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Der erhaltene Hinweis zum ehemaligen Fliegerhorst in Eschborn lässt Eva keine Ruhe. Ihre Recherchen führen nicht nur zu den ortsansässigen Rockern des Lakota MC´s, sondern auch in eine erschreckende Vergangenheit. Ihr Freund, der Journalist Moritz Dressler setzt alles daran, Eva auf dem gefährlichen Weg zu begleiten und ihre Hand nicht zu verlieren. Kann sie dem Strudel aus Manipulation um Drogen und Gold entkommen?
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Seitenzahl: 645
Veröffentlichungsjahr: 2020
Ein dickes Dankeschön an meine Familie für die großartige Unterstützung, den unermüdlichen Kaffeenachschub und die Geduld fürs Probe-Lesen.
Zudem meiner lieben Freundin Silvia mein Dank ich für die unabhängige Meinung und an Alle, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
E.D.M. Völkel
Gottes Feuer
© 2020 E.D.M. Völkel
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-06959-6
Hardcover:
978-3-347-06960-2
e-Book:
978-3-347-06961-9
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Gottes Feuer
April 2017
Die Beständigkeit dieser abgelegenen und doch so nahen Nepomukquelle im Wald wirkten, beruhigend und ausgleichend auf die harten und grausamen Erlebnisse der vergangenen sechs Monate. Eva stieg aus ihrem grünen, leicht verbeulten, siebzehn Jahre alten Kleinwagen, den sie liebevoll Frosch nannte und sah sich um. ›Keine Wasserholer‹, dachte sie und lief kurzentschlossen mit langsam leichtem Schritt den Pionierweg bergauf, in Richtung Naturfreundehaus. ›Ob es jetzt geöffnet hat oder soll ich doch lieber ein anderes Mal dort einkehren? Ein heißer Äppler schwemmt so manches Ungemach fort.‹ Sie folgte dem Weg ein Stück und sah über den Billtalwasserfall in die Ferne. ›Nein, heute werde ich nur das Wasser holen.‹ Eva kehrte zu ihrem Auto zurück. Dort angekommen öffnete sie die Beifahrertür und trank den letzten Schluck Tee aus der mitgebrachten Thermoskanne.
Die bernsteinfarbene Flüssigkeit füllte ihren Magen und breitete sich wie Sonnenschein in ihrem Körper aus. Der noch kalte Wind hatte ihre langen, kastanienfarbenen Haare wild zerzaust, ein Lächeln huschte über ihr hübsches, rundes, freundliches Gesicht und die leuchtend blauen Augen strahlten wie Saphire, die das Sonnenlicht widerspiegeln.
So gestärkt öffnete sie den Kofferraum, entnahm ihm 3 große, leere, Wasserkanister und brachte sie zur nahen Quelle. Das Wasser sprudelte eiskalt und glasklar aus dem, mit groben Steinen ummauerten Rohr. Eva füllte geduldig einen Kanister nach dem anderen. Der glucksende immer höher steigende Ton konkurrierte mit dem Vogelgesang aus dem nahen Wald. Penibel drehte sie die Verschlüsse der Behälter zu und belud ihr Auto. Zufrieden schmunzelte sie, ›Das nächste Mal laufe ich zum Naturfreundehaus und vielleicht begleitet mich Moritz schon.‹ Sie lenkte den Frosch zurück nach Königstein, in den Kreisel und die kurvenreiche Strecke durch den Wald Richtung Mammolshain. Rasch erreichte sie Kronberg und fuhr auf die Umgehungsstraße nach Eschborn. Hier hatte sie durch den plötzlichen Tod der Eltern das kleine Haus in der Bergstraße geerbt. Das vertraute Heim, in dem sie den größten Teil ihre Jugend verbracht hatte. Der große Garten mit dem uralten Walnussbaum waren ihr sehr ans Herz gewachsen, fast das ganze Jahr über blühten die unterschiedlichsten Blumenstauden, Sträucher und Bäume. Sie konnte es sich nicht vorstellen, wieder nach Hamburg zurückzukehren, ›Nein, das war undenkbar.‹
Die Entscheidung war ihr relativ leichtgefallen und das kleine monatliche Entgelt aus den Lebensversicherungen reichte zur Renovierung und Umgestaltung ihrer neuen Heimat. Wochenlang hatte sie tapeziert und gestrichen, bis die Räume ihren Ideen entsprachen.
Die an der Quelle gefüllten Wasserbehälter schleppte Eva einen nach dem anderen die immer noch zu schwach beleuchtete Kellertreppe hinunter. Ein Frösteln lief ihr über den Rücken, als die Erinnerung der vergangenen Monate mit den niederträchtigen Anschlägen in ihren Gedanken aufstiegen. Wozu waren einige Personen alles fähig?! Unbegreiflich diese eiskalte Berechnung der geschmiedeten und umgesetzten Pläne, in denen so viele Menschen verletzt und getötet wurden. Eva schüttelte die furchteinflößenden Gedanken ab.
Es wurde allerhöchste Zeit, diese Funselbirne zu ersetzten, spätestens, wenn ihr Freund Moritz aus der Reha kam. Er sollte nicht aus Versehen mit den Krücken die Treppe hinunterstürzen. Das alte schwarze Telefon mit seinem breiten ausladenden Hörer auf der Gabel schrillte durchdringend in der Diele. Unbewusste grinste sie. Wie ihr Vater es geschafft hatte, ein solches Modell für die heutigen technischen Bedingungen zu bekommen, war ihr einerlei, sie liebte dieses alte Monstrum schon seit ihren Kindertagen. Schnell rannte Eva die Stufen hinauf.
»Völkel«, meldete sie sich.«
»Eva, Chris hier. Gehts Dir gut?«
»Hi Chris, ja danke, alles bestens«, der etwas kurz und breit geratene, kahlköpfige Chris war Moritz langjähriger Freund und meldet, sich regelmäßig. Er hatte wirkliches Interesse an ihm und seinen Genesungsfortschritten.
