GÖTTERGARN - C.G. Bittner - E-Book

GÖTTERGARN E-Book

C.G. Bittner

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Beschreibung

Donnerwetter – hier sind die Götter los! Egal ob im gelernten Job, als Imbissbudenbesitzer, Escape-Room Betreiber, Kopfgeldjäger, im Baugewerbe oder im Gartencenter – hier wird gedonnert, geblitzt, geschnippt, getwittert oder mit einem Pfeil direkt ins Herz geschossen. Und nach Feierabend? Da wird natürlich feuchtfröhlich gefeiert und um die Vaterschaft gebuhlt. Und all jene, die vom fleißigen Feiern bereits urlaubsreif sind, sollten sich professionelle Hilfe suchen oder direkt für eine Patience in der Klapse einchecken. Aber gleich ob in der Himmelstraße, auf Erden, im untervermieteten Olymp oder im Weltraum – eins wollt ihr wirklich niemals - NIEMALS - erfahren: Was passiert, wenn die Götter ihren Löffel abgeben?

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Vorwort der Herausgeberin
C.G. Bittner
Der Serverraum der Unterwelt
Marina Clemmensen
Feurio
Robert von Cube
Drei Falten auf der Couch
Thomas Heidemann
Love, Axe & Rock’n Roll
Jürgen Höreth
Über das Bemühen sich ungebetener Besucher zu entledigen
Agga Kastell
Schinken der Macht
Tanja Kummer
Götterstatus
Veronika Lackerbauer
Von Lug und Betrug
Andrea Lopatta
Lightning & Frightening
Petra Pribitzer
Hermes bringt’s
Marco Rauch
Himmelstraße 42
Bianca M. Riescher
Die 7 Plagen des Imhotep
Regine D. Ritter
#TheOldGods
Torsten Scheib
Auch nur ein Mensch
Kornelia Schmid
Die Wege des Einhörnchens sind unergründlich
Jana Nabea Schwarz
Götter und Gartencenter
GÖTTER-GLOSSAR

Göttergarn

ISBN 978-3-945230-60-2

1. Auflage, Allmersbach im Tal 2021

Cover: Christine Schlicht

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Veronika Lackerbauer,

Tanja und Marc Hamacher

© 2021, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

www. leserattenverlag.de

Der Leseratten Verlag ist Fördermitglied beim

PAN Phantastik-Autoren-Netzwerk e.V.

Weitere Infos unter:

www. phantastik-autoren.net

Vorwort der Herausgeberin

Seit meiner Begegnung mit IHM stellte sich mir die Frage, wenn DER TOD tatsächlich die armen Seelen ins Jenseits bringt, dann müssen die andren Gestalten doch auch existieren. Die Sagen und Heldenmythen aus längst vergangenen Zeiten und ihre göttlichen Taten kennt man, aber heißt es nicht, dass Götter unsterblich wären? Dann müssen sie doch immer noch irgendwo da draußen sein, oder nicht? Wie kommen Götterväter wie Zeus, Jupiter oder Odin eigentlich damit zurecht, dass niemand mehr von ihnen wissen will? Haben der technische Fortschritt, die Globalisierung, die unendlichen Weiten des Internets das göttliche Leben irgendwie beeinflusst?

Diese Fragen haben mich nicht mehr losgelassen und zum Glück konnte ich auch den Leseratten Verlag dafür interessieren. So kam es zu dieser wirklich göttlichen Ausschreibung. Ich habe mir einen bunten Reigen aus verschiedensten Götter-Zyklen gewünscht, urkomische Begebenheiten, Culture-Clash zwischen Heldensage und Slapstick, und genau das habe ich auch bekommen. Schon die Auswertung der wirklich zahlreichen Einsendungen hat einen Heidenspaß gemacht.

Die Auswahl war nicht einfach, aber am Ende haben wir – glaube ich – die sechzehn besten Göttergeschichten herausdestilliert.

Ich bedanke mich bei allen Sterblichen und Halbgöttern, die mir ihre Werke anvertraut haben, und natürlich beim göttlichen Einhornmörder und seinem Eheeinhorn für die Unterstützung.

Bei Thors Hammer und Zeus‘ Libido, da ist eine Anthologie entstanden, die mit irdischen Maßstäben gar nicht gemessen werden kann! Aber seht selbst …

C.G. Bittner

C.G. Bittner ist wesentlich besser im Zimtschnecken backen als darin, Server zu reparieren. Wenn sie nicht gerade ihre Familie mit göttlichen Süßspeisen verwöhnt oder abstruse Kurzgeschichten schreibt, versucht sie, junge Menschen davon zu überzeugen, dass Wörter wie endoplasmatisches Retikulum nicht nur fantastische Zungenbrecher sind.

Der Serverraum der Unterwelt

9:10

Irgendwo in einer durchschnittlichen Stadt eines durchschnittlichen Landes erschien ein geisterhaftes Gesicht auf einer Glasscheibe und schnitt Grimassen.

»Nein, Sie müssen … 

Halt! Nicht das! Ich versuche ja gerade, Ihnen zu erklären …

Was haben Sie gerade gemacht? Die Verbindung ist plötzlich abgebrochen …

Sie haben was?

Nein, ich komme nachher bei Ihnen vorbei und richte es wieder ein. Ja. Bis später.«

Es ist eine allseits anerkannte Wahrheit, dass moderne Computertechnik am besten funktioniert, wenn von vornherein kein Benutzer involviert ist. Schmerzlich an diese Tatsache erinnert, zog Alexis sich das Headset vom Ohr und kippte vorn über. Das Miniaturweihnachtsbäumchen auf ihrem Schreibtisch hüpfte, als ihr Kopf die Tischplatte traf. Der Tag hatte so gut angefangen. Sie und ihr Rechner. Allein. Alexis stieß ein Geräusch aus, das irgendwo zwischen undichter Dampfmaschine und existenzieller Krise angesiedelt war und notierte sich den neuen Termin. Das war Punkt 41 auf der heutigen To-do-Liste. Gerade wollte sie nach einer Zimtschnecke greifen, als das Telefon schon wieder klingelte. Einen wütenden Blick gen Himmel werfend nahm sie ab. Man sollte meinen, dass die Leute an Silvester daheim bei ihren Familien wären, anstatt zu arbeiten. »Avivan IT-Systemhaus, Sorbas am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?«, ratterte sie herunter.

Unter Rauschen meldete sich eine Stimme von der Qualität eines fernen Erdbebens. Es klang so, als wäre der Sprecher sehr weit weg. »Ich habe Sie ausgewählt, um meine Maschinen zu reparieren.«

Das durfte doch nicht wahr sein. War heute Vollmond und alle Verrückten hatten beschlossen, sie heimzusuchen?

»Es tut mir leid, aber unser Kontingent an Scherzanrufen ist für heute schon aufgebraucht. Kommen Sie also bitte zum Punkt, ansonsten wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.«

»Sie sollen meine … was?«, brach der Anrufer ab.

Alexis hörte die Stimme einer Frau im Hintergrund: »Sag ihm, was auf dem Zettel steht, Chef!«

»Da steht nur Kauderwelsch. Er soll herkommen und dein Zeug reparieren, mehr muss er doch nicht wissen«, rauschte nun die Männerstimme wieder aus dem Headset.

»Ihnen ist schon klar, dass ich noch am Apparat bin?«, schaltete sich Alexis ein. Hatte sie etwa in einem früheren Leben schlechtes Karma angehäuft und wurde jetzt dafür bestraft? Sie nahm eine Zimtschnecke und biss hinein.

»Jetzt lies ihm endlich das da vor, Chef!«, zischte die Frau aus dem Hintergrund wieder.

Aus dem Hörer drang ein Seufzen, als fiele ein Grabstein um. »Also gut. Können Sie bitte über Fernwartung auf unseren S-E-R-V-O-R?«, buchstabierte er. »Server! Unseren Server zugreifen? Ein U-P-D-A-T-E?«

»Update!«, zischte es.

»Ach so. Ein Update wurde eingespielt und seitdem funktioniert unsere Abrechnungssoftware nicht mehr«, las die Stimme vor.

Für einen Moment war Alexis versucht, einfach aufzulegen. Ihre Augen wanderten durch das leere Büro entlang der Weihnachtskarten ihrer Kunden, die sich auf dem Schreibtisch aneinanderreihten.

Sie seufzte resigniert. »Sicher. Haben Sie schon Teamviewer installiert? Dann kann ich mir die Sache ja mal kurz ansehen«, antwortete Alexis und biss wieder in die Zimtschnecke.

»Polyphylla, was bedeutet Teamwiüwer?«, fragte die Stimme am anderen Ende.

»Das ist eine Fernwartungssoftware für Screensharing, mit der man über das Internet auf andere Geräte zugreifen kann und …«

»Genug!«, unterbrach er die andere Stimme. »Morgen muss meine Unterwelt wieder offen sein und dank deiner Unfähigkeit brauche ich jetzt einen verdammten Heroen, der den Fehler wieder ausbügelt!«

Die Stimme des Sprechers war mit jedem Wort lauter geworden, sodass Alexis ihr Headset schließlich am gestreckten Arm von sich weghielt. Ein Grollen erfüllte das ganze Büro und veranlasste ihre Teetasse, klirrend zur Schreibtischkante zu hoppeln und sich ins Verderben zu stürzen. Gleich daneben riss krachend ein Spalt im Boden auf. Daraus wuchs eine hagere Gestalt in schwarzer Toga in die Höhe. Schwarze Augen sahen sie aus einem blassen Gesicht an. Eine schwarze Krone, deren Spitzen beinahe an der Decke kratzten, thronte auf schwarzem Haar.

Das alte Griechenland war voll von Heroen gewesen, meistens jung, gutaussehend und größtenteils nackt. Ein Großteil davon hatte Hades, Gott der Unterwelt, in Rage versetzt. Sie hatten seinen Hund entführt, hatten versucht, ihm seine Frau auszuspannen, einer hatte mit seinem Gesang die gesamte Unterwelt lahmgelegt und – das war vielleicht ihr größtes Vergehen – sie alle waren unerhört lebendig gewesen. Alexis Sorbas hatte eigentlich nur den letzten Punkt mit einem griechischen Heros gemein. Ein wenig übergewichtig, bebrillt, das kinnlange braune Haar vom Headset zurückgehalten und gänzlich bekleidet, machte die Mittdreißigerin einen äußerst unheroischen Eindruck, als sie mit offenem Zimtschneckenmund auf den Gott starrte, der neben ihrem Schreibtisch aus dem Boden gewachsen war. Der Gott schien nicht minder überrascht zu sein.

»Sie sind Alexis Sorbas?«, fragte er, während die pechschwarzen Augen sie von oben bis unten musterten.

Alexis konnte nur nicken.

»Sie kennen sich mit diesen Servern aus?« Er sprach das Wort aus, als handele es sich dabei um äußerst unberechenbare Tiere.

Erneutes Nicken.

»Sie reparieren diese Server?«

Nicken.

»Sie sind eine Frau.«

Auf der Liste der Naturgesetze ist zwischen der Gravitation und dem Energieerhaltungssatz jenes Gesetz angesiedelt, dass Frauen, deren Kompetenz von älteren weißen Männern angezweifelt wird, besagte Männer auf ihren Fauxpas hinweisen werden. Dieses Gesetz gilt – ähnlich der Gravitation – immer. Alexis schluckte den Rest Zimtschnecke hinunter. Ihre Augen verengten sich.

»Wow, gut beobachtet«, entgegnete sie bissig und klatschte langsam in die Hände.

Der Gott blinzelte.

9:22

Auf der anderen Seite des Büros schwang eine Tür quietschend auf, scheinbar völlig von selbst.

Der Gott wandte sich um, schaute irgendetwas neben der Tür an, das Alexis nicht sehen konnte, und hob die Hand. Was auch immer dort gewesen sein mochte, verschwand begleitet vom Rauschen leisen Flügelschlags. Er drehte sich wieder zu ihr zurück. Alexis hatte zwar alles gesehen, war aber noch zu sehr mit dem Gott neben ihrem Schreibtisch und seinem Hang zu patriarchalischen Strukturen beschäftigt, als dass sie sich um paranormale Aktivitäten hätte kümmern können.

»Sagen Sie mir jetzt endlich, wer Sie sind und was zur Hölle Sie eigentlich von mir wollen?«, schnappte sie und griff zur Beruhigung nach dem Teller Zimtschnecken. Auch der Gott war gut im Schnappen. So war er schließlich an seine Frau gekommen. Er schnappte Alexis samt Teller und verschwand mit ihr auf demselben Weg, auf dem er erschienen war.

Alexis konnte nicht sagen, was genau passiert war. Sie erinnerte sich nur an ein Rauschen und Knirschen und viele Farben. Jetzt stand sie neben ihrem Entführer auf einer Art Galerie, von der aus man in eine riesige Halle blicken konnte.

»Sind wir am Flughafen?«, fragte sie und klammerte sich benommen an den Teller.

»Gewissermaßen«, entgegnete der Gott.

Die Halle unter ihnen war voller Menschen, die sich auf verschiedene Ausgänge zubewegten. Die meisten schienen Geschäftsleute zu sein, denn sie trugen Anzug oder ähnlich Formelles, doch Alexis entdeckte auch welche mit langen Roben und sogar ein paar, die gänzlich nackt waren. Je mehr sie sah, desto sicherer war sie, dass das hier kein Flughafen sein konnte. Fast niemand hatte Gepäck bei sich. Nur ein paar wenige schoben haushoch beladene Gepäckwagen mit allerlei für einen Flughafen recht seltsamen Dingen, wie Vasen oder Motorrädern, vor sich her. Ein weiterer Hinweis war, dass alle Menschen dort unten irgendwie durchsichtig waren. Alexis starrte auf ihre eigene, sehr undurchsichtige Hand.

»Sie sind nicht tot«, sagte eine Stimme neben ihr. »Die schon.«

Etwas zu schnell drehte Alexis den Kopf und sah eine Frau in einer griechischen Robe neben sich stehen. Das graumelierte Haar war streng zurückgebunden. Auch sie schien äußerst undurchsichtig. Alexis sah wieder zu den Toten in der Halle.

»D-das, das da unten sind Seelen von Toten«, stammelte sie.

»Richtig.«

»Und wo wollen die hin?«

»Na sie machen sich gerade auf die Reise in ihr persönliches Jenseits. Was denn sonst?«

Alexis runzelte die Stirn. »Es gibt mehr als ein Jenseits?«

»Natürlich. Sehen Sie: Die elegante Rolltreppe dort hinten führt zum christlichen Himmel und die Schlange da drüben nach Walhalla.«

Alexis umklammerte den Teller. »Moment, nur damit ich das richtig verstehe. Man hat mich in ein … ein Vor-Jenseits entführt, das voll von Toten ist. Da hinten geht es wahrscheinlich in die Hölle und …«, sie starrte zu dem Gott hinüber. »Und wer zum Henker ist er?!« Ihre Stimme überschlug sich bei den letzten Worten.

»Das ist Hades, Gott der griechischen Unterwelt.«

Alexis Sorbas hatte viel Erfahrung darin, sich in neuen Situationen schnell zurechtzufinden, das war normal in ihrem Beruf. Doch selbst ihr geübter Verstand musste sich vor diesem Mount Everest an neuen Situationen geschlagen geben. Sie fiel in Ohnmacht.

Das erste, was sie spürte, als sie wieder zu sich kam, war eine eiskalte Hand, die ihre Wange tätschelte. Mit einem Ruck setzte sie sich auf.

»Na also, da ist sie ja wieder«, sagte die Frau, während sie die Zimtschnecken zurück auf Alexis’ Teller stapelte und ihr beim Aufstehen half.

»Ich bin in der Unterwelt«, murmelte Alexis und suchte Halt bei einer Zimtschnecke. Der Teller bebte in ihren Händen, als sie einem Seelenschatten zusah, der ein durchscheinendes Bein – offenbar sein eigenes – an sich gepresst hielt und auf dem verbliebenen ungelenk auf einen der Ausgänge zu hopste.

»Keine Sorge, der Chef bringt Sie nachher direkt wieder hinauf, sobald wir hier fertig sind«, merkte die Frau aufmunternd an.

»Und was, also, wer sind Sie? Sie sehen so … nicht-tot aus«, fragte Alexis.

»Polyphylla. Man könnte sagen, ich bin un-tot. Ich habe aufgehört zu leben, aber ich bin auch nicht tot wie die da unten. Ich kümmere mich um die IT hier in der Unterwelt.«

»Schluss mit dem Gerede«, mischte sich Hades ein, seine Stimme unterlegt mit einem fernen Grollen. »Du weißt genau, was auf dem Spiel steht, Polyphylla. Also mach dich endlich an die Arbeit.«

Das wollte diese jedoch nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich hab’ dir schon mal gesagt, Chef, du kannst nicht erwarten, dass ich sowas mal eben an einem Nachmittag durchziehe«, giftete sie zurück. Sie zog einen zerknitterten Zettel hervor. »Wenn wir bald alle aufhören zu existieren, liegt das vielleicht daran, dass du mir das hier«, sie wedelte energisch mit dem Zettel vor Hades bleichem Gesicht herum, »schon vor Wochen hättest geben können. Dann hätte ich mehr Zeit gehabt, alles einzuspielen und wir alle müssten jetzt nicht um unsere Existenz bangen.«

»Ich hätte mich nie auf diesen modernen Quatsch einlassen sollen. Handauflegen und dann bekommen wir Geld. Mit echten Münzen wäre so ein Schlamassel nie passiert. Das hat hunderte von Jahren wunderbar funktioniert!«, maulte er.

In solchen Situationen sind Trillerpfeifen ein äußerst probates Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. In Ermangelung einer solchen stampfte Alexis ein paar Mal kräftig auf den Boden.

»Ruhe jetzt, alle beide. Ist Ihnen klar, dass ich gerade von einem zwei Meter großen, Toga tragenden Totengott in die Unterwelt entführt worden bin? Ich bin umgeben von lauter toten Leuten oder solchen, die ganz bestimmt schon sehr lange tot sein müssten«, hier wedelte Alexis mit der Hand in Richtung Polyphylla. »Ich schwöre, wenn mir nicht sofort jemand erklärt, was eigentlich das Problem ist, dann gehe ich jetzt wieder nach Hause und wenn ich mich den ganzen Weg hinauf durch die Erde graben muss!«, sagte sie, funkelte die beiden an und richtete den Zimtschneckenteller bedrohlich auf Polyphylla. Die untote Frau betrachtete misstrauisch den Teller und winkte sie schließlich zur Brüstung.

»Das ist das Problem«, sagte sie und deutete auf einen Ausgang direkt unter ihnen. Alexis lehnte sich über die Brüstung, um besser sehen zu können. Ein Seelenschatten versuchte gerade das Drehkreuz zu passieren, um das Reich des Hades zu betreten, kam jedoch nicht weiter.

»Pling – Zahlung nicht erfolgt! Pling – Zahlung nicht erfolgt!«, wiederholte eine metallische Stimme ohne Unterlass.

Alexis sah zu Polyphylla hoch.

»Moment, Sie waren das vorhin am Telefon, oder? Sie haben ein Update eingespielt und jetzt funktioniert die Zahlungssoftware nicht mehr.«

Polyphylla nickte. Das Grollen, das Alexis zuvor nur als leichte Vibration unter den Füßen gespürt hatte, mauserte sich zu einem leichten Erdbeben.

»Korrekt. Um in unsere Unterwelt zu gelangen, müssen die Seelenschatten einen Obolus zahlen. Dieser wird normalerweise automatisch von deren Konto abgebucht, sobald sie die Hand auf die Fläche am Automaten legen. Aber seit ich das Update eingespielt habe, kommt keiner mehr rein. Uns laufen die Kunden schon davon«, sagte sie und deutete erneut auf die Schlange. Einige verließen diese, um sich anderswo anzustellen und dort ihr Glück zu versuchen. Nicht wenige machten sich auf den Weg zurück in einen riesigen Tunnel, durch den sie hergekommen waren.

»Sie haben oben auf der Erde doch bestimmt schon das ein oder andere Übernatürliche bemerkt, nicht wahr?«

Alexis erinnerte sich an die Tür, die sich wie von Geisterhand geöffnet hatte und Hades’ Handbewegung.

»Oh«, realisierte sie. Ein IT-Fehler im Jenseits flutete die Welt mit Geistern. Fantastisch.

»Dann deinstallieren Sie das Update einfach wieder und arbeiten Sie mit der alten Release, wenn’s damit funktioniert hat«, schlug sie vor.

»Geht leider nicht«, sagte Polyphylla und reichte Alexis den zerknitterten Zettel. Es war ein sehr amtlich aussehendes Schreiben.

Wir weisen darauf hin, dass Nachwelten (Unterwelten, Höllen, Limbos o.ä.), welche das Update zurdatenschutzkonformen Übermittlung Ihrer Nutzerinformationen nicht bis zum Ersten des kommenden Monats in ihr System aufgespielt haben, von uns als Sicherheitsrisiko eingestuft und aufgrund §178 GGB nicht mehr als Teil des Netzwerkes betrachtet werden können.

Tobit, Sohn des Tobit

Amt für postmortalen Verkehr

Alexis sah auf, nicht in der Lage, ein Grinsen zu unterdrücken. »Es gibt ein Amt für postmortalen Verkehr? Im Ernst?«, fragte sie. Das aufkeimende Lachen erstarb jedoch, als sie den verständnislosen Blick Polyphyllas sah.

»Natürlich gibt es das.«

Alexis überflog noch einmal den Brief. Sie rechnete im Geiste.

»Moment, das Update muss morgen laufen?«

Das Erdbeben legte einige Stufen auf der Richterskala zu. Alexis blickte zu Hades und breitete die Hand schützend über die Zimtschnecken. Der Brief segelte zu Boden. Der Gott beugte sich zu ihr hinunter, sodass das bleiche Gesicht direkt vor ihrem schwebte.

»Ganz richtig, die Maschinen müssen morgen wieder laufen und wenn ihr euch nicht auf der Stelle an die Arbeit macht, werde ich euch persönlich im Phlegeton rösten und dem Kerberos vorsetzen, bevor ich aufhöre zu existieren!«, sagte er, seine Stimme das Epizentrum des Bebens. »WORAUF WARTET IHR ALSO?«

Polyphylla schluckte.

»Schon gut Chef. Wir sind dann im Serverraum.« Rasch zog sie die verdatterte Alexis samt Teller auf einen steinernen Höhleneingang zu.

Alexis war bis jetzt überzeugte Atheistin gewesen. Von einem Totengott gekidnappt zu werden, hatte ihrer felsenfesten Überzeugung ein paar kleine Risse versetzt. Die Brücke aus Skeletten, über die Polyphylla sie führte, vergrößerte die Risse deutlich. Der gigantische, dreiköpfige Hund, der geifernd nach ihr schnappte, ließ erste Brocken aus ihrer Überzeugung brechen. Doch als Alexis Sorbas schließlich den Serverraum der Unterwelt betrat, zerfiel jeglicher Rest Überzeugung spontan zu Staub. Hier hatte jemand ihre ganz persönliche Hölle erschaffen.

Ein vielstimmiges Surren, Rauschen und Piepen erfüllte den ganzen Serverraum. An den Wänden lehnten Geräte unterschiedlichster Marke und Bauart, zu abenteuerlichen Türmen gestapelt. Diese schienen zumindest teilweise von den eingesteckten Kabeln vor dem Einsturz bewahrt zu werden. Besagte Kabel bildeten ein riesiges Spinnennetz, das sich über den Fußboden, die Wände hinauf und sogar die Decke entlang zog. Dazwischen befanden sich mehrere echte Spinnennetze, deren Bewohner auf der Jagd nach faustgroßen Asseln munter über die Kabel krabbelten.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, brachte Alexis fassungslos hervor.

Polyphylla murmelte nur etwas, während sie unter einem Tisch verschwand und einen Schalter geräuschvoll umlegte. Mehrere Röhrenbildschirme flackerten auf.

»So, das hätten wir. Setzen Sie sich«, sagte die Untote und schob einen Kabelstrang von einem zweiten Stuhl herunter. Lose Kabelenden klackerten auf den Boden.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Alexis auf dieses Panorama all ihrer schlimmsten Alpträume. Als auch noch ein Tropfen eiskalten Wassers auf ihrem Kopf landete, machte sie, ohne weiter nachzudenken, auf dem Absatz kehrt. Nichts wie weg von hier.

Sie rannte, den Zimtschneckenteller an sich gepresst, aus dem Raum direkt in eine schwarz vermummte Gestalt. Der Zusammenstoß erzeugte ein Geräusch, als hätte jemand ein Xylophon fallen lassen.

»’tschuldigung«, keuchte Alexis.

Die Gestalt lehnte eine Sense an die knochige Schulter und rückte die schwarze Kapuze zurecht. »Nicht der Rede wert«, antwortete sie, jedes Wort von der Qualität eines Grabsteins.

Alexis starrte zu einem Schädel auf, der sie aus leeren Augenhöhlen anblickte.

»Darf ich?«, fragte die Gestalt und deutete mit einer knochigen Hand auf den Teller Zimtschnecken. Sie schaffte ein fahriges Nicken. Die Gestalt griff nach einer Zimtschnecke und biss hinein.

»Zum Sterben gut«, sagte sie, wandte sich um und ging klackernd den Gang hinunter, eine Spur Krümel hinter sich lassend.

Alexis sah der Gestalt nach. »Das … das war der …«, stammelte sie und deutete auf den nun leeren Gang.

»Ja, war er. Netter Typ«, rief Polyphylla aus dem Serverraum. »Kommen Sie jetzt?«

Doch Alexis dachte gar nicht daran, in diesen Raum zurückzukehren. Sie wollte nur weg von diesem Ort, an dem anthropomorphe Personifizierungen einem die Zimtschnecken wegaßen und ein Serverraum auf sie wartete, den sich nur irgendein krankes Hirn ausgedacht haben konnte; als Strafe für alle Verfehlungen, die sie und mindestens acht Generationen ihrer Ahnen begangen hatten.

Polyphylla erschien in der Tür. »Worauf warten Sie denn?«, fragte sie und sah Alexis erwartungsvoll an. Diese starrte nur zurück.

»Da gehe ich nicht wieder rein. Nur über meine Leiche.«

Polyphylla linste den Gang hinunter, der Krümelspur hinterher. »Wenn Sie schnell sind, können Sie ihn noch erwischen.«

Der Teller in Alexis Händen zitterte so sehr, dass die Zimtschnecken einen wilden Cha-Cha-Cha vollführten. Polyphylla kam näher, doch Alexis wich zurück, bis die Wand ihren Rückzug stoppte.

»Nicht gut!«, sagte die Un-tote und strich sich hektisch das Haar aus der Stirn. »Wenn man es nur mit Göttern und Seelen zu tun hat, verlernt man den Umgang mit den Lebenden.« Sie legte ihre Hand auf die von Alexis und stoppte den Zimtschneckentanz. »Ich verstehe, dass Sie Angst haben, aber Sie sind hier sicher«, versuchte die Untote, sie zu beruhigen. Sie scheiterte.

»Ach ja? Das sah der Hund aber anders«, rief Alexis mit sich überschlagender Stimme.

»Hades wird nicht zulassen, dass Ihnen etwas passiert. Er weiß, dass nur Sie dieses Problem beheben können.«

Alexis sah über die Schulter der Untoten in den Serverraum und unterdrückte ein Stöhnen.

»Mit Ihrem Setup da können Sie nicht mal eine Kaffeemaschine ansteuern«, ächzte sie.

»Sie wollen also, dass meine Welt aufhört zu existieren?«

Alexis schnaubte. »Wer braucht schon ein Jenseits nach dem Tod?«

Polyphylla strich sich erneut das Haar aus der tief gefurchten Stirn. »Gerechtigkeit.«, sagte sie plötzlich und fokussierte Alexis.

»Was?«

»Es geht um Gerechtigkeit. Der Tod macht alle gleich, aber nur die Unterwelt kann allen Gerechtigkeit verschaffen. Können Sie dasselbe von der Welt oben behaupten? Ich denke nicht.«

Alexis dachte an all die Opportunisten dort oben, an die Kollegen, die sich auf Kosten anderer in Firmenschlupflöchern versteckten.

»Gerechtigkeit also?«

»Ja. Und die Tatsache, dass Sie das nicht überleben, wenn wir scheitern, weil niemand da sein wird, um Sie auf die Erde zu bringen«, setzte Polyphylla schnell nach.

»WAS?!«

Die Zimtschnecken machten einen Hüpfer. Als sie wieder sicher gelandet waren, trat Alexis in die Tür und ließ ihren Blick durch den Serverraum der Unterwelt schweifen.

»Es geht also um Leben und Tod«, seufzte Alexis.

»Korrekt.«

»Unsere Erfolgschancen stehen gleich null.«

»Genau.«

»Falls wir das tatsächlich richten, wird uns niemand danken?«

»Höchst wahrscheinlich.«

»Warum kommt mir das nur so bekannt vor?«, murmele sie und biss in eine Zimtschnecke.

12:00

Ein Witwer flüchtete aus seiner Küche, da ihn sein Kühlschrank mit Eiern bewarf.

Alexis fluchte. Nach einer geschlagenen Stunde, in der Polyphylla ihr den groben Aufbau des Systems erklärt hatte, war sie sich sicher, dass es wohl doch besser wäre, wenn sie alle einfach aufhörten zu existieren.

»Darf ich kurz zusammenfassen: Ihr Backup ist hier, auf dem Bandlaufwerk dort hinten und auf der Diskette, die Sie unter dem Tisch gefunden haben. Einer ihrer Rechner ist ein 386er, Sie haben eine Excel-Tabelle für alle Seelen der Unterwelt und Sie wundern sich, dass ein Sicherheitsupdate nicht sauber läuft?«

Polyphylla hob abwehrend die Hände. »Das ist das Beste, was ich mit meinem mickrigen Budget tun konnte. Sie haben Hades doch vorhin gehört. ›Früher war alles besser, als die Menschen noch richtige Münzen unter der Zunge hatten.‹«

Alexis musste ob der Nachahmung laut loslachen. Plötzlich begann der ganze Raum zu beben. Sie sprang vom Stuhl auf. Schon wieder ein Erdbeben?

Die restlichen Zimtschnecken hoppelten samt Teller Richtung Tischrand und die Spinnen verzogen sich in ihre Netze. Einige der wagemutiger gestapelten Festplattentürme schwankten bedrohlich hin und her. Die Untote blieb jedoch erstaunlich ruhig, als sie einen der Türme abstützte.

»DAS HABE ICH GEHÖRT«, hallte Hades Stimme in ihren Köpfen wider.

Polyphylla verdreht die Augen.

»Du kannst nicht behaupten, dass ich Unrecht habe, Chef!«, rief Polyphylla. Das Beben ebbte ab. »Sie können sich ruhig wieder setzen. Das tut er manchmal.«

Alexis setzte sich und sah die Untote von der Seite an. Ob der Gott wohl alles hören konnte, was sie sagten? Ob er wusste, was sie dachte? Diese Option schloss Alexis aus. Wenn es so wäre, hätte er sie schon längst in einen Wurm oder irgendeine Pflanze verwandelt.

Sie strich sich das Haar aus der Stirn und sah wieder auf die flimmernden Röhrenbildschirme.

»Haben Sie irgendeine Art von Dokumentation hier?«, fragte Alexis und versuchte sich wieder auf das Problem zu konzentrieren und nicht auf die Frage, welche Götter ihr wohl noch den ganzen Tag so zuhörten.

»Wollen Sie jetzt wirklich irgend so einen Film über afrikanische Großkatzen oder den Zweiten Weltkrieg anschauen? In 11½ Stunden hört meine Welt auf zu existieren. Und Sie auch«, sagte Polyphylla und scheuchte eine Assel von der Tastatur.

Nun war es an Alexis, abwehrend die Hände zu heben. »Nein, ich meine ein Dokument, in dem Sie notiert haben, welche Einstellungen Sie auf dem System vorgenommen haben«, erklärte sie.

»Ach, meine Aufzeichnungen? Damit kann ich dienen«, entgegnete die Untote sichtlich erfreut. Sie stand auf und hob einen Server von einem der Türme herunter. Den Server in der Rechten zog sie mit Links einen zum Bersten gefüllten Aktendeckel zwischen zwei Türmen hervor und setze flink den Server an dessen Platz zurück. »Das ist eine tragende Akte«, sagte Polyphylla verschmitzt, während sie den Server zwischen den Türmen mit etwas anderem festklemmte. Alexis konnte nur fasziniert zusehen.

Nachdem Polyphylla sich davon überzeugt hatte, dass nichts mehr in Einsturzgefahr schwebte, ließ sie den Aktendeckel geräuschvoll auf den Tisch fallen. Die Zimtschnecken auf dem Teller machten einen kleinen Hüpfer.

»Bitte.«

Alexis hatte keine Ahnung, was das sollte, aber da die Untote sie erwartungsvoll ansah, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als den Deckel zu öffnen. Sie nahm die oberste Seite und betrachtete sie. Notizen in einer winzigen, aber sehr akkuraten Schrift bedeckten das gesamte Papier. Ein verzweifeltes Lachen entfuhr ihr.

»Sagen Sie mir bitte, dass das ein Scherz ist und nicht eine handschriftliche Dokumentation Ihrer Arbeitsschritte«, murmelte sie und kniff die Augen zusammen, da das mit den Ohren ja leider nicht möglich war. Sie wollte die Antwort nicht hören.

»Ich brauche den gesamten Speicherplatz für das laufende System und die Datensicherung. Ich weiß selbst, dass alles etwas zusammengestückelt ist.«

An dieser Stelle prustete Alexis los.

»Ja gut, sehr zusammengestückelt, aber diese Auflistung ist fehlerfrei. Das kann ich«, sagte Polyphylla und verschränkte die Arme, was als Reaktion auf Kritik nicht ganz so beeindruckend war wie das Erdbeben ihres Chefs.

Mit einem tiefen Seufzer ergriff Alexis eine Zimtschnecke und begann, die Notizen zu entziffern. Nach ein paar Zeilen hob sie die Brauen.

»Daf ift überraffend gut«, schmatzte sie und sah erstaunt auf.

»Hab ich doch gesagt«, entgegnete die Untote und zupfte sich zufrieden eine Spinne von der Schulter.

Alexis überflog die ebenso dicht beschriebene Rückseite. Sie bezweifelte immer noch, dass sie in den nächsten elf Stunden den Grund des Fehlers finden würden, geschweige denn eine Lösung. Mittlerweile hatte sich aber auch der Teil ihres Verstandes gemeldet, der lautstark die Meinung vertrat, dass es für sie noch nicht an der Zeit war zu sterben. Immerhin hatte die Untote alle Änderungen, die sie vorgenommen hatte, fein säuberlich vermerkt. Wenn die Dokumentation, wie sie behauptete, vollständig war, hatten sie zumindest den Hauch einer Chance.

»Also gut, dann beginnt jetzt die große Suche«, sagte sie und nahm sich die nächste Seite vor.

15:00

Auf dem Notizblock einer 80-Jährigen erschienen die Worte:

Dein Kartoffelsalat war das beste Essen der Welt.

Ich liebe dich.

Dein Hans.

Die 80-jährig ließ den Block vor Schrecken fallen und erlitt einen Herzinfarkt.

Im Serverraum der Unterwelt krabbelte eine Spinne über eines der Kabel unter der Decke. Es wurde wieder einmal Zeit, sich ihr Reich zu besehen. Die Tempel, welche die Menschen für sie und ihresgleichen erbaut hatten, brummten und bliesen warme Luft hinauf zu ihr. Eine neue Generation Asseln war geschlüpft und erkundete den Boden. Die Spinne ließ sich an einem Faden hinunter in den Raum und sah, dass es gut war. Sie entdeckte die beiden Menschenfrauen, die angestrengt in riesige quadratische Lampen starrten und rhythmisch die Tasten ihrer Musikinstrumente (denn nichts anderes konnten diese flachen Tastenbretter sein) bespielten. Offenbar hatten die beiden sich ein neues Loblied der Arachniden ausgedacht. Zweifelsohne der Grund, warum sie hochkonzentriert aussahen.

»Dokumentation.«

»Da drüben, Seite 4.«

»Probieren wir mal das.«

»Verdammt, das ist es nicht!«

So sangen die Menschenfrauen und dann immer wieder den Refrain:

»Das macht doch keinen Sinn!«

»Das macht doch keinen Sinn!«

Zufrieden zog sich die Spinne wieder an ihrem Faden hinauf. Alles war in bester Ordnung. Das Reich der Spinnen blickte einer glorreichen Zukunft voller Asseln und enthusiastischer Gläubiger entgegen. Niemals würde dieses große Reich untergehen, davon war die Spinne überzeugt.

16:45

Die Nachmittagssonne schien in eine elegant eingerichtete Privatbibliothek, in der wie von Geisterhand Bücher aus den Regalen kippten. Aus einem fiel zufällig das lang gesuchte geheime Testament des kürzlich verstorbenen Familienoberhauptes.

Alexis drückte die Entertaste. Überall auf der Welt standen Menschen kurz still und begannen dann, manisch zu lachen, sich die Haare auszureißen oder sich die Kleider vom Leib zu reißen, manchmal auch alles gleichzeitig. Sie wussten nicht, warum sie das gerade taten. Der Wahnsinn war ohne Vorwarnung über sie gekommen.

Tief unter ihnen hatte Polyphylla den Hörer eines Wählscheibentelefons zwischen Schulter und Ohr geklemmt, während sie hektisch auf der Tastatur tippte.

»Es tut mir ja wirklich leid, Alecto. Wir wollten nur die Verbindung testen …

Nein, natürlich nicht …

Ja, ich weiß, dass das nicht mein Gebiet ist …

Ja …

Jetzt sollte alles wieder ganz normal funktionieren …

Ja, entschuldige vielmals.« Mit einem Seufzer legte sie den Hörer auf.

Oben auf der Welt fragten sich die Menschen, warum einige von ihnen plötzlich nackt waren.

»Die Erinnyen grüßen schön und lassen ausrichten, sie würden Sie mit Wahnsinn schlagen, wenn wir sowas nochmal machen«, sagte Polyphylla und spähte zu Alexis, die gerade die vorletzte Zimtschnecke gegessen hatte.

»Klingt verlockend«, schmatzte Alexis.

21:15

In einem Haus mit Garten bewegten sich die Tasten eines Klaviers. Die Melodie von Tetris erklang.

Alexis rieb sich die geröteten Augen. Sie hatten alles versucht. Das System selbst, so chaotisch es auch aufgesetzt war, lief. Trotzdem konnte niemand herein, und sie hatte absolut keine Ideen mehr warum. Sie sah einer Assel zu, die einen der Monitore erklomm. Plötzlich kam ihr eine Idee.

»Waren bei dem Schreiben Veröffentlichungshinweise dabei?«, fragte sie.

Polyphylla kratzte sich am Kopf.

»Der Chef hat mir nur das Schreiben gegeben, das Sie gesehen haben. Ich habe allerdings den Umschlag nicht gesehen. Den wird er in seinem – oh nein …«, ihre Augen weiten sich.

Alexis schaute sie fragend an.

»Sie werden gleich verstehen, was ich meine. Kommen Sie, wir müssen in Hades’ Büro!« Ihre letzten Worte klangen, als würden sie sich gleich auf eine Expedition zum Kilimandscharo machen.

Fünf Minuten später verstand Alexis Polyphyllas Tonfall. Sie standen in einem Raum, der eher an eine Recyclingstation als an ein Büro erinnerte. Der Boden war übersät von leeren Briefumschlägen und zusammengeknüllten Zetteln. Ungeöffnete Briefe stapelten sich auf dem Schreibtisch, zusammen mit anderer Korrespondenz, zu sedimentartigen Schichten, aus denen volle sowie leere Kelche wie kleine Bäume ragten. Der Totengott selbst saß in einem hohen Mahagonisessel und las in einer Schriftrolle. Als die beiden Frauen sich bis zu seinem Schreibtisch durchgeschlagen hatten, hob er eine Braue.

»Solltet ihr nicht in eurer Maschinenkammer sein?«

»Wo ist der Umschlag, in dem der Brief war, Chef?«, fragte Polyphylla ohne Umschweife.

»Wieso sollte ich den aufbewahren?«, entgegnete der Gott. Die untote IT-lerin ließ sich davon nicht Bange machen.

»Wir müssen wissen, ob außer dem Schreiben noch ein Zettel in dem Umschlag war. Wir haben sonst alles getestet.«

Der Gott lehnte sich in seinem Sessel zurück und entwurzelte einen der Kelche. »Da war nur noch irgendein Werbezettel drin. Belanglos«, sagte er und nippte schuldbewusst an dem Kelch.

Polyphyllas Augen weiteten sich. »Chef, wo ist der Umschlag? Wir brauchen diesen Zettel.«

Hades breitete gönnerhaft die Arme aus. »Es steht euch frei, ihn zu suchen. Das Altpapier wird erst nächstes Jahr abgeholt.«

Nun war es Alexis, die nicht mehr an sich halten konnte.

»Sie verlangen ernsthaft, dass wir Ihren Müll durchwühlen, nur weil Sie zu unordentlich sind und anscheinend zu blöd …«

Weiter kam sie nicht. Zwar bewegte Alexis die Lippen, doch kein Laut wollte sich von ihnen lösen.

»Was? Ich kann Sie gar nicht verstehen«, sagte Hades und beugte sich zu ihr vor, eine Hand am Ohr.

»Jetzt hör schon auf damit, Chef!«, schaltete sich Polyphylla ein. Hades ließ seine Hand sinken.

»…eiß alleine machen!«, beendete Alexis ihre Tirade. Hasserfüllt starrte sie den Gott an.

»Der Umschlag ist noch hier. Ihr habt ihn sicher gleich gefunden«, sagte er, stand auf und begab sich zur Tür. »Aber beeilt euch.« Seine letzten Worte klangen bedrohlich.

Sobald der Gott das Büro verlassen hatte, explodierte Alexis förmlich. »Was bildet der sich eigentlich ein, dieser arrogante Schn…«

Weiter kam sie nicht, da Polyphylla ihre Hand auf ihren Mund legte.

»Hades ist eben ein Gott. Er kann nicht verstehen, dass etwas wichtiger sein könnte als … nun, als er. Beruhigen Sie sich lieber und helfen Sie mir«, sagte Polyphylla und wandte sich dem Schreibtisch zu. »Sie übernehmen den Papierkorb und den Boden. Ich fange hier oben an.«

Anderthalb Stunden später richtete sich Alexis mit einem Jubelschrei auf und strich einen zerknitterten Umschlag glatt. Sie öffnete ihn mit zitternden Händen: Darin befand sich tatsächlich noch ein zweiter Zettel.

23:00

Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg in den nächsten Club konnte nichts dagegen tun. Irgendetwas bewegte ihre Arme und Beine ohne ihr Zutun. Sie waren tanzende Zombies, denn es war die Thriller-Nacht.

Alexis las den Zettel mit grimmiger Genugtuung.

»Ich weiß, was Ihr Problem ist. Kommen Sie mit«, sagt sie und eilte zielsicher zurück zum Serverraum.

»Können Sie ein bisschen deutlicher werden?«, rief Polyphylla und folgte ihr mit wehender Toga.

»Haben Sie schon mal von Sicherheitszertifikaten gehört?«

Polyphylla schüttelte im Laufen den Kopf.

»Stellen Sie sich das wie einen Personalausweis vor, der anderen Systemen garantiert, dass Sie auch wirklich die sind, die Sie behaupten zu sein. Wenn Sie kein gültiges Zertifikat haben, verweigert Ihnen das System, mit dem Sie sprechen wollen, den Zugang, so wie die Banksoftware. Deshalb funktioniert Ihr Bezahlvorgang nicht mehr.«

»Aber warum funktionieren dann die anderen Dienste noch?«, keuchte sie.

Alexis hielt ihr den Zettel aus Hades’ Büro unter die Nase. »Lesen Sie.«

Polyphylla blieb stehen und überflog das Schreiben.

»Wenn ich könnte, würde ich ihn jetzt umbringen!«, knurrte sie und zerknüllte das Papier. Ein Grollen hob an, aber Polyphylla drehte sich zurück in Richtung des Büros. »Und untersteh dich, jetzt einen Wutanfall zu bekommen, Chef. Deinetwegen sind wir erst in dieses Schlamassel geraten!«, rief sie wütend, bevor sie sich umwandte und mit Alexis im Serverraum verschwand.

Zurück an den Rechnern schob Alexis die Ärmel hoch.

»Sie sollten jetzt gut mitschreiben«, sagte sie und fing an zu tippen und gleichzeitig zu erklären.

Nach ein paar Minuten war sie fertig.

»Moment, das war alles?«, fragte die Untote schockiert.

»Sie haben jetzt 90 Tage Zeit, sich ein gültiges Zertifikat zu besorgen, sonst müssen sie selbst ein neues erstellen, wie ich das gerade gemacht habe. Schreiben Sie das auf. Zertifikat besorgen.«

Mit einem Klick startete Alexis das Programm neu und schaute gebannt in die Konsole.

Home/set/Obulospal/payaction/ready

»Sieht alles gut aus, soweit ich das beurteilen kann«, sagte sie, nahm die letzte Zimtschnecke vom Teller und riss sie in zwei Teile.

Polyphylla nahm den Hörer vom Telefon und wählte eine Nummer. Das Gespräch war kurz.

»Es geht!«, sagte sie, legte breit grinsend auf und nahm die dargebotene Zimtschneckenhälfte.

Zufrieden kauend sank Alexis in ihren Stuhl. Sie würde wieder nach Hause kommen.

Schlussendlich dauerte es aber noch bis zum Morgengrauen. Polyphylla, glücklich endlich jemanden zur Hand zu haben, der sich tatsächlich auskannte, wollte sie nicht gehen lassen und hatte Fragen über Fragen. Hades stand geschlagene zwei Stunden an der Brüstung und sah den Seelenschatten dabei zu, wie sie in seine Unterwelt eingingen. Irgendwann war jedoch auch er zufrieden und wandte sich Alexis zu.

»Komm«, sagte er nur.

Polyphylla war noch mittendrin, sich unter vielen Dankesbezeugungen zu verabschieden, da wurde die Unterwelt unscharf.

Als die Farben und das Rauschen verschwunden waren, fand sich Alexis auf der Straße wieder, in der ihr Büro lag. Das Gebäude war nur wenige hundert Meter entfernt. Sie klammerte sich an den leeren Teller und sah zu Hades hinüber. Der Gott wirkte so – nun ja, eben so fehl am Platz wie ein Gott auf einem Bürgersteig. Sie beschloss, nicht darüber nachzudenken, warum sich keiner der Passanten wunderte, was ein zwei Meter großer, Toga tragender, bleicher Mann mit Krone hier wollte. Bestimmt gab es auch dafür eine göttliche Erklärung. Ein paar Augenblicke standen beide da und sahen den nichts ahnenden Menschen zu. Schließlich brach Alexis das Schweigen.

»Dann heißt es jetzt: Lebe Wohl?«

Hades sah zu ihr hinunter und Alexis kam sich mit einem Mal sehr vergänglich vor.

»Nur Menschen leben wohl. Götter sind«, sagte er.

Sie nickte.

»Werden wir uns wiedersehen?«, setzte sie nach und fand das einen gelungenen Euphemismus für ›Werden Sie mal wieder vorbeischauen und mich in eine alptraumhafte Totenwelt entführen?‹

Hades sah sie nicht an. Seine Augen verfolgten einen Mann, der beim Gehen auf sein Smartphone starrte.

»Polyphylla erwähnte unlängst etwas von Datenanalyse und Mikro…«, er stockte.

»Sie meinen Mikrotargeting?«, fragte Alexis.

Hades nickte, den Blick noch immer auf den Passanten gerichtet.

»Es wäre …« Hades machte eine Pause, als müsse er nach dem passenden Wort suchen. »Befriedigend, wieder ein paar echte Gläubige und nicht nur Atheisten und Hohlköpfe abzubekommen.«

»Und was ist mit: ›Ich will wieder zu den guten alten Zeiten zurück, als die Menschen noch Münzen unter der Zunge hatten‹?«, fragte Alexis, ihre Nachahmung der göttlichen Stimme nur wenig schlechter als die Polyphyllas.

Hades sah zu ihr hinunter.

Alexis schluckte.

»’tschuldigung«

»Meine Geschwister sind ihren elterlichen Aufgaben gegenüber unseren Schöpfungen äußerst unzureichend nachgekommen. Vielleicht ist es an der Zeit, diese Pflichten wieder gewissenhafter zu erfüllen«, sagte er und sah sie erwartungsvoll an.

»Ich soll Ihnen helfen, nichtsahnende Menschen mit personalisierter Werbung dazu zu bringen an einen Gott zu glauben, der mir die Stimme geraubt hat, dessen Haustier mich fast gefressen hätte und der nicht mal W-LAN in seiner Unterwelt hat? Nur über meine Leiche«, sagte sie und hob abwehrend den Teller.

»Das lässt sich einrichten.«

Alexis schluckte erneut.

»Wie wäre es als … wie sagt man? Freie Mitarbeiterin?«

Der Gott sah sie mit gehobener Braue an.

»Akzeptiert. Aber nur, wenn Sie Ihr Budget aufstocken und in bessere Telefone investieren. Und keine Erdbeben mehr! Und ausschließlich über Fernwartung. Einmal Unterwelt vor dem Tod war völlig ausreichend«, erwiderte sie.

Hades nickte zufrieden. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher auf das Bürogebäude zu.

»Und was tun Sie jetzt?«, fragte Alexis schließlich.

Hades schaute zu ihr hinab.

»Ich bin der Herrscher der Toten. Ich herrsche«, sagte er.

Mit großen Augen sah Alexis zu, wie Hades sich der Stadt zuwandte und den Arm hob. Grollend öffnete sich ein Spalt im Asphalt. Als das Grollen verstummte, vernahm Alexis ein Rauschen wie von hunderten Vögeln. Aus allen Richtungen kamen Seelenschatten herangeschwebt und sanken in den Spalt. Als schließlich alle verschwunden waren, drehte Hades sich noch einmal zu ihr um.

»Lebe wohl Mensch. Wenn wir uns wiedersehen, hast du keine Gelegenheit mehr dazu.« Mit diesen Worten wandte der Gott der Unterwelt sich ab und stieg hinab in sein Reich.

Marina Clemmensen

Neulich stürmte eine junge Frau, zerzaust und abgöttisch erzürnt, in den Olymp und verlangte von der Muse Kalliope, ihr ureigenes Faible für Rhetorik zu nutzen. Denn das schreiende Unrecht, das ihr angetan worden sei, gehöre gefälligst in die Welt getragen! Kalliope, die es außerdem mit Wissenschaft (»Wir sind hier nicht bei Morpheus, sondern bei so isses!«) und Philosophie (»Interessant, wie diese Menschen ticken.«) hat, fand, dass eine epische Dichtung, verteilt über Dutzende Bände, dann doch zu viel des Guten sei. Wer wäre sie denn auch, hätte sie die Chance verstreichen lassen, ihre kleine Schwester mit einer spaßigen (sicherlich eine Frage der Perspektive, zugegeben) Erzählung ordentlich durch den Kakao zu ziehen?

Feurio

»Warum bin ich doch gleich mitgekommen?« Ich schaute zu dem jungen Mann herüber, der neben mir im geparkten Wagen saß. Seine Züge waren unübersehbar mittelamerikanisch. Die löchrigen Ohrläppchen hingen schrumpelig neben seinem Kiefer, als seien sie ausgeleiert worden. Hinweise darauf, dass er in dieser Gegend ein Exot war. Seine Antwort ließ daran keinerlei Zweifel mehr: »Du bist meine Verbindung zur menschlichen Welt, Maren. Du weißt schon – falls ich mich danebenbenehme und irgendwer erklären muss, dass ich es gar nicht so böse gemeint habe.«

Ich sah mich um. »Hier sind aber keine Menschen.«

Xiuhtecuhtli (ich hatte mir längst angewöhnt, seinen zungenbrecherischen Namen mit Xiuht abzukürzen) neigte den Kopf auf die Seite, als würde er nachdenken. »Außerdem bewahrst du mich davor, wie der letzte Idiot dazustehen. Kommt komisch, wenn ich mit mir selber rede. Sprechen hilft dabei, meine Gedanken zu sortieren.«

»Also ehrlich jetzt. Ich könnte die Sportschau gucken.«

»Du hasst Sport.«

»Richtig. Aber es wäre eine willkommene Ausrede, um auf meiner Couch zu lümmeln.«

Er sah an mir herab. »Dazu hast du offensichtlich ausreichend Zeit. Hör auf zu jammern. Das wird super!«

Seinen Enthusiasmus in allen Ehren. Aber immer wenn er so drauf war, watete ich früher oder später bis zu den Knien in Dreck, Blut, Fäkalien oder Schleim. Oder Asche – beunruhigend häufig in Asche.

»Ich hätte dich nie ansprechen sollen«, murrte ich.

»Ich bin einfach dein Typ.« Xiuhtecuhtli warf mir einen koketten Blick zu.

»Quatsch! Ich brauchte Feuer, gottverdammt!« Ich hielt inne. Fuck!

Tiefe Täler gruben sich in seine Haut, ließen sie um Jahrzehnte altern. Seine wohlgeformten Wangen sackten in sich zusammen. Das volle, schwarze Haar bleichte aus, es schien, als würde sein Schädel dreiviertel der Strähnen auffressen. Seine Augen glühten auf, loderten geradezu.

Ich drückte auf einen Knopf. Die Fenster fuhren herunter, ließen kalte Luft herein.

Funken stoben um Xiuhtecuhtlis – nein, jetzt Huehueteotls – Kopf herum, sein Mund öffnete und das Kinn senkte sich. Viel weiter, als es hätte möglich sein dürfen. Eine Flammenkugel schoss aus dem, nun gigantischen und zahnlosen, Maul heraus – und verpuffte in der Nacht.

»Keine Flüche«, seufzte ich. »Stehst du nicht drauf.«

»Den hättest du dir verkniffen, wäre es dir nicht peinlich, zuzugeben, dass ich dein Typ bin.«

»War«, korrigierte ich. »Das war, bevor du die Hosen runtergelassen hast. Du hättest mir ruhig vorher sagen können, dass …«

»Wer’s glaubt«, schmunzelte Huehueteotl (und ja, natürlich kürze ich auch diesen Namen ab. Mir liegt etwas an meiner Zunge). Teos Haare wuchsen, die Wangen wurden voller, die unzähligen Runzeln verschwanden in dem Maße, wie er an Gewicht zunahm.

»Du musst das in den Griff kriegen, ehrlich«, forderte ich.

Xiuhtecuhtli wirkte verdutzt. »Was meinst du?«

»Deine Feuerbälle.« Als das nichts an seinem Gesichtsausdruck änderte, deutete ich an ihm vorbei in die Nacht. Neben uns stand ein verschmorter und noch immer qualmender Baumstumpf, der bis vorhin zu einer vielversprechenden jungen Linde gehört hatte. »Das da ist das Ergebnis deiner verqueren Moralvorstellungen.«

Er beäugte mich. »Du bist unversehrt.«

»Du warst so nett, das Fenster zu benutzen.«

Verlegen verschränkte er seine Arme ineinander.

»Also? Wir hier? Warum?«, bohrte ich.

Xiuht deutete nach vorn. Eine Allee (jetzt um einen Baum ärmer) schlängelte sich einen kleinen Hügel hinauf, an deren Ende eine Villa stand, die sich – von Scheinwerfern beleuchtet – grellweiß gegen den düsteren Himmel abhob.

Er stieg aus dem Wagen aus, schlug die Tür zu und beugte sich durch das noch immer geöffnete Fenster. »Komm schon«, forderte er grinsend. »Wird eine Überraschung.«

»Wie schön.« Ich ließ die Fensterscheibe hochfahren.

Er wich zurück, was jedoch nichts an seinem Grinsen änderte.

Seufzend stieg auch ich aus, klappte den Sitz nach vorn und griff nach meinem Mantel, den ich auf die Rückbank geworfen hatte.

Xiuhtecuhtli hob seinen Kopf, sodass er über dem Dach zu schweben schien und verzog das Gesicht. »Unpraktisch. Könntest du mit hängenbleiben und dich auf die Nase legen. Dann muss ich dich retten und alles versinkt im Chaos. Wie beim letzten Mal.« Er schmunzelte.

»Wird also diese Art von Überraschung, ja? Eine der Sorte, die mich dazu zwingt, mir eine neue Garderobe zuzulegen?«

»Eigentlich nicht«, beeilte er sich zu sagen. »Aber warum diesen Anblick verbergen?« Er deutete auf meine zu knapp sitzenden und an den Hosentaschen ausgebeulten Jeans, das Shirt und die Stiefel. »Neues Deo? Du duftest angenehm nach Vanille.« Plumper Versuch einer Anmache.

»Du bist verheiratet. Was du damals übrigens ebenfalls sofort hättest erwähnen können.«

»Ist doch nichts passiert.«

»Weil du verschrumpelt bist wie eine Dörrpflaume, ehe es so weit war.«

»Sie hat nichts dagegen. Offene Beziehung. Nach fünfhundert Jahren Ehe fehlt der Kick.«

Ich runzelte die Stirn. »Spätzünder, was? Was hast du die ersten zweitausend getan?«

»Unterschiedliche Alter, du erinnerst dich?« Xiuht hob beide Hände mit den Flächen nach oben. »Unterschiedliche Herkunft und so. Olmeken und Azteken. Wir verschmolzen, weil deine Spezies das wohl witzig fand, was weiß ich.«

»Lass stecken. Ich habs falsch abgespeichert, das mit deinem Alter. Sorry.«

»Weil du dich nicht für mich interessierst.«

»Schmollst du?«, zog ich ihn auf, konterte: »Was weißt du denn über mich?«

»Du bist zu dick.«

»Relevantes, meine ich.«

»Das ist relevant. Wie sollst du mit mir mithalten, wenn du andauernd mit Röcheln beschäftigt bist?«

»Ich dachte, du kümmerst dich um die Verhungernden?«, fauchte ich.

»Dann bist du nicht meine Baustelle«, gab er zurück.

Ich zog die Wagentür auf und warf den Mantel hinein.

Xiuhtecuhtli seufzte. »Schon gut, schon gut. Ich wollte dich einladen. Nicht mit dir zanken.«

Innehaltend hob ich die Brauen.

»Heute ist die ›lange Nacht der Museen‹, falls dir das entgangen sein sollte.«

»Du verarscht mich. Du willst mit mir in ein Museum?« Fast hätte ich gelacht. Andererseits war ich gerührt. »Hier? Mitten in der Pampa?«

Er zuckte die Schultern. »Wenn du willst, gucken wir uns Industriekultur an. Aber du wohnst quasi in einer. Da dachte ich …« Er ließ den Satz ausfasern und somit offen, was er dachte.

»Wenn das so ist.« Ich schlug die Wagentür zu und hakte mich bei ihm unter.

Wir schlenderten die Allee hinauf. Bald schon konnte ich ein Banner über dem säulenbewehrten Eingang erkennen. »Privatsammlung?«

»Toll, dass du lesen kannst«, lobte er, wahrscheinlich aufrichtig.

Es ärgerte mich trotzdem: »Du solltest wirklich an deinen Manieren arbeiten.«

»Dafür habe ich ja dich. Haben wir letzte Woche drüber geredet.«

»Gestritten. Vor zwei Wochen. Eigne dir endlich unseren Kalender an!«

»Meiner hat Gewohnheitsrecht.«

»Ich diskutiere jetzt nicht mit dir darüber, ob der Gregorianische älter ist als der deine.« Ich zeigte auf das Banner: »Bist du das?«

»Nicht mal nahe dran. Das ist Mayakunst.«