Gott - Dr. Manfred Lütz - E-Book
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Gott E-Book

Dr. Manfred Lütz

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Beschreibung

»Gott sei Dank, Gott existiert nicht. Wenn aber, was Gott verhüten möge, Gott doch existiert?« Darauf sucht Manfred Lütz Antwort. Der Bestseller-Autor von »Lebenslust« findet: »Das ist die wichtigste Frage der Welt.« Zu ihrer Beantwortung macht er – wie es bei einem »echten Lütz« nicht anders zu erwarten ist – einige höchst amüsante Umwege. Er nimmt Elton Johns Auftritt auf der Trauerfeier für Lady Di ebenso unter die Lupe wie die Argumente »der besten Atheisten der Welt« oder die Debatten um Evolutionstheorie und Hirnforschung. Er analysiert, wie die Psychologen Gott auf die Couch gelegt haben, und fragt nach dem Gott der Kinder, Lehrer, Wissenschaftler und Philosophen. Immer wieder unterbricht Lütz seine eigensinnige Reflexion mit hinreißenden Geschichten über Menschen, die es mit dem lieben Gott aufnahmen. Atheisten, findet Lütz, leben manchmal so, als ob es Gott doch ein bisschen gäbe – und Gläubige so, als gäbe es ihn nicht. Nach der Lektüre legt man ein reiches, kluges Buch aus der Hand – und fühlt sich bestens unterhalten. Mit Gott. Gott von Manfred Lütz im eBook!

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Manfred Lütz

Gott

Eine kleine Geschichte des Größten

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoVorwortEinleitungWider schlampigen Atheismus und frömmelnden GlaubenMusik und Kunst – Elton John und die nackte Venus1. Sein oder Nichtsein2. Ein Steinhaufen vereinigt die Menschheit3. Nackte Tatsachen und die Lust am Leben vor dem TodDie Psychologie und Gott – Über einen kleinen Mann im Ohr1. Der Vatermord des Sigmund Freud2. Was C.G. Jung und Viktor Frankl mit einem Pornostar verbindet3. Gott und ein BlumenstraußDie Frage – Expeditionen durch den Feuerbach1. Ein Sahnetortenbeweis2. Immer Ärger mit dem Höchstena) Sturmfreie Budeb) Einmal Lagerfeld seinc) Fernsehgötterd) Trendsurfinge) Ein explosives Gemisch3. Eine Frage auf Leben und TodDer Gott der Atheisten – Ein großartiger Protest1. Ich denke, was ich will2. Eine Wohngemeinschaft geht in Rente3. Eine Religion feiert den Atheismus4. Eine Champagnerparty geht vor die Hunde5. Die lustvolle Rache des kleinen Pfarrers6. Ein Pfarrerssohn ermordet Gott7. Der Super-GAU im Tempel des NichtsDer Gott der Kinder – Von der Selbstverständlichkeit des Glücks1. Wie wirklich ist die Wirklichkeit?2. Die Pfote auf dem Ohr3. Ein Fall zum Fällen und der Weg zum GlückDer Gott der Lehrer – Verschwörung in der Kellerbar1. Tödliche Indianerspiele2. Die Wahrheit unter dem Feigenbaum3. Eine störrische alte Dame paktiert mit dem TeufelDer Gott der Wissenschaftler – Galilei, Darwin, Einstein und die Wahrheit1. Eine Religion erfindet die Wissenschaft2. Der größte Mediencoup aller Zeiten3. Darwin schließt eine Töpferwerkstatt4. Die Katastrophe eines Weltbilds5. Wunder, Wahn und Wirklichkeit6. Der Irrtum des Steven Hawking und bunte Bildchen aus dem HirnDer Gott der Philosophen – Die große Schlacht der reinen Vernunft1. Zoff unter Heiligen – Die Gottesbeweise2. Kurzer Prozess gegen ein Häufchen Elend3. Philosophieren im Nebel – Ein scharfsinniger Junggeselle4. Die Schreckensfahrt in den TunnelDer Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs – Das Geheimnis im Mantelsaum1. Das Geheimnis einer schönen Frau2. Ein heilbringender Mordversuch3. Die längste Liebesgeschichte aller Zeiten4. Ein unheimlicher HerrscherDie Antwort – Ein aufregendes Ereignis1. Die Überraschung2. Tumulte unter Metzgern und Bäckern3. Ein Saustall kommt in die Jahre4. Das Lächeln der EngelThe day after – Die Werte, die Wahrheit und das Glück1. Unerwartete Lösungen2. Karl Valentin und die Mystik3. Wie man Banküberfälle in Grenzen hältGott und die Psychologie – Berührungen1. Ein beunruhigender Psychiater2. Ein unpässlicher Walfisch3. Ein schüchterner LöweKunst und Musik – Die Sinnlichkeit der Wahrheit1. Die Schönheit wird die Welt retten2. Ein geheimnisvolles Gesicht3. Was Engel in der Freizeit tunNachwort
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»Gott – ich brauche diese Hypothese nicht mehr.«

LAPLACE VOR KAISER NAPOLEON

 

»Gott allein genügt.«

TERESA VON ÁVILA

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»Gott sei Dank, Gott existiert nicht.

Wenn aber, was Gott verhüten möge, Gott doch existiert?«

RUSSISCHES SPRICHWORT

Vorwort

Alle Welt redet bedeutsam von der Wertefrage, von den Tugenden, vom Kampf der Kulturen, ja sogar von der Gottesfrage. Doch kaum jemand packt die Frage bei den Hörnern und versucht, direkt zu antworten. Es hat – zugegeben – auch etwas Größenwahnsinniges, eine Frage zu beantworten, der sich jahrtausendelang die gescheitesten und weisesten Menschen gewidmet haben, ohne zu abschließenden Ergebnissen gekommen zu sein. Nun muss ich als Psychiater nicht allzu viel Angst vor Größenwahnsinn haben. Dennoch glaubt man sich als schwacher Mensch nur nach der Lektüre von Bergen von hochgelehrten Büchern berechtigt, sich der Frage überhaupt zu nähern. Man hat Sorge, geistig aus den Latschen zu kippen, um ein bekanntes religionsgeschichtliches Motiv zu benutzen, wie Moses, der sich vor dem brennenden Dornenbusch in der Gegenwart Gottes seiner Sandalen entledigte.

Nun bin ich über fünfzig Jahre alt, habe im Laufe meines Lebens und meiner verschiedenen Studien doch eine ganze Reihe von Büchern gelesen und vor allem einige Lebenserfahrung gesammelt. Da mich die Frage nach Gott seit früher Jugend ganz besonders interessierte und ich nach und nach beide Standpunkte – den atheistischen und den gläubigen – selbst erlebte, kam mir der Gedanke, einfach auf dem Stand, auf dem ich gerade bin, ein Buch über dieses gewaltige Thema zu schreiben.

Dabei kommen mir die vielen Gespräche zugute, die ich gerade über diese Frage mit vielen gläubigen und zweifelnden, hochintellektuellen und ganz normalen, skeptischen und frommen Menschen geführt habe. Solche Gespräche gehen, wenn sie ernsthaft geführt werden, immer an die Substanz. Man kann sich da persönlich nicht raushalten, so wie etwa bei Gesprächen über die Gasvorkommen in Ostsibirien oder die eigene Briefmarkensammlung.

Ich habe mir also einfach vorgestellt, mit einem gescheiten, aber nicht überkandidelten Zeitgenossen ein Gespräch über Gott zu führen. Sicher geht es dabei nicht bloß um Theorien, sondern die Frage nach Gott ist unter uns gesagt für jeden eine Frage auf Leben und Tod. Manche Menschen, die andere Bücher gelesen haben als ich und anderen Menschen begegnet sind, würden ein ganz anderes Buch über dieses Thema schreiben. Ich kann hier nur meinen Beitrag zu dieser großen Frage leisten. Und ich lasse mich gerne von Ihnen, lieber Leser, am Schluss eines Besseren belehren.

Und dann schreibe ich ein ganz neues Buch. Bis dahin gibt es aber nur dieses Buch.

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EinleitungWider schlampigen Atheismus und frömmelnden Glauben

Warum überfallen Sie eigentlich keine Bank – wenn Sie absolut sicher sein könnten, dass Sie niemand erwischt? Was macht Sie so sicher, dass Sie demnächst nicht mit milder Spritze entsorgt werden? Es könnte doch sein, dass die Behandlungs- und Pflegekosten Ihrer demnächst festgestellten komplizierten Krankheit der Gesellschaft beim besten Willen nicht mehr zugemutet werden könnten. Warum kippt man Leichen nicht in den Sondermüll und macht aus Friedhöfen Kinderspielplätze? Woher wissen Sie, dass Ihr Mann Ihnen gerade treu ist? Woher wissen Sie, dass das Kind Ihrer Frau auch Ihr Kind ist? Also ganz im Ernst – was spricht dafür, dass Gott existiert oder dass er nicht existiert? Denn »wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt« (Dostojewski, Die Brüder Karamasow). Oder etwa nicht?