»Was gibt’s Neues von Moritz?«
»Oh weh, er ist die Ungeduld in Person, das Reha Personal tut mir echt leid. Stell Dir vor, jetzt will er von der Stationären auf die Ambulante wechseln.«
»Ich glaub, da ist ein Männergespräch fällig und ich muss ihm mal wieder den Kopf zurechtrücken. Alle Kollegen aus der Redaktion fragen nach ihm und lassen Grüße ausrichten.«
Während Eva mit Chris telefonierte, fischte sie den Briefumschlag aus der Dielenschale und drehte ihn immer wieder in den Händen. Die darin enthaltene Warnung, ›Eva, Sie sind in Sicherheit, meine Aufgabe ist damit erfüllt. Suchen Sie bitte nicht weiter! Ich rate Ihnen dringend davon ab. Das Leben ist zu wertvoll. Wenn Sie eine andere Herausforderung annehmen möchten, recherchieren Sie mal zu dem ›alten Flughafen‹ in Eschborn‹, hatte sich tief und unauslöschbar in ihre Gedanken gebrannt. Eva nahm diese sehr ernst, sie war noch jung und lebte ausgesprochen gerne. Wie urplötzlich manches endete, hatte sie in ihrem Umfeld mehrfach und hautnah erlebt.
»Chris, was ganz anderes, hattest Du Zeit und Gelegenheit Deine Kontakte zu befragen?«, sie zog die von ihrem Schutzengel geschriebene Botschaft aus dem Kuvert und betrachtete diese mit gemischten Gefühlen. Kurz nachdem sie die Information erhielt, hatte Chris ihr die Nachricht von Moritz verhängnisvollem Unfall, den er nur mit Mühe und Not überlebte, persönlich überbracht. Ein Schauer rieselte ihren Rücken hinunter. Die Erinnerungen der tragischen, vergangenen Monate kehrten unaufhaltsam wieder. Unweigerlich dachte Eva an den jungen, schwarzhaarigen Mann, wie er die Autotür öffnete und seinen trainierten, zwei Meter Körper raubkatzengeschmeidig aus dem Innenraum schälte. Wie die pechschwarzen Augen sie belustigt ansahen und sich kleine Lachfältchen auf seinem schmalen Gesicht gebildet hatten. Der unerwartete Beschützer, sein Auftrag galt nur ihrer Person und nicht für ihren Freund. Chris Antwort holte sie in die Gegenwart zurück,
»Jop Eva, ich hab Dir alles in eine Mail gepackt und zugeschickt, es ist ein Sammelsurium, da musst Du Dich mal durchkämpfen. Allerdings ist nichts wirklich neues dabei. Bis auf…lies halt selbst. Du ich muss weiter. Ciao und halt die Ohren steif.«
»Danke Dir, ich richte die Grüße aus, Moritz ruft sicherlich heute Abend wieder an und will das Neuste vom Neuen wissen.« ›Was kann ich ihm erzählen, ohne das er sich gleich aufregt und womöglich noch die Reha abbricht‹, überlegte sie und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Neugierig stieg sie in den ersten Stock hinauf und betrat das kleine Arbeitszimmer ihres Vaters. Hier hatte sie fast nichts verändert, der Geruch erinnerte sie an ihn, seine abgegriffene Lederaktentasche, die er immer unter dem Arm trug, hatte ihren Platz in dem offenen Fach des Aktenschrankes erhalten. Ebenso der wuchtige, massive Schreibtisch mit den deutlich sichtbaren Spuren der Aufbruchsversuche an den Schubladen und Türen, war ihr wichtig, ›Sie haben’s nicht geschafft, ihn zu knacken‹, dachte sie. Chris hatte, dank seiner überragenden Fähigkeiten etwas ausgegraben, grinsend nickte sie, ›Dieser Mann ist unglaublich, der Wahnsinn, es gab nur wenig, was ihm verborgen blieb, zum Glück zwackt er für mich ein klein bisschen von seiner wertvollen Zeit ab.‹ Rasch nahm sie auf dem abgewetzten dunkelbraunen Ledersessel Platz und klappte ihr Laptop auf.
›Was zum Kuckuck ist an einem alten, aus vor dem Zweiten Weltkrieg stammenden Flugplatz, der heute nur noch eine Ruine ist, so bedeutsam?‹ Ihre eigenen Nachforschungen im Internet ergaben verschiedene interessante Faktoren, jedoch auf den ersten Blick nichts Sagenhaftes oder Geheimnisvolles. Wäre da nicht der Artikel vom 15. April 1945 über mindestens einen verschwundenen LKW, der hochvollgeladen den Transport des deutschen Reichsbankgoldes nach Frankfurt ausführte. Aber wie stand dieser mit dem Fliegerhorst in Verbindung? Der Flughafen wurde im August 1944 bei seiner Bombardierung fast vollständig zerstört und ab 30. März 1945 von den Amerikanern sowie Kriegsgefangenen wieder aufgebaut und war bereits am 9. April für Starts und Landungen einsetzbar.
Bis vor Kurzem war ihr der alte Flugplatz interessant aber nicht spannend oder sogar geheimnisvoll vorgekommen. Das hatte sich schlagartig mit den drei Artikeln geändert. Sorgfältig druckte Eva diese aus und heftete sie zu den bisherigen Recherchen. Schnell sah sie auf ihre Uhr, jetzt hieß es sich beeilen, ihren Termin mit dem ehrenamtlichen Stadthistoriker durfte sie nicht verpassen. Geschwind holte sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen und radelte zum Stadtmuseum am Eichenplatz.
Herr Gerhardt, geschätzte 70 Jahre alt, mit vollem weisem Haar und freundlichem, gütigen Gesicht, erwartete sie bereits. Zügig erklärte sie ihr Anliegen und was sie bisher herausgefunden hatte. Gemeinsam schlenderten sie durch die Ausstellung und sahen die schwarzweißen Fotografien von Eisenhower, neben dem eigenen neuen Flugzeug, sowie Eleonore Roosevelt, die Witwe des Präsidenten an.
Herr Gerhardt bestätigte, dass er erst kurz nach Kriegsende geboren wurde, aber von seinem Vater, anhand eines kleinen Büchleins wusste, das es noch viele Kameradschaften und Soldatenverbindungen gab. Umständlich kramte er in dem Verzeichnis, das mehr aus losen Blättern, als gehefteten Seiten bestand. Schon als Bub hatte er fasziniert den Geschichten des Vaters gelauscht und als Heranwachsender angefangen, eine Aufstellung der Ereignisse zu verfassen. Eva schmunzelte, Herr Gerhardt hatte ein ganz ähnliches Ablagesystem wie sie selbst und bot ihre Unterstützung an.
»Junge Frau, können Sie die alte deutsche Schrift „Sütterlin“ lesen?«, und legte ihr sein Inhaltsverzeichnis vor.
»Nein, leider nicht«, gestand sie enttäuscht ein, »Aber, genau das hier ist ein Anlass es zu lernen«, versprach sie. Die Zeit verstrich wie im Flug und als Eva den Heimweg antrat, war sie um viele Informationen, Namen und Wissen reicher.
Die neue Tätigkeit der Recherche war ihr ein und alles. Die Erlebnisse der Vergangenheit hatten Lisas Aussage, zu ihrem ehemaligen Job, »Och wie langweilig«, voll und ganz bestätigt. Lisa, ein weiterer Geist aus dem letzten Jahr. Unwillkürlich zog Eva die Schultern hoch. ›Oh mein Gott, gut das auch dieses Kapitel abgeschlossen war.‹
Erst in den chaotischen, schmerzlichen, ihr immer noch in Alpträumen begegnenden Erlebnissen, entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Ausgraben und Aufspüren von Informationen. Das Ungewisse, die Jagd nach einzelnen Hinweisen um das Puzzle zu einem großen, ganzen Bild zusammenzusetzen. Sich mit Begeisterung in die neue Herausforderung zu stürzen. Die vielen Jahre als Bankangestellte lagen nun endgültig hinter ihr. Im Grunde genommen hatte der Erpresser ihr sogar einen Gefallen erwiesen. Moritz Vorschlag als investigative Journalistin zu arbeiten war jetzt, nachdem sie etwas Abstand zu den schrecklichen Geschehnissen gewonnen hatte, geradezu ideal. Diese neue Aufgabe musste sie zumindest ausprobieren, Moritz und Chris bewährten sich als exzellente Lehrmeister.
Das schrille Klingeln des Telefons hörte Eva schon an der Haustür. Rasch hob sie ab, »Völkel«, meldete sie sich.
»Ich versuche Dich seit einer Stunde zu erreichen, aber Du gehst nicht an Dein Handy«, beschwerte sich Moritz brummelig.
»Hallo mein Schatz, schön von Dir zu hören. Es steckt zum Laden, ich hatte es nicht mit«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
»Die Reha ist ein Alptraum, es geht nicht vorwärts, jeder sagt mir, ich müsse Geduld haben und meinem Körper Zeit lassen. Solle erst einmal zur Ruhe kommen. Kannst Du Dir das vorstellen?! Ich habe so unzählige Wochen nur im Bett gelegen und soll zur Ruhe kommen!«
Eva überlegte, wie viel Einzelheiten Moritz erfahren durfte und entschied sich, erst einmal nichts von ihrem neuem Projekt zu berichten. Es war wesentlich besser für ihn, sich, ihrer Ansicht nach, in der Rehabilitation Klinik vollkommen auf seine Genesung zu konzentrieren. Die zahlreichen Knochenbrüche waren zwar soweit verheilt, die Muskulatur hatte sich jedoch durch die lange Zeit der Bettruhe extrem abgebaut. Sein ein Meter achtzig, sonst so muskulöser Körper, war schmal und klapprig, die früher leuchtenden graugrünen Augen schauten traurig aus seinem Gesicht. Die langen hellbraunen Locken hätte er am Liebsten abgeschnitten, doch Eva hinderte ihn gerade noch daran, dies umzusetzen.
»Hast Du mit dem Arzt gesprochen?«
»Ja, und er sagt, ich benötigte noch etliche Wochen, bis ich einigermaßen fit und wieder hergestellt bin. Seine Prognose ist, das ich möglicherweise ein teilweise steifes Bein behalten werde.« Eva hörte deutlich die deprimierte Stimme und hatte sein niedergeschlagenes Gesicht lebhaft vor Augen.
»Wie schaut’s, soll ich morgen Nachmittag oder Abend nach Bad Homburg kommen? Wir könnten durch den Kurpark in die Stadtmitte laufen und dort, in einem Lokal zusammen ein Bier trinken«, schlug sie vor.
»Ach Eva, es dauert alles so furchtbar lange, ich will endlich wieder arbeiten«, seufzte er wehmütig.
»Schatz, versprochen, ich hol Dich morgen ab, Du brauchst definitiv eine Aufmunterung. Bitte sei vorsichtig. Ich liebe Dich. Dickes Kussi«, verabschiedete sie sich.
Akribisch übernahm Eva die erhaltenen Informationen in ihr begonnenes Register. Der historische Verein in Schwalbach, eine Gruppe von Männern, deren Väter auf dem Eschborner Flugplatz gedient hatten. Sie trafen sich auch heute noch regelmäßig, in Angedenken der Soldaten, Mechanikern, Piloten und allen Dienstgraden.
›Perfekt, der erste konkrete Hinweis und genau vor der Haustür‹, grinste sie zufrieden.
Das wechselhafte Aprilwetter mit seinen extremen Schwankungen verursachten Moritz erhebliche Schmerzen, er war, zum Leidwesen aller, mürrisch und zeitweise unausstehlich. Nach reiflichen Überlegungen und der, durch seinen Sturz die letzten vier Treppenstufen hinunter, gewonnenen Erkenntnis, sein altes Level noch nicht erreicht zu haben, entschloss er sich dazu, dem Rat von Eva zu folgen. Seine Reportage über X-ambles sollte als Buch veröffentlicht werden, zumal nach dem langen Krankenhausaufenthalt der Artikel keine aktuelle Geschichte mehr war.
Eva lief, besorgt durch Moritz langsame Heilung, unruhig querbeet durch den Garten. Es roch unverkennbar nach Frühling, die Narzissen und Hyazinthen blühen, als gäbe es kein Morgen mehr, Primeln und Zwergiris lockten die Bienen mit ihrem Nektar und Hummeln brummten um die Wette von einer Blüte zur anderen.
›Nach Möglichkeit nehme ich Kontakt zu ehemaligen Soldaten und deren Familien, Kinder oder Enkel auf. Gegebenenfalls sind sie zu einem Gespräch bereit. Dann setze ich mich mit dem Suchdienst vom Roten Kreuz in Verbindung, möglicherweise geben sie mir noch zusätzlich den einen oder anderen Ratschlag.‹
Zielstrebig weitere Informationen zu finden, klapperte sie bestens ausgerüstet mit Regenschirm und Sonnenbrille dem schnell wechselnden Wetter trotzend, alle von Herrn Gerhardt empfohlenen Adressen und Treffpunkte ab. Über das Verzeichnis der Kriegsgefangenen fand sie weitere Namen von Soldaten und Offizieren, die damals ebenfalls in Eschborn stationiert waren. Leider erwiesen sich die meisten dieser Personen als bereits verstorben.
Die gewissenhafte Suche gestaltete sich als Puzzlespiel, zumal die bis jetzt gefundenen Namen sehr häufig vertreten waren. ›Es ist wie heutzutage, die Mütter von damals hatten ebenfalls ihre Lieblingsnamen und es war genauso schick und angesagt mit der Namensmode zu gehen.‹
Lediglich ein außergewöhnlicher stand auf ihrer Liste und stach aus der mittlerweile angewachsenen Reihe wie ein Stachel hervor. Er schrie geradezu nach ihrer Beachtung. Feodor Schling. ›Feodor, was hatte die Eltern veranlasst, ihrem Sohn diesen Namen zu geben?‹, dennoch brauchte Eva lange um eine mögliche Adresse zu dem Namensträger zu finden.
Mai 2017
Feodor Schling
Endlich, nach einigen teilweise erfolglosen Reisen quer durch Deutschland und noch mehr telefonischen Absagen, fand sie in der Seniorenresidenz Hannover den ehemaligen Offizier.
Den vollgetankten Frosch belud sie mit ihrem Korb, in dem eine Flasche Wasser und die Thermoskanne mit Tee gleich neben dem Apfel und belegten Brötchen untergebracht waren. Ihre Jacke landete in einem schwungvollen Bogen auf dem Rücksitz. Der Mai entwickelte sich warm, hatte allerdings noch viele kalte Morgen- und Abendstunden. Voller Tatendrang startete sie, die gut 300 Kilometer gaben ihr genügend Zeit, um die Taktik vor Ort zu überdenken. Würde sie diesmal Glück haben? Bekäme sie die Chance auf ein Gespräch oder musste sie erneut erfolglos abziehen? Zurückgewiesen von Angehörigen oder Pflegepersonal? Es war wie verhext, die Familien der Verstorbenen erwiesen sich als gesprächsbereit, wussten jedoch nicht wirklich neues und falls sie das Glück hatte, einen noch Lebenden zu finden, war er in einem hohen Alter und Endstadium des Lebens angekommen. Diese Menschen wollten sich nicht mehr an den schrecklichen Krieg und die unglaublichen Erlebnisse erinnern.
Nach knapp vier Stunden Fahrt mit zahlreichen Baustellen und daraus resultierenden Staus stellte sie ihren Frosch auf dem Besucherparkplatz der Wohnstätte ab und lief zielsicher auf die doppelflüglige Eingangstür zu. Mit einem leisen Surren öffneten sich die Türflügel automatisch und Eva erspähte sofort den Tresen der Besucherinformation. Höflich erkundigte sie sich, ob Herr Feodor Schling zu sprechen, beziehungsweise besucht werden könne, erhielt jedoch eine rigorose Absage. Evas Bitte, ihre Telefonnummer einem der Familienangehörigen zu geben, lehnte die Dame ebenfalls kategorisch ab. Überrascht auf derart viel Ablehnung zu stoßen betrat sie enttäuscht und entmutigt das residenzeigene Café, stützte ihren Kopf in die Hände und war darauf und daran, diese ganze Sucherei aufzugeben. ›Ausgerechnet jetzt, der letzte Name auf meiner Liste der lebenden Zeitzeugen, komme ich nicht weiter?‹, niedergeschlagen sah sie aus dem großen Fenster in den weitläufigen Park, ihre Gedanken verselbstständigten sich, ›Es existieren nur zwei Möglichkeiten, entweder die Dame hat schlechte Laune, oder hier gibt es, so exotisch es erschien, tatsächlich doch etwas zu erfahren. Nein, ich werde nicht aufgeben, es gibt bestimmt Mittel und Wege, diesen Schling zu sprechen, oder wenigstens zu sehen‹. Ihr ausgeprägter Wille und die Hartnäckigkeit erwachten aufs Neue, ließen sie einen großen Schluck von dem starken heißen, schwarzen Tee trinken, als sie von einer weiblichen Stimme angesprochen wurde.
»Ist hier noch frei?«
In Gedanken, fest entschlossen nicht aufzugeben, sah Eva kurz auf,
»Ja, bitte nehmen Sie Platz«, entgegnete sie geistig abwesend und registrierte instinktiv die gutgekleidete Dame. Eva schätzte sie auf Mitte 60. Augenblicklich erschien die Servicekraft und nahm die Bestellung auf. Ihr Gegenüber musterte sie unverhohlen mit argwöhnischer Mine, die anfängliche zurückgelehnte Haltung änderte sich. Eisig klangen die Worte aus ihrem Mund, »Hatten Sie nach meinem Vater Herrn Schling gefragt?« Erstaunt sah Eva direkt in feindselige, verachtende braune Augen. Die sehr gut gepflegte, weißhaarige Dame, ihr Visavis, war die Zurückweisung in Person. Aus jeder Pore strömte Ablehnung und Misstrauen.
›Volltreffer, hier bin ich am rechten Platz‹ jubelte Eva innerlich.
»Ja, das ist korrekt«, erwiderte sie unverfänglich, wartend was jetzt geschehen würde.
»Was erhoffen Sie sich von ihm?«, hart und abweisend waren ihre Worte. »Suchen Sie auch wieder irgendwelche Sensationsberichte und wollen ihn zum Sündenbock für angebliche Verbrechen machen?« Diese Gegenfrage bestätigte, endlich auf der richtigen Spur zu sein. Eva sah die Dame abwägend an, sie hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, ebenso mit viel Abneigung und mögliche Verachtung dafür, alte Wunden aufzureißen, wusste, dass dies kein Spaziergang werden würde. Welche Taktik sollte sie jetzt anwenden? Die ›ich will es aber wissen, harte Tour‹ oder eher die ›feinfühlend, sensibel, Entschuldigung es tut mir leid Tour?‹ Die Tochter von Feodor Schling wartete auf eine Reaktion, sie beobachtete Eva ganz genau, wie ein Raubvogel bemerkte sie jede Regung, das kleinste Zucken ihrer Lider.
›Ich habe nur diese eine Chance, verdirb sie nicht.‹ »Entschuldigen Sie, das war keinesfalls meine Absicht, ich möchte weder Sie noch Ihren Vater behelligen«, sie griff nach ihrer Handtasche auf dem Stuhl neben sich, stand auf, wandte sich um und schritt entschlossen dem Ausgang entgegen. ›Los beiß an, ich hab‘ dir meine Kapitulation auf dem Silbertablett serviert.‹ Verstohlen sah sie über ihre Schulter, ›Folgt Frau Schling mir? Hat sie angebissen oder habe ich soeben die letzte Chance verspielt?‹Eva hatte kaum die Tür erreicht, als sie am Arm gepackt wurde.
»Verzeihen Sie, ich glaubte, Sie wären ebenfalls eine der Sensations- und Klatschreporterinnen, die uns schon seit Jahren belästigen.«
Eva horchte innerlich auf, sie hatte die korrekte Entscheidung getroffen und war auf einer heißen Spur. ›Worauf bin ich gestoßen? Was hatte diese Frau alles erlebt, um derart feindlich und aggressiv, zu reagieren?‹, überlegte sie, ›Der Krieg und seine Auswirkungen waren schrecklich und das Letzte, was ich beabsichtige, sind alte Anschuldigungen aufzureißen. Wenn vor mir bereits Reporter Herrn Schling gefunden, befragt und ihm zum Sündenbock für angebliche Verbrechen erklärt hatten, war die Frage im Raum, gab es etwas in seiner Vergangenheit, das nachforschungswert war. Ein Fünkchen Wahrheit verbarg sich immer in diesen Klatschgeschichten. Pokere, Eva, pokere hoch. Alles oder nichts.‹ »Das lag nicht in meiner Absicht. Ich bin schon weg und komme nicht wieder. Versprochen«, beteuerte Eva, wandte sich um und wollte durch die hohe Ausgangstür laufen.
»Nein, bitte bleiben Sie. Ich höre mir an, was Sie zu sagen haben und entscheide im Anschluss, ob wir Ihnen antworten.«
Eva erkannte die kleine Versöhnungsbotschaft, die Tochter hing an der Angel.
»Wollen wir in den Park oder möchten Sie lieber Ihren Tee austrinken?«, war die Bestätigung auf Evas Vermutung richtig gehandelt zu haben. Sie lächelte bereitwillig, »Der Park wäre toll. Er sieht jetzt im Frühling besonders einladend aus«, und nickte ihr zu.
»Mein Name ist Rosemarie Schling«, sagte die Dame und reichte ihr die Hand.
»Eva Völkel.«
»Also los, lassen Sie mal hören, was Sie sich von meinem Vater erhoffen«, und strich sich, mit ihrer feingliedrigen Hand über das wohlfrisierte, weiße Haar. ›Jetzt muss ich genau taktieren‹, denn sie konnte Frau Schling nicht einfach die Geschichte mit dem Hinweis erzählen, die mehr verwirren würde als Antworten zu erhalten.
»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht. Zu Beginn dachte ich an eine Dokumentation mit Berichten von Zeitzeugen. Doch Ihre Aussage über die Sensations- und Klatschreporter hat mir die Grundlage entzogen. Auf keinen Fall ist es mein Ziel alte Wunden aufzubrechen oder das damalige Geschehen zu zerreißen und Schuldzuwendungen auszusprechen.« Innerlich hoffend sah sie in die blühenden Kronen der Bäume hinauf. ›War das für ihr Gegenüber eine nachvollziehbare Antwort? Würde sie sich darauf einlassen?‹ Flink suchte sie nach weiteren stichhaltigen Erklärungen.
»Wieso fragen Sie nicht Ihre Eltern oder Großeltern?«, hakte Frau Schling mit hochgezogenen Augenbrauen misstrauisch nach.
›Noch ist sie nicht wirklich überzeugt, Vorsicht, lass sie nicht mehr vom Haken.‹ »Ich habe weder Eltern noch Großeltern. Leider lebt von meiner Familie niemand mehr. Weit entfernt wird es sicherlich noch jemanden geben, bedauerlicherweise habe ich bisher keinen ausfindig machen können.«
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf meinen Vater?«
›Ok, jetzt biege ich die Tatsachen zu einer logischen Erklärung, ich darf ihr nicht die Wahrheit sagen, diese wäre zu phantastisch und würde das momentan schwindende Misstrauen meines Gegenübers erneut entfachen.‹ »Das ist eine ganz besondere Geschichte. Ein Freund hat für mich recherchiert und den historischen Verein in Sulzbach bei Frankfurt gefunden. Die wiederum haben mir von dem Kriegsgefangenenlager geschrieben, das in Eschborn am Flugplatz eingerichtet war. Das DRK hat mir verschiedene Namen von Soldaten geschickt. Jetzt bin ich auf der Suche, um vielleicht noch Zeitzeugen oder deren Familien zu finden.«
»Wieso der Flugplatz Eschborn?«
Eva lächelte unbewusst, »Ich wohne in Eschborn und habe mich mit der Stadtgeschichte beschäftigt. Dort taucht automatisch der Flugplatz auf.«
»Und Sie haben definitiv keine weiteren Hintergedanken oder Sensationslust nach den alten Vorkommnissen?« Rosemarie Schling erwies sich als überaus harte Nuss, die es zu knacken galt. Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah Eva sie fragend an.
»Welche Hintergedanken? Was sollte es dort sonst noch geben?« ›Vorsicht, die weiß etwas, sie bohrt und will ihrerseits wissen welche Informationen ich bereits gefunden habe. Der Tipp war korrekt, hier gab es definitiv Vorkommnisse, ein Geheimnis, das anscheinend nicht an die Öffentlichkeit gezerrt werden darf.‹ Eva setzte ihre Unschuldsmiene auf, ›Trag nicht zu dick auf, übertreib es nicht.‹
»Wieso macht sich eine junge Frau wie Sie, derart viel Mühe und fährt 300 Kilometer weit um mit einem Zeitzeugen zu sprechen? Fänden Sie das an meiner Stelle nicht auch sehr merkwürdig?«
›Sie lässt mich ganz schön zappeln, noch einen weiteren Versuch, dann muss ich überlegen, die Taktik zu ändern.‹ Eva spielte die Erstaunte, »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Sie meinen, denn um heute noch lebende Zeitzeugen zu finden, was extrem schwierig ist, da die meisten nicht mehr leben, fahre ich auch 300 km. Wenn ich Ihnen oder Ihrer Familie zu nahegetreten bin, entschuldigen Sie bitte, das war definitiv nicht Absicht.« Eva reichte Frau Schling spontan die Hand, »Auf Wiedersehen, ich fahre jetzt wieder«, drehte sich um und lief los, ›Los schluck den Köder‹, flehte sie aus ganzem Herzen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft an einer plausiblen Begründung, sich umzudrehen und doch wieder zurückzukommen.
Kurze Zeit später hörte sie rasche Schritte hinter sich,
»Frau Völkel, warten sie. Ich musste ganz sicher sein, deswegen bin ich so hartnäckig abweisend.« Frau Schling sah Eva erneut abschätzend an, dann entschied sie, »Kommen Sie mit wir gehen zu meinem Vater. Wundern Sie sich bitte nicht, er ist schon 97 Jahre alt und etwas verwirrt.«
Innerlich jubelte Eva, ich habe es geschafft.
Gemeinsam betraten sie das Zimmer, Feodor Schling saß in einem hohen Ohrensessel, sein Kopf war fast kahl und braune Augen sahen Eva aus einem zerfurchten sehr faltigem Gesicht an. Ein Lächeln huschte über sein Antlitz, als er hinter Eva seine Tochter Rosemarie sah.
»Rose, wie schön das du da bist. Kommt Eleonore auch noch?«
»Das war seine erste Frau«, hörte Eva ihre Stimme leise neben sich.
»Nein Vati, Lore kommt heute nicht«, und drückte ihren Vater herzlich.
»Schau, ich habe dir Besuch mitgebracht, das ist Eva Völkel.«
Feodor Schling nickte und hob zittrig seine Hand. Schnell ergriff Eva diese und drückte sie vorsichtig.
»Nicht so zaghaft hübsche Frau, ich bin nicht zerbrechlich«, grinste er zu ihr herauf. »Könnt ihr jungen Leute heut‘ zu Tage nicht mehr anpacken? Was ist los mit eurer Generation?«
Perplex sah Eva ihn an und drückte noch einmal kräftiger seine Hand.
»Ja! So ist es recht. Wir Offiziere mussten damals zupacken, da war kein Platz für Schwächlinge.« Eva sah, wie sich sein Gesicht veränderte, der alte Herr vor ihr schien in die Vergangenheit zu reisen.
»Eleonore, wer ist die junge Frau dort«, und zeigte auf Eva.
»Vati, das ist Eva Völkel, sie besucht dich heute«, erklärte sie.
»Eva? So heißt die Frau von einem der Piloten, ein guter, aufrechter Mann, leider ist er an die Ost-Front abkommandiert.« Bedauern schwang in seiner Stimme.
Feodor Schling schien zu verschwinden, die Augen wanderten in eine Zeit, welche niemand von ihnen betreten konnte. Dann hob er seine Hände und betrachtet diese, drehte sie, »Drei Finger sind gebrochen, die Haut hängt in Fetzen, das rohe, blutige Fleisch ist zu sehen.« Zitternd streckte er Eva die Hände entgegen, »Schwester, haben Sie Verbandsmaterial, der Brand kommt und ich verliere meine Finger. Schwester, helfen Sie mir bitte«, flehte er und lehnte sich in dem großen Ohrensessel zurück. Seine Hände sanken herab, erneut tauche er in eine andere Zeit der Vergangenheit unter.
»Ja, Vati, schau, deine Hände sind wieder heil«, liebevoll strich sie ihrem Vater über den Kopf. Abrupt öffnete er seine Augen, durchdringend bohrten sie sich in Eva, »Rose, ist das Ottos Frau?«
»Nein Vati, das ist Eva Völkel, sie wollte dich gerne kennenlernen.«
Misstrauisch zog er seine Tochter nahe zu sich und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Eva trat intuitiv zwei Schritt vor, um möglicherweise einige Worte aufzuschnappen.
»Nein Vati, es ist alles in Ordnung.« Erleichtert sank er in die Kissen, nur um sofort nach der Hand der Tochter Hand zu greifen.
»Rose, wer ist diese Frau?«
»Das ist Eva Völkel«, beruhigend legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Erstaunlich flink griff er Evas Hand, die Finger krallten sich in ihre Haut.
»Sie darf nicht hier sein, es ist ein Geheimnis.«
»Vati, lass bitte Frau Völkel los«, bat sie und öffnete den harten Griff. Die dunkelroten Stellen auf Evas Hand bewiesen seine beachtliche Kraft.
»Der Sturmvogel kommt und verschlingt uns alle. Sie darf nicht hier sein«, verzweifelt versuchte er aufzustehen, doch seine Beine versagten ihren Dienst. »Schnell laufen Sie, der Amerikaner darf Sie nicht erwischen.«
»Vati beruhige dich, schau, wir sind in deiner Wohnung.«
»Otto ist verschwunden, wir haben ihn vergraben, der Amerikaner darf es nicht merken. Albert, Rolf-Kaspar und Ernst sagen er sei abgehauen, die glauben es nicht und lassen alles absuchen.« Ein Schleier legte sich über seine Augen, schwer atmend sank er in sich zusammen. Frau Schling sah Eva mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Sie hatte verstanden, die Vergangenheit tauchte wie kleine Inseln im Meer des Vergessens auf. Sie nickte ihr zu und griff nach der Handtasche.
»Otto kommt nicht wieder, er ist tot, hat ein großes Loch im Kopf. Er war zu gierig und konnte nicht warten.« Unvermittelt hob er den Kopf, »Rose wer ist die fremde Frau?« Verwirrt tauchte er aus den Gedanken auf und sah seine Tochter an, »Wann kommt Eleonore?«
»Vati, Lore kommt heute nicht«, zärtlich strich sie ihrem Vater über die Hand und sah ihn liebevoll an. Eva erkannte, Feodor Schling erlebte die Vergangenheit und die Gegenwart gleichzeitig, vermochte diese jedoch nicht von einander zu unterscheiden. Der Soldat Otto, mit dem Loch im Kopf, der zu gierig geworden war, konnte das der unbekannte Tote aus dem Artikel von 1993 sein? Nachdenklich schaute sie auf Herrn Schling hinunter, was sie soeben gehört und gesehen hatte, waren die Auswirkungen von schrecklichen Erlebnissen aus längst vergangenen Kriegszeiten. ›Erst mal wieder alles im Kopf zurecht rücken‹, dachte sie, das gehörte Durcheinander überprüfen und Fakten schaffen. Nach diesem Gedanken reichte sie Frau Schling zum Abschied die Hand.
»Danke, dass ich Ihren Vater kennenlernen durfte«, und wandte sich an den alten Mann vor ihr, »Herr Schling ich wünsche Ihnen alles Gute, auf Wiedersehen«, verabschiedete sie sich.
»Warten Sie noch einen Augenblick, ich komme gleich mit«, bat die Tochter.
Auf dem Gang erzählte Frau Schling von ihrem täglichen Kampf mit der Vergangenheit, »Vater hatte heute einen guten Tag, er hat mich sogar erkannt. Manchmal hält er mich für Eleonore, seine erste Frau. An meine Mutter, sie war seine zweite Frau, erinnert er sich fast gar nicht mehr. Beide waren nur kurz verheiratet und sie ist bei meiner Geburt gestorben, ich habe nie ein Bild von ihr gesehen. Früher sagte Vater, ich hätte ihr Aussehen, er brauche kein Bild von ihr, er habe ja mich.«
Lächelnd sah sie Eva von der Seite an.
»Die Jahre im Krieg und in Gefangenschaft müssen schrecklich gewesen sein, das hat er nie ganz verkraftet. Oft hat er im Schlaf wild geschrien, das hat mir immer Angst gemacht. Als Kind mochte ich seine Geschichten, er konnte sehr spannend erzählen, doch im Laufe der Jahre kannte ich sie auswendig und wollte nichts mehr hören.« Frau Schling schlug den Weg zum Café ein. Eva spürte, das sie heute vielleicht noch mehr erfahren würde, ihr Gegenüber brauchte eine Person zum Reden, um ihre Sicht der Vergangenheit endlich einmal loszuwerden.
»Ich weiß, er oder einer der anderen drei, haben eine große Schuld auf sich geladen. Früher hat er nie davon gesprochen, doch seit 1991 der Brief angekommen ist, hat er sich schlagartig verändert. Ich werde den Inhalt der Zeilen, die Vater dermaßen durcheinander brachten, niemals vergessen. Sie haben sich tief in meine Erinnerung eingebrannt. ›Feodor, der Sturmvogel kann landen, komm‘ und steh zu deiner Pflicht.‹
Sie schüttelte den Kopf, Tränen standen in ihren Augen, »Der Vergangenheit gegenüberzutreten und sich seiner Schuld zu stellen, hat meinen Vater vollkommen aus der Bahn geworfen. Es wurde immer schlimmer und seit einigen Jahren bringt er alles durcheinander. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind eins geworden, er kann sie nicht mehr unterscheiden oder gar trennen. Wenn ich die Geschichten von früher mit den Einzelheiten, die er jetzt unbeabsichtigt ausplaudert, ergänze, wird ein schreckliches Bild daraus.«
Erneut im Café angekommen bestellten sie sich Getränke. Ihr Gegenüber sah Eva abschätzend an. Sie bemerkte deren Zweifel, ob es richtig war weitere, möglicherweise brisante, Einzelheiten auszuplaudern. Eva lehnte sich entspannt zurück und hoffte inständig, das sie einen vertrauenswürdigen Eindruck vermittelte. Unvermittelt sagte Frau Schling,
»Ich erzähle Ihnen jetzt ein grauseliges Märchen, alles darin ist erfunden und nichts davon entspricht der Wahrheit.«
Sie verstand, obwohl Rosemarie als Tochter diese Geschichten lediglich alle gehört hatte, belastete sie das Wissen sicherlich sehr. Hatte sie jemals offen darüber gesprochen oder musste sie allein damit fertig werden?
»Drei Soldaten und ein Offizier wurden mit sehr vielen anderen im Kriegsgefangenenlager Eschborn abgeladen, sie sollten den Flugplatz wieder aufbauen. Bei den Bauarbeiten fand dieser Arbeitstrupp bestehend aus drei Soldaten und einem Oberleutnant in einem aufzuschüttenden Bombenkrater mehrere händevoll Goldmünzen. Sie waren sich schnell einig, dass die Amerikaner von diesem Fund niemals erfahren durften und schworen sich bei ihrem Leben Stillschweigen zu bewahren. Sie versteckten das Gold noch tiefer im Krater, füllten ihn auf und wollten nach dem Abzug der Amerikaner den Schatz bergen.«
Sie unterbrach ihre Geschichte, als die Servicekraft die bestellten Getränke auf den Tisch stellte.
»Was sie in ihrer Aufregung nicht bemerkten, am Kraterrand stand ein vierter Soldat, der den Fund mit angesehen und den Schwur mit der Vereinbarung zur Bergung gehört hatte. Er forderte einen Anteil, sonst verriet er das Versteck an die Besatzer und erkaufte sich Vergünstigungen von ihnen. Die Vier waren sich schnell einig, dem Fünften konnten sie nicht trauen, er war gefährlich und musste verschwinden. Bei nächster Gelegenheit erschlugen und vergruben sie ihn, in einem der zahlreichen Löcher, welche durch die umfangreichen Bauarbeiten entstanden.« Eva sah Frau Schling schweigend über den Rand der Tasse an, ›Es passte, Otto ist das unbekannte Skelett. Die vier, Feodor, Rolf-Kaspar, Albert und Ernst waren 1945 auf dem Fliegerhorst.‹
»Diese grausame, heimtückische Tat schweißte die 4 auf ewig zusammen und sie gaben sich den Namen Sturmvogel, um dies niemals zu vergessen. Den Amerikanern erzählten sie, der Soldat habe sich abgesetzt, er sei zu seiner Familie zurück, er habe die Gefangenschaft nicht mehr ausgehalten. Die Arbeiten waren hart, die Unterkünfte kalt, jeder wollte nach Hause. Einige der Soldaten hatten ebenfalls versucht abzuhauen und wurden erwischt. Doch der eine schien es geschafft zu haben, er war auf immer verschwunden.«
Eva hörte aufmerksam zu und nickte ›Selbstverständlich blieb er unauffindbar. Er lag mit eingeschlagenen Kopf in einem Bombenkrater, der zugeschüttet wurde.‹ Jetzt verstand sie die Beweggründe der alten Dame ihr gegenüber, jegliche Reporter zum Schutz für ihren Vater zu meiden.
»Wie schuldig wer von den Vieren ist, weiß ich bis heute nicht und wer die schreckliche Tat begangen hat, auch nicht. Sie Frau Völkel, scheinen nicht auf Sensationen aus zu sein und wenn davon dennoch etwas in die Zeitung kommt, werde ich alles abstreiten, es ist lediglich ein Gruselmärchen, das mir mein Vater erzählt hat.« Beschwörend sah sie Eva an, »Wir haben uns verstanden?«
»Ja, das haben wir«, nickte sie nochmals zur Bestätigung, sie wusste nur zu gut, dass Eltern manchmal Dinge in die Wege leiteten, welche auf die Kinder zurückfielen.
»Freckel, Otto Freckel war sein Name. Wenn Sie meinen Vater gefunden haben, dann finden Sie ihn ebenfalls. Was auch immer Ihre Intension ist diese alte Geschichte auszugraben, passen Sie sehr gut auf sich auf. Leben Sie wohl Frau Völkel. Alles Gute.« Bestimmt, ohne ein weiteres Wort stand sie auf und verließ das Café, ohne sich noch einmal nach Eva umzudrehen.
Elektrisiert sah diese ihr hinterher, was sie soeben gehört hatte, erschien glaubhaft, möglicherweise war das eine oder andere Detail weggelassen oder vielleicht hinzugefügt, jedoch im Großen und Ganzen schien die Erzählung wahr sein. In jeder Geschichte steckte das Quäntchen an Wahrheit, wie umfangreich es war, galt es jetzt heraus zu finden.
Hatte das ihr Schutzengel gemeint, war dies der Hintergrund, zu dem sie recherchieren sollte? Gab es tatsächlich noch versteckte Goldmünzen, die auf ihre Bergung warteten? So lange Zeit nach dem Abzug der Amerikaner?
Eva konnte sich das nicht so recht vorstellen. Sicherlich waren die Ehemaligen dieser Vierer Gruppe sofort nach Freigabe des Geländes 1991 in einer Nacht und Nebel Aktion dort gewesen und hatten ihren seit 46 Jahren vergrabenen Schatz gehoben. Wieso sonst sollten sie Feodor den Brief schicken, in dem eindeutig zu verstehen war, dass der Sturmvogel jetzt landen durfte, vermutlich um die Bergung einzuleiten. Die ehemaligen Soldaten waren zu diesem Zeitpunkt etwa zwischen 66 und 72 Jahre alt. Jung genug, um mit Hacke und Schaufel anzurücken, oder gab es noch andere Beweggründe, hatten die Besatzer vielleicht selbst den Schatz gefunden und dies verschwiegen? War eventuell ein Gebäude ganz genau an dieser Stelle errichtet worden und verhinderte die Bergung? Wurde er bei den neuen Bauarbeiten des Industriegebietes entdeckt und gehoben? War der Finder ehrlich und hatte ihn gemeldet, oder diesen schlicht einfach unterschlagen? Vielleicht auch nur behalten um ihn später zu verkaufen? Möglicherweise existierten fehlerhafte Angaben zum Versteck, oder die Umgebung hatte sich in der langen Zeit extrem stark verändert?
Eva schwirrte der Kopf von den zahlreichen Varianten. Je mehr sie darüber nachdachte, desto intensiver trat eine neue Frage hervor.
›Was hatten die Münzen überhaupt auf dem Eschborner Flugplatz zu suchen? Wofür waren sie bestimmt? Es war Kriegsende, sollten sie außer Landes geschafft werden, um irgendjemandem als ›Rente‹ den Lebensstandard zu sichern?‹
Ganz egal, wie sie die Sachlage drehte und wendete, Chris musste einspringen, sie brauchte seine ultimativen Kontakte zur Geheimnislüftung. Wenn es irgendwo einen Hinweis gab, er würde ihn finden. Eva glaubte felsenfest, dass definitiv kein Geheimnis vor Chris verborgen blieb.
Eschborn 1991
Die eingeschworene Kameradschaft des Sturmvogels hatte 46 Jahre lang gewartet und jetzt endlich war es soweit. Täglich schritt einer von ihnen den Zaun mit Stacheldrahtkrone ab und begutachtete den Fortschritt der amerikanischen Truppenräumung. Der stellenweise aufgeschnittene Maschendraht interessierte niemanden mehr und großzügig sahen die Soldaten über das noch unerlaubte Eindringen der drei alten Herren hinweg. Eilig schrieben sie ihren Brief an den 71-jährigen Feodor Schling in dem er aufgefordert wurde, seinen Beitrag zur Bergung zu leisten. Nachdem dieser sich nach Ablauf einer Woche nicht gemeldet hatte, beschlossen sie, ohne ihn die Suche zu beginnen. Jetzt startete ihre Zeit der intensiven Nachforschung, sie beratschlagten, trafen sich gemeinsam vor Ort, liefen über das Areal und mutmaßten, wo genau das Versteck sein könne. Bei ihren täglichen Erkundungsgängen hatten sie die extremen Veränderungen des Geländes der vergangenen 46 Jahre begutachtet. Die Baumaßnahmen der Amerikaner, neu angelegte Wege und Straßen, die Wandlung der Vegetation, Bäume waren zusätzlich gepflanzt und hochgewachