Götter und Maschinen - Adrienne Mayor - E-Book

Götter und Maschinen E-Book

Adrienne Mayor

0,0
23,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Antike und künstliche Intelligenz – das hört sich an wie ein Sci-Fi-Roman. Aber tatsächlich bevölkern gigantische Androiden, Techno-Hexen und böse Fembots die Mythen von Griechen und Römern, die uns scheinbar so vertraut sind. Schon seit Homer stellen Menschen sich Roboter-Diener oder animierte Statuen vor. Mythische Maschinen treten in Geschichten über Jason und die Argonauten, Medea, Daedalus, Prometheus und Pandora auf. Tatsächlich wurden in der Antike sogar schon einige ausgeklügelte animierte Geräte gebaut, in Alexandria, dem ursprünglichen Silicon Valley. In diesem fesselnden Buch erzählt Adrienne Mayor uns die noch nie erzählte Geschichte darüber, wie einige der fortschrittlichsten Innovationen in der Robotik und Künstlichen Intelligenz von heute im antiken Mythos vorweggenommen wurden. Sie zeigt, wie die Wissenschaft immer von der Phantasie angetrieben wurde. Dies ist die Mythologie des Zeitalters der KI!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 462

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Adrienne Mayor

Götter und Maschinen

Wie die Antike das21. Jahrhundert erfand

Aus dem Englischenvon Nikolaus de Palézieux

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die englische Originalausgabe ist 2018 bei Princeton University Press (41 William Street, Princeton, NJ 08540, USA und 6 Oxford Street, Woodstock, Oxfordshire OX20 1TR, England) unter dem Titel Gods and Robots. Myths, Machines and Ancient Dreams of Technology erschienen. © 2018 by Adrienne Mayor

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Zabern ist ein Imprint der wbg.© der deutschen Ausgabe 2020 by wbg(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Lektorat: Kristin Oswald,Erfurt Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, SeeheimEinbandgestaltung: Harald Braun, Helmstedt

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8053-5226-0

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): ISBN 978-3-8053-5224-6eBook (epub): ISBN 978-3-8053-5225-3

Menü

Buch lesen

Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Inhalt

EinführungGeschaffen, nicht geboren

Kapitel 1Der Roboter und die HexeTalos und Medea

Kapitel 2Medeas Verjüngungskessel

Kapitel 3Die Suche nach Unsterblichkeit und ewiger Jugend

Kapitel 4Über die Natur hinausGrößere Macht, von Göttern und Tieren geborgt

Kapitel 5Daedalus und die lebenden Statuen

Kapitel 6Pygmalions lebende Puppe und Prometheus’ erste Menschen

Kapitel 7HephaistosGöttliche Apparate und Automata

Kapitel 8PandoraSchön, künstlich, böse

Kapitel 9Zwischen Mythos und GeschichteEchte Automata und lebensechte Vorrichtungen in der antiken Welt

EpilogEhrfurcht, Angst, HoffnungDeep Learning und alte Geschichten

Danksagung

Anmerkungen

Glossar

Bibliographie

Bildnachweis

Register

EinführungGeschaffen, nicht geboren

Wer kam als Erster auf die Idee von Robotern, Automata, von Ergänzungen des Menschen und Künstlicher Intelligenz? Historiker führen die Idee des Automaton gern auf Handwerker des Mittelalters zurück, die selbstbewegende Maschinen entwickelten. Werfen wir aber unseren Blick noch weiter zurück, nämlich mehr als 2000 Jahre, so finden wir in der Mythologie eine ungewöhnliche Fülle an entsprechenden Ideen und Vorstellungen. Diese Geschichten zeigen, wie man das natürliche Leben nachahmen, steigern und sogar übertreffen kann – durch Hilfsmittel, die man als Biotechne bezeichnen könnte, als „handwerklich geschaffenes Leben“. Wir finden also in der griechischen Antike die frühesten Andeutungen auf unsere heutige Biotechnologie.

Lange, bevor im Mittelalter die ersten Uhrwerke und im frühmodernen Europa die ersten Automata aufkamen, und selbst Jahrhunderte vor den technologischen Innovationen aus dem Zeitalter des Hellenismus in Gestalt raffinierter, selbstbewegender Apparate, existierten in griechischen Mythen bereits Vorstellungen über die Herstellung künstlichen Lebens – und auch Skrupel deswegen. Wesen, die geschaffen, nicht geboren waren, tauchten in den Erzählungen über Iason und die Argonauten auf, in denen über den bronzenen Roboter Talos, die „Techno-Hexe“ Medea, den genialen Erfinder Daedalus (in Transkription des Griechischen eigentlich: Medeia und Daidalos), den Feuerbringer Prometheus und Pandora, den von Hephaistos – dem Gott der Erfindung – geschaffenen bösen, humanoiden, weiblichen Roboter. Diese Mythen sind der früheste Ausdruck des zeitlosen Strebens, künstliches Leben zu entwickeln. Die antiken „Science-Fiction“-Kreationen zeigen, wie die Macht der Phantasie den Menschen seit den Zeiten Homers bis zu Aristoteles dazu brachte, darüber nachzusinnen, wie die Natur durch Handwerk nachgebildet werden könnte. Ideen hatte es schon lange gegeben, ehe die Technologie ein derartiges Unternehmen überhaupt erst möglich machte. Die Erzählungen dieser Zeit stützen die Vorstellung, dass es die Phantasie ist, die Mythos und Wissenschaft miteinander verbindet. Viele der Automata und mechanischen Geräte, die in der griechisch-römischen Antike entworfen und hergestellt wurden, greifen auf Mythen zurück: Sie zeigen Götter und Heroen bzw. spielen auf sie an.

Wissenschaftshistoriker glauben gern, dass antike Mythen über künstliches Leben im Grunde nur leblose Materie schildern, die durch den Befehl eines Gottes oder den Spruch eines Zauberers zum Leben erweckt wurde. Solche Erzählungen finden wir in den Mythologien vieler Kulturen. Zu den zahlreichen berühmten Beispielen gehören Adam und Eva im Alten Testament oder Pygmalions Statue der Galatea im klassischen griechischen Mythos. Doch viele der in den Mythen Griechenlands und Roms – bzw. in vergleichbaren Überlieferungen aus dem antiken Indien und China – beschriebenen, selbstbewegenden Geräte und Automata unterscheiden sich deutlich von leblosen Dingen, die erst durch magisches oder göttliches Gebot belebt wurden. Diese besonderen Wesen galten als künstlich erschaffene Technologien. Sie wurden von Grund auf entworfen und aus den gleichen Materialien und mit denselben Methoden gebaut, mit denen Künstler und Handwerker ihre Arbeitsgeräte, Kunstwerke, Gebäude und Statuen herstellten. Dabei sind die in den Mythen beschriebenen Roboter, künstlichen Menschen und sich selbst bewegenden Objekte erstaunlich – weit phantastischer als alles, was von gewöhnlichen Sterblichen ersonnen wurde –, und sie sind mit den großartigen Fähigkeiten von Göttern und legendären Erfindern wie Daedalus ausgestattet. Man kann die antiken Mythen über künstliches Leben also als Gedankenexperimente ansehen, als „Was-wäre-wenn“-Szenarien in einer alternativen Welt der Möglichkeiten, in einem imaginären Raum, in dem Technologie bis zu einem eindrucksvollen Maß vorangetrieben wurde.

Der gemeinsame Nenner aller mythischen Automata in Gestalt von Tieren oder Androiden wie Talos oder Pandora ist der, dass sie geschaffen, nicht geboren wurden. In der Antike aber waren die großen Helden, Monster und sogar die unsterblichen olympischen Götter eigentlich genau das Gegenteil: Sie waren allesamt wie gewöhnliche Sterbliche „geboren, nicht geschaffen“. Dieser Unterschied war auch für das frühe christliche Dogma entscheidend, nach dem – so konservative Überzeugungen – Jesus wie ein Mensch natürlich empfangen und geboren worden sei. Dieses Motiv finden wir auch in der modernen Science-Fiction, etwa in dem Film Blade Runner 2049 aus dem Jahr 2017. Darin geht es um die Frage, ob einige der Charaktere Replikanten (also künstliche, menschenähnliche Wesen), Faksimiles echter Menschen oder aber tatsächlich echte Menschen sind. Seit uralten Zeiten kennzeichnet der Unterschied zwischen biologisch geborenem und künstlich hergestelltem Ursprung die Grenze zwischen Menschen und Nichtmenschen, zwischen natürlich und unnatürlich. Und auch in den hier versammelten Geschichten über künstliches Leben ist die erläuternde Kategorie geschaffen, nicht geboren eine wichtige Unterscheidung. Sie trennt die hergestellten Automata von leblosen Objekten, die aufgrund eines bloßen Befehls oder mithilfe von Magie belebt wurden.

Zwei Götter – der göttliche Schmied Hephaistos und der Titan Prometheus – und zwei irdische Erfinder – Medea und Daedalus – tauchen in griechischen, etruskischen und römischen Erzählungen über künstliches Leben auf. Diese vier Gestalten verfügen über übermenschlichen Einfallsreichtum, außerordentliche Schöpferkraft, technische Virtuosität und hervorragendes künstlerisches Geschick. Die Techniken, Künste, Handwerke, Methoden und Werkzeuge, die sie benutzen, entsprechen denen, die man aus dem wirklichen Leben kennt. Doch die mythischen Erfinder erzielen damit spektakuläre Ergebnisse und übertreffen die Fähigkeiten und Technologien der gewöhnlichen Sterblichen bei Weitem.