Ein Buch über Gott, das heute ernst genommen werden will, muss sich solchen Fragen aus dem wirklichen Leben stellen, die ganz unvermeidlich jeden Mann, jede Frau und jedes Kind angehen. Denn eines ist klar: Wer wirklich an Gott glaubt, lebt anders als der, der nicht an Gott glaubt. Dennoch sind Menschen nicht immer konsequent. Atheisten verplempern kostbare Zeit für irrationale Bedenken und leben manchmal so, als gäbe es Gott vielleicht ein bisschen doch. Und Gläubige leben oft die meiste Zeit ihres Lebens so, als gäbe es Gott nicht. Wenn wir davon ausgehen, dass jeder Moment des Lebens unwiederholbar ist, dann ist beides fatal. Man verschwendet unwiederbringliche Lebenszeit für einen Gott, den es gar nicht gibt, oder ganz im Gegenteil, man verpasst sehenden Auges die große Chance seines Lebens, sich nämlich für das ewige Leben bei Gott würdig zu erweisen.

Zugegeben, Religion hat heutzutage offensichtlich mit solchen Fragen wenig zu tun. Religionsvertreter treten in der Regel dann auf, wenn keiner mehr weiterweiß, zum Beispiel nach großen Katastrophen. Und sie sagen dann freundlicherweise oft, dass sie selber auch nicht weiterwissen. Religion ist für viele: langweilige Festansprache, mal langweiliger Kindergottesdienst, mal betuliches Gutmenschentum. Religion ist nichts für Männer, kaum noch was für Frauen und wenn überhaupt etwas für Kinder. In Talkshows treten die Religionsvertreter meist als Bedenkenträger auf; sie reden unverständlich und finden jedenfalls, dass das alles nicht so einfach ist. Sie haben eine Sprache, die sie nur noch selber verstehen: Sie sind »ein Stück weit« … »betroffen«, finden das alles »gleichsam« merkwürdig und »lassen sich ein« auf Menschen, Gebäude und ganze Völker. Kein Metzger und auch keine Konditoreifachverkäuferin würden normalerweise so reden. Dennoch geht die Frage nach der Existenz Gottes, um die es eigentlich geht, ausnahmslos alle an – oder keinen.

Ich habe mir daher vorgenommen, in diesem Buch normales Deutsch zu reden. Sollten Leser dennoch unverständliches oder unerklärtes Fachchinesisch entdecken, bitte ich um angemessene Beschimpfung des Autors. Manchen Theologen wird die Vermeidung von Unverständlichkeit unverständlich sein, haben sie doch ihre eigene Bedeutung unter anderem durch die Erfindung von unverständlichen Sätzen erworben. Sehr beliebt war bei uns im Theologiestudium der Satz »Ein Gott, den es gibt, den gibt es gar nicht«. Wow! Wer diesen Satz kannte, bewies, dass er schon im höheren Semester war, und wer den Satz zu allem Überfluss auch noch erklären konnte, bewies Examensreife. Natürlich ist der Satz richtig, denn er will besagen, dass Gott kein Gegenstand ist wie zum Beispiel Ihr rechter Schuh, lieber Leser. Ich gehe jetzt aber mal davon aus, dass Sie auch nie auf die Idee gekommen wären, mit dem lieben Gott einfach mal Abendessen zu gehen und ihn dann in den Schrank zu stellen.

Wer fragt »Gibt es Gott oder gibt es ihn nicht?« stellt eine ihm wichtige Frage und muss sich nicht sofort von den Theologen belehren lassen, wie er eigentlich fragen sollte, damit man dann die Frage auch gerne beantworten würde. Wenn man sofort anfängt, den Leuten eine strenge sprachliche Hausordnung vorzuschreiben, kommen sie sich vor wie einst in der Jugendherberge, wo man aus gutgemeinten Gründen alle möglichen Pflichten auferlegt bekam. Seitdem freut man sich, in Hotels übernachten zu können, in denen man machen kann, was man will, in denen es einen freundlichen Service gibt und vor allem nicht mehr diesen schrecklichen Tee, der mich jetzt noch in die Alpträume verfolgt.

Je wichtiger die Dinge für alle Menschen sind, desto allgemeinverständlicher und einfacher muss man sie ausdrücken können. Auch Akademiker, die für ihren Glauben aufs Schafott gehen, können ihre Gründe für diesen existenziellen Schritt auf ganz einfache Weise kurz und bündig und ohne Fremdwörter ausdrücken, und ebenso können das Atheisten, die sich zum Freitod entschließen. Dennoch sind das die wichtigsten Argumente, die sie jemals in ihrem Leben gehabt haben.

Ich habe in meiner Studienzeit in Rom Akademiker durch die Ewige Stadt geführt. Da ich mich mit der römischen Kunstgeschichte gut auskannte, fiel mir das vergleichsweise leicht. Als ich dann eine Gruppe von behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen durch Rom führte und den Anspruch hatte, denen genauso das Wesen der Renaissance und des Barock zu vermitteln, merkte ich, dass das intellektuell eine viel größere Herausforderung war, da man sich nicht auf irgendwelchen gängigen Fachbegriffen ausruhen konnte, sondern Tacheles reden musste. Aber ich versichere Ihnen, ich fand die Behindertenführung erheblich befriedigender, freilich geistig viel anspruchsvoller.

Es wird hier also darum gehen, verständlich, aber dennoch nicht banal über Gott zu reden. Nichts ist schlimmer als schlampiger Atheismus und frömmelnder Glaube. Es sollen also sorgfältig alle gängigen Einwände gegen die Existenz Gottes beachtet werden. Umgekehrt sollen alle überzeugenden Argumente für Gott bis hin zu den berühmten »Gottesbeweisen« dargestellt werden. Jeder mag dann selbst entscheiden, was ihm unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebenserfahrung plausibler erscheint.

Wer mich kennt, wird nicht überrascht sein, dass ich es selbst bei einem solchen Thema nicht lassen kann, die Lust am Leben und den »Spaß an der Freud« (alter rheinischer Fachbegriff) durchblicken zu lassen. Es mag Leser geben, die erwarten, dass man unter einem solchen Titel bloß bierernst und mit schreckgeweiteten Augen in die Abgründe unserer Existenz starren kann. Die aber gehören wohl zu den Menschen, für die es besser ist, die Zauberflöte nicht zu hören, sondern nur den Text zu lesen – ohne die Dialoge des Papageno und natürlich ohne die ergreifende Musik von Wolfgang Amadeus Mozart. Doch wie kann man als Europäer wirklich über Gott reden ohne den heiteren Ernst der Musik von Mozart im Ohr?

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Musik und Kunst – Elton John und die nackte Venus

1. Sein oder Nichtsein

Elton John setzte sich ans Klavier. Nicht für die Massen bei einer seiner spektakulären Welttourneen, nicht in einer gigantischen Konzerthalle, nicht bei einem vor Lebensfreude strotzenden Musikfestival. Er spielte für einen einzigen Menschen, in einer Kirche, in Westminster Abbey, und Elton John sang vom Tod dieses Menschen. Doch das Lied war zugleich der Höhepunkt der gewaltigsten Totenklage seit Bestehen der Menschheit, es war das Requiem für Lady Diana, the Princess of Wales.

Es war eine Totenklage ohne Gott. Zwar wurden bei den Trauerfeierlichkeiten traditionelle christliche Formen gewählt, doch die Verzweiflung rund um den Erdball war ohne Hoffnung. Man hat sich gefragt, warum eine so unglaubliche Explosion des öffentlichen Entsetzens durch eine so mittelmäßige Frau ausgelöst werden konnte, die sich selbst nicht als ausreichend schön empfand, die sich kaum königlich verhielt und deren vielgepriesenes soziales Engagement keineswegs dazu geführt hatte, dass sie ihr Vermögen oder auch nur Teile desselben für die Armen dahingab.

Doch vielleicht war das Geheimnis ihrer Wirkung gerade diese Mittelmäßigkeit, die sie jedem so nahebrachte, und zugleich die königliche Entrückung. Vor allem aber war es wohl der Schock, dass eine ganz offensichtlich lebensdurstige vitale junge Frau schlagartig – zur Leiche wurde. Die Drastik dieses Todes angesichts des unzählige Male abgebildeten prallen Lebens, das war zu viel für eine Gesellschaft, die den Tod fein säuberlich verdrängt. »Der von uns Gegangene«, sagt man wohlerzogen bei uns, als hätte sich da jemand irgendwie verlaufen. In Wirklichkeit handelt es sich um nichts anderes als um eine verwesende Leiche.

