwohl er sie nicht darum gebeten hatte.

Motorenlärm? Unsinn! Welcher Junge begeisterte sich nicht für fliegende Motorräder, explodierende Auspuffrohre und Schlammspritzer im Gesicht? Sarah hatte keine Ahnung von den Bedürfnissen eines fünfjährigen Superhelden!

Dennoch war Jacob am Ende ohne Jimmy zu der Show gegangen. Markus hatte er erzählt, der Kleine läge krank im Bett …

Aber diesmal würde er nicht nachgeben!

»Also gut, Kumpel, du hast es nicht anders gewollt!« Zielsicher warf Jacob sein Sakko auf eines der Waschbecken und krempelte die Hemdsärmel hoch. »Ich komme jetzt rüber zu dir! Aber eins solltest du wissen: Meine Anzughose ist verdammt eng, und es könnte passieren, dass sie reißt, wenn ich jetzt über die Wand steige. Dann muss ich mit einem riesigen Loch am Hintern zur Preisverleihung!« Er lehnte sich an die Kabinentür. »Und so ziemlich die ganze Welt wird vor dem Fernseher sitzen und sehen, dass ich die Bärchenunterwäsche trage, die deine Großmutter mir zu Weihnachten geschenkt hat!«

Jacob hielt einen Moment inne – und tatsächlich, er hörte es. Leise nur wie ein Flüstern, aber: Jimmy lachte! Jetzt war der Rest ein Kinderspiel! »Glaubst du mir etwa nicht?« Beinahe musste auch er lachen, aber er bemühte sich um einen mahnenden Ton.

»Mm-mm.«

»Mm-mm? Soll das Nein heißen? Du glaubst mir nicht, dass ich gleich zu dir rüberkomme?« Er klopfte an die Tür.

»Ich glaub dir nicht, dass du die Bärchenunterhose anhast.«

»Wenn du die Tür öffnest, beweise ich es dir!«, witzelte Jacob. »Du musst nur den Riegel zurückschieben und …«

In diesem Moment wurde hinter ihm die Tür aufgestoßen. Für einen kurzen Augenblick flutete ein Gewirr von Stimmen und klingelnden Telefonen aus der Lobby zu ihnen herein. Als sich die Tür wieder schloss, blieb nur das Geräusch von hohen Absätzen auf Marmorfliesen.

Jacob musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Sarah war. Als er es trotzdem tat, stellte er überrascht fest, wie umwerfend sie eigentlich aussah in ihrem kurzen schwarzen Kleid. Wären sie nicht verheiratet gewesen, hätte er ihr vielleicht ein Kompliment gemacht. Doch die Umstände waren anders. Sarah war nicht hier, um ihm zu gefallen, und Jacob kannte sie zu gut, um den Blick misszuverstehen, mit dem sie ihn jetzt ansah.

»Steckt er immer noch da drin?«, fragte sie, und die Kälte in ihrer Stimme versetzte Jacob einen Stich.

Er musste jetzt schnell sein, das wusste er, sonst würde Sarah die Sache mit Jimmy an sich reißen, und dazu hatte sie kein Recht, nicht heute und nicht hier! »Dir ist schon klar, dass das die Herrentoilette ist? Frauen haben hier keinen Zutritt!«

Sarahs Brust hob und senkte sich unter der feinen Spitze ihres Dekolletés. Sie schien etwas erwidern zu wollen, stieß dann aber nur einen resignierten Seufzer aus. »Der Empfang ist vorbei, die anderen sind schon unterwegs. Der Helikopter wartet auf dem Dach, und Meggie sagt …«

»Wir sind gleich so weit, okay?« Seine Worte klangen schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Warum nur war alles so kompliziert geworden zwischen ihnen? Er atmete tief durch. »Tut mir leid. Jimmy und ich, wir … unterhalten uns gerade. Stimmt’s, Kumpel?« Unsicher ließ er seine Hand über die Toilettentür wandern, aber aus der Kabine kam keine Antwort. Ungehalten blickte er zu Sarah. »Sag Meggie, wir kommen gleich rauf.«

Sarah nickte und wandte sich wieder zur Tür, doch dann schien sie es sich anders zu überlegen. »Jacob?« Auf einmal hatte ihre Stimme etwas Sanftes, das ihm merkwürdig fremd vorkam. »Wenn Jimmy nicht mitkommen will, dann …« Sie hielt inne. »Ich kann mit ihm im Hotel bleiben. Oder wir warten zu Hause auf dich.«

Jacob kniff die Augen zusammen. Warum musste sie ihn schon wieder wütend machen? »Natürlich will er mit! Ich bin sein Vater!«

»Und ich bin seine Mutter!«

»Es geht aber heute nicht um dich, sondern um mich!« Er zuckte erschrocken zusammen, als er merkte, wie laut er geworden war.

Sarah sah ihn überrascht an. »Du denkst, es geht hier um dich und mich?« Sie schüttelte den Kopf und lachte ungläubig.

»Was ist daran so lustig?«

»Gar nichts.« Plötzlich sah sie ihm direkt in die Augen. Dieser Blick, der ihm früher das Gefühl von Geborgenheit vermittelt hatte, das Gefühl, nichts falsch machen zu können, bohrte sich jetzt wie eine Pfeilspitze in sein Herz. »Er hat Angst, Jacob. Die vielen Menschen machen ihm Angst.«

Als ob er das nicht wüsste! Kam sie sich wirklich so viel schlauer vor als er? Natürlich fürchtete Jimmy sich. Aber deswegen musste man ihn doch nicht auf Samthandschuhen durchs Leben tragen! Die Welt war kein sicheres Spielzimmer, sondern ein Wirbelsturm, und die Kunst bestand darin, mit beiden Beinen fest in seinem Auge zu stehen. Er selbst hatte das viel zu spät erkannt, und Jimmy sollte es besser haben. Er würde ihn Schritt für Schritt in den Sturm führen.

»Ich kümmere mich darum«, murmelte Jacob. »Kannst du das bitte mitnehmen?« Er deutete auf sein Sakko, das noch immer über dem Waschbecken hing. »Und dann sag Meggie, wir sind gleich da.«

»Wie du meinst.« Sarah seufzte und ging.

Als das Klappern ihrer Absätze verklungen war, legte Jacob noch einmal die Stirn an die Toilettentür. »Hey, Kumpel. Du bist doch noch da, oder?« Er klopfte dreimal und wartete. Es dauerte einen Moment, aber dann erwiderte Jimmy das Klopfen. Jacob war erleichtert. »Ein Glück! Ich hatte schon befürchtet, du wärst durch die Toilette verschwunden – dann hätte ich dir wohl oder übel hinterhertauchen müssen.«

Das leise Kichern aus der Kabine verriet ihm, dass er noch nicht verloren hatte. Er hatte noch eine Chance!

»Hör zu, Kumpel, ich …« Jacob hielt inne. »Ich weiß, dass du nicht gerne auf solche Veranstaltungen gehst. Und ich kann das verstehen, ehrlich. Ich finde diese vielen Leute selber ziemlich erschreckend.« Vorsichtig lehnte er sich mit der Schulter gegen die Tür. »Und genau deshalb brauche ich dich heute Abend, verstehst du? Ich kann da nicht einfach alleine hingehen und vor aller Welt diesen Preis entgegennehmen. Wenn wir vor dem Theater über den roten Teppich gehen, musst du an meiner Seite sein und meine Hand halten, damit ich mir nicht vor Aufregung in die Hose mache. Könntest du das tun?«

Einen Moment lang blieb es still in der Kabine, dann räusperte sich Jimmy. »Und Mama?«

»Was ist mit Mama?«

»Soll sie auch deine Hand halten?«

Jacob schwieg verblüfft. »Natürlich soll sie auch meine Hand halten«, sagte er dann. »Ich hab schließlich zwei davon, eine für dich und eine für Mama.« Er hörte, wie Jimmys Füße über den Boden scharrten, und dann, wie der Kleine tief Luft holte.

»Ich will nicht, dass du diesen Preis kriegst.«

»Was?« Damit hatte Jacob nicht gerechnet. Er versuchte zu lachen, kam sich dabei aber ziemlich hilflos vor. »Aber wieso denn nicht? Ich habe hart dafür gearbeitet, und nicht jeder Moderator kriegt …«

»Weil du dann nach Amerika gehst«, fiel Jimmy ihm ins Wort. »Und Mama und ich bleiben hier.«

Jacob spürte einen Knoten in der Brust. »Hat Mama das behauptet?«

Eigentlich hatten sie sich darauf geeinigt, Jimmy nichts zu sagen, bis eine Entscheidung getroffen war. Warum in aller Welt konnte Sarah sich nicht an ihre Abmachung halten?

»Ich habe gehört, wie ihr euch gestritten habt«, antwortete Jimmy leise. »Vor dem großen Saal oben.«

»Gestritten?«

»Du hast gesagt, dass du den Job in Amerika nicht ablehnen kannst, wenn du diesen Preis bekommst.«

Verdammt, das war es also! Jacob schloss die Augen und ließ seine Stirn erneut gegen die kalte Tür sinken. »Ich gehe nicht ohne euch, okay? Wenn ich diesen Job in New York annehme, dann kommt ihr mit. Wir sind eine Familie!«

»Ich will aber nicht nach Amerika.«

»Natürlich willst du nach Amerika«, erwiderte Jacob. »Amerika ist toll! Da gibt es Hamburger, die sind so groß wie Fußbälle.«

»Ich mag kein Fleisch, Papa.«

Wie bitte? Seit wann mochte Jimmy kein Fleisch?

Jacob räusperte sich. »Die haben sicher auch vegetarische Burger.«

»Ich will trotzdem nicht nach Amerika. Und ich will auch nicht, dass du gehst.«

Jacob blickte auf die Uhr: kurz nach acht. Eigentlich hätten sie schon vor fünf Minuten im Freihafen landen sollen …

»Also gut.« Er hatte noch den Geschmack des viel zu süßen Champagners im Mund, den Markus auf dem Empfang ausgeschenkt hatte. »Wenn ich dir verspreche, dass ich nicht nach Amerika gehe, kommst du dann raus und begleitest mich zu dieser Preisverleihung?«

Jimmy zögerte. »Du versprichst es?«

»Ich verspreche es«, antwortete Jacob und wunderte sich, wie leicht es war zu lügen.

Aber was hieß hier schon lügen? Jimmy war ein Kind, er wusste nicht, was das Richtige für sie alle war. Jacob würde ihn schon noch überzeugen. Aber vorher musste er sich dieses Goldene Mikrofon holen. Man hatte es ihm viel zu lange vorenthalten.

Vorsichtig klopfte er ein weiteres Mal an die Tür. »Kommst du?«

Er hörte Jimmy seufzen, dann seine leisen Schritte und schließlich den Riegel, der zurückgeschoben wurde. Als die Tür aufging und sein kleiner Kopf zum Vorschein kam, musste Jacob lächeln. Er war eben doch sein Sohn. Allerdings sah der Kleine mächtig blass aus.

»Ich hab trotzdem ein bisschen Angst, Papa …«

»Ich weiß.« Jacob strich ihm eine dunkle Strähne aus dem Gesicht und legte dabei einige Sommersprossen frei. »Aber das brauchst du nicht. Weil ich nämlich bei dir bin.«

Jimmy verzog unsicher den Mund. »Du lässt mich nicht allein?«

»Ich lass dich nicht allein, versprochen«, flüsterte Jacob und ging vor ihm in die Hocke. Behutsam legte er die Hand auf Jimmys Wange und sah ihm tief in die Augen. »Ich halt deine Hand, und du hältst meine.«

Als Jimmy zögernd nickte, nahm Jacob seinen Sohn auf den Arm und trug ihn hinaus. Und zum ersten Mal seit Langem hatte er das Gefühl, dass tatsächlich alles wieder gut werden konnte.

1

»Jacob?– Kann er mich hören?«

Jacob stöhnte leise auf. Eben erst war er in einen zugefrorenen Teich eingebrochen und quälend langsam unter der dünnen, lichtdurchlässigen Eisschicht ertrunken – und jetzt lauerte hier schon der nächste Traum? Was zum Teufel war nur los mit ihm?

Eigentlich war er nie ein großer Träumer gewesen, aber jetzt jagten plötzlich die wildesten Bilder über seine Netzhaut. Obwohl er viel schlief, war er müde. Seine Kehle war trocken und rau, seine Glieder schwer, und dabei fühlte er sich so seltsam leer, als wäre er nur eine Hülle seiner selbst.

Die Träume machten es nicht besser, im Gegenteil. Sie waren kalt und aufdringlich, und jedes Mal, wenn sie sich wieder verzogen, nahmen sie ein Stück von ihm mit. Wenn das so weiterging, wäre bald nichts mehr von ihm übrig …

»Jacob? Hörst du mich?«

Doch dieser Traum hier war anders.

Carlas Stimme war noch immer so weich und warm wie damals – wie eine Decke in der kalten Nacht. Er hatte sie seit Ewigkeiten nicht gehört. Siebzehn Jahre war es her, dass sie ihn verraten hatte, siebzehn Jahre, in denen er sich ein neues Leben aufgebaut hatte, eines, das viel besser war als alles, was die anderen ihm jemals zugetraut hatten. Carla gehörte nicht mehr zu diesem Leben, und das war gut so. Natürlich hatte sie zwischendurch versucht, Kontakt aufzunehmen, hatte angerufen und Briefe geschrieben, aber er hatte ihr mehr als deutlich gemacht, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Und trotzdem spürte er nun ihre warme Hand auf seiner, als wären sie beide wieder Kinder.

Jacob musste schlucken. Wenn er nicht bald aufwachte, würde dieser Traum hier der schlimmste von allen werden.

»Es ist wie ein Wunder, so was haben wir hier noch nie erlebt.«

Die zweite Stimme gehörte einem Mann, den Jacob nicht kannte.

»Bis auf ein paar Schürfwunden und die Gehirnerschütterung ist er vollkommen unversehrt.«

Jacob spürte, wie Carlas Fingerkuppen kleine Kreise auf seinen Handrücken zeichneten.

»Mein Bruder war immer schon besonders. Wieso sollte es jetzt anders sein?«

Sie klang seltsam müde, und plötzlich zog sie ihre Finger zurück und ließ seine Hand los.

»Weiß er, was passiert ist?«

Im nächsten Moment glitt Jacob in einen neuen Traum hinab. Er war laut und dunkel. Die Rotorblätter des Helikopters dröhnten über seinem Kopf, unter ihnen schlüpfte die Stadt unter die dünne Decke der Abenddämmerung. Während der Hubschrauber langsam höherstieg, spürte Jacob Sarahs Blicke auf sich lasten. Sie hatte vorne neben dem Piloten Platz genommen, sah aber unentwegt nach hinten. Vermutlich wollte sie wissen, ob es Jimmy gut ging, doch nebenbei musterte sie ganz offensichtlich auch Meggie. Jacobs Assistentin hatte links neben ihm Platz genommen, weil sie noch Details zum Ablauf mit ihm durchsprechen wollte, doch Jacob konnte ihr kaum folgen. Er verstand, was sie sagte, aber es drang trotzdem nicht zu ihm durch.

Das Dröhnen, Sarahs smaragdgrüne Blicke – und dann war da auch noch Jimmy auf seiner rechten Seite. Die Lärmschutzkopfhörer waren viel zu groß für ihn, seine schmalen Lippen bebten. Als Jacob seine feuchte Hand in seine nahm, stellte er überrascht fest, wie klein sie noch war.

Wenn das alles vorbei ist, erfülle ich ihm einen Wunsch, beschloss Jacob. Erst dann fiel ihm auf, dass er eigentlich keine Ahnung hatte, was Jimmy glücklich machte …

Plötzlich nahm Jacob keine Zusammenhänge mehr wahr, sondern nur noch Bruchstücke. Von vorne hörte er einen dumpfen Knall, dann schlug sein Körper schmerzhaft gegen Meggies Schulter. Jimmys Kopfhörer krachten gegen die Fensterscheibe. Schreie schrillten in Jacobs Ohren, aber er konnte sie niemandem zuordnen. Sie vermischten sich miteinander, und doch stand jeder Schrei für sich. Jimmys Finger bohrten sich in Jacobs Arm, er rief nach Sarah. Jacob wollte ihn beruhigen, wollte ihm sagen, dass alles gut sei, aber er verlor nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch all die Worte, die lose durch seinen Kopf jagten. Die Lichter der Stadt verschmolzen mit den ersten Sternen am Himmel. Plötzlich wusste er nicht mehr, wo oben und unten war. Das Dröhnen wurde immer lauter, die Motoren stotterten, der Sitz unter ihm bebte. Jacob verlor unter den schweren Stößen jeden Halt. Wenn er Jimmys Hand noch fester drückte, würde er ihm womöglich die Finger brechen. Welcher Vater wollte seinem Sohn schon wehtun?

Jacob bekam keine Luft mehr. Noch mehr Schreie, noch mehr Lärm. Doch der schlimmste Moment war, als er in Jimmys Augen sah.

Und plötzlich waren da nicht nur Schmerzen und Angst, sondern auch Wut, unbändige Wut! Wann hörten diese verdammten Albträume endlich auf?

Jacob versuchte zu schreien, in der Hoffnung, sich selber aufzuwecken. Er versuchte, Jimmy festzuhalten und den Traum zu verjagen, ihn mit Tritten und Fausthieben in die Flucht zu schlagen, aber er war gefangen in all diesen Bildern. Wie ein Pingpongball flog er zwischen den einzelnen Bruchstücken hin und her. Er schnappte nach Luft, schrie, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam, und dann merkte er plötzlich, wie etwas in ihm zerbrach und er in sich zusammensackte.

Denn mit einem Mal erkannte Jacob, dass das hier kein Traum war.

Er war längst wach.

2

Das Problem mit den Fahrrädern, die Becky für sie besorgte, war, dass sie nie die richtige Größe hatten. Aber Lupi beschwerte sich nicht darüber. Sie war zwar erst acht, wusste aber genau, dass »besorgen« nur ein anderes Wort für »stehlen« war. Es stand ihr nicht zu, wählerisch zu sein, und sie wollte Becky auf keinen Fall das Gefühl geben, dass sie ihren Einsatz nicht zu schätzen wüsste.

Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, größer zu werden – oder zumindest groß genug, um beim Fahren endlich auf dem Sattel sitzen zu können. Doch dafür reichte es noch lange nicht. Selbst wenn der Sattel ganz unten war, musste sie noch stehen, um in die Pedale treten zu können, und bei jedem Tritt stach ihr die abgewetzte Sattelspitze in den Rücken.

Außerdem war der Gepäckträger nicht mehr zu gebrauchen. Die Feder war so verrostet, dass Lupi es nicht schaffte, das Metallgestänge so weit nach oben zu ziehen, dass sie ihren Rucksack darunterklemmen konnte. Weil in ihrem Rücken aber der Sattel drückte, musste sie ihre Schultasche beim Fahren vor dem Bauch tragen.

Das alles störte Lupi nicht, sie hatte gelernt, mit Kompromissen zu leben.

Blöd waren nur die anderen Kinder.

Vor allem Vincent machte ihr das Leben schwer. Er war der »Chef« in ihrer Klasse. Becky hatte ihr schon früh erklärt, dass die meisten Chefs sich größer und stärker fühlten, indem sie die Menschen um sich herum kleiner machten. Wäre es nach Vincent gegangen, wäre Lupi vermutlich nicht größer als eine Rosine. Und obwohl sie sehr darauf achtete, ihm aus dem Weg zu gehen, fand er immer wieder etwas, worauf er herumhacken konnte, damit sie noch kleiner wurde, kleiner und kleiner, bis sie sich irgendwann in Luft auflösen würde. Vor ein paar Wochen hatte er es auf ihre Brille abgesehen, die seitdem am Nasenbügel nur noch von ein paar Klebestreifen zusammengehalten wurde. Und heute war also ihr Fahrrad dran …

Marcello und Vincent mussten irgendwie Wind davon bekommen haben, dass sie das alte Rad jeden Tag vorsorglich an der Mauer hinter der Turnhalle anschloss und nicht auf dem Schulhof. Die Schule war gerade erst vorbei, und Lupi stellte ihren Rucksack auf den Boden, um sich zum Fahrradschloss zu bücken, als sie Vincents Stimme hinter sich hörte.

»Soll das ein Fahrrad sein, oder hast du wieder im Müll gewühlt?«

Marcello lachte – wie immer, wenn er dachte, Vincent hätte etwas Witziges gesagt.

Lupi blinzelte die beiden konzentriert an. Sie wusste, dass sie am besten davonkam, wenn sie Vincents Gemeinheiten einfach ignorierte. Wenn sie erstmal auf ihrem Fahrrad saß, würde sie die Jungs schon hinter sich lassen, zumindest für heute.

Doch während sie den Schlüssel ins Schloss steckte, änderte Vincent plötzlich seine Strategie. »Was haben wir denn hier? Ist das nicht ein Fall für die Altkleidersammlung?« Er hob Lupis Rucksack vom Boden auf und hielt ihn wie einen stinkenden Putzlappen in die Luft.

Lupi kniff die Augen zusammen. »Gib mir meinen Rucksack zurück!«

»Das ist dein Rucksack?« Vincent schlug sich theatralisch die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, das wusste ich nicht.«

»Gib ihn wieder her!«

Während Lupi nach ihrem Rucksack griff, nickte Vincent Marcello zu, und der packte sie von hinten. Lupi versuchte, sich freizustrampeln, aber gegen Marcello hatte sie keine Chance. Er war mindestens einen Kopf größer als sie und dreimal so breit.

»Ich will meinen Rucksack!«

»Keine Panik, du kriegst ihn ja wieder«, sagte Vincent und grinste. »Ich will nur schnell mein Autogramm draufschreiben.« Er ließ den Rucksack an der Mauer hinunterrutschen und öffnete den Reißverschluss seiner Hose.

Nein! Lupi konnte nicht hinsehen und schloss verzweifelt die Augen. Aber das leise Plätschern hörte sie trotzdem.

Erst als sie spürte, dass Marcello seinen Griff löste, traute sie sich, die Augen wieder zu öffnen. Die beiden Jungen liefen feixend davon.

Seufzend hob sie den tropfnassen Rucksack vom Boden auf.

Als sie vor ihrer Haustür vom Fahrrad stieg, war auch ihr T-Shirt nass. Vincent hatte ganze Arbeit geleistet und den Rucksack von allen Seiten vollgepinkelt, und Lupi war nichts anderes übrig geblieben, als ihn wie gewohnt vor dem Bauch zu tragen. Der Fleck auf ihrem Shirt sah aus wie ein riesiges Nashorn. Wieso hatte sie heute Morgen ausgerechnet ihr Lieblingsshirt angezogen? Jetzt würde sie es mindestens fünf Mal waschen müssen, bevor sie es wieder tragen konnte.

Mutlos schloss Lupi ihr Rad an und drückte die Haustür auf. Schon bevor sie den ersten Stock erreicht hatte, merkte sie, dass jemand vor der Wohnungstür wartete.

»Na endlich! Ich dachte schon, hier kommt heut kein Schwein mehr.«

Lupi blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie der dicke, schwitzende Mann mit den strähnigen Haaren hieß. Was sie aber sehr wohl wusste, war, dass ihm die Wohnung gehörte.

»Hast du dir in die Hose gemacht?« Grinsend deutete er auf den Fleck auf Lupis Bauch. Sein Lachen klang wie ein rostiger Motor, der nicht anspringen wollte.

Lupi presste die Lippen zusammen und umklammerte den Griff ihres Rucksacks. »Wenn ich mir in die Hose gemacht hätte, wäre wohl kaum mein Shirt nass. Ich pinkele nämlich nicht gegen die Schwerkraft.«

Das Lachen des Mannes verebbte. Er schien zu überlegen, ob sie ihn damit irgendwie beleidigt hatte. Schließlich zuckte er mit den Schultern, kam ihr schnaufend ein paar Stufen entgegen und zog dabei einen Umschlag aus der Gesäßtasche. »Ist auch egal. Wichtig ist nur, dass ihr im Rückstand seid.«

»Rückstand?« Unsicher nahm Lupi den zerknitterten Umschlag entgegen. Das Papier war unangenehm warm.

»Mit der Miete«, murmelte der Mann und hustete. »Drei Monate, mehr mach ich nicht mit. Das hab ich deiner Mutter von Anfang an gesagt.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Onkel Marnie ist vielleicht nett, aber kein Idiot! Bis nächste Woche seid ihr hier raus, sag das deiner Mama.« Mit diesen Worten drängte er sich an ihr vorbei und schob seinen wuchtigen Körper die Treppe hinab.

Lupi sah ihm verunsichert nach. »Ist … ist meine Mutter denn nicht zu Hause?«

»Sieht so aus«, antwortete Marnie. »In der Wohnung ist es jedenfalls ziemlich still.«

Lupi wartete, bis sie seine schlurfenden Schritte nicht mehr hörte, dann zog sie hastig ihren Schlüssel aus der Tasche. Becky musste zu Hause sein – sie war immer da, wenn sie aus der Schule kam! Auf einmal spürte sie einen Kloß in der Kehle. Konnte es etwa sein, dass sie Becky erwischt hatten? Hatte sie es diesmal zu weit getrieben?

Lupis Herz klopfte wie wild, als sie den Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufstieß. Nervös griff sie nach dem silbernen Anhänger an ihrem Hals. Bitte lass alles gut sein!

Unsicher drückte sie die Tür auf. »Becky …?«

Keine Antwort. Die Wohnung lag vollkommen still da, nur von draußen drang das gleichmäßige Dröhnen von den Pressluftbohrern einer Baustelle herein.

»Becky!« Lupi ließ ihren nassen Rucksack auf den Boden gleiten und warf einen Blick in die Küche – da fiel hinter ihr die Wohnungstür ins Schloss.

»Ist er weg?« Becky schob sich blitzschnell an ihr vorbei in die Küche und spähte hinter dem Vorhang hinaus auf die Straße. Sie musste die ganze Zeit hinter der Wohnungstür gestanden haben.

Eigentlich hätte Lupi ihr böse sein müssen, aber sie spürte nur Erleichterung. Becky war nicht weg, sie war hier, bei ihr! »Musstest du mich so erschrecken?«

Überrascht drehte Becky sich zu ihr um. Offenbar merkte sie erst jetzt, wie aufgewühlt Lupi war. »Tut mir leid.« Beinahe fürsorglich beugte sie sich zu ihr herunter und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann fiel ihr Blick auf den nassen Fleck. »Was ist mit deinem Shirt passiert?«

»Ein kleines Missgeschick …«, flunkerte Lupi. Sie wusste, dass die Wahrheit Becky nur wütend machen würde, und wenn Becky wütend war, tat sie in der Regel Dinge, die alles noch schlimmer machten.

Als Lupi ihr jetzt den Umschlag in die Hand drückte, stöhnte Becky auf.

»Du hättest ihn nicht annehmen dürfen! Was meinst du, warum ich eine halbe Stunde die Luft angehalten habe? Solange der Wisch nicht zugestellt wird, ist er nicht wirksam!«

»Was hätte ich denn machen sollen? Das Ding vor seinen Augen im Treppenhaus verbrennen?«

Becky grinste. »Zum Beispiel!« Mit zwei schnellen Schritten war sie an der Spüle und ließ den ungeöffneten Umschlag ins Becken fallen. Als sie den rechten Arm nach dem Oberschrank ausstreckte, wo die Streichhölzer lagen, zuckte sie auf einmal zurück und umklammerte die Schulter mit schmerzverzerrtem Gesicht.

»Was ist mit deinem Arm?«, fragte Lupi besorgt.

»Nichts.« Trotzig griff Becky mit dem linken Arm nach oben.

»Das sieht aber nicht nach nichts aus!« Lupi nahm ihr wütend die Streichholzschachtel aus der Hand. »Was ist passiert?«

Eine Weile versuchte Becky, ihrem Blick standzuhalten, doch dann knickte sie ein. »Ich habe Schmerzen in der Schulter.«

»Und warum?«

»Keine Ahnung! Seh’ ich aus wie ein Orakel?« Becky versuchte, sich die Streichhölzer zu schnappen, aber Lupi zog die Schachtel weg und sah ihre Mutter durchdringend an.

Mit einem viel zu lauten Seufzen gab Becky schließlich nach. »Ich bin hingefallen! Bist du jetzt zufrieden?«

Zufrieden? Nein, Lupi war alles andere als zufrieden! »Wann ist das passiert?«

»Heute Vormittag«, gab Becky kleinlaut zu. »Ich musste mich beeilen, weil … na ja, es gab ein Problem. Und dann lag da plötzlich dieser Stein im Weg.«

Lupi runzelte die Stirn. »Ein Stein?« Dachte Becky ernsthaft, sie würde ihr diese Geschichte abkaufen? Ihre Mutter war viel zu geschickt, um über einen Stein zu stolpern, da war Lupi sich sicher.

Ertappt verzog Becky das Gesicht. »Vielleicht hat mich auch jemand am Arm zurückgerissen, als ich weggelaufen bin. Aber es ist alles gut gegangen, hörst du? Du musst dir keine Sorgen machen.« Unsicher ging sie vor Lupi in die Hocke und sah ihr in die Augen, so wie andere Mütter das auch immer taten, wenn sie ihre Kinder beruhigen wollten. Doch Lupi ließ sich davon nicht täuschen. Sie wusste, dass Becky nicht wie die anderen war – egal wie sehr sie sich das insgeheim wünschte …

»Wir sollten ins Krankenhaus fahren.«

»Unsinn!« Becky nahm ihr lachend die Streichhölzer aus der Hand und zündete den Briefumschlag an. »Das hier ist nichts, ehrlich. Morgen ist alles wieder gut.«

Lupi blinzelte sie skeptisch an. »Wenn das alles nichts ist, dann streck mal den Arm nach oben.«

Becky zuckte die Achseln und ließ den linken Arm nach oben wandern.

»Den rechten!«, sagte Lupi streng.

Becky funkelte sie wütend an. Dann stöhnte sie. »Ist gut, du hast gewonnen! Wir fahren ins Krankenhaus. Aber vorher packen wir ein paar Sachen zusammen.« Als sie Lupis fragenden Blick bemerkte, wies sie mit einem Kopfnicken auf die glimmenden Reste des Umschlags im Spülbecken. »Es ist besser, wenn wir uns was Neues suchen.«

»Schon wieder?«

Becky zog die beiden Reisetaschen aus der Abstellkammer und warf Lupi eine davon zu. »Ich rufe Toni von unterwegs an. Vielleicht hat er kurzfristig was für uns. Das wird bestimmt super!« Dann verschwand sie aus der Küche.

Lupi hob die leere Reisetasche vom Boden auf. Alles, was wichtig war, würde hineinpassen, das wusste sie – schließlich lag der letzte Umzug erst vier Monate zurück. Und dennoch stieß sie einen leisen Seufzer aus und sah sich wehmütig in der Küche um.

Sie hing nicht besonders an der Wohnung, im Gegenteil. Die Wände waren feucht, die Nachbarn laut, und mit den alten Möbeln hatte sie sich nie richtig anfreunden können.

Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, irgendwann einmal irgendwo zu Hause zu sein.

3

Er musste weg von hier, und zwar so schnell wie möglich. Wie lange lag er schon in diesem verfluchten Bett? Zwei Tage? Zwanzig?

Jacob hatte jedes Zeitgefühl verloren, doch eines wusste er genau: Er würde das alles keinen Tag länger aushalten!

Sarahs Eltern saßen schon seit mindestens zwei Stunden an seinem Bett und hielten abwechselnd seine Hand. Wie fast immer, wenn Besuch kam, stellte er sich schlafend, aber das hieß ja nicht, dass er ihr Schluchzen nicht hörte, ihre Trauer, ihr Mitgefühl nicht spürte. All die unausgesprochenen Worte schienen ihn tiefer in die Matratze zu drücken und seine Glieder zu lähmen. Nur sein Verstand blieb hellwach – und gerade das machte es so unerträglich. Wie sollte ein einzelner Mensch all das aushalten können? Jacob wollte keine Tränen auf seinem Handrücken, er wollte kein Mitleid und auch keinen Trost. Nein, alles, was er wollte, war seine Ruhe.

Als Elisabeth und Wilhelm endlich gingen, verharrte er sicherheitshalber noch eine Weile in seiner Regungslosigkeit. Dann schlug er das Laken zur Seite und schwang die Beine aus dem Bett – zu schnell, wie sich im nächsten Moment herausstellte. Die Zimmerwände um ihn herum drehten sich, und alles schwankte bedrohlich. Verdammt!

Jacob kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich. Er musste den Schwindel bezwingen, sonst würde er es nicht einmal ins Badezimmer schaffen. Vorsichtig tastete er nach den Elektroden auf seiner Brust, die die Schwester erst heute Morgen dort fixiert hatte, und löste sie. Sofort begann der Monitor neben seinem Bett Alarm zu schlagen.

Jacob konnte nicht einmal bis drei zählen, da wurde bereits die Tür aufgestoßen, und der Arzt mit der lächerlich großen Brille stürmte ins Zimmer. Als er Jacob mit freiem Oberkörper auf der Bettkante sitzen sah, hob er irritiert die Augenbrauen.

»Was tun Sie da?«

Jacob holte tief Luft und schloss abermals die Augen. Hinter seiner Stirn pochte plötzlich ein stechender Schmerz. Er musste einen klaren Kopf bekommen, um das hier vernünftig durchzuziehen.

»Ich gehe nach Hause.« Jacob zuckte zusammen, als er merkte, wie unwirklich seine eigene Stimme klang. War das alles überhaupt real?

Der Arzt runzelte die Stirn und schloss behutsam die Tür hinter sich. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist, Herr Chrissen.«

Keine gute Idee? Wie wollte dieser Kerl das beurteilen? Was wusste er schon von seinem Leben? Jacob versuchte, die Schultern zu straffen. »Hören Sie, Doktor Meier …«

»Müller, mein Name ist Müller.« Der Arzt schob angespannt die Hände in seine Kitteltaschen.

»Sag ich doch …« Vorsichtig stieß Jacob sich an der Bettkante ab. Obwohl er in den letzten Tagen schon ein paarmal aufgestanden war, fühlte er sich immer noch unsicher auf den Beinen. Aber er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Je mehr Entschlossenheit er ausstrahlte, desto geringer würde der Protest ausfallen.

Doktor Müller räusperte sich. »Zu Hause ist doch niemand, der Sie versorgt.«

Jacob versuchte zu lachen, brachte aber nicht mehr als ein Husten hervor. »Ich brauche ganz sicher niemanden, der mir das Frühstück ans Bett bringt.« Benommen griff er sich einen der unzähligen Blumensträuße, die die Fensterbank zierten, und ließ ihn in den Mülleimer fallen. Der Geruch von Genesungswünschen und Beileidsbekundungen verursachte ihm schon seit Tagen Übelkeit.

»Sie sind abgestürzt, Herr Chrissen. Mit einem Helikopter.«

Jacob atmete tief ein. Die Worte des Arztes drangen zu ihm durch, aber trotzdem kamen sie ihm seltsam leer vor. Sie waren nur der Text von irgendeinem Theaterstück, ein Stück, das mit ihm selbst nichts zu tun hatte.

Teilnahmslos entsorgte er einen weiteren Strauß und blickte dann müde zu dem Arzt auf. »Sie haben gesagt, ich bin kaum verletzt. Die Gehirnerschütterung ist abgeklungen, und ein paar Kratzer rechtfertigen wohl kaum, dass Sie mich an ein Krankenhausbett fesseln.«

»Niemand will Sie fesseln, Herr Chrissen. Aber neben der körperlichen Unversehrtheit besteht durchaus die Möglichkeit, dass Sie Schäden anderer Art davongetragen haben.« Er rückte sich seine riesenhafte Brille zurecht. »Alles andere wäre sogar höchst unwahrscheinlich.«

Wie bitte? Hatte er sich verhört? Plötzlich musste Jacob lachen. »Sie denken, ich bin ein Fall für die Klapse?«

Der Arzt versuchte, seinem Blick standzuhalten, gab es aber schließlich auf. »Ich denke, dass Ihr Verhalten ungesund ist.«

»Ungesund?«

Doktor Müller seufzte. »Sie unterdrücken Ihre Gefühle. Seit Sie aus dem Koma erwacht sind, haben Sie nicht ein einziges Mal geweint oder geschrien, dabei haben Sie gerade erst Ihre …«

»Halten Sie den Mund!«, unterbrach Jacob ihn schroff. Er wunderte sich selbst, woher die Energie dazu auf einmal kam. Ungesund! Wenn dieser Kerl nicht endlich Ruhe gab, würde Jacob ihm schon zeigen, wie es war, wenn er sich wirklich ungesund verhielt!

Doktor Müller runzelte sorgenvoll die Stirn. »Ich sage das alles doch nicht, um Sie zu ärgern. Aber Sie müssen den Verlust verarbeiten, den der Tod Ihres Sohnes und Ihrer …«

»Ich habe gesagt, Sie sollen den Mund halten!« Ohne zu wissen, woher der Impuls kam, griff Jacob sich eine der Vasen vom Fensterbrett und schleuderte sie quer durch den Raum. Der Arzt zuckte zusammen, als das schwere Porzellan nur wenige Zentimeter neben seinem hageren Körper an der Wand zerschellte. Das Blumenwasser spritzte auf seinen Kittel und benetzte seine Brillengläser. Wieder musste Jacob ein Lachen unterdrücken. Selbst Jimmy hatte ein besseres Reaktionsvermögen als dieser Quacksalber! Dennoch bereute er augenblicklich, dass er sich nicht hatte beherrschen können. Woher kam plötzlich diese Wut? Fühlte er sich nicht eigentlich leer und ausgebrannt? Er musste jetzt vorsichtig sein, das wusste er, denn der Zorn, der unvermittelt und heftig in seinem Inneren aufloderte, konnte dazu führen, dass er die Kontrolle verlor. Und dann hätten sie erst recht einen Grund, ihn hierzubehalten.

Der Arzt stand noch immer wie angewurzelt im Blumenwasser und blinzelte ihn an. »Vielleicht sollte ich Ihre Schwester anrufen?«

Carla? Dachte dieser Kerl ernsthaft, Carla hätte irgendeinen Einfluss auf ihn? Beinahe belustigt schüttelte Jacob den Kopf. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, murmelte er und musterte den nassen Doktor so lange mit finsterem Blick, bis er endlich den Raum verließ.

Müde massierte Jacob sich das Nasenbein. Sollte dieser Kerl ruhig Carla anrufen. Seine Schwester wusste besser als jeder andere, dass er sich von nichts und niemandem aufhalten ließ!

Vermutlich war sie ohnehin längst wieder abgereist. Er hatte ihr schnell signalisiert, dass er keinen Wert auf ihre Gesellschaft legte. Bei ihrem ersten Besuch war er immer wieder in seine Träume hinabgeglitten. Beim zweiten hatte er so getan, als würde er schlafen, und beim letzten hatte er sie rausgeschmissen, weil sich jedes Wort, das sie sagte, wie eine Lüge anhörte. Und das Einzige, was Jacob noch weniger brauchte als Leute, die ihm die Wahrheit sagten, waren Leute, die ihn anlogen. Wenn Carla wirklich so schlau war, wie ihr Doktortitel versprach, dann hatte sie ihn aufgegeben und war nach Hause gefahren – wo immer das auch sein mochte.

Und auch Jacob würde jetzt endlich nach Hause gehen!

Sein Handy war bei dem Absturz verschwunden, aber der Wohnungsschlüssel war auf wundersame Weise in der Schublade seines Nachttischs gelandet, ebenso wie seine Geldbörse mit den Kreditkarten. Er konnte sich also ein Taxi rufen.

Immerhin hatte Carla bei ihrem letzten Besuch ein paar Klamotten für ihn mitgebracht. Die Jogginghose mit dem Camouflage-Muster war nicht gerade das, was er sich selbst ausgesucht hätte, und der Kapuzenpullover roch nach aufdringlichem Waschpulver, aber um hier wegzukommen, würde es reichen. Vorsichtig streifte er die Sachen über und schlüpfte zuletzt in seine Lederschuhe, die einzigen Kleidungsstücke, die den Absturz ebenso unversehrt überstanden hatten wie er selbst. Dann schlich er zur Tür hinaus.

Die Anwesenheit anderer Menschen war wie ein Schlag in die Magengrube. Jacob hatte damit gerechnet, dass ein paar Leute auf den Fluren unterwegs sein würden, aber nicht damit, dass es so viele waren. Wieder begannen sich die Wände um ihn herum zu drehen, und der Boden unter seinen Füßen schien zu schwanken. Jacob stützte sich am Türrahmen ab. Er musste sich fest auf sein Ziel konzentrieren, sonst würde er es nicht schaffen. Hier zu bleiben war keine Option, er musste endlich weg, weg von den Ärzten, von den unliebsamen Besuchern – weg von allem! Er holte tief Luft. Am Ende des Flurs öffneten sich die Aufzugtüren.

Er musste einfach nur gehen, einen Schritt vor den anderen setzen.

4

Gammelshausen. Sommerloch. Kuhbier. Nie im Leben hätte Lupi gedacht, dass es Orte mit so lustigen Namen gab. Sie strich die Zeitung glatt und kicherte.

»Guten Tag, ich wohne in Katzenhirn«, murmelte sie leise und korrigierte sich sofort. »Nein, der Name war Grünkraut.«

Am schönsten aber fand sie Busenberg. Busenbergin der Pfalz. Ob es am Ortsrand wohl einen Berg gab, der aussah wie eine Brust? Oder gar zwei?

Plötzlich blieb eine Krankenschwester vor ihr stehen. Anscheinend hatte sie ihr kleines Selbstgespräch gehört. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Wie ertappt legte Lupi die Zeitung ab und rückte sich die Brille zurecht. »Ich warte nur auf meine Mutter«, erklärte sie und zeigte auf das gegenüberliegende Behandlungszimmer.

Die Schwester nickte freundlich. »Wir haben auch Kinderbücher hier. Und Comics, wenn du willst.«

»Danke, aber es dauert bestimmt nicht mehr lange.« Lupi wies auf den Stapel mit Zeitschriften und Zeitungen, die neben der Bank in einem Korb lagen. »Die hier reichen mir.«

»Wie du meinst.« Mit einem verblüfften Lächeln verschwand die Schwester durch den Flur.

Die meisten Erwachsenen konnten nicht verstehen, dass Lupi gerne Zeitungen las. Aber mit Comics und Pferdeheftchen hatte sie noch nie viel anfangen können. Solche Texte und Geschichten machten Kinder nicht schlauer, sie sorgten höchstens für Unterhaltung – und Unterhaltungsprogramm hatte sie wirklich schon genug in ihrem Leben.

Nein, das war nichts für sie. Am liebsten vertiefte sie sich in die Persönlichkeitstests in Frauenzeitschriften. Bin ich bindungsunfähig? Passt mein Partner zu mir? Tigermama oder Zwerghamster – welches Herz schlägt in meiner Brust? Durch diese Fragebögen hatte Lupi schon eine ganze Menge über Menschen gelernt. Vielleicht fand sie irgendwann sogar mal einen, der ihr half, Becky zu verstehen? Leider waren die Tests nur ganz selten auf Frauen wie ihre Mutter zugeschnitten. Becky Brockmann ließ sich eben nicht so leicht in eine Schublade stecken.

Lupi griff wieder nach der Tageszeitung. Ein Artikel über die allgemeineWegwerfmentalität hatte ihr Interesse geweckt, und dann war sie über den kurzen Beitrag mit den lustigen Ortsnamen gestolpert. Flüchtig sah Lupi auf die Uhr. Becky war nun schon eine halbe Stunde im Behandlungszimmer, aber sie würde die Untersuchung sicher nicht unnötig in die Länge ziehen. Schließlich konnte sie Ärzte nicht ausstehen.

»Die stellen zu viele Fragen«, hatte sie Lupi auf dem Weg in die Klinik erklärt.

»Das müssen sie doch, um festzustellen, was dir fehlt«, hatte Lupi erwidert, aber Becky hatte nur trotzig den Kopf geschüttelt.

»Dann erklär mir mal bitte, warum es bei Hunden und Katzen auch ohne Fragen geht? Die geben schließlich auch keine Antwort!«

Mit Becky zu diskutieren ergab nur selten Sinn. Sie war ziemlich stur und meistens davon überzeugt, dass sie recht hatte. Deshalb hatte Lupi es auch diesmal wieder gleich sein lassen.

Gedankenversunken blätterte sie die Seite um und blieb mit dem Blick an einem Foto hängen. Es zeigte einen Mann mit einem kleinen Grübchen neben dem Mundwinkel. Die kurzen goldblonden Locken verliehen ihm etwas Kindliches. »Das Wunder am Hamburger Großstadthimmel«, lautete die Überschrift des Artikels. »Fernsehmoderator Jacob Chrissen beinahe unversehrt.«

Jacob Chrissen. Lupi hatte diesen Namen noch nie gehört, aber sie sah ja auch nie fern. Trotzdem zog der Text sie sofort in seinen Bann.

Der Mann war auf dem Weg zu einer Preisverleihung im Hafen mit dem Hubschrauber abgestürzt. Die Ursache für den Absturz war bisher ungeklärt. Sicher war aber, dass Jacob Chrissen den Fall vom Himmel nahezu unverletzt überstanden hatte. Lupi hielt die Luft an. Dieser Kerl hatte einen Helikopterabsturz überlebt? Aber … so was war gar nicht möglich! Lupi kannte die Gesetze der Schwerkraft, sie wusste, dass der menschliche Körper vielen Widerständen trotzen konnte, aber ganz sicher nicht einem Aufprall aus vielen hundert Metern Höhe!

Instinktiv griff sie nach ihrem Anhänger. War es etwa möglich, dass dieser Mann … gar kein normaler Mensch war?

Plötzlich fiel die Tür gegenüber mit einem lauten Knall ins Schloss. Lupi zuckte zusammen und blickte von der Zeitung auf. Beckys rechter Arm steckte jetzt in einer Schlinge. Sie sah etwas zerzaust aus, wirkte aber entschlossen.

»Los, wir gehen!«

»Kann ich das hier noch zu Ende lesen?«, bat Lupi, doch Becky schüttelte den Kopf und griff mit der linken Hand nach der Reisetasche, die vor Lupi auf dem Boden stand.

»Wir müssen los.«

»Aber da ist ein Mann vom Himmel gefallen und hat nicht mal …«

»Kannst du nicht Pferdehefte lesen wie jedes andere normale Mädchen?« Becky verdrehte die Augen.

»Klar!« Langsam wurde es Lupi zu bunt. »Sobald du dir einen Job, eine Wohnung und einen Mann suchst wie jede andere normale Mutter!«

Becky blinzelte sie sprachlos an. Dann fing sie an zu lachen. »Nimm die Zeitung einfach mit«, schlug sie vor und drückte ihre Reisetasche an sich.

»Sie gehört uns aber nicht!«

»Irgendwas ist immer.« Mit einem frechen Achselzucken setzte sich Becky in Bewegung.

Lupi befolgte Beckys Ratschläge nicht gerne, vor allem, wenn es darum ging, Dinge mitzunehmen, die ihr nicht gehörten. Aber diese Geschichte in der Zeitung ließ sie einfach nicht los … Unsicher blickte sie nach links und rechts. Dann trennte sie hastig die ganze Seite heraus, faltete sie sorgfältig zusammen und schob sie in ihre Hosentasche. Mit der kleinen, prallen Reisetasche über der Schulter folgte sie ihrer Mutter den Flur hinab.

»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte sie, als sie Becky endlich eingeholt hatte.

»Nichts Neues. Die Schulter war ausgekugelt, aber er hat sie wieder eingerenkt. Jetzt soll ich den Arm ein paar Tage stillhalten. Das heißt, du musst dir deine Schulbrote selber schmieren.«

»Das mach ich doch sowieso«, protestierte Lupi.

Becky grinste schief. »Deshalb sag ich ja: nichts Neues!«

In diesem Moment hörte Lupi hinter sich jemanden rufen: »Frau Cigalla! Sie haben Ihre Versichertenkarte vergessen!«

Lupi sah sich um. Der Arzt war aus dem Behandlungszimmer getreten und wedelte nervös mit einer kleinen Plastikkarte.

Becky drehte sich nicht um, sondern packte Lupi am Handgelenk und zog sie durch eine Tür ins Treppenhaus.

»Wollten wir nicht den Aufzug nehmen?«

Hastig stürmte Becky die Stufen hinab. »Ach was, ein bisschen Bewegung kann uns nicht schaden.«

Lupi stöhnte auf. »Und warum hat der Arzt dich gerade Frau Cigalla genannt?«

»Hat er das?« Unbeeindruckt nahm Becky zwei Stufen auf einmal. Lupi geriet ins Schwitzen. Es war unmöglich, in diesem Tempo mit ihrer Mutter mitzuhalten!

»Ja, das hat er! Und deine Karte hatte er auch in der Hand.«

»Keine Ahnung«, erwiderte Becky, und Lupi konnte förmlich spüren, dass sie dabei grinste. »Deshalb sag ich immer: Trau niemals einem Arzt! Die haben nicht alle Tassen im Schrank!«

Als sie den ersten Stock erreicht hatten, öffnete Becky eine Seitentür, die vom Treppenhaus abging.

»Warte kurz hier«, befahl sie Lupi und verschwand.

Lupi war diese Pause ganz recht. Sie brauchte dringend einen Moment, um zu verschnaufen. Blöderweise war Becky schon nach wenigen Augenblicken wieder zurück – mit einem Stück Kuchen, das sie Lupi strahlend in die Hand drückte.

»Belohnung fürs Warten«, sagte sie zufrieden und setzte ihren Weg fort.

Lupi aber interessierte sich nicht für den Marmorkuchen, sondern für das, was Becky sich über die Schulter geworfen hatte. »Was ist das?«

»Kuchen«, erwiderte Becky, ohne sich umzudrehen. »Und dafür, dass du so schlau bist, ist das eine ziemlich dämliche Frage!«

Lupi hechtete hinter ihr her. »Du weißt genau, was ich meine! Der Arztkittel gehört dir nicht!«

»Ich leih ihn mir nur aus, okay?«, erklärte Becky. »Mit dem blöden Verband fühle ich mich total exponiert! Der Kittel verleiht mir etwas Würde.«

Lupi rollte mit den Augen. »Ausleihen setzt voraus, dass du vorhast, das Ding irgendwann zurückzugeben!«

»Woher willst du wissen, dass ich das nicht vorhabe?« Becky eilte unbeirrt weiter, aber jetzt schoss Lupi nach vorne, überholte sie und stellte sich ihr in den Weg.

»Okay, okay«, gab ihre Mutter endlich zu. »Vielleicht nicht morgen oder übermorgen, aber eventuell in ein paar Jahren!« Und bevor Lupi protestieren konnte, hatte sich Becky wieder an ihr vorbeigedrängt und eilte die letzten Stufen hinab.

Unten vor dem Haupteingang der Klinik hatten sich die Raucher versammelt und stießen ihre Nikotinwolken in den Himmel.

Becky warf Lupi einen ungeduldigen Blick zu, als sie endlich nach ihr durch die Tür stolperte. Dann ließ sie ihre Reisetasche auf den Boden fallen und winkte mit dem unverletzten Arm ein Taxi heran.

»Wollen wir nicht mit dem Bus fahren?«, schlug Lupi vor, aber Becky schüttelte den Kopf.

»Unsinn! Toni soll nicht denken, wir könnten uns kein Taxi leisten.«

»Aber wir können uns kein Taxi leisten!«

»Können wir wohl!« Becky zog grinsend einen Zwanzig-Euro-Schein aus der Kitteltasche.

Lupi starrte sie fassungslos an, wagte aber nicht, weiter zu diskutieren, weil in diesem Moment bereits ein Taxi vor ihnen hielt.

»Das nennt man Karma!« Becky strahlte und bückte sich nach ihrer Tasche. Doch als sie sich wieder aufrichtete und auf den Kofferraum zuging, drängte sich plötzlich ein Mann an ihr vorbei und steuerte direkt auf die Beifahrertür zu. Er trug eine ausgebeulte Armeejogginghose, feine Lederschuhe und einen Kapuzenpullover, der mindestens zwei Nummern zu groß war.

»Hey, das ist unser Taxi!«, protestierte Becky, aber der Kerl ließ sich unbeeindruckt auf den Beifahrersitz sinken.

»Tut mir leid, ich hab’s eilig.« Energisch zog er die Tür ins Schloss.

»Eilig? Sie haben es wohl eilig, einen Arschtritt zu kassieren!«, brüllte Becky, aber da setzte sich das Taxi bereits in Bewegung und brauste davon.

Lupi schob sich verwundert die Brille zurecht, denn auf einmal beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Hatte sie diesen Kerl nicht schon mal irgendwo gesehen …? Aber selbst wenn – was änderte das schon? Während Becky noch fluchte, zog Lupi die Riemen ihrer Tasche fester über die Schulter und marschierte los.

»Wo willst du denn jetzt hin?«, rief Becky ihr nach, aber Lupi drehte sich nur kurz zu ihr um.

»Zur Haltestelle«, sagte sie und grinste müde. »Bus fahren ist sowieso viel besser für dein Karma.«

5

Eigentlich war Jacob zu erschöpft, um sich aufzuregen, aber der Taxifahrer entpuppte sich als echte Herausforderung. Unentwegt starrte ihn der Mann von der Seite an. Dachte er ernsthaft, Jacob würde seine aufdringlichen Blicke nicht bemerken?

Als er beinahe einen Radfahrer übersah und eine Vollbremsung hinlegen musste, konnte Jacob sich nicht länger zurückhalten. »Könnten Sie vielleicht auf die Straße schauen?«, fuhr er ihn an.

»Tut mir leid.« Mit einem gequälten Lächeln tippte der Kerl sich an die Schiebermütze, aber sein Blick klebte weiterhin an Jacob. »Sie … Sie sind es, oder? Dieser Moderator?«, stieß er schließlich hervor.

Verdammt! Jacob hatte sich in den letzten Jahren daran gewöhnt, auf der Straße erkannt zu werden, aber heute und hier hatte er nicht damit gerechnet.

»Ich lege viel Wert auf Diskretion«, raunte er schmallippig.

»Natürlich, ich bin sehr diskret«, versicherte ihm der Taxifahrer. »Kann schweigen wie ein Grab.« Er verschloss sich die Lippen mit einem imaginären Schlüssel und tat dann so, als würde er ihn zum Fenster hinauswerfen. Erst als die Autos hinter ihnen zu hupen begannen, merkte er, dass die Ampel bereits Grün zeigte.

Jacob schüttelte müde den Kopf. Er bezweifelte, dass dieser Typ das Wort diskret auch nur buchstabieren konnte. Und offenbar hatte er noch immer nicht verstanden, dass Jacob keine Lust auf Smalltalk hatte.

An der nächsten Straßenkreuzung legte er ihm völlig unerwartet die Hand auf die Schulter. »Tut mir echt leid.«

Jacob schüttelte die fremden Finger reflexartig ab. »Schon gut«, murmelte er gefasst. »Schauen Sie einfach auf die Straße.«

»Ich meine das mit Ihrer Familie …«

Jacob schloss die Augen. Ging das jetzt schon wieder los? Konnten ihn die Leute nicht einfach in Ruhe lassen? Schweigend lehnte er sich gegen die kalte Fensterscheibe und blickte hinaus. Vielleicht wurde es besser, wenn er nicht mehr hinsah. Wenn er so tat, als hätte er nichts gehört.

Aber der Kerl blieb hartnäckig. »Das muss echt schrecklich sein«, seufzte er viel zu laut, »die Frau und der eigene Sohn …«

»Könnten Sie einfach den Mund halten?« Jacob krallte die Finger in den Autositz. Er würde nicht wieder wütend werden. Nein, das würde er hinkriegen!

Der Fahrer hob entschuldigend die Hände. »Klar, ich wollte nicht …«, fing er an, doch als er Jacobs Blick sah, verstummte er für einen Augenblick. Dann öffneten sich seine Lippen wieder, und er strahlte vor Begeisterung. »Es ist ein Wunder, oder? Dass Sie das alles überlebt haben! Das muss sich anfühlen wie ein Wunder!«

»Ich hab gesagt, Sie sollen die Klappe halten!«, brüllte Jacob unvermittelt, und seine Stimme war so laut, dass es in seinen eigenen Ohren klingelte. »Kriegen Sie das hin oder nicht?«

Der Mann starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, dann schluckte er und nickte.

Schwer atmend lehnte Jacob sich zurück. Er war nicht stolz darauf, schon wieder die Kontrolle verloren zu haben. Aber warum konnten die Leute nicht akzeptieren, dass er seine Ruhe haben wollte?

Erschöpft schaltete er das Radio ein, doch das verdammte Wort hatte sich trotzdem in seinem Kopf festgesetzt und ließ sich auch durch Musik nicht mehr vertreiben.

Wunder.

Es war eines der ersten Wörter gewesen, die er im Krankenhaus gehört hatte, als er noch dachte, er würde träumen. Die Ärzte hatten es benutzt, und Carla. Auch Sarahs Mutter hatte es zwischen einer Serie von Schluchzern hervorgebracht, als wäre es etwas Heiliges. Als wäre er, Jacob, ein Heiliger. Dabei hatte dieses Wort nichts Magisches, vielmehr lag es einem auf der Zunge wie ein schimmeliges Stück Käse.

Wunder.

Allein der Klang dieser beiden Silben verursachte Jacob Übelkeit. Er wollte nicht wissen, was mit den anderen passiert war – und noch viel weniger wollte er hören, dass er selbst überlebt hatte, was eigentlich nicht zu überleben war. Er wollte nicht darüber nachdenken. Am liebsten hätte er alles einfach vergessen. Vielleicht würde er dann plötzlich aufwachen und merken, dass alles nur ein schrecklicher Traum war?

Als er zu Hause den Schlüssel ins Schloss steckte und die Tür aufdrückte, überkam ihn eine Welle der Erleichterung. Merkwürdig, dabei hatte er sich in dieser Wohnung eigentlich nie wirklich wohlgefühlt … Schon seit drei Jahren hatte er Sarah damit in den Ohren gelegen, endlich umzuziehen, in eine größere Wohnung, eine schönere. Eine, die dem, was und wer er mittlerweile war, mehr entsprach. Er hatte ihr Penthouse-Wohnungen in der HafenCity gezeigt, Stadtvillen an den Alsterläufen, sogar einen Resthof vor den Toren der Stadt. Aber Sarah wollte nicht.

»Du bist doch ohnehin nie da«, hatte sie ihm immer wieder an den Kopf geworfen. »Und für Jimmy und mich ist das hier unser Zuhause!«

Dabei war Jacob sich insgeheim sicher gewesen, dass es ihr nur darum ging, ihm nicht zu geben, was er wollte. Sarah konnte unmöglich so an der Wohnung hängen!

Sie waren vor acht Jahren hier eingezogen, nachdem Jacob die Anstellung beim Sender bekommen hatte. Sarah hatte zu der Zeit noch studiert und Sorge gehabt, sie würden sich die Miete langfristig nicht leisten können. Dennoch hatte sie sich bei der Besichtigung auf den ersten Blick in die Wohnung verliebt.

Sie befand sich im Erdgeschoss eines hellblauen Jugendstilhauses und verfügte vorne über einen kleinen Garten. Die Nachbarschaft in Winterhude war in Ordnung, Lehrer, Ärzte, auch ein paar Anwälte, aber Jacob störte, dass sie zu dicht beieinander wohnten. Zumindest seit er nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera tätig war und überall erkannt wurde, war es ihm zu eng. Er hätte sich lieber etwas abgeschottet vom Rest der Welt, aber Sarah mochte es, mittendrin zu sein.

Dabei war die Wohnung eindeutig zu klein. Viereinhalb Zimmer auf gerade mal 108 Quadratmetern. Ein Zimmer gehörte Jimmy, und so blieben noch ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, das sich an die Küche anschloss, ein Schlafzimmer sowie ein halbes Zimmer, in dem Jacob sich ein kleines, kaum brauchbares Büro eingerichtet hatte.

Das Problem war aber nicht die Anzahl der Räume, sondern ihre Größe. Kein Zimmer maß mehr als achtzehn Quadratmeter, und Jacob fehlte der Weitblick. Die Wände engten ihn mit jedem Tag mehr ein.

Einigermaßen wohlgefühlt hatte er sich in der Wohnung nur, wenn er von einer Geschäftsreise nach Hause kam und Sarah und Jimmy nicht daheim waren. Dann war es so still, dass er den Dielenboden leise ächzen hörte, und im Sommer zeichneten die Bäume draußen an der Straße ein tanzendes Schattentheater an die Zimmerwände.

So war es auch jetzt, als er die Tür hinter sich schloss und langsam durch den Flur ging. Stille. Keine Vorwürfe und Forderungen. Jacob hielt die Luft an. Konnte er sich nicht einfach einbilden, alles wäre wie immer? Jimmy und Sarah wären nur einen Moment einkaufen oder auf dem Spielplatz am Ende der Straße und würden schon bald zurückkommen? In einer Stunde vielleicht oder in zweien, und dann wäre es mit dem Frieden aus, und Jacob würde sich die Ruhe zurücksehnen und die verdammte Wohnung wieder verfluchen?

Aber nein, das hier war kein Traum. Jacob fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Dann wagte er sich vorsichtig ins Wohnzimmer vor.

Swetlana musste in der Zwischenzeit hier gewesen sein, denn nirgendwo lag Staub, und Jimmys Fisch erfreute sich noch immer bester Gesundheit.

»Hey …« Jacob klopfte behutsam mit dem Finger an die Scheibe des Aquariums und hoffte, dass Mister Bubble reagieren würde, aber der Goldfisch drehte nur weiter unbeeindruckt seine Runden. Das Tier interessierte sich nicht für ihn, und im Grunde beruhte das auf Gegenseitigkeit. Jacob konnte Fischen nichts abgewinnen, es sei denn, sie lagen roh auf einem Bett aus Sushireis.

Sarah hatte Jimmy eines Tages mit dem Aquarium überrascht. Zwei Wochen zuvor hatte Jacob ihm nach einer Tierheim-Reportage einen Welpen mitgebracht, und Jimmy war förmlich an die Decke gesprungen vor Begeisterung. Aber Sarah hatte ihn wieder mal nur mit Vorwürfen überhäuft: »Wie kannst du so was tun, ohne vorher mit mir zu reden?«

»Er freut sich doch!«, hatte Jacob erwidert und auf Jimmy gedeutet, der mit dem Welpen durch den Garten getollt war.

Sarah hatte nur die Arme vor der Brust verschränkt und ganz langsam die Augen geschlossen. »Er hat eine Tierhaarallergie, Jacob!«

»Unsinn!«, hatte Jacob gelacht. »Schau doch mal, wie viel Spaß er hat! Du bist nur sauer, weil es meine Idee war und nicht deine.«

Sarah hatte ihn fassungslos angestarrt und war dann wortlos in der Küche verschwunden.

Zwei Tage später musste Jacob den Hund zurück ins Tierheim bringen. Jimmys Augen waren rot und juckten, und sein Atem rasselte. Am schlimmsten aber war der Aufstand, den er veranstaltete, als Jacob ihm das Tier abnahm und zum Wagen trug. Sarah brauchte danach drei Tage, um ihn dazu zu bewegen, wieder etwas zu essen. Erst als sie neun Tage später mit dem Aquarium und Mister Bubble nach Hause kam, war Jimmy wieder versöhnt gewesen. Seitdem hatte er den Fisch mit Hingabe gepflegt.

Jacob hingegen wusste nicht mal, wie man dem Ding Futter gab.

Dafür wusste er umso besser, dass er es keine Sekunde länger in diesen grässlichen Klamotten aushielt! Wo in Teufels Namen hatte Carla nur so geschmacklose Sachen aufgetrieben, noch dazu viel zu groß?

Mit einem Mal spürte Jacob, wie trocken seine Kehle war. Wann hatte er zuletzt etwas getrunken? Der heftige Durst trieb ihn in die Küche, doch er kam gar nicht bis zum Wasserhahn, denn vorher blieb sein Blick am Küchentisch hängen. Dort lag ein Zettel von Swetlana, mit der Nachricht, dass sie wiederkommen würde, sobald er sie anrief – und darunter ein Stapel Zeitungen. Nicht zwei, drei, nein, mindestens zwanzig Exemplare! Jacobs Pulsschlag beschleunigte sich. Die Putzfrau musste die Zeitungen gesammelt und hier auf dem Tisch drapiert haben. Jede einzelne hatte dasselbe Titelthema:

TV-Moderator überlebt Helikopterabsturz

Absturzdrama vor Preisverleihung: Alle sterben, einer lebt!

Jacob Chrissen – das Wunder hat einen Namen!

Da war es wieder, dieses Wort: Wunder.

Jacob musste sich an der Tischplatte abstützen. Mit einem Mal drehte sich wieder alles. Natürlich, er hatte gewusst, dass die Presseleute sich wie die Aasgeier auf die Tragödie stürzen würden. Trotzdem zogen ihm die Schlagzeilen nun den Boden unter den Füßen weg. Im Krankenhaus hatte er ja mit so etwas gerechnet, aber hier war er verdammt noch mal zu Hause! Wo, wenn nicht in seiner eigenen Wohnung, hatte er ein Anrecht auf Ruhe, auf Sicherheit? Er wollte sich nicht mit Fragen auseinandersetzen, auf die er selber keine Antwort hatte. Die Frage zum Beispiel, wie er sich fühlte oder ob er reden wollte. Oder die Frage, warum er verdammt noch mal nicht endlich um seine Familie trauerte!

Und plötzlich war sie wieder da, die Wut. Lauerten denn überall stumme Vorwürfe? Konnte er sich nirgendwo auf der Welt vor all dem verstecken, vor den Fragen, den Anschuldigungen – vor sich selbst?