Mit wenigen Ausnahmen werden in den Mythen, die seit der Antike überlebt haben, die inneren Mechanismen und Energiequellen von Automata nicht beschrieben, sondern bleiben unserer Phantasie überlassen. Diese fehlende Transparenz macht die göttlich geschaffenen Erfindungen zu einer Blackbox-Technologie, zu Maschinen, deren innere Abläufe unerklärt bleiben. Dazu passt der berühmte Ausspruch des britischen Science-Fiction-Schriftstellers Arthur C. Clarke: Je fortgeschrittener die Technologie, desto magischer scheint sie. In unserer heutigen Technologiekultur sind ironischerweise die meisten von uns tatsächlich um eine Erklärung dazu verlegen, wie die Geräte in ihrem Alltagsleben funktionieren – von Smartphones und Laptops bis zu Fahrzeugen, ganz zu schweigen von atomgetriebenen U-Booten oder Raketen. Wir wissen, dass es sich um mechanisch hergestellte Gegenstände handelt, von geistreichen Erfindern ersonnen und in Fabriken zusammengebaut, doch sie könnten ebenso gut Produkte der Magie sein. Oft wird behauptet, die menschliche Intelligenz selbst sei eine Art Blackbox. Und derzeit erreichen wir einen weiteren Grad an allgegenwärtiger Blackbox-Technologie: Maschinen lernen, und ihr Fortschritt wird schon bald dazu führen, dass Produkte mit Künstlicher Intelligenz ohne jegliches menschliches Eingreifen bzw. überhaupt Verständnis dieser Prozesse gewaltige Datenmengen sammeln, auswählen und interpretieren, um Entscheidungen zu fällen und von sich aus zu handeln. Nicht nur werden die Nutzer im Dunkeln gelassen, sondern nicht einmal die Urheber Künstlicher Intelligenz selbst verstehen die Arbeit ihrer Schöpfungen noch gänzlich. In gewisser Hinsicht kehren wir damit zu den frühesten Mythen um phantastisches, undurchschaubares künstliches Leben und Biotechne zurück.

Die Suche nach einer treffenden und passenden Sprache, um das Spektrum der Automaten und unnatürlichen Wesen zu beschreiben, die in der antiken Mythologie als geschaffen, nicht geboren bezeichnet werden, gestaltet sich schwierig und entmutigend. In den Geschichten um künstliches Leben, in der Sprache des Mythos formuliert, überlappen sich oft das Magische und das Mechanische. Selbst heute erkennen Wissenschafts- und Technologiehistoriker an, dass Roboter, Automat, Cyborg, Android, KI, Maschine und dergleichen im Grunde aalglatte Begriffe ohne festgelegte Definitionen sind. Auch ich benutze hier informelle, konventionelle Begriffe, doch für die nötige Klarheit gebe ich technische Definitionen im Text, in den Anmerkungen und im Glossar an.

Dieses Buch umreißt das große Kapitel von Formen künstlichen Lebens in der Mythologie. Dazu gehören auch Geschichten über die Suche nach einem langen Leben und Unsterblichkeit, Erzählungen über übermenschliche Kräfte, die von Göttern und Tieren entlehnt wurden, sowie über Automata und lebensähnliche Replikanten, die über die Möglichkeit zur selbstständigen Bewegung und einen Verstand verfügen. Der Fokus liegt auf der mediterranen Welt, aber ich habe auch einige Berichte aus dem antiken Indien und China mit aufgenommen. Und obwohl die Beispiele belebter Statuen, sich bewegender Geräte und Abbilder der Natur aus Mythen, Legenden und anderen antiken Berichten nicht direkt Maschinen, Roboter oder KI im modernen Sinne sind, glaube ich dennoch, dass die hier zusammengetragenen Geschichten „gut zum Denken“ sind, wie es Claude Lévi-Strauss in seiner Studie zum Ende des Totemismus formulierte. Sie zeichnen das Aufkeimen der Begriffe und Vorstellungen von künstlichem Leben nach, das den technologischen Gegebenheiten vorranging.

Wir sollten allerdings unsere heutigen Auffassungen von Mechanik und Technologie nicht auf die Antike projizieren, vor allem angesichts der fragmentarischen Natur der Quellenlage zur Antike. In diesem Buch wird nicht behauptet, es gäbe direkte Einflüsse von Mythos oder antiker Geschichte auf moderne Technologie, auch wenn ich auf Nachklänge in der modernen Wissenschaft hinweise. Hier und da erwähne ich aber ähnliche Themen in moderner Fiktion, in Film und Popkultur und ziehe Parallelen zur Wissenschaftsgeschichte. Damit möchte ich das natürliche Wissen und die Voraussicht aufzeigen, die das mythische Material enthält. Nebenbei haben diese uralten Geschichten – manche noch heute sehr bekannt, andere schon längst vergessen – Fragen nach dem freien Willen aufkommen lassen, nach Sklaverei, dem Ursprung des Bösen, den Grenzen des Menschen und auch danach, was es heißt, ein Mensch zu sein. Wie der böse Roboter Tik-Tok 1983 in John Sladeks gleichnamigem Science-Fiction-Roman anmerkte, führt schon die Idee eines Automatons in „tiefe philosophische Gewässer“, weil aus ihr Fragen folgen zu Existenz, Denken, Kreativität, Wahrnehmung und Wirklichkeit. Im reichen Fundus der Geschichten aus der antiken mythischen Vorstellungswelt können wir die frühesten Spuren des Bewusstwerdens darüber erkennen, dass es eine Flut an ethischen und praktischen Dilemmata auslösen kann, die Natur zu manipulieren und das Leben nachzubilden. Diese Spuren verfolge ich im Epilog weiter.

Ein Großteil des literarischen und künstlerischen Schatzes der Antike ist im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen; ein Großteil des erhaltenen Materials ist unvollständig und zudem vom ursprünglichen Kontext isoliert. Man kann nur schwer abschätzen, wie viel von der antiken Literatur und Kunst verloren gegangen ist. Die schriftlichen Zeugnisse, die noch existieren – Gedichte, Epen, Abhandlungen, Geschichten und andere Texte –, sind nur ein winziges Bruchstück im Vergleich zu dem Reichtum, den es einst gab. Tausende von Kunstwerken haben sich bis heute erhalten, doch ist auch das nur ein kleiner Prozentsatz der Millionen Objekte, die es einst gegeben hat. Einige Archäologen vermuten, dass wir nur noch etwa ein Prozent der jemals entstandenen griechischen Vasenmalerei besitzen. Und das Wenige an Literatur und Kunst, das blieb, wurde oft nur durch Zufall bewahrt.

Die Tatsache, dass vieles verloren und etliches nur zufällig bewahrt wurde, macht das, was wir tatsächlich haben, umso kostbarer. Das bestimmt auch den Ansatz und den Weg, diese Dinge zu finden und zu interpretieren. In einer Studie wie der vorliegenden können wir nur das analysieren, was sich über die Jahrhunderte erhalten hat, als würden wir in einem tiefen, dunklen Wald einer Spur aus Brotkrümeln folgen: Vögel haben die meisten Krümel längst gefressen. Und um eine weitere Analogie für das, was verschwunden ist und was überlebt hat, anzuführen: Verheerende Waldbrände haben Pfade der Zerstörung geschlagen, und sie werden angetrieben von Winden, die über Gras- und Baumlandschaften pfeifen. Was nach solch schrecklichen Feuersbrünsten bleibt, nennen die Förster einen „Mosaik-Effekt“: breite Streifen verbrannter Gebiete, durchsetzt von Flecken blumiger Wiesen und Dickicht mit immer noch grünen Bäumen. Auch die zufälligen Verwüstungen der Jahrhunderte innerhalb jener griechischen und römischen Literatur und Kunst, die sich auf künstliches Leben bezieht, haben einen Flickenteppich hinterlassen, dominiert von geschwärzten leeren Räumen, in den hier und da entscheidende Abschnitte und Bilder aus der Antike eingestreut sind. Ein solches Mosaik braucht einen Pfad zwischen den immergrünen Oasen, die zufällig über Hunderte von Jahren erhalten und gepflegt wurden. Wenn wir diesem Pfad folgen, können wir uns vielleicht die ursprüngliche kulturelle Landschaft vorstellen. Eine ähnliche Annäherung, die „Mosaik-Theorie“, nutzen auch Geheimdienstanalysten, wenn sie ein großes Bild zusammenzusetzen versuchen, indem sie kleine Informationsstücke zusammenführen. Für dieses Buch habe ich auf alle Texte und jedes Stückchen antiker Poesie und Mythen, Geschichte, Kunst und Philosophie zurückgegriffen, die ich finden konnte und die mit künstlichen Leben im Zusammenhang stehen. Und es finden sich genügend überzeugende Beweise, die den Schluss nahelegen, dass die Menschen der Antike von Geschichten über die künstliche Erschaffung von Leben und die Verstärkung natürlicher Kräfte fasziniert, ja sogar besessen waren.

Die Leser mögen also nicht erwarten, in diesen Kapiteln einen einfachen, geradlinigen Weg vorzufinden. Wie Theseus, der einem Faden folgte, um den Weg durch das von Daedalus entworfene Labyrinth zu finden, und wie Daedalus’ Ameise, die durch eine Schneckenmuschel auf dem Weg zu ihrer Belohnung in Form von Honig kroch, folgen wir dem mäandernden, vor- und zurückgehenden Pfad voller Geschichten und Bildern, um zu begreifen, wie die antiken Kulturen über künstliches Leben dachten. Es gibt einen narrativen Bogen quer durch die Kapitel, doch die Handlungsstränge sind vielschichtig und miteinander verflochten. Wir durchqueren das, was der Zukunftsforscher George Karkadakis, der sich mit der Künstlichen Intelligenz befasst, das „große Flussnetz mythischer Erzählungen mit all seinen Nebenflüssen, Zusammenflüssen und Rückflüssen“ nennt, auf dem Weg zu bekannten Gestalten und Geschichten. Und im Voranschreiten gewinnen wir neue Einsichten.

Nachdem wir dann unseren Weg durch den gewaltigen Erinnerungspalast der Mythen gebahnt haben, mag es einigen wie eine Erlösung vorkommen, dass sich das Schlusskapitel endlich der wirklichen, historischen Chronologie von Erfindern und technologischen Erfindungen der Antike widmet. Dieses Kapitel endet mit der Schilderung davon, wie sich selbstbewegende Geräte und Automata während des Hellenismus vom ägyptischen Alexandria her ausbreiteten, diesem ultimativen Ort der Phantasie und Erfindungen.

Insgesamt zeigen diese Geschichten, die mythischen wie die wahren, wie überraschend weit die Suche der Menschen nach einem Leben zurückreicht, das geschaffen, nicht geboren wurde. Dieser Suche wollen wir uns nun anschließen.

Kapitel 1

Der Roboter und die HexeTalos und Medea

Der erste „Roboter“, der in der antiken griechischen Mythologie auf Erden wandelte, war der bronzene Riese Talos.

Talos war eine belebte Statue, die die Insel Kreta beschützte; eine der drei wundersamen Gaben, die von Hephaistos hergestellt wurden, dem Gott der Schmiede und Schutzpatron der Erfindung und Technologie. Diese Wunderwerke wurden von Zeus für seinen Sohn Minos bestellt, den legendären ersten König Kretas. Die anderen beiden Gaben waren ein goldener Köcher mit drohnenartigen Pfeilen, die niemals ihr Ziel verfehlten, und Lailaps, ein goldener Hund, der immer seine Beute fing. Das bronzene Automaton Talos sollte Kreta gegen Piraten verteidigen.1

Talos bewachte Minos’ Königreich, indem er die große Insel dreimal am Tag umrundete. Als belebte Maschine aus Metall in Menschengestalt, die zudem fähig war, komplexe menschengemäße Handlungen auszuführen, kann man Talos als einen imaginierten androiden Roboter bezeichnen, als ein Automaton, „geschaffen, um sich von allein zu bewegen“.2 Entworfen und gebaut von Hephaistos, wurde Talos „programmiert“, um Invasionen abzuwehren, Fremde aufzuspüren, und um Felsbrocken aufzusammeln und gegen fremde Schiffe zu schleudern, die sich den Küsten Kretas näherten, um diese zu versenken. Talos besaß noch eine weitere Fähigkeit, die einer menschlichen Eigenschaft nachempfunden war: Beim Nahkampf konnte der mechanische Riese eine universelle Geste menschlicher Wärme, nämlich die Umarmung, auf schlimme Weise pervertieren: Er konnte seinen bronzenen Körper glutrot aufheizen, seine Feinde an seine Brust ziehen und sie in dieser Umarmung bei lebendigem Leib rösten.

Den denkwürdigsten Auftritt in der Mythologie hat Talos gegen Ende der Argonautika, also in dem Epos des Apollonios von Rhodos, das die Abenteuer des griechischen Helden Iason und der Argonauten sowie ihre Suche nach dem Goldenen Vlies beschreibt. Heute ist die Talos-Episode dank der unvergesslichen Stop-Motion-Animation des bronzenen Roboters von Ray Harryhausen in dem Kultfilm Jason und die Argonauten (1963; Abb. 1.1 zeigt einen Bronzeabguss des Originalmodells) vielen bekannt.3

Als er sein Epos Argonautika im 3. Jh. v. Chr. schrieb, bezog sich Apollonios auf viel ältere, mündlich und schriftlich überlieferte Versionen der Mythen um Iason, seine spätere Ehefrau, die Hexe Medea, und Talos. Diese Geschichten waren seinem Publikum bereits sehr vertraut. Apollonios schrieb in einem archaistischen, also einem bewusst altertümlich anmutenden Stil. Er stellt Talos an einer Stelle als Überlebenden oder Relikt des „Zeitalters der bronzenen Menschen“ dar – eine raffinierte, hochnäsige Anspielung auf einen symbolischen Abschnitt in Hesiods (ca. 750–650 v. Chr.) Lehrgedicht Werke und Tage über die lang zurückliegende Vergangenheit der Bronzezeit.4 In den Argonautika und anderen Versionen des Mythos wird Talos jedoch auch als technologisches Produkt beschrieben, als bronzenes, programmiertes Automaton. Seine Fähigkeiten werden von einem internen System mit göttlichem Wundsekret angetrieben, dem „Blut“ der unsterblichen Götter. Das wirft einige Fragen auf: Ist Talos unsterblich? Ist er eine seelenlose Maschine oder ein fühlendes Wesen? Diese Unsicherheiten erweisen sich für die Argonauten als ausschlaggebend, auch wenn die Antworten uneindeutig bleiben.

Abb. 1.1: Talos; Bronzeabguss des bröckeligen Originalmodells von Ray Harryhausen aus dem Film Jason und die Argonauten (1963).

Im letzten Buch der Argonautika sind Iason und die Argonauten mitsamt dem Goldenen Vlies auf der Heimfahrt. Doch ihr Schiff, die Argo, gerät in eine Flaute. Ohne Wind, der ihre Segel blähen könnte, und erschöpft vom tagelangen Rudern, fahren die Argonauten in eine geschützte Bucht zwischen zwei hohen Klippen auf Kreta. Schnell erblickt Talos sie, und sogleich bricht der große Bronzekrieger Felsen von der Klippe und wirft sie auf das Schiff. Wie können die Argonauten diesem Angriff des monsterhaften Androiden entkommen? Zitternd vor Furcht und verzweifelt versuchen die Seeleute, dem schrecklichen Koloss zu entfliehen, der am felsigen Hafen steht.

Doch es ist die Zauberin Medea, die zu ihrer Rettung herbeieilt. Als schöne Prinzessin aus dem Königreich Kolchis am Schwarzen Meer war Medea eine betörende Femme fatale, die eine ganze Reihe eigener mythischer Abenteuer aufzuweisen hatte. Sie besaß die Schlüssel zu Jugend und Alter, zu Leben und Tod. Sie konnte Menschen und Ungeheuer hypnotisieren, andere verzaubern und wirkungsvolle Zaubertränke brauen. Medea wusste, wie man sich vor Flammen schützt, sie kannte die Geheimnisse des nicht zu löschenden „flüssigen Feuers“, bekannt als „Medeas Öl“ – ein Hinweis auf das leichtflüchtige Rohöl aus natürlichen Erdölquellen um das Kaspische Meer.5 In Senecas Tragödie Medea (Verse 820–830, verfasst im 1. Jh. n. Chr.) bewahrt die Zauberin dieses „magische Feuer“ in einem luftdichten goldenen Kästchen auf und behauptet, der Feuerbringer Prometheus selbst hätte sie gelehrt, wie man die Kräfte des Feuers bewahrt.

Vor ihrer Landung auf Kreta hat Medea bereits Iason bei seiner Expedition geholfen, das Goldene Vlies zu erlangen. Medeas Vater, König Aietes, versprach Iason, ihm das Vlies zu geben, wenn er zuvor eine unmögliche, todbringende Aufgabe löse. Aietes besaß ein Paar massiger Bronzestiere, die Hephaistos geschaffen hatte. Er befahl Iason, die Feuer speienden Tiere anzuspannen und mit ihnen ein Feld zu pflügen. Zuvor hatte er Drachenzähne in den Boden gesät, aus denen eine Armee androider Soldaten aufkeimen würde. Medea beschloss, den gutaussehenden Helden vor dem sicheren Tod zu bewahren, und sie und Iason wurden ein Liebespaar (zur ganzen Geschichte, wie Iason mit den roboterhaften Stieren und der Drachenzahn-Armee verfuhr, siehe Kapitel 4).6

Die Liebenden mussten vor dem erzürnten König Aietes fliehen. Medea, deren goldene Kutsche von einem Paar gezähmter Drachen gezogen wurde, führte Iason zur Höhle des schrecklichen Drachen, der das Goldene Vlies bewachte. Dank ihrer scharfsinnigen psychologischen Einsichten sowie mithilfe starker Pharmaka (Drogen) und Technai (Geräte) überwand Medea den Drachen.7 Zauberformeln murmelnd griff sie in ihren Vorrat exotischer Kräuter und seltener Substanzen, die sie auf abgelegenen Felsen und Wiesen hoch im Kaukasus gesammelt hatte, versetzte den Drachen in tiefen Schlaf und ergriff das Goldene Vlies für Iason. Medea und Iason machten sich mit dieser Beute zur Argo davon, und Medea begleitete die Argonauten auf ihrer Heimreise.

Nun, angesichts der Bedrohung durch das hoch aufragende Bronze-Automaton, das sich ihnen in den Weg stellt, übernimmt Medea erneut die Führung. „Wartet!“, befiehlt sie Iasons ängstlichen Seeleuten. „Auch wenn Talos’ Körper aus Bronze ist, wissen wir doch nicht, ob er unsterblich ist. Ich glaube, ich kann ihn besiegen.“

Medea (vom griechischen medeia, „gerissen“, verwandt mit medos, „Plan, Ratschlag“) macht sich bereit, Talos zu vernichten. In den Argonautika setzt sie Gehirnwäsche und ihr besonderes Wissen um die Physiologie des Roboters ein. Sie weiß, dass der Schmiedegott Hephaistos Talos mit einer einzigen Arterie bzw. einem Kanal versehen hat, durch den Ichor, die ätherische Lebensflüssigkeit der Götter, von seinem Kopf bis zu den Füßen strömt. Talos’ biomimetisches „Vivisystem“, die lebensähnlichen Eigenschaften, die ihn am Leben erhalten, wurde von einem bronzenen Nagel bzw. Stift an seiner Fessel verschlossen. Medea erkennt, dass die Fessel des Roboters die Stelle seiner physischen Verletzbarkeit ist.8

Apollonios beschreibt, wie Iason und die Argonauten voller Bewunderung zurückbleiben und das heroische Duell zwischen der mächtigen Hexe und dem schrecklichen Roboter beobachten. Wieder murmelt Medea mystische Worte, um böse Geister herbeizurufen; wütend knirscht sie mit den Zähnen und fixiert Talos’ Augen mit durchdringendem Blick. Die Hexe sendet eine Art unheilvoller „Telepathie“ aus, die den Riesen orientierungslos macht. Talos stolpert, als er einen weiteren Findling aufnimmt, um ihn zu schleudern. Ein scharfkantiger Felsen schlägt eine Kerbe in seine Fessel und verletzt seine einzige Ader. Als sein Leben „wie geschmolzenes Blei“ entweicht, schwankt Talos wie eine gewaltige Pinie, die unten am Stamm gefällt wird. Mit donnerndem Krachen stürzt der bronzene Riese auf den Strand.

Es ist interessant, über die Todesszene von Talos zu spekulieren, wie sie in den Argonautika dargestellt wird. War dieses anschauliche Bild von dem sensationellen Zusammenbruch einer realen bronzenen Monumentalstatue beeinflusst? Manche Gelehrte haben vermutet, dass Apollonios, der einige Zeit auf Rhodos verbracht hat, an den prachtvollen Koloss von Rhodos dachte, der 280 v. Chr. mithilfe ausgefeilter Ingenieurstechnik erbaut wurde und eine komplexe innere Struktur aufwies, ummantelt von Bronze. Als eines der Sieben Weltwunder der Antike hatte diese Statue des Sonnengottes Helios angeblich eine Höhe von mehr als 30 m, was ungefähr der Größe der Freiheitstatue im Hafen von New York entspricht. Anders als der mythische Talos, der seine Tage in ständiger Bewegung verbrachte, hatte die gewaltige Gestalt des Helios keine beweglichen Teile, sondern diente als Leuchtturm und Tor zur Insel. Der Koloss wurde noch zu Apollonios’ Lebzeiten, im Jahr 226 v. Chr., von einem gewaltigen Erdbeben zerstört: Die massive Bronzestatue brach an den Knien ein und stürzte ins Meer.9

Es gab noch weitere Vorbilder für Talos. Apollonios schrieb im 3. Jh. v. Chr., als im ägyptischen Alexandria, einem regen Zentrum technischer Innovationen, eine ganze Reihe selbstbewegender Maschinen und Automaten gefertigt und zur Schau gestellt wurde. Apollodor, der aus Alexandria stammte, war der Leiter der dortigen großen Bibliothek (P. Oxy. 12.41)10. Seine Beschreibungen des Automaton Talos (und eines drohnenartigen Adlers, siehe Kapitel 6) legen nahe, dass er die berühmtesten Statuen und mechanischen Geräte Alexandrias kannte (siehe Kapitel 9).

In älteren Versionen der Geschichten um Talos treten Technologie und Psychologie noch stärker in den Vordergrund – und zwar auf mehrdeutige Art. Macht sein metallener Ursprung Talos vollständig inhuman? Bemerkenswerterweise wird die Frage, ob er handlungsfähig ist oder Gefühle hat, in den Mythen nie vollständig geklärt. Obwohl er geschaffen, nicht geboren wurde, scheint Talos auf tragische Weise menschlich zu sein, sogar heroisch. Er wird mithilfe eines Tricks „erledigt“, während er die ihm zugewiesene Aufgabe erfüllt. In den anderen, komplexeren Beschreibungen seines Untergangs besiegt Medea ihn mit ihren hypnotisierenden Pharmaka und nutzt ihre Suggestivkraft, um Talos dazu zu zwingen, die albtraumhafte Vision seines eigenen gewaltsamen Todes heraufzubeschwören. In anderen Versionen spielt Medea mit den „Gefühlen“ des Automaton. Hier wird Talos als empfänglich für menschliche Furcht und Hoffnung dargestellt und sogar mit einer Art Willenskraft und Intelligenz ausgestattet. Medea überzeugt ihn davon, dass sie ihn unsterblich machen könne – aber nur durch Entfernung des Bronzestifts an seiner Fessel. Talos stimmt zu. Als diese wichtige Versiegelung entfernt wird, fließt der Ichor aus ihm heraus, und Talos’ „Leben“ verrinnt.

Heutige Leser könnte das langsame Ableben des Roboters an die ikonische Szene in Stanley Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum (1968) erinnern. Als die Speichermodule des dem Untergang geweihten Computers HAL nachlassen und ihren Dienst einstellen, fängt HAL an, die Geschichte seiner „Geburt“ zu erzählen. Doch HAL wurde geschaffen, nicht geboren, und seine „Geburt“ ist eine Fiktion, die ihm von seinen Herstellern implantiert wurde, so wie in den Blade Runner-Filmen (1982, 2017) eidetische und emotionale Speicher hergestellt und Replikanten eingepflanzt werden. Neuere Studien zu Mensch-Roboter-Interaktionen zeigen, dass Menschen dazu neigen, Roboter und Künstliche Intelligenz zu vermenschlichen, wenn die entsprechenden Geräte „wie Menschen agieren“ und zudem einen Namen und eine persönliche „Geschichte“ haben. Doch Roboter sind nicht empfindungsfähig und haben keine subjektiven Gefühle. Dennoch weisen wir selbstbewegenden Objekten, die menschliches Verhalten nachahmen, Gefühle und Leidensfähigkeit zu und verspüren Sympathie für sie, wenn sie beschädigt oder zerstört werden. Im Film Jason und die Argonauten suggeriert Harryhausens erstaunliche Animationssequenz trotz des ausdruckslosen Gesichts des monolithischen Bronze-Automaton einen Schimmer von Persönlichkeit und Intellekt in Talos. In der ergreifenden „Todes“-Szene bemüht sich der große Roboter zu atmen, während sein Lebenssaft ausläuft, und gestikuliert hilflos an seiner Kehle, während sein bronzener Körper zerspringt. Das heutige Publikum hat Mitleid mit dem „hilflosen Riesen“ und bedauert, dass er durch Medeas Trick „hereingelegt wurde“.11

Im 5. Jh. v. Chr. thematisierte der griechische Tragödiendichter Sophokles (497 – 406 v. Chr.) Talos in einem seiner Dramen.12 Leider ist dieses verschollen, aber man kann sich leicht vorstellen, wie mündliche Überlieferungen und die Dramen über Talos’ Schicksal in der Antike ein ähnliches Mitgefühl hervorgerufen haben; zumal er sich menschenähnlich verhielt und sein Name und seine Vorgeschichte weithin bekannt waren. Tatsächlich gibt es genügend Beispiele dafür, wie antike Vasenmaler Talos vermenschlichten, wenn sie seinen Tod darstellten.

Wir haben nur Fragmente der vielen Geschichten um den kretischen Roboter, die in der Antike zirkulierten, und manche Versionen sind ganz verschollen. Abbildungen auf Vasen und Münzen helfen uns, unser Talos-Bild zu vervollständigen, und manche künstlerischen Darstellungen von ihm enthalten sogar Details, die in der überlieferten Literatur fehlen.13 Die Silbermünzen der Stadt Phaistos – ursprünglich eine der drei großen minoischen Städte des bronze-zeitlichen Kretas – aus der Zeit von ca. 350 bis 280 v. Chr. sind Beispiele dafür. Sie zeigen einen bedrohlichen Talos von vorn oder im Profil, wie er Steine wirft. Keine einzige Quelle aus der Antike besagt, dass er Flügel gehabt hätte oder geflogen sei, doch auf den Münzen aus Phaistos hat Talos tatsächlich Flügel. Sie könnten ein Symbol für seinen nicht-menschlichen Status sein oder auf seine übermenschliche Geschwindigkeit anspielen, wenn er die Insel umrundete (nach einigen Berechnungen habe er sich mit mehr als 250 km/h fortbewegt). Auf der Rückseite einiger dieser Münzen aus Phaistos wird Talos von dem goldenen Hund Lailaps begleitet, einem der drei Ingenieurswunderwerke, die Hephaistos für König Minos geschaffen hat. Der Wunderhund hat wiederum seinen eigenen antiken Überlieferungsfundus (siehe Kapitel 7).

Abb. 1.2: Der Steine werfende Talos auf Münzen aus Phaistos, Kreta. Links: Silberstater, 4. Jh. v. Chr. (auf der Rückseite: ein Stier). Rechts: Talos im Profil; Bronzemünze, 3. Jh. v. Chr. (auf der Rückseite: der goldene Hund).

Abb. 1.3: Der Tod des Talos: Der metallene Roboter Talos sinkt ohnmächtig in die Arme von Kastor und Polydeukes, während Medea eine Schale mit Drogen hält und boshaft dreinblickt; rotfiguriger Volutenkrater des sogenannten Talos-Malers, 5. Jh. v. Chr., aus Ruvo, Italien.

Abb. 1.4: Der Tod des Talos: Detail der Ruvo-Vase.