To be or not to be, that is the question. Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Aus den Urgründen der Weltliteratur steigt diese eindringliche Frage Hamlets auch zu jedem von uns auf. Sind wir am Ende nur flüchtige Existenzen auf dem Weg zu einem alles verschlingenden Tod? Material für Würmer und anderes Getier, das sich unserer Skelettierung annimmt? Bleibt uns nur zu leben – tapfer, zynisch, gedankenlos – im Angesicht der unabwendbaren Katastrophe unserer selbst? Oder gibt es noch irgendetwas über den Tod hinaus?

Der Text Elton Johns vertrat eindeutig die zynische Variante in Sachen Leben: »Wie eine Kerze im Wind …«, »Sterben – schlafen – nichts weiter!« (Hamlet) Aber Elton John sang. Da war Musik, und diese Musik erhob sich in diesem Moment über Ozeane und Kontinente und einte eine trauernde Menschheit. Nichts übersteigt so sicher und selbstverständlich die rein materielle Basis unserer Existenz wie Musik. Selbst in äußerster Verzweiflung kann Musik uns über den Moment hinausheben – nicht gleich zu Gott, aber wenigstens weg von einer simplen Sicht der Dinge, die nur Messbares, Wiegbares, Betastbares kennt, die also nur Physik und Chemie, Verwesung und Würmer zu sehen vermag. Die Sphäre der Musik ergreift die Menschen aller Zeiten und aller Länder, und sie erhebt sie über sich selbst hinaus – ins Land der großen Illusion?

Vielleicht.

Massenkonzerte erinnern häufig an religiöse Veranstaltungen. Feuerzeuglichter werden geschwungen, rituelle Handlungen vollzogen, und im großen gemeinsamen Gefühl strebt die Masse über sich hinaus … nach nirgendwo?

Vielleicht.

2. Ein Steinhaufen vereinigt die Menschheit

Doch auch anderswo kann sich plötzlich der Himmel öffnen. Der Parthenon in Athen ist eigentlich ein kaputter heidnischer Tempel, der Göttin Athene geweiht, an die man bei der Erbauung kaum noch glaubte, ein Haus, das bei kultischen Handlungen vor Regen schützen konnte, jetzt ruiniert von der Zeit und von der Explosion eines türkischen Munitionsdepots.

Doch gehen Sie einmal zu diesem antiken Tempel hinauf. Sie schreiten den feierlichen Aufgang zur Akropolis hinan. Rechts von Ihnen der exquisite Niketempel, dann der Eingang zum Heiligen Bezirk, der Säulenwald der Propyläen und dann … ein unglaublicher Anblick: der Parthenon. Ein schwebendes Gebäude in gleißendem mittelmeerischem Licht. Sie haben gewiss schon viel bedeutende Architektur in Ihrem Leben gesehen: kraftstrotzende, erdverbundene mittelalterliche Burgen, himmelstürmende gotische Kathedralen. Doch dieses Schweben über die Erde hinaus, aber dennoch nicht bis hinauf zu Gott – zu welchem auch! –,das können Sie wohl nur beim Parthenon erleben. Das war es, was ihn zu allen Zeiten zum bewunderten Glanzstück griechischen Geistes machte.

Es gab einige künstlerische Tricks, mit denen die genialen antiken Architekten diesen unvergesslichen Eindruck erzielten. Die Säulen hatten eine Entasis, eine leichte Wölbung mit dem größten Umfang im unteren Drittel. Und die Tempelfront war ein wenig nach oben gebogen, so dass die mittleren Säulen größer waren als die Ecksäulen. Wer es nicht weiß, dem fällt es nicht auf. Doch die überirdische Wirkung ist kein bloßer Trick, sonst gäbe es solche Wunderwerke in Serie. Es ist vielmehr der einmalige künstlerische Entwurf, die Gesamtkomposition, die Menschen aller Jahrhunderte und aller Religionen im Angesicht des Parthenons ergriffen hat.

Der Parthenon ist kein Gottesbeweis. Ob der große Phidias, der die Arbeiten beaufsichtigte, die krude griechische Götterwelt ernst nahm, kann man mit Gründen bestreiten. Aber das Erleben der Wirkung dieser genial angehäuften Steine, die wir Parthenon nennen, vereinigt die Menschheit in der Gewissheit, dass es über Steine, architektonische Tricks und Kosten für die Erbauung eines Hauses für kultische Handlungen hinaus etwas gibt, was man nicht messen und berechnen kann, das aber Menschen über das rein Irdische erhebt. Doch wohin?

Darauf antwortet die griechische Kunst nicht.

Die Fähigkeit, der Materie zu spotten, zeichnet die Kunst des klassischen Griechenland aus, macht sie zu großer Kunst. Auch die Bildhauer vermochten, der Materie ihre eigene Überwindung zu entlocken. Warum in aller Welt sollte man dem Menschen, diesem Säugetier, diesem Organismus, diesem Materiehaufen überhaupt eine herausragende Rolle zuschreiben? Die Antwort darauf war der stolze Wagenlenker von Delphi, waren die schönen selbstgewissen Mädchengestalten des Athener Erechtheions, die mühelos auf ihrem Haupt eine Welt zu halten vermochten, war der Diskuswerfer, dieses unsterbliche Kunstwerk des Myron.

Immer wieder erstaunt die scheinbare Leichtigkeit dieser genialen Kunst. Da ist keine schweißtreibende Mühe, ehrgeizige Protzerei, kein geschwätziges Bildungsbürgertum. Da ist Kunst, von Menschen geschaffen, aber über diese Menschen doch irgendwie hinausweisend. Nicht jeder versteht das, der bei so genannten Studienreisen seine Begeisterung nach der Zahl der Sternchen im Reiseführer dosiert. Auch die alten Römer, die die alten Griechen sehr bewunderten, aber eher ein bisschen nach dem Motto »Europe in five days pope included«, hatten etwas Mühe mit großer Kunst. Sie waren ein Volk von Bauern und Soldaten und hatten einige Erfahrung mit wirksamer Machtpolitik. Griechenland zu erobern war ihnen ein besonderes Anliegen, denn wenn man schon selber nicht sonderlich kultiviert war, war es doch schön, wenigstens ein kultiviertes Land zu erobern. Der Konsul Mummius machte seine Sache gut und gründlich. Er eroberte Griechenland nach allen Regeln der soldatischen Kunst, zerstörte Korinth nach Strich und Faden und wollte ganz gerne auch noch etwas für das eigene Marketing tun.

So ließ er seine Soldaten einpacken, Kunst natürlich, griechische Kunst. Er wollte sich in Rom als kunstsinniger Weltbürger darstellen, der Senat und Volk von Rom mit reichen Kulturgütern beschenkte. Und vor der Überfahrt nach Italien hielt er eine flammende Ansprache an seine Soldaten, in der er nachdrücklich auf pfleglichen Umgang mit den Kunstschätzen drang. Sollte jemand irgendein griechisches Kunstwerk kaputtmachen, was die Götter verhüten mögen, so müsse er es eigenhändig wieder neu machen.

Die Soldaten müssen sich da auf eine Weise ratlos angeschaut haben wie die Römer bei Asterix und Obelix. Man stelle sich vor: ein echter Phidias von der Hand eines römischen Legionärs! Merke also: Nicht jeder hat Sinn für Kunst, und niemand behauptet, das sei schlimm. Aber wer die Fähigkeit besitzt, sich von echter Kunst wirklich berühren zu lassen, der hat Zugang zu einer erhebenden fruchtbaren Irritation, die ein allzu spießiges Weltbild unmöglich macht.

Das Römische Reich ging unter, und manche traditionsbewussten Römer behaupteten, die Christen mit ihren Schwärmereien seien schuld an diesem Desaster. Augustinus, der größte christliche Denker der Antike, musste eigens noch am Ende seines Lebens eine ausführliche Widerlegung dieser Beschuldigung verfassen, seinen »Gottesstaat«: Doch der war mehr als die Widerlegung einer missgünstigen These. Er war der große Entwurf einer christlichen Welt, in der es Sinn, Ordnung, eine zielgerichtete Geschichte – und eben Gott gab. Der »Gottesstaat« des Augustinus wurde das große Lehrbuch des christlichen Mittelalters.

Man wandte nun den Blick wirklich mehr dem Himmel zu als der Erde. Kunst mit direktem Zeigefinger nach oben wurde üblich. Die alten Griechen wurden vergessen und auch ein bisschen gefürchtet. Lenkte die Befassung mit irdischer Schönheit nicht ab vom Eigentlichen, von der Bestimmung zum Himmel? In Ravenna kann man sehen, wie im Untergang des Weströmischen Reiches das tiefe diesseitige Blau als Bildhintergrund im christlichen Grabmal seiner letzten großen Kaiserin Galla Placidia nur wenige Schritte entfernt übergeht in den jenseitigen Goldhintergrund der Bildwerke der Kirche San Vitale. Sie war eine Schöpfung des Kaisers Justinian, der mit der Auflösung der platonischen Akademie in Athen im Jahre 529 in gewisser Weise die Antike beendete.

Dieser Goldhintergrund sollte nun tausend Jahre lang die Kunst bestimmen. Die Faszination des Himmels wirkte so stark auf die Menschen dieser Zeit, dass der Schönheit der Welt kaum mehr Beachtung geschenkt wurde. Herrliche Kunstwerke entstanden, die den Menschen in ihren schwierigen Lebensverhältnissen die Hoffnung auf den Himmel sinnlich gegenwärtig hielten.

3. Nackte Tatsachen und die Lust am Leben vor dem Tod

Doch im »Herbst des Mittelalters« meldete sich mit Macht das Diesseits zurück. Die Theologen entdeckten die Schöpfung neu, die Philosophen relativierten den Himmel, und die Künstler stellten wieder dar, was sie wirklich sahen. Sie erinnerten sich dabei der Antike, die das so großartig gekonnt hatte. Renaissance sollte man diese Zeit später nennen, Wiedergeburt der Antike.

Glücklicherweise hatten sich noch wenige Quadratkilometer Antike erhalten, denn fast vergessen existierte am Bosporus immer noch die Hauptstadt des Oströmischen Reiches, das man jetzt byzantinisch nannte, Konstantinopel. Die Stadt lag in ihrem Todeskampf gegen die anstürmenden Osmanen, denen sie 1453 erliegen sollte. Und ihre großen Geister flüchteten sich vor allem nach Italien, wo sie der Neuentdeckung der Antike kräftigen Rückenwind gaben. Der Goldgrund verschwand, der Himmel wurde wieder blau, wie an schönen Abenden in der Toskana. Gott, der im Mittelalter allein im Zentrum stand, geriet an den Rand. Er wurde zum Alibi für die neue Freizügigkeit. Man malt noch die alten heiligen Geschichten, aber oft bloß noch in ganz weltlicher Absicht: Adam und Eva, wie Gott sie geschaffen hatte, die nackte Susanna im Bade aus dem Alten Testament, Jesus predigend in herrlichen Landschaften und immer wieder Maria mit den Zügen zauberhafter italienischer Schönheiten. Sandro Botticelli lässt alle Rücksichten fahren und stellt die Geburt der nackten Venus dar, das Urbild der Renaissance. Doch die alten Kräfte schlagen zurück. In Florenz lässt der fanatische Dominikaner Savonarola all den neuheidnischen Tand verbrennen. Botticelli »bekehrt« sich und wirft viele seiner eigenen Bilder in die aufgerichteten Scheiterhaufen. Die Kirche lässt sich in dieser Situation nicht auf die Seite der Fanatiker ziehen. In Rom herrschen recht weltliche Päpste, die sich ganz dem Geist der Renaissance geöffnet haben. Im frommen Deutschland sollten sie damit später Schwierigkeiten bekommen, doch die Künstler ihrer Zeit lieben sie dafür. So kommen sie in immer größerer Zahl nach Rom, und gerade die bedeutendsten unter ihnen.

Das Jahr 1508 wird zum großen Jahr der Weltkunstgeschichte. Nicht nur beginnt der junge Michelangelo mit der Freskierung der sixtinischen Decke. Der junge Raffaelo Sanzio aus Urbino erhält den Auftrag zur Ausmalung der Stanza della Segnatura im Vatikanischen Palast. Was der noch ganz junge geniale Künstler da schafft, umfasst nicht mehr und nicht weniger als die Darstellung des gesamten strahlenden Selbstbewusstseins seiner Zeit.

Als Jugendlicher bin ich zum ersten Mal in diesen vergleichsweise kleinen Raum gekommen. Ich hatte damals kaum Zeit und war wenig berührt. Doch als ich dann wenig später mit einem hervorragenden Führer diesen Raum sah, war ich zutiefst ergriffen und konnte stundenlang meine Augen nicht von den prachtvollen Fresken lassen. Von diesem Tag an war mein Interesse an Kunst wirklich geweckt und auch meine Überzeugung, dass man durch Kunst der Wahrheit über einen Menschen oder eine Zeit vielleicht näher kommen kann als durch irgendwelche Texte. Später, als ich dann in den Semesterferien Reisegruppen durch Rom führte, war die Stanza della Segnatura immer der Höhepunkt des Romprogramms.

Auf einer Wand des weltberühmten Raums ist die gesamte damalige Sicht der Wissenschaft dargelegt. »Schule von Athen« hat man dieses Fresko genannt, aber es ist viel mehr als die Erinnerung an alte Zeiten. Dass Raffael den epochalen Geistern der Antike bisweilen die Gesichter seiner großen Zeitgenossen gab, zeigt das enorme Selbstbewusstsein der damaligen Gegenwart: in der Mitte Platon und Aristoteles als die beiden großen Protagonisten der griechischen Philosophie, Platon nach oben auf das Reich der Ideen deutend, für ihn die Quelle der eigentlichen Wahrheit, Aristoteles mit herrscherlicher Geste auf den Boden erfahrbarer Tatsachen zeigend. Umgeben sind sie von Sokrates, der eindringlich einem eitlen Menschen etwas erklärt, Pythagoras, Euklid, Heraklit, Epikur und schließlich Diogenes, der unberührt von dem geistreichen Trubel um ihn herum auf den Stufen der Treppe herumlümmelt. Jeder der Philosophen ist mit seinem ganz eigenen – philosophischen – Charakter getroffen, der vergeistigte Platon, der um den Einzelnen bemühte Sokrates, der pessimistische Heraklit, der lebensfrohe Epikur. Zugleich trägt Platon die Gesichtszüge des Leonardo da Vinci, des von Raffael bewunderten, damals noch lebenden Universalgenies, der das gesamte Wissen seiner Zeit in sich versammelte. Der pessimistische Heraklit aber hat die Züge des Michelangelo, des Titanen der neuen Kunst.

Die künstlerische Großleistung besteht darin, dass hier nicht nur einige Charaktere nebeneinandergestellt wurden, sondern dass sie bei aller Unterschiedlichkeit in eine Einheit zusammengefasst wurden, die von einer Vision des künftigen Petersdoms überwölbt wurde, dessen Grundstein zwei Jahre zuvor gelegt worden war. Gegenüber dieser großartigen universalen Darstellung der Wissenschaft hat Raffael die »Disputa« geschaffen, die Disputation über das Altarssakrament. Das ist der Ort der Theologie. Nicht bloß in demütiger Anbetung kann man da die großen theologischen Gelehrten der Vergangenheit und der Gegenwart sehen, sondern vor allem im nachdenklichen Gespräch. Da sieht man die abendländischen Kirchenväter, Ambrosius von Mailand, Augustinus, Hieronymus und Gregor den Großen, in großartigen aufeinander bezogenen Gesten, aber auch Thomas von Aquin, Bonaventura und viele andere. Im Himmel ist die Schar der Heiligen zu sehen und der dreifaltige Gott. Auch dieses Fresko umfasst die gesamte vergangene und gegenwärtige theologische Wissenschaft.

Diese beiden großen Panoramen werden auf den kleineren Fensterseiten verbunden mit dem Parnass, der Versammlung der Dichter aller Zeiten, Homer, Vergil, Ovid, aber auch Dante, Petrarca, Ariost, und auf der anderen Seite mit den Repräsentanten der Jurisprudenz, Kaiser Justinian und Papst Gregor IX., die ihre Gesetzesbücher vorlegen.

Blickt man schließlich bewegt von den ergreifenden Wandgemälden nach oben an die Decke, so gewahrt man dort über den vier Wänden die zugehörigen Allegorien der bücherstolzen Philosophie, der geistbewegten Theologie, der beflügelten Schönheit und der das Schwert führenden Gerechtigkeit, geistreich in den Ecken verbunden mit dem Urteil des Salomon, dem gerechten weisen König (zwischen Philosophie und Jurisprudenz), der Vertreibung aus dem Paradies, dem gerechten Gottesurteil (zwischen Theologie und Jurisprudenz), dem Wettstreit von Apoll und Marsyas, die die geistliche und weltliche Kunst repräsentieren (zwischen Schönheit und Theologie), und schließlich der Astronomie, der poetischsten aller Wissenschaften (zwischen Schönheit und Philosophie). Und damit verbindet die Decke der Segnatura die großartigen Wandgemälde zu einem universalen Ganzen, zu einer Sicht der Welt, wie sie war und wie sie ist.

Wer sich mit der Stanza della Segnatura intensiv befasst hat, wer sie geistig und sinnlich in sich aufgenommen hat, der hat die Atmosphäre und das Denken des Jahres 1508 verstanden. Da ist kein frommes Denken, denn das antike Heidentum hat machtvoll sein Haupt erhoben. Da ist das kraftvolle Selbstbewusstsein von gebildeten Genussmenschen, die sich nicht auf ein Jenseits vertrösten lassen wollten, sondern der Auffassung waren, dass es auch ein Leben vor dem Tod gibt. Die Lebensfreude von solchen Renaissancemenschen ließ sich so wenig durch die Kirche bremsen wie heute die Exzesse der Münchner Schickeria durch den Erzbischof von München und Freising.

Was Gott betrifft, so kommt er zwar vor, aber nur schwebend über dem Altar der Disputa. In der Stanza della Segnatura ist Gott eingeordnet in ein Weltsystem, das vielleicht auch ohne ihn auskommen würde. Auf ihren Wänden waren genügend Männer abgebildet, die nichts von ihm hielten. Und ob die kleine Kirche, die auf der Disputa zu sehen ist, in Gerüsten steht, weil sie dringend reformbedürftig ist oder ob wegen Baufälligkeit der Abriss droht, ist jedenfalls in diesem Weltgemälde des Jahres 1508 nicht klar auszumachen.

So weist auch die Stanza della Segnatura nicht eindeutig auf Gott, obwohl sie uns in ergreifender Weise herausreißt aus dem täglichen Allerlei durch die Kraft großer Kunst. Von dieser Kraft und nicht von Gott ist in der Grabinschrift des allzu jung verstorbenen Raffael im Pantheon die Rede. »Ille hic est Raphael, timuit quo sospite vinci rerum magna parens et moriente mori«, hatte der Humanist Pietro Bembo gedichtet: »Dieser hier ist Raffael; es fürchtete die Natur, als er noch lebte, von ihm besiegt zu werden; als er aber starb, meinte sie selber, mit ihm sterben zu müssen.«

Was den kundigen Betrachter in der Stanza della Segnatura bewegt, ist gewiss nicht bloß durch materielle Phänomene erklärbar, es handelt sich auch nicht um einen Hormonstau, einen gebahnten Hirnreflex, eine durch Baedeker und Co. erzeugte Massensuggestion. Die Wirkung der Stanza della Segnatura wie jeder großen Kunst weist zweifellos über all das hinaus. Doch tut sie das wirklich, oder ist all dieses Kunsterleben nichts anderes als eine wunderbare, ergreifende, beglückende – große Illusion?

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Die Psychologie und Gott – Über einen kleinen Mann im Ohr

1. Der Vatermord des Sigmund Freud

Die Zukunft einer Illusion« nannte Sigmund Freud sein großes religionskritisches Werk, und seitdem glauben die Menschen, die Psychologie habe irgendwie entdeckt, dass der liebe Gott so eine Art kleiner Mann im Ohr sei, den man bei Bedarf durch gute Psychologie wegmachen könne. Doch wenige haben Freud wirklich gelesen und kennen den heutigen Stand der Wissenschaft über die Effizienz der Therapiemethode, die ihn bekannt gemacht hat. Soeben wurde mit allgemeinem Festjubel der 150. Geburtstag des Gründervaters der modernen Psychologie begangen. Ein Rundfunksender rief bei mir an, man suche händeringend jemanden, der bereit sei, auch mal ein paar andeutungsweise kritische Bemerkungen zur Psychoanalyse zu machen, man halte es einfach nicht mehr aus mit den hymnischen Lobgesängen.

Nun besteht vom heutigen Stand der Wissenschaft aus nicht viel Anlass, kritiklos zu jubeln. Zwar hat Sigmund Freud ohne Zweifel mit seinen Thesen zum Unbewussten und vor allem zur Sexualität eine in absurden künstlichen Verrenkungen verknotete bürgerliche Gesellschaft erfolgreich aufgemischt. Zwar hat er ebenso erfolgreich eine originelle neue Therapiemethode propagiert, die allerdings in ihren entscheidenden Aspekten von anderen erfunden wurde. Doch hat die klassische Methode der Psychoanalyse den nüchternen Untersuchungsmethoden der neuesten Therapieeffizienzforschung nicht standgehalten. Klaus Grawe untersuchte schon vor zehn Jahren im Auftrag der Bundesregierung die Effizienz der gängigen Therapiemethoden. Dabei kam heraus, dass die große Psychoanalyse allenfalls für Gesunde geeignet ist. »Der Spiegel« berichtete darüber in einer aufsehenerregenden Titelgeschichte. Natürlich hatte das einen Aufschrei der Psychoanalytikerzunft zur Folge, als habe da jemand Gott oder doch wenigstens Freud gelästert. Die klügeren Psychoanalytiker nahmen freilich die unbestreitbaren wissenschaftlichen Ergebnisse zum Anlass, ihre Methode zu modernisieren und sich nicht in Nibelungentreue an den Urvater zu klammern.

Doch warum fällt es gerade Psychoanalytikern so schwer, sich neuen Erkenntnissen zu stellen? Das hat damit zu tun, dass Freud die Psychoanalyse nicht als eine mehr oder weniger erfolgreiche Psychotherapiemethode konzipierte, sondern als einen geheimnisvollen Königsweg, der den Eingeweihten zur Erkenntnis der Wahrheit über alles und jedes führt. Er schrieb über Kunst und Kultur, über Paläontologie und Völkerkunde, über Krieg und über Frieden. Die Psychoanalyse wurde zu einer Weltanschauung, zu einer Ideologie des an solchen Wahrheitslehren so reichen 19. Jahrhunderts, die auf alle Fragen eine Antwort wusste.

Ideologien sind aber nicht wirklich veränderbar, sie können sich kraftvoll durchsetzen, sie können Länder und Sprachen erobern, aber sie haben keine Ohren. Sie haben nur Sprachrohre, und irgendwann sterben sie, plötzlich manchmal. Doch genau diese scheinbar unbeirrbare Selbstgewissheit, ihre Durchsetzungskraft und die Überzeugung, mit diesem Gedankengebäude buchstäblich alles zu erklären, das machte und macht noch heute die Faszination der Psychoanalyse für viele aus. Der Psychoanalyse-Gläubige meint, über ein überlegenes Wissen darüber zu verfügen, wie es, wie alles, »eigentlich« ist. So betreibt die Psychoanalyse nicht, wie es einstmals ihre Absicht war, Aufklärung, sondern vielmehr Mystifikation.

Ich erinnere mich in meiner psychoanalytischen Ausbildung an die gläubigen Gesichter mancher Auszubildender, wenn sie fragten, was denn nun eigentlich und immer im zweiten Lebensjahr eines Menschen, natürlich jedes Menschen, vorgehe, und an die stubengelehrte Antwort des Dozenten, selbstverständlich nie ohne Freudzitat. Das Ganze hatte etwas Betuliches und war irgendwie voll rührender Naivität. Wie will man in einer solchen Atmosphäre seriöse Wissenschaft betreiben, die sich nach Sir Karl Popper gerade auf die »Falsifizierbarkeit« ihrer Ergebnisse etwas zugute hält, das heißt darauf, dass man gegebenenfalls beweisen könnte, dass das erreichte Ergebnis falsch ist? Wissenschaft ist in diesem Sinne die spannende Bemühung, mit Argumenten Irrtümer über die Wirklichkeit zu beseitigen – im selbstverständlichen Bewusstsein, dabei selber irren zu können. Ideologien ticken da anders. Ideologien irren nie, da kann sich die Wirklichkeit auf den Kopf stellen. Zugegeben, Freud selbst war in vielem erheblich wandlungsfähiger als seine späteren Fans. Dennoch, die Ursache für die Unflexibilität dieses letzten noch lebenden geistigen Dinosauriers aus dem 19. Jahrhundert lag in Freuds eigener Grundintention, alle Seelenvorgänge auf zugrunde liegende neurologische, materielle Triebkräfte zurückzuführen und von da aus dann die ganze Welt zu erklären. Schon Jürgen Habermas hat ihm dafür das berühmt gewordene »szientistische Selbstmissverständnis« vorgeworfen. Nach Habermas, der ansonsten die Psychoanalyse durchaus schätzte, ist die Psychoanalyse nämlich keine »Scientia«, keine Wissenschaft im naturwissenschaftlichen Sinne. Sie ist vielmehr eine so genannte hermeneutische Methode, das heißt: Sie ist eine für Patienten mehr oder weniger nützliche Art der Bildbeschreibung. Die Wahrheit kann man mit der Psychoanalyse nicht erkennen.

Damit werden aber auch die religionskritischen Schriften Freuds zur Makulatur. Und in der Tat sind sie für den heutigen Leser langweilige ewige Wiederholungen derselben schlichten Thesen, die mit mageren und inzwischen überholten Literaturangaben belegt werden. Vom religionsstiftenden Vatermord der Urhorde sprechen dennoch gewisse Psychoanalytiker noch heute, als existierte eine in Stein gemeißelte überzeugende Gerichtsakte über jenen urzeitlichen Gewaltakt.

Man tut Freud sicher kein Unrecht, wenn man behauptet, die Belege für diesen Vatermord seien erheblich ungewisser als alles, was sogar er als Hinweis auf die Existenz Gottes verstehen könnte.

Freud versucht mit seiner Methode, den Glauben an Gott als eine psychische Störung darzustellen. Natürlich ist ein solches Unterfangen genauso denkbar wie die berühmte satirische Bemerkung von Karl Kraus, die Psychoanalyse sei die Krankheit, für deren Therapie sie sich halte. Die Methode, die Freud dabei wählt, ist ausgesprochen schlicht. Wenn man einfach voraussetzt, Gott existiere nicht, dann ist jedem sofort klar, dass die religiösen Verhaltensweisen von Menschen unter dieser Voraussetzung ziemlich merkwürdig, wenn nicht gar verrückt erscheinen müssen. Regelmäßig absurde Ritusveranstaltungen zu besuchen, ohne dass das zu irgendetwas nutze ist, und damit und mit rituellen Gebeten etc. viel Lebenszeit zu vergeuden, ist so gewiss erheblich einschränkender fürs Leben als ein zünftiger Waschzwang. Dass Religion als kollektive Zwangsneurose bezeichnet wird, ist – immer unter der Voraussetzung, dass Gott nicht existiert – dann eigentlich gar nicht sehr zu kritisieren.

Umgekehrt könnte man übrigens unter der gegenteiligen Voraussetzung, dass Gott existiert, die atheistischen Verhaltensweisen als völlig absurde Fluchtreflexe, mangelnde Stabilität einer Persönlichkeit mit Wirklichkeitsverlust und Unfähigkeit zu verlässlichen Beziehungen beschreiben – also ebenso als schwere Pathologie. Das ganze großartige antireligiöse Gebäude Sigmund Freuds steht und fällt also mit einem tönernen Fundament, der völlig unbewiesenen Behauptung, Gott existiere nicht. Insofern stellt Freud zwar ein Modell zur Verfügung, wie man religiöse Phänomene vielleicht erklären könnte, wenn es Gott nicht gäbe. Zur entscheidenden Frage selbst, ob es Gott gibt oder ob es Gott nicht gibt, hat Freud absolut nichts zu sagen.

Dennoch, an der Frage des Freudschen Atheismus schieden sich die Geister. Er selbst erkannte dieses Problem früh und publizierte Teile seiner religionskritischen Schriften erst, als er im sicheren englischen Exil angelangt war. Doch es war ihm offenbar wichtig, mit der von ihm erfundenen Grammatik auch sein Weltbild ohne Gott durchzubuchstabieren. Manche freilich sahen in den religionskritischen Schriften Freuds eine Hilfe, ihren eigenen Atheismus zu begründen. Doch das war ein Irrtum. Begründen kann man den Atheismus mit Freud ja gerade nicht. Freud ist bloß eine Möglichkeit, den eigenen, längst entschiedenen Atheismus mit neuen Bildern und Worten auszudrücken.

2. Was C.G. Jung und Viktor Frankl mit einem Pornostar verbindet

Andere jedoch fanden, dass die Unterbelichtung der Religion bei Freud ein Nachteil sei. Sein Meisterschüler C.G. Jung entdeckte und erforschte die Fülle der Religionen und entzweite sich genau an diesem Punkt mit seinem tyrannischen Übervater. Man mag das einen geistigen Vatermord nennen.

Manche, durch all den Gegenwind frustrierte und in die Enge getriebene Christenmenschen sahen in C.G. Jung, diesem Ketzer der Psychoanalyse, geradezu ihren Erlöser von all den Unbilden, die ihnen der garstige Meister des Unbewussten zugemutet hatte. Während Religion bei Freud im Grunde nur negativ vorkommt, ist das bei Jung nun tatsächlich ganz anders. Religiöse Bilder aller Zeiten und Völker prägen seine Schriften, umfangreiche Studien förderten eine Unmenge an religionskundlichem Material zutage. Und C.G. Jung schmolz all das ein in seine Lehre vom kollektiven Unbewussten der Menschheit, von den Archetypen, den Urbildern des Menschengeschlechts in den Bildern der Völker und den Bildern der Träume der einzelnen Menschen. Das Reich C.G. Jungs ist bunt ausgemalt mit einer Fülle von Göttern und geheimnisvollen Symbolen.

Doch wer glaubt, wo viel von Religion und religiöser Staffage die Rede sei, gehe es um die Frage nach Gott, der irrt. Vielleicht ist es sogar die Religionswissenschaft, die dem Glauben an Gott am meisten zu schaffen macht. »Dieser Gott wurde natürlich wie üblich von einer Jungfrau geboren«, meinte wie beiläufig Professor Mensching, einer der Gründerväter der Religionswissenschaft, in einer Vorlesung, die ich noch bei ihm hören konnte. Es ist zweifellos legitim, alle Religionen sozusagen vom volkskundlichen Standpunkt aus zu betrachten, als seien sie verschiedene Formen von Folklore, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede man über alle Völker hinweg gewissenhaft erforschen kann. Es ist ja auch vielleicht ganz amüsant, verschiedene Sorten von Mord buchhalterisch zu dokumentieren: den klassischen Giftmord, den Raubmord, den Mord aus Eifersucht und wie sie alle heißen. In dem köstlichen Hollywoodstreifen »Arsen und Spitzenhäubchen« bringen zwei allerliebste ältere Damen einige Menschen, die ihrer Meinung nach jetzt lange genug gelebt haben, auf possierliche Weise um die Ecke. Der Film lebt von dem letzten Unernst, dem über der unterhaltsamen Vielfalt der äußerlichen Phänomene der ungeheure Ernst der Tötung eines Menschen aus niederen Motiven völlig entgeht. Mord, wirklicher Mord, kommt in »Arsen und Spitzenhäubchen« also im Grunde auch nicht annähernd vor. Man sitzt in der Loge und schaut sich ein unterhaltsames Schauspiel an. Auf gleiche Weise schauen sich der Religionswissenschaftler die Religionen und C.G. Jung die Mythen der Völker an. Gott als der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erde kommt in diesen reich bebilderten Darstellungen im Grunde überhaupt nicht vor. Im Gegenteil, das Gefühl der überlegenen Kenntnis des religionsgeschichtlichen Materials und des Eingeweihtseins in die Mythen der Völker machen es wahrscheinlich schwieriger, sich selbst höchstpersönlich der existenziellen und für das eigene Leben alles entscheidenden Frage zu stellen, ob es Gott wirklich gibt oder nicht. Es ist – man verzeihe mir den Vergleich – wahrscheinlich das Problem, das Pornodarsteller mit der Frage haben, ob sie jetzt einen bestimmten einzelnen Menschen wirklich lieben, ihn erotisch anziehend finden, ihn heiraten und mit ihm Kinder haben wollen. Mit anderen Worten: C.G. Jung und die Religionswissenschaft helfen bei der Frage, ob Gott wirklich existiert, überhaupt nicht weiter.

Ganz unverständlich ist vor allem, dass Christen so gerne auf C.G. Jung hereinfallen. Die esoterische Unbestimmtheit seines Denkens löst die Klarheit und Härte der Gottesfrage in Sphärenmusik auf, und dass er vorschlägt, die göttliche Dreifaltigkeit entweder um den Teufel oder um Maria zu erweitern, ist bestenfalls amüsant, schlechtestenfalls absurd. Befasst man sich für unsere Frage nach Gott mit dem Bilderfeuerwerk des C.G. Jung, ist man am Ende froh, wieder den nüchternen Juden Freud zur Gottesfrage zu lesen. Man versteht das Gottesgebot vom Sinai besser – von Gott soll man sich kein Bild machen!

Jude war auch Viktor Frankl, der Begründer der so genannten Logotherapie. Ihm verdanken wir nicht nur geniale Erfindungen in der Psychotherapie, sondern auch sein ergreifendes Werk »Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager«.

Auf den ersten Blick scheint Frankl ein machtvoller psychologischer Anwalt in der Gottesfrage zu sein. Frankl selbst hat sich als Gegen-Freud stilisiert. Doch schüttet er das Kind mit dem Bade aus. Zwar betonte er zu Recht die Bedeutung des Sinns (Logos) und auch des Glaubens an Gott für den Menschen. Aber er versuchte sozusagen, dem Sinn mit Psychologie und der Psychologie mit Sinn beizukommen. Mit beidem ist er gescheitert. Dass Menschen, die an Gott glauben, mehr innere Selbstgewissheit haben mögen, vielleicht auch weniger an Ängsten leiden, mag stimmen und erfreulich sein. Doch sagt dies nichts darüber aus, ob Gott existiert oder nicht. Man sollte ja nicht per se ausschließen, dass auch veritable Lebenslügen mit feister psychischer Gesundheit einhergehen können – sonst müssten alle Zuhälter depressiv sein, wovon mir nichts bekannt ist.

Wer sich wegen guter psychohygienischer Effekte entscheiden sollte, an Gott zu glauben, glaubt nicht an Gott, sondern an die hohe Bedeutung des eigenen Wohlbefindens – und das hat mit Christentum rein gar nichts zu tun. Sollte sich herausstellen, dass das Wohlbefinden bei Christen besser wäre als bei anderen Menschen, müsste das nachdenklich machen. Christen sollen ihren Mitmenschen aufopferungsvoll und schweißtreibend dienen und ihr Leben einsetzen für Arme und Bedürftige. So etwas schont weder die Kräfte noch die Nerven, noch den Teint und bringt einen schlimmstenfalls früher ins Grab, bestenfalls sicherer ins ewige Leben.

Mir scheint, je mehr eine Psychotherapierichtung Ganzheitlichkeit, den Sinn des Lebens, oder gar Gott im Munde führt, desto weniger hat sie mit der ernsten Frage nach der Existenz Gottes wirklich zu tun. Diejenigen, die in der Psychotherapie Erlösung suchen, haben die Türklingel verwechselt. Psychotherapeutisch hergestellter Glaube wäre von ähnlicher Qualität wie der Homunculus, das menschengemachte kleine Menschlein aus der Retorte, dessen mickrige Existenz Goethe im »Faust« der Lächerlichkeit preisgibt. Heilung durch Glauben, sollte es das geben, hat jedenfalls mit nach wissenschaftlichen Prinzipien vorgehender Psychotherapie nicht das Geringste zu tun.

Wie kann nun die Psychotherapie so vorgehen, dass sie solche unzuträglichen Vermischungen vermeidet, dass sie nicht mit den ihr eigenen Methoden im Bereich religiösen Glaubens wildert? Und wie kann man sicherstellen, dass andererseits der Glaube nicht totalitär wird, sich übermütig zur eigentlichen Psychotherapie stilisiert und wissenschaftlich gesicherter Psychotherapie ihren legitimen Raum nimmt?

3. Gott und ein Blumenstrauß

Im Jahre 1995 organisierte die Klinik, an der ich damals Chefarzt war, einen großen Kongress für über tausend Teilnehmer. Unter den Vortragenden waren Paul Watzlawick aus Palo Alto, einer der Gründerväter moderner systemischer Psychotherapie, und Steve de Shazer, der vielleicht radikalste Neuerer der Psychotherapie aus Milwaukee. Ich hatte einen Vortrag zum Thema »Psychotherapie und Religion« zu halten. Die vergangenen Jahre hatte ich mich intensiver mit systemischen Therapieansätzen befasst. Vor allem hatte mich die lösungsorientierte Kurztherapie Steve de Shazers überzeugt. Auch wissenschaftstheoretisch. Freilich wurde gerade der systemischen Therapie und auch dem von der Hypnotherapie Milton Ericksons inspirierten Therapieansatz Steve de Shazers nicht selten Technizismus vorgeworfen. Man sehe den Patienten nur wie einen Apparat, den man durch eine vergleichsweise kleine Intervention wieder ans Laufen bekam. Auch die Kürze der Therapie löste Bedenken aus. Bei de Shazer war eine Behandlung im Durchschnitt nach wenigen Sitzungen beendet. Man gewähre den Patienten nicht genügend Zeit, hieß es, man speise sie mit Fast Food ab.

Je länger ich die Frage bedachte, desto überzeugender schien mir aber gerade ein solcher Ansatz geeignet, die eigene Bedeutung der Religion zu respektieren. Die systemische Therapie kennt keine Wahrheiten, sondern nur mehr oder weniger nützliche unterschiedliche Perspektiven auf eine Realität, deren Eigentlichkeit man dahingestellt sein lässt. In therapeutischer Absicht ist diese pragmatische Sicht zweifellos außerordentlich fruchtbar. Symptome nicht als feste Realitäten, sondern als flüchtige Phänomene zu verstehen, ist für eine erfolgreiche Therapie erheblich nützlicher als therapiebedürftige Menschen erst auf ihre Symptome zu fixieren, um diese vielbesprochenen Gebilde dann in mühsamer Arbeit wieder wegzuschaffen.

Etwas Weiteres kommt hinzu: Oft sagen Patienten, wenn sie über ihren psychischen Zustand sprechen: »Ich habe wieder meine Depression.« Was sie in diesem Satz mit dem Wort »Depression« eigentlich meinen, kann niemand, auch kein noch so erfahrener Psychotherapeut nach noch so langen Gesprächen jemals erfahren. Dieses höchst persönliche quälende Gefühl eines einmaligen Menschen kann kein anderer Mensch jemals wirklich »wissen«. Man wird bei sich selbst vielleicht ähnliche Gefühle zu kennen meinen, man hat von anderen Menschen von vielleicht vergleichbaren Zuständen erfahren. Doch möglicherweise ist mit all dem die höchst individuelle Färbung dieser »Depression« eines anderen Menschen auch nicht annähernd getroffen. Steve de Shazer jedenfalls war der Auffassung, dass man niemals wirklich wissen kann, was irgendjemand meint, wenn er sagt, er sei depressiv.

Daraus folgt zweierlei: Zum einen ist es dann im Grunde sinnlos, große Theorien darüber zu entwickeln, wie »die Depression« eigentlich sei, was »der Depressive« fühle und was er nicht fühle, was für alle »Depressive« nützlich sei und was für sie nicht nützlich sei etc. Solche großen Theorien verfestigen »die Depression«, behandeln sie wie einen wahren Gegenstand und machen sie durch all das wenig veränderungsfähig. Je mehr theoretisches Material auf den armen Depressiven aufgehäuft wird, desto mehr wird er sozusagen eingemauert vom angeblichen Wissen um seine Depression. Im Sinn der so genannten Self-fullfilling-prophecy, der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, erreicht man es auf diese Weise, die Depression gerade nicht zum Verschwinden zu bringen, sondern sie sozusagen erst richtig herzustellen, sie auszubauen und ihr ein möglichst tiefes Fundament zu geben. Denn Sprache schafft psychologische Wirklichkeit, und je mehr man über ein Problem spricht, desto »realer« lässt man es werden. Daher: keine große Depressionstheorie, sondern Respekt vor der Individualität des Leidens.

Zum Zweiten aber gilt: Wenn uns die eigentliche innere Wirklichkeit der Depression eines Menschen von außen prinzipiell nicht zugänglich sein kann, dann kann auch die therapeutische Veränderung nicht nach einem von außen auferlegten, von einem Therapeuten klug ausgedachten allgemeingültigen Plan erfolgen. Kompetente Therapie für einen einzelnen depressiven Menschen muss also stets individuell und passgenau erfolgen. Wenn man demnach das Problem nicht eigentlich erkennen kann und Veränderung nicht von außen Schritt für Schritt planen kann, wie kann man dann überhaupt noch Psychotherapie machen? Steve de Shazer sagt: Indem man den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf die in der langen Depression vergessenen oder nicht beachteten Kräfte und Veränderungspotenziale, die im Patienten stecken, richtet. Wenn der Patient seine eigenen Kräfte wahrnimmt und dann nutzt, kann er in vergleichsweise kurzer Zeit nützliche Veränderungen erreichen und dadurch seine Probleme lösen. Der Psychotherapeut wird zum Beleuchtungskünstler.

Bei unserem Kongress stellte Steve de Shazer einen spektakulären Fall dar. Eine Patientin kam zu ihm mit einem Problem, das ihr so peinlich war, dass sie darüber nicht reden könne. Normalerweise würde man eine solche Therapie ablehnen. Nicht so de Shazer. Er stellte ihr die üblichen Fragen, insbesondere die Skalenfragen: Wo auf einer Skala von null bis zehn befinden Sie sich jetzt bezüglich Ihres Problems? Null bedeutet, es geht so schlecht, schlechter geht es gar nicht, zehn bedeutet, Ihr Problem ist gelöst. Wo auf dieser Skala befinden Sie sich jetzt? Die Patientin nannte die Zahl drei. Warum nicht auf zwei?, fragte de Shazer und bat die Patientin, sich die Antwort bitte nur ganz konkret vorzustellen, da sie sonst ja vielleicht das geheime Problem verraten würde. Er fragte dann, ob sie sich in letzter Zeit mal auf vier gefühlt habe, wann das gewesen sei und was sie da gemacht habe, auch das solle sie sich ganz intensiv vorstellen. Schließlich gab er ihr bis zum nächsten Mal die »Aufgabe der ersten Stunde«, sich bis dahin vorzustellen, was im Leben bei ihr zurzeit so laufe, dass sie es nicht ändern wolle. Außerdem solle sie sich merken, was sie in Situationen tue, in denen sie auf vier oder gar auf fünf sei. Auch viele andere Fragen wurden gestellt, die die Patientin auf die gelingenden Aspekte ihres Lebens konzentrierten. Die Therapie entwickelte sich gut, der Patientin ging es immer besser. Als sie auf acht war, fand die Patientin, es sei jetzt genug, und sie beendeten die Therapie. Monate später traf eine Urlaubskarte der Patientin ein: Sie sei jetzt auf zwölf … Nie hat Steve de Shazer erfahren, um welches Problem es sich eigentlich handelte, er hatte nur hochprofessionell am Scheinwerfer gearbeitet. Über das Problem wurde in diesem Falle überhaupt nicht geredet, aber es wurde dennoch überzeugend gelöst.

Psychotherapie verfestigt bei diesem Ansatz die Symptomatik nicht dadurch, dass sie ihr einen Namen, eine Genealogie und viele Depressionsgeschichten gibt. Sie nimmt der Depression die Suggestion des Dauerhaften, Unveränderbaren, sie nimmt ihr das Gegenständliche und sie verflüssigt die Depression in sich ändernde zeitweilige Zustände, die unvermeidlich vorübergehend sind. Zugleich aber nimmt sie das Subjektive der Depression wirklich ernst. Nur der Patient selbst kann wissen, was ihm, ihm ganz persönlich, hilfreich war und hilfreich ist. Der Therapeut regt ihn nur hochsuggestiv an, darauf intensiver zu achten – und natürlich dadurch mehr von dem zu tun, was gut funktioniert. Das Ziel bei einer solchen therapeutischen Haltung bestimmt ausschließlich der Patient selbst, und der Therapeut dient dem Patienten, ein solches Ziel zu erreichen. Die Methode ist gerade durch das Aufgreifen der hypnotherapeutischen Geniestreiche von Milton Erickson hochsuggestiv. Aber sie suggeriert nichts Fremdes, insbesondere keine Auffassungen des Therapeuten von Gott und der Welt, wie man »normal« zu sein hat, was ein »gutes« Ziel und was kein gutes Ziel ist.

Für mein Thema »Psychotherapie und Religion« war die Vorgehensweise von Steve de Shazer außerordentlich fruchtbar. Denn in vorbildlicher Weise vergriff sie sich nicht pseudokompetent an der Religion, sondern achtete jede in einem langen Leben errungene Überzeugung des Patienten. Durch diese mit aller Konsequenz durchgehaltene respektvolle Abstinenz von jeder inhaltlichen Vorgabe und die nüchterne Konzentration auf eine subtile Fragetechnik ist diese Methode weltanschaulich völlig neutral. Ein Buddhist mag so ein besserer Buddhist, ein Christ ein besserer Christ und ein Atheist ein besserer Atheist werden. Und die Therapie wird so kürzer, denn der Patient wird nicht auf ein ihm im Grunde fremdes Terrain gezerrt, das der Therapeut für »die Normalität« hält, sondern er darf bei sich bleiben und sich sofort ganz auf seine eigenen Kräfte und die Lösungen konzentrieren, ohne wieder, wie schon so oft, im Problem zu versinken. Therapien nach dem Motto: Sie haben ein Problem, da hätt’ ich noch eins für Sie! mögen zwar manchmal auch effektiv sein, aber sie dauern jedenfalls länger. Und lange Therapien würdigen keineswegs, wie manche meinen, das Leid des Patienten, sondern sie suggerieren dem Patienten die hohe Bedeutung des Therapeuten für ihn – und damit die eigene Unfähigkeit. Kürze der Therapie ist damit nicht nur Kennzeichen einer bestimmten Therapierichtung, sondern eine ethische Forderung an jede Psychotherapie.

In meinem Statement auf dem Kongress plädierte ich dann dafür, jede Psychotherapierichtung um ihrer eigenen Seriosität willen auf ihre direkten und indirekten, beabsichtigten und unbeabsichtigten religiösen Wirkungen und Nebenwirkungen zu überprüfen.

Der Preis der hohen Effizienz der oben beschriebenen Therapiemethoden ist die konsequente Konzentration auf das, was wirkt, unter absichtlicher völliger Vernachlässigung der Frage, was wahr ist und damit auch der Frage nach Gott. Nun mag das für therapeutische Situationen nützlich sein. Doch kann man so leben?

Eines Tages fragte ich Steve de Shazer, wie er denn noch seiner Frau – Insoo Kim Berg, die auch viel zur Entwicklung lösungsorientierter Therapie beigetragen hat – ein Kompliment machen könne. Denn »Komplimente«, wertschätzende Bemerkungen über – wirkliche! – Fähigkeiten des Patienten, sind wichtige Instrumente seines Therapieansatzes. Er sah mich unter seinen buschigen Augenbrauen eine Weile ernst an und sagte dann: »Keine Worte, ich glaube, ich würde ihr Blumen schenken …«

Die Frage nach Gott ist – wirklich ernst genommen – natürlich nicht eine Frage nach einer mehr oder weniger nützlichen Perspektive. Die Frage nach Gott ist eine existenzielle Frage. Eine Frage nicht nur nach einer mehr oder weniger wirksamen Wirklichkeit, sondern die Frage nach der existenziellen Wahrheit. Existiert Gott in Wahrheit oder existiert er in Wahrheit nicht? Das ist eine Frage außerhalb jeder kunstvollen, aber eben doch nur künstlichen Psychotherapie, es ist eine Frage auf der Ebene des Blumenstraußes von Steve de Shazer.

Nach dem Durchgang durch die moderne Psychologie und Psychotherapie können wir damit ein vielleicht erstaunliches, aber doch klares Ergebnis feststellen: Die moderne Psychologie und die Psychotherapie haben zu der Frage, ob Gott existiert, absolut nichts beizutragen. Doch manchmal ist die Erkenntnis, dass man etwas in einer bestimmten Gegend ganz sicher nicht findet, wo alle immer wieder gesucht haben, viel hilfreicher als unsichere Funde, über die man sich dann immer wieder den Kopf zerbrechen muss.

Zu behaupten, die Psychologie könne etwas über Gott aussagen, hieße, man könne etwas über die Zauberflöte sagen, wenn man genau die Bühnenmaschinerien untersucht hat, die Bühnenausstattung inspiziert hat und vielleicht noch über den psychischen Befund aller Sänger verfügt. Was weiß man dadurch über die Zauberflöte, über Mozart, über den Zauber der Musik? Man wird wohl kaum übertreiben, wenn man die Antwort mit einem kurzen Wort zusammenfasst, nämlich: Nichts!

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Die Frage – Expeditionen durch den Feuerbach

Es ist eine trügerische Hoffnung, über die Psychologie eine gültige Antwort auf die Frage nach der Existenz Gottes zu bekommen. Dass man das überhaupt versucht, hat vielleicht damit zu tun, dass die gründlichste und wirksamste Widerlegung der Existenz Gottes zwar von einem Philosophen vorgetragen wurde. Diese Widerlegung argumentiert in ihrem entscheidenden Kern aber psychologisch.

Die Rede ist von Ludwig Feuerbach (1804–1872). Feuerbach war noch Schüler von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dem großen Denker des deutschen Idealismus. In seinem Hauptwerk, der »Phänomenologie des Geistes«, hatte Hegel sich bemüht, nach dem Zusammenbruch der Erkenntnisgewissheit in der Philosophie des 18. Jahrhunderts noch einmal ein großes philosophisches System zu entwickeln. Die Anlage des Hegelschen Werkes hat tatsächlich versucht, das Denken von Philosophie, Theologie und der gesamten Wissenschaft in ein imposantes philosophisches Gebäude zu überführen. Liest man Hegel, ist man beeindruckt, wie hier eins ins andere greift. Sogar die zentralen Aussagen des Christentums werden in Philosophie gegossen, die Dreifaltigkeit, der Kreuzestod und die Auferstehung Christi.