Ungefähr zwei Jahrhunderte, bevor Apollonios seine Argonautika schrieb, erschien Talos um 430 bis 400 v. Chr. in der griechischen rotfigurigen Vasenmalerei. Die Details einiger dieser Vasen zeigen, dass seine innere „Biostruktur“, das mit Ichor gefüllte Adernsystem, schon im 5. Jh. v. Chr. Teil der Geschichte war. Die Ähnlichkeiten und der Stil der Szenen legen nahe, dass die Vasenmaler hier große öffentliche Wandgemälde Polygnots und Mikons kopiert haben; beide waren im 5. Jh. v. Chr. bekannte athenische Künstler. Der antike griechische Reiseschriftsteller Pausanias (8.11.3) berichtet uns, dass Mikon Episoden aus dem Epos von Iason und dem Goldenen Vlies im sogenannten Tempel von Kastor und Polydeukes in Athen gemalt hatte (diese Dioskuren-Zwillinge wurden im Anakeion verehrt, siehe Kapitel 2).

Diese von Pausanias im 2. Jh. n. Chr. bewunderten Bilder sind heute verloren, doch Abbildungen auf noch existierenden Vasen zeigen, wie man sich Talos in der klassischen Periode der griechischen Kunst vorstellte. Die Künstler zeigten ihn teils als Maschine, teils als Mensch, dessen Zerstörung eine gewisse Technologie voraussetzte. Die Gemälde vermitteln auch einen Sinn für Pathos. Beispielsweise zeigt die dramatische Szene auf der außergewöhnlichen „Talos-Vase“ – einem großen attischen Weingefäß, das um 410–400 v. Chr. entstand –, wie Medea den großen bronzenen Mann hypnotisiert (Abb. 1.3 und Abb. 1.4). Ihre Schale mit Drogen haltend, schaut Medea aufmerksam zu, wie Talos ohnmächtig in die Arme von Kastor und Polydeukes sinkt.

Im griechischen Mythos schließen sich die Dioskuren den Argonauten an, doch keine der überlieferten Geschichten bringt sie mit Talos’ Tod in Verbindung, sodass dieses Bild auf eine verschollene Erzählung verweist. Der Talos-Maler stellt Talos mit einem kräftigen Metallkörper dar, der dem einer Bronzestatue ähnelt; sein Torso sieht aus wie jene realistischen, ausgeprägt muskulösen, bronzenen Brustharnische, die griechische Krieger trugen (siehe Kapitel 7, Abb. 7.3). Der Künstler benutzte die gleiche Technik wie bei bronzenen „Muskelharnischen“ bei Kriegerdarstellungen: Er gab den gesamten Körper von Talos gelblich-weiß wieder, um die bronzene Panzerung von menschlicher Haut zu unterscheiden. Doch trotz der metallischen Hülle wirken Haltung und Gesicht von Talos menschlich – die Darstellung sollte Empathie hervorrufen. Ein Altphilologe entdeckte gar eine „Träne, die aus Talos’ rechtem Auge fällt“, allerdings könnte diese Linie auch eine metallische Ausformung oder eine Nahtstelle sein, so wie die anderen rötlichen Linien die Anatomie des Roboters definieren.14

Ein früheres Vasenbild (440–430 v. Chr.) auf einem attischen Krater aus Süditalien zeigt Talos als große, bärtige Gestalt mit Gleichgewichtsproblemen, wie er gegen Kastor und Polydeukes kämpft (Abb. 1.5 und 1.6). Diese Szene weist zudem einige auffällige Details auf, die den technologischen Charakter von Talos’ Vivisystem und dessen Zerstörung bestätigen: Wir sehen, wie Iason neben dem rechten Fuß des Roboters kniet und mit einem Werkzeug an dem kleinen runden Stift in Talos’ Fessel hantiert. Medea, die sich über Iason beugt, hält ihre Schale mit Drogen. Eine kleine geflügelte Thanatos-Gestalt hält und stützt Talos’ Fuß. Diese Todesgestalt, auf einem Fuß stehend, den anderen zurückgebeugt, scheint Talos’ Todeskampf zu symbolisieren.

Abb. 1.5: Medea schaut zu, wie Iason mit einem Werkzeug den Stift aus Talos’ Fessel löst, die von einer kleinen, geflügelten Todesgestalt gehalten wird; Talos sinkt in die Arme von Kastor und Polydeukes; rotfiguriger Krater, 450–400 v. Chr., gefunden in Montesarchio, Italien.

Abb. 1.6: Detail des Montesarchio-Kraters: Iason benutzt ein Werkzeug, um den Stift aus Talos’ Fessel zu entfernen.

Eine ähnliche Szene auf einem attischen Vasenfragment von ca. 400 v. Chr., das in Spina, einem etruskischen Hafen an der Adria, gefunden wurde, zeigt die Benutzung eines Werkzeugs. Wieder wird Talos von Kastor und Polydeukes gepackt. Zu seinen Füßen hält Medea eine Kiste in ihrem Schoß und eine Klinge in ihrer rechten Hand; sie ist im Begriff, den Nagel aus Talos’ Fessel zu entfernen. Eine weitere winzige geflügelte Todesgestalt zeigt auf Talos’ Beine, was die Spannung der Darstellung erhöht.15

Im griechischen Mythos von Iason und den Argonauten war der bronzene Koloss ein schreckliches Hindernis, das beseitigt werden musste. Für König Minos von Kreta aber war Talos ein Segen, ein Frühwarnsystem und eine Frontverteidigung für seine mächtige Flotte. Ähnlich sahen die Etrusker, die ca. zwischen 700 und 500 v. Chr. über Norditalien herrschten, den Wächter Talos als Heldengestalt. Griechische Mythen waren bei den Etruskern beliebt; sie importierten ganze Schiffsladungen attischer Vasen mit bekannten Szenen und Gestalten der Mythologie. Oft verliehen die Etrusker den hellenischen Geschichten eine lokale Färbung, wie wir in ihren eigenen Kunstwerken sehen: Talos-Szenen wurden zwischen etwa 500 und 400 v. Chr. in mehrere etruskische Bronzespiegel geritzt; zu dieser Zeit entpuppte sich die Macht Roms als Bedrohung für die Etrusker.

Ein etruskischer Spiegel im British Museum zeigt Talos, mit seinem etruskischen Namen Chaluchasu bezeichnet. Er kämpft gegen zwei der Argonauten, die in etruskischer Schrift als Kastor und Polydeukes benannt sind. Eine Frau beugt sich herab und öffnet eine kleine Kiste, während sie zu Talos’ Unterschenkel greift (Abb. 1.7). Die Szene wiederholt die Taten Medeas aus der attischen Vasenmalerei, doch die Frau ist bezeichnet als „Turan“, also mit dem etruskischen Namen für die Liebesgöttin Aphrodite; das legt nahe, dass wir es hier mit einer weiteren unbekannte Version des griechischen Mythos’ zu tun haben.

Andererseits wird auf etruskischen Bronzespiegeln auch ein sieghafter Talos/Chaluchasu gezeigt, der seine Widersacher zerquetscht, was wohl seine Fähigkeit darstellt, seine Opfer zu rösten, indem er sie an seine erhitzte Brust zieht (ebenfalls Abb. 1.7). Man schloss daraus, dass eine lokale italische Tradition Talos glorifizierte und den eigentlichen Zweck des bronzenen Roboters als Wächter der kretischen Ufer betonte. Die Spiegel zeigen, dass die Etrusker Talos/Chaluchasu als positiven Helden sahen, durch dessen „Unbesiegbarkeit Eindringlinge und Fremde abgehalten“ wurden, und das zu einer Zeit, als die Etrusker sich mit Roms Einfällen auf ihr Gebiet auseinandersetzen mussten.16

Abb. 1.7: Unten: Talos zerquetscht Kastor und Polydeukes an seiner Brust, während eine Frau eine Kiste öffnet und zu Talos’ Fessel greift; etruskischer Bronzespiegel, ca. 460 v. Chr. Oben: Talos zerquetscht zwei Männer; etruskischer Bronzespiegel.

Wie alt ist die Erzählung über Talos? Das ist nicht sicher, doch wie wir gesehen haben, erscheint er bereits in der Kunst des frühen 5. Jh.s v. Chr. Geschichten von weiteren belebten Statuen und selbstfahrenden Geräten, die den Göttern auf dem Olymp dienten, finden sich in antiker mündlicher Tradition. Sie wurde zuerst um 750 v. Chr. in Homers Ilias verschriftlicht, dem Epos um den legendären Trojanischen Krieg während der Bronzezeit (ca. 1150 v. Chr.).17 In der klassischen Antike glaubte man, dass König Minos von Kreta drei Generationen vor dem Trojanischen Krieg regiert hatte. Berühmt wegen seiner Gesetze und der mächtigen Flotte, die er bauen ließ, um Piraten zu bekämpfen, galt Minos den Historikern im 5. Jh. v. Chr. als „historischer“ Herrscher, u.a. Herodot (3.122) und Thukydides (1.4), und später dann Diodor (4.60.3), Plutarch (Theseus 16) und Pausanias (3.2.4). Neuzeitliche Archäologen benannten die minoische Kultur (3000–1100 v. Chr.) nach diesem legendären König.

Siegel aus minoischer Zeit aus Kreta zeigen viele bizarre Monster und Dämonen, die offenbar als Wächter von Städten und als Talismane dienten. Ein Mann mit Stierkopf, der Minotaurus, erscheint auf einigen von ihnen. Ein spätminoischer Siegelstempel – Archäologen nannten ihn Master Impression (1450–1400 v. Chr.) – ist sehr eindrucksvoll. Er zeigt eine befestigte Stadt auf einem Hügel oberhalb eines felsigen Meeresufers (was zur Topographie des Hügels von Kastelli im antiken Kydonia passt, dem heutigen Chania auf Kreta, wo das Siegel entdeckt wurde). Eine riesenhafte männliche Gestalt ohne Gesicht, „ungewöhnlich robust und stark gebaut“, ragt hoch über dem höchsten Punkt der Stadt auf. Diese rätselhafte Gestalt stellt zwar noch nicht den Talos aus dem späteren griechischen Mythos dar. Doch wenn dieses und ähnliche Siegel in der griechischen Antike verbreitet waren, ist es durchaus möglich, dass eine Szene wie diese – ein Riese, der anscheinend eine minoische Stadt bewacht – frühe mündliche Traditionen um Talos beeinflusst haben könnte, in denen er Kreta für König Minos verteidigt. Das ist jedoch Spekulation, und die Bedeutung dieser Szene bleibt ohne passende literarische Texte weiterhin unklar.18

König Minos taucht in weiteren antiken Erzählungen auf, in denen es um Technologie geht – in Verbindung mit dem legendären Handwerker Daedalus, der zuweilen auch mit den Werken des Erfindergottes Hephaistos in Zusammenhang gebracht wurde (siehe Kapitel 4 und 5). In jedem Fall ist klar, dass Talos, das bronzene Automaton aus Kreta, in der griechischen Dichtung und Kunst bereits lange Zeit wohlbekannt war, bevor Apollonios von Rhodos im 3. Jh. v. Chr. seine Argonautika verfasste. Von Pindar abgesehen (Pythien 4, ca. 642 v. Chr.), wissen wir nicht, welche Quellen Apollonios für seinen Talos verwendet hat, doch einige glauben, dass die epischen Überlieferungen von der Fahrt der Argo noch älter sind als die Geschichten um den Trojanischen Krieg.19 Damit könnte auch die Talos-Erzählung sehr alt sein: Talos tauchte in der verschollenen Tragödie Daedalus des Sophokles im 5. Jh. v. Chr. auf, doch die älteste erhaltene schriftliche Beschreibung findet sich in einem Fragment eines Gedichts von Simonides (556–468 v. Chr.). Er nennt Talos einen phylax empsychos, einen „belebten Wächter“, der von Hephaistos geschaffen wurde. Vor allem erklärt Simonides, der große Bronzekrieger habe, ehe er seine Pflichten als Wächter auf Kreta aufnahm, auf Sardinien viele Menschen vernichtet, indem er sie in seiner glühenden Umarmung zerquetschte. Sardinien, die große Insel westlich von Italien, war in der Antike bekannt für die Kupfer-, Blei- und Bronzeverarbeitung. Diese Insel unterhielt Verbindungen zu Kreta, die bis zur Bronzezeit zurückreichen. Auch die Etrusker trieben Handel in Sardinien und siedelten sich dort bereits im 9. Jh. v. Chr. an.20 Zur Zeit der Nuraghen-Kultur auf Sardinien, die von ca. 950 bis 700 v. Chr. ihre Hochblüte hatte, schufen Schmiede zahlreiche Bronzefiguren, mittels des Wachsausschmelz-Gussverfahrens. Ihre Bildhauer benutzten überraschend fein gearbeitete Werkzeuge, mit denen sie eine ganze Phalanx riesiger Steinstatuen schufen, die über Sardinien wachten (siehe Kapitel 5). Diese beeindruckenden Steinfiguren sind zwischen 2,10 m und 2,40 m hoch und finden sich bei Mont’e Prama an der Westküste der Insel. Nach den ägyptischen Kolossen sind sie die ältesten anthropomorphen Großskulpturen im Mittelmeerraum.

Abb. 1.8: Antiker Steinriese aus Mont’e Prama, Sardinien; Nuraghen-Kultur, um 900–700 v. Chr.

Die rätselhaften Riesen von Sardinien haben unterschiedliche Gesichter: große konzentrische Scheiben als Augen und kleine Schlitze für den Mund (Abb. 1.8). Leicht erkennt man, dass diese einfachen Gesichtszüge witzigerweise denen typischer Roboter in unserer heutigen Science-Fiction ähneln, etwa dem Droiden C-3PO in den Star Wars-Filmen (1977–2017). Seit 1974 haben Archäologen 44 dieser großen Steinmenschen bei Mont’e Prama auf Sardinien ausgegraben. Man glaubt, diese Riesen dienten als heilige Wächter. Wenn das zutrifft, hätten sie die gleiche Funktion gehabt wie Talos und weitere grenzschützende Statuen in der Antike.

Ist Pindars Aussage, dass das Riesen-Automaton Talos einst Sardinien beschützt hätte, auf irgendeine Weise mit alten griechischen Beobachtungen oder Berichten über die hoch aufragenden Inselriesen verknüpft? Merkwürdigerweise gibt es in Homers Odyssee (10.82, 23.318) eine Insel, die von Steine werfenden Riesen beschützt wird, den Laistrygonen. Die Bezeichnung Laistrygonen klingt ähnlich wie Lestriconen – und so hieß ein Stamm, der den Nordwesten Sardiniens bewohnte. Forscher nehmen an, dass die homerische Geschichte der Riesen, die ihre Insel durch Werfen von Felsbrocken verteidigten, entstanden ist, nachdem Seeleute die Kolossalfiguren in Sardinien erblickt hatten.21 Die Ähnlichkeit zu den Taten des Talos ist jedenfalls auffällig.

Manche, die heute über Automata forschen, sahen in Talos fälschlicherweise eine zunächst einmal inaktive Materie, die auf übernatürliche Weise von den Göttern mit Leben gefüllt wurde. In seiner Geschichte der europäischen Automata teilt zum Beispiel Minsoo Kang die in der Antike beschriebenen Automata in vier Kategorien: (1) mythische Geschöpfe, die modernen Robotern nur der Erscheinung nach ähneln, aber von „übernatürlichen Mächten“ geschaffen wurden; (2) mythische Objekte aus menschlicher Herstellung, die mittels Magie zum Leben erweckt wurden; (3) historische Objekte nach menschlichem Entwurf; (4) in der Theorie ersonnene Automata in Untersuchungen zu moralischen Konzepten. Kang ordnet Talos seiner ersten Kategorie zu: „mythische Geschöpfe“, die wie Roboter aussehen, denen aber ein „Bezug zu handwerklicher Mechanik“ fehlt. Die „imaginäre Bedeutung“ von Automata wie Talos „in der Vormoderne hatte wenig mit mechanistischen Vorstellungen zu tun“, behauptet Kang; Talos wäre „kein mechanisches Wesen, sondern sehr wohl eine lebendige Kreatur“ gewesen.22 Doch antike Quellen beschreiben Talos als geschaffen, nicht geboren. Wie wir gesehen haben, wurden seine innere Anatomie und Bewegungen mit mechanistischen Konzepten erklärt, was in die künstlerischen Darstellungen aufgenommen wurde: Welche lebende Kreatur hat einen metallenen Körper und ein durch einen Stift versiegeltes Kreislaufsystem, das ohne Blut auskommt? Außerdem zeigen die Mythen und Kunstwerke aus dem 5. Jh. v. Chr. zu Talos’ Zerstörung, dass sein Untergang einer Technologie bedurfte, vor allem der Entfernung des Stifts.

Die exakte Beschreibung des Begriffs Roboter ist umstritten, doch die grundlegenden Bedingungen erfüllt Talos: Er ist ein sich bewegender Android mit einer Kraftquelle, die Energie bereitstellt, und darauf „programmiert“, seine Umgebung „abzutasten“. Er besitzt eine Art „Intelligenz“ bzw. eine Möglichkeit, Daten zu verarbeiten, um sich dafür zu „entscheiden“, mit der Umgebung zu interagieren, um Taten zu vollbringen bzw. Aufgaben zu erfüllen. Kangs Hinweis, dass antike Technologievorstellungen keine Rolle im Talos-Mythos spielen, beruht erstens auf einem schiefen Vergleich mit der göttlichen Erschaffung Adams aus Schlamm oder Ton im Alten Testament und zweitens auf der oberflächlichen Lektüre einer Passage in den Argonautika (4.1638–1642), in der Talos als Letzter einer „Rasse bronzener Menschen“ bezeichnet wird – eine archaisierende poetische Wendung, die ich bereits erwähnt habe.23

Die Wissenschaftsphilosophin Sylvia Berryman führt an, dass die olympischen Götter in griechischen Mythen nicht dabei dargestellt wurden, wie sie Technologie benutzten, und dass von Hephaistos geschaffene Geräte nicht mittels handwerklichen Geschicks belebt wurden. Doch Talos’ Schöpfer Hephaistos war der Gott der Metallurgie, der Technologie und der Erfindung. Für gewöhnlich wurde er mit seinen Werkzeugen bei der Arbeit dargestellt, und von seinen Produkten sagte man, sie würden durch Werkzeug und Handwerk entworfen und konstruiert. Nach Berrymans Ansicht kann Talos „kein technologisch hervorgebrachtes Objekt“ sein, weil er keine „physischen Mittel hat, aufgrund derer er funktionieren könnte“.24 Doch Talos sticht aus den mythischen Kunstwesen heraus, weil antike Autoren und Künstler ihn als Automaton darstellten, als „Selbstbeweger“, als Bronzestatue, die von „einem inneren Mechanismus“ belebt wurde, in diesem Fall einer einzigen Röhre bzw. einem Gefäß, das eine spezielle Flüssigkeit enthielt – ein solches System wurde mit biologischen, medizinischen und zu Maschinen passenden Ausdrücken beschrieben.

Die Altphilologin Clara Bosak-Schroeder warnt zu Recht, dass wir Heutigen uns davor hüten sollten, „unser Technologieverständnis auf die Vergangenheit zu projizieren“. Sie gibt zu bedenken, dass die alten Griechen in ähnlicher Weise ihr Wissen um Innovationen auf ihre alten Mythen projiziert haben könnten. Sie folgt Kang und Berryman, wenn sie annimmt, dass man sich alle mythischen Beispiele von „Automata ursprünglich als ganz und gar magisch vorgestellt“ hat, und sie meint, dass „das Aufkommen fortgeschrittener Mechanik in der späteren Antike … die Griechen in hellenistischer und römischer Zeit dazu brachte, magische Automata als mechanisch neu zu deuten“. Doch das Argument, dass eine „relative Moderne“ die Griechen veranlasst hätte, ihre damalige Technologie auf imaginierte Automaten in ihren Mythen und Legenden zurückzuprojizieren, trifft auf Talos und andere mythische Beispiele künstlichen Lebens nicht zu. Diese wurden schon von Hesiod, Homer, Pindar und in anderen Quellen als hergestellt beschrieben.25 Wie in Kapitel 9 diskutiert wird, tauchten einige selbstbewegende Geräte bereits im 4. Jh. v. Chr. auf. Talos’ Eigenschaften können nicht als rückwärtige Projektionen aus dem Hellenismus interpretiert werden, weil Talos, wie wir gesehen haben, sogar in den frühesten Versionen des Mythos und in Kunstwerken bereits als eine Konstruktion galt, als „ein selbstbewegendes oder sich selbst erhaltendes und geschaffenes Objekt, [das] eine natürliche lebendige Gestalt nachahmte“ – die typische Definition eines Roboters.26

Tatsächlich kann eine aussagekräftigere, nuanciertere Annäherung an Talos und andere belebte Statuen aus der Antike zeigen, wie „Mythologie die Unterscheidung zwischen Technologie und göttlicher Macht“ verwischt.27 Es gibt einen Unterschied zwischen Geschichten von Göttern, die einerseits wünschen oder befehlen, dass unbelebte Materie lebendig wird – wie beim biblischen Adam oder im Mythos um Pygmalions Statue (siehe Kapitel 6) –, und andererseits von Göttern, die höhere Technologieformen einsetzen, um künstliches Leben zu erschaffen, auch wenn die innere Funktionsweise nicht beschrieben wird. Wie zahlreiche Wissenschaftler betont haben, werden in Mythen um geschaffene Wesen wie Talos, Pandora und andere diese künstlichen Wesen als Produkte göttlichen Handwerks begriffen, nicht als bloßer göttlicher Wille. Tatsächlich unterscheiden sich „die mystischen und technologischen Ansätze, künstliches Leben herzustellen, nicht so sehr voneinander“, wie viele meinen, so der Historiker E. R. Truitt, der zu mittelalterlichen Automata forscht. Truitt erklärt, dass Technologien wie die Metallverarbeitung die Verheißung mit sich brachten, die Grenzen menschlicher Schöpfungen und Genialität zu „überschreiten“.28

In vielen antiken Mythen und Legenden, um die es uns geht, wurden einerseits künstliche Wesen aus den gleichen Substanzen und nach den gleichen Methoden gebildet, wie menschliche Handwerker sie benutzen, um Werkzeuge, Instrumente, Waffen, Statuen, Häuser, Gerätschaften und Kunstwerke herzustellen – dies geschah jedoch mit wunderbaren Ergebnissen, die göttlicher Expertise entsprechen; andererseits sind Talos und seinesgleichen Beispiele für andere künstliche Wesen, geschaffen nicht durch Zauberei oder göttliches Gebot, wie viele Historiker, Wissenschafts- und Technikphilosophen angenommen haben, sondern durch das, was die alten Griechen Biotechne genannt hätten, von bios, „Leben“, und techne, also „mittels Kunst oder Wissenschaft geschaffen“.29

Hephaistos, der Schmiedegott und Gott der Erfindung, erschuf Talos in seiner himmlischen Gießerei, die man sich ähnlich echten Bronzegießereien auf Erden vorstellte, die diese aber weit übertraf – mit überlegener Technologie, die in der Lage war, „lebendige“ und selbstbewegende Maschinen hervorzubringen (siehe Kapitel 7). Bronze als Legierung aus Kupfer und Zinn war das härteste und dauerhafteste von Menschen hergestellte Material der daher so genannten Bronzezeit. In der folgenden Eisenzeit schrieb das gewöhnliche Volk vergessenen Bronze- und Bronzeherstellungstechnologien die Aura des Übernatürlichen zu. Im allgemeinen Aberglauben meinte man von Bronzefiguren, sie würden das Böse verzaubern oder abhalten. Bronzene Wächterstatuen wurden oft an Grenzen, Brücken, Toren und Häfen aufgestellt.30 Von den ehernen Gestalten des mythischen Talos von Kreta und des historischen Koloss von Rhodos wurde vielleicht angenommen, sie seien eine Art magischer Schutzschild gewesen, jedoch waren beide mit komplexen inneren Strukturen ausgestattet.

Von der Antike bis zum Mittelalter war Bronze das Material der Wahl, um daraus „lebende Maschinen“ und Automata herzustellen. Der Bronzeguss beruhte nicht nur auf gewissermaßen „Geschäftsgeheimnissen“, esoterischem Wissen und entsprechenden Fertigkeiten, sondern mittels des Gießens wollte man menschliche und tierische Formen in Metall schaffen, die der Realität ungeheuer nahe kamen. Das mag dazu geführt haben, dass frühe griechische Schmiede als „Magier gesehen“ wurden, wie Sandra Blakely in ihrer Geschichte des Hüttenwesens festhält. Doch, so fährt sie fort, „einen Künstler als Magier zu bezeichnen, kann einfach auch ein übertriebenes Lob seiner technischen Fertigkeiten sein“, vor allem im Falle von „Gegenständen, die zum Leben erwachen“. Im Wachsausschmelzguss, den ich noch beschreiben werde, kann die Ähnlichkeit eines Menschen oder Tieres scheinbar nur durch Zauberei zustande kommen. Wie das bekannte Dritte Gesetz des Science-Fiction-Futuristen Arthur C. Clarke besagt: „Jede genügend fortgeschrittene Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Wenn er eine gespenstische Imitation von etwas Lebendigem erschafft, könnte ein erfinderischer Gott – oder ein menschlicher Erfinder – gerade so versuchen, „die Seele“ dieses Gegenstandes „nachzubilden“.31 In der Logik magischen Denkens legt die unheimliche Kopie von Leben die Vorstellung nahe, dass dieses Scheinbild auch eigenständige Bewegung und Handlungsfähigkeit haben könnte.32

Wenn man der Metallverarbeitung Magie zuschreibt, könnte dies zudem symbolisch für die technologische Beherrschung der Natur auf Basis naturwissenschaftlichen Wissens stehen, wie Blakely anführt. Gemäß der antiken griechischen Legende wurde die Kunst, geschmolzenes Metall in Tiegel einzugießen, nach einem Waldbrand auf einem Berg entdeckt. Die „starke Hitze ließ das Erz, das in der Erde verborgen war“, schmelzen, und als das geschmolzene Erz den Berg hinabfloss, füllte es Löcher auf der felsigen Oberfläche und gab dabei exakt deren Form wieder.33

Der Altphilologe A. B. Cook dachte über die Beschreibung von Talos’ Biotechnologie nach – das einfache Gefäß, das von seinem Kopf bis zu den Füßen verlief und mit einem Siegel verschlossen war –, und über die Art, wie der Ichor wie geschmolzenes Blei herausfloss, als dieses Siegel erst geöffnet war, und entwickelte eine verblüffende Theorie, bei der er sich auf die antike Metallverarbeitung bezog. Cook meinte nämlich, dass die ausgeprägte Physiologie von Talos auf den Wachsausschmelzguss der Bronzezeit angespielt oder ihn symbolisiert haben könnte. Wie andere Bronzefiguren und große Bronzestatuen aus der Antike sei auch Talos möglicherweise nach diesem Verfahren gefertigt worden.34

Die sogenannte Erzgießerei-Schale, eine sorgfältig bemalte rotfigurige Trinkschale aus dem 5. Jh. v. Chr., zeigt Künstler, die zwei naturgetreue Bronzestatuen fertigen. Dabei benutzen sie Gießereiwerkzeuge und -techniken, einschließlich des komplizierten Wachsausschmelzgusses. Die Statue eines Athleten ist im Entstehen begriffen, mit Körperteilen, die noch nicht angefügt sind (Abb. 1.9; vgl. auch Abb. 6.3–11 – Darstellungen von Prometheus, wie er den ersten Menschen in Teilen herstellt). Auf der anderen Seite der Schale sehen wir, wie Arbeiter eine überlebensgroße, realistische Statue eines Kriegers fertigstellen (Abb. 1.10).

Das antike Wachsausschmelz-Gussverfahren ist nicht vollständig bekannt, doch bei einer Methode arbeitete man mit einem groben Tonmodell oder hölzernen Gerüst und überzog es mit Bienenwachs. Danach wurden die Details vom Bildhauer in das Wachs geschnitzt. Dieses Wachsmodell wurde mit einer dünnen Tonschicht bedeckt, auf die schichtweise dickere Lagen folgten, bis die Gussform komplett war. Der Kern dieser Masse wurde vom Kopf bis zu den Füßen mit einem hohlen Bronzestab durchstochen. Anschließend wurde die Form in einen Brennofen gesteckt, und über den Hohlraum trat das nun schmelzende Wachs an den Füßen aus. Bronze wurde geschmolzen, und wegen ihrer Verformbarkeit, und um das Fließen zu beschleunigen, fügte man Blei hinzu; dann goss man die Masse dort zwischen die innere und die äußere Gussform, wo vorher das Wachs gewesen war. Talos erhitzte seinen Körper, indem er, wie der Dichter Simonides schrieb, in ein Feuer sprang, und auch sein Ichor floss an den Füßen heraus.35

Abb. 1.9: Gießereiszene: Künstler fertigen eine realistische Bronzestatue eines Athleten aus Einzelteilen, umgeben von Schmiedewerkzeugen; attisch-rotfigurige Trinkschale des sogenannten Erzgießerei-Malers, aus Vulci, ca. 490–480 v. Chr.

Abb. 1.10: Gießereiszene: Arbeiter legen letzte Hand an eine Kriegerstatue; attisch-rotfigurige Trinkschale des Erzgießerei-Malers, aus Vulci, ca. 490–480 v. Chr.

Magie und eine geheimnisvolle Biomechanik überlappen sich offenkundig in den Mythen um künstliches Leben und in volkstümlichen Begriffen. Doch in den verschiedenen Talos-Erzählungen fällt auf, dass die Physiologie dieses bronzenen Automaton in einer mytho-technischen Sprache beschrieben wird, mit Anspielungen auf damalige medizinische und wissenschaftliche Vorstellungen.36

So wurde etwa im Bereich des Mythos der Begriff Ichor in einem besonderen Sinn für das Blut der Götter gebraucht. Doch im antiken medizinischen und wissenschaftlichen Kontext bezeichnete Ichor das wässrige, bernsteinfarbene Blutserum von Säugetieren. Das Wort, das Apollonios in den Argonautika für die Lebensader, die das Gefäßsystem des Bronzeriesen ausmachte, nutzte, war zudem in griechischen Medizinabhandlungen ein Terminus technicus für Blutgefäße. Die Kombination aus lebendigen und nicht-lebendigen Komponenten, die Verschmelzung aus Biologie und metallischer „Mechanik“, macht Talos zu einer Art antikem Cyborg mit biomechanischen Körperteilen.37

Talos als Android, in Hephaistos’ göttlicher Schmiede gebaut und durch Ichor belebt, sollte vermutlich ein Perpetuum mobile werden. Im Mythos scheint Talos Spuren von Bewusstsein und einen „Überlebensinstinkt“ zu besitzen; er folgt Medeas Überredungskünsten, was auf Handlungsfähigkeit und Willen hindeutet. Doch Talos ist sich seines Ursprungs nicht bewusst und begreift seine eigene Physiologie nicht. Wie sollte man auch diese Natur verstehen? Nach dem verschollenen Theaterstück von Sophokles war Talos „dem Untergang geweiht“. Und wie Medea richtig erriet, war er nicht unsterblich – auch wenn der Ichor als Garant für Unsterblichkeit galt. Der Mythos gibt uns also ein Rätsel auf: War Talos eine Art Halbgott, ein in Bronze gekleideter „Mensch“ oder eine belebte Statue?

In der griechischen Mythologie zirkulierte goldener Ichor anstelle von rotem Blut in den Adern der Götter, weil sie mit Ambrosia und Nektar genährt wurden, was sie alterslos und unsterblich machte (siehe Kapitel 3 und 4 zu Versuchen, diese göttlichen Eigenschaften den Menschen zuzusprechen). Unsterbliche Götter konnten oberflächliche Verletzungen erleiden und ein paar Tropfen ihres Ichors verlieren, ohne zu sterben, weil ihre Körper sich schnell regenerierten (Homer, Ilias, 5.364–382; vgl. das Schicksal von Prometheus in Kapitel 3). Auch wenn der unsterbliche Ichor in Talos floss, folgerte Medea, dass er untergehen würde, wenn sie nur sein vollständiges Verbluten bewirkte.38

Interessanterweise war die Position der Schwachstelle des Roboters biologisch bedingt. Hippokrates zufolge, der etwa zwischen 410 und 400 v. Chr. über den Aderlass schrieb, war die dicke Vene an der Fessel die bevorzugte Stelle für die vorsätzliche Entnahme von Blut bei Patienten, eine traditionelle therapeutische Maßnahme. Aristoteles, der um 354 v. Chr. schrieb, zitiert den Medizinautor Polybos (er lebte um 400 v. Chr. und war der Schwiegersohn von Hippokrates) zu größeren Blutgefäßen, die vom Kopf bis zur Fessel reichten. Dort brachten die Chirurgen ihre Schnitte an, um Blut abzuzapfen. Ein von Aristoteles beschriebenes Charakteristikum von Lebewesen ist, dass ihr Blut in Gefäßen bewahrt werden müsse, solange sie leben. Wenn sie eine bestimmte Menge Blut verlören, würden sie ohnmächtig; wenn zu viel Blut abflösse, würden sie sterben. Schon seit dem 5. Jh. v. Chr. verlegten Mythographen und Künstler den Stift, der Talos’ „Blutgefäße“ versiegelte, an die anatomisch für sie logischste Stelle. Diese war der Punkt an der menschlichen Vene, von dem man wusste, dass dort das Blut am freiesten floss, sodass der Roboter wie ein Mensch ausblutete, als diese Stelle von Medea verletzt wurde.39

Die Vorstellung, dass Medea auch mit dem „bösen Blick“ Zerstörung anrichten könnte, war in der Antike weit verbreitet. Nach den physikalischen Theorien einiger Naturphilosophen und anderer Schriftsteller konnten bestimmte übel gesinnte Menschen aus ihren Augen tödliche Strahlen wie „Psycho-Pfeile“ zu anderen Menschen schicken, was diesen Leid, ein schlechtes Los oder sogar den Tod brachte. So beschrieb etwa Plutarch dieses Phänomen als „feurigen Strahl“ der Bosheit, der aus einem intensiven Blick entstehe. Medeas Augen werden in den gesamten Argonautika als für Menschen gefährlich beschrieben. Mit ihrem bösen Blick übermittelte sie schreckliche Phantombilder (deikela) an Talos’ Verstand. Diesen Mythos im Sinn, stellten sich die Menschen in der Antike Talos’ Augen als sehr lebensecht vor, wie diejenigen griechischer Bronzestatuen, die sie kannten. Solche Statuen waren realistisch gefärbt, ihre Augen waren mit Elfenbein, Silber, Marmor und Edelsteinen eingelegt und hatten feine silberne Wimpern.40 Doch der böse Blick konnte nur Lebendiges treffen. Die Vorstellung, schlechte „Strahlen“ auszusenden, um eine Maschine orientierungslos zu machen oder gar zu zerstören, wirft die beunruhigende bzw. ungelöste Frage nach Talos’ wahrer Natur auf. Von einem Wächter aus Bronze nahm man an, er verfüge über magische Schutzkraft. Wäre aber ein gefühlloser Metallgegenstand für den bösen Blick empfänglich? Dass Medea einen solchen aussenden konnte, um Talos orientierungslos zu machen, ist ein weiterer Hinweis, dass er mehr war als nur eine gefühllose Metallmaschine.

Bereits Jahrhunderte vor dem Hollywoodfilm RoboCop (1987) über eine Cyborg-Polizeitruppe, vor den bionischen Mördern und Leibwächtern aus den Terminator-Filmen (1984 – 2015) und weiterer Science-Fiction über Cyborgs, die in der Lage waren, tödliche Strahlen auszusenden, stellten sich die Griechen durch Supertechnologie entstandene Roboterwächter vor, die die Natur nachahmten: Biotechne. Talos und andere antike Automata, die von Göttern geschaffen wurden, galten wie moderne Cyborgs als Hybriden aus lebendigen und nicht-lebendigen Teilen. Zudem konnten die Menschen der Antike mittels Mythen wie dem von Talos darüber nachsinnen, ob ein Wesen, das geschaffen, nicht geboren war, eine geistlose Maschine war oder aber eine autonome, empfindungsfähige und mit Intelligenz ausgestattete Figur. Im Talos-Mythos griff die Zauberin Medea die Fragen auf, die später auch wieder thematisiert wurden, von Mary Shelleys Frankenstein (1818) über Blade Runner (Ridley Scott, 1982), Her (Spike Jonze, 2013) und Ex Machina (Alex Garland, 2014) bis hin zu Blade Runner 2049 (Denis Villeneuve, 2017). Der Talos-Mythos war eine frühe Erkundung der Vorstellung, dass Automata den Wunsch entwickeln könnten, echte Menschen zu werden. Wie wir gesehen haben, erkannte Medea intuitiv, dass Talos wie ein sterbliches Wesen seinen eigenen Tod fürchten und sich nach Unsterblichkeit sehnen würde.

Die Talos-Geschichte stellt auch heraus, wie brillant Hephaistos, der göttliche Schmied, Erfinder und Techniker in der Vorstellung der Griechen war. Der Mythos zeigt, dass die Menschen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Idee von einem bronzenen Androiden mit kodierten Anweisungen formulieren konnten, der aufgrund seiner übermenschlichen Stärke komplexe Aktionen ausführen konnte: Talos konnte Eindringlinge erkennen und aufspüren; er konnte Felsen finden, aufheben und als Geschosse zielgenau und weit werfen. Und er konnte Feinde innerhalb seiner Reichweite zerquetschen und verbrennen. Sehr aufschlussreich ist, dass Talos durch Suggestion aus dem Gleichgewicht gebracht werden konnte, was seine hybride, lebendige/nicht-lebendige Natur offenbart, ein unheimliches „Dazwischen-Sein“, wie es das beständige Kennzeichen von Automata ist. Der Talos-Mythos verkörpert uralte Fragen darüber, was es bedeutet, ein Mensch und frei zu sein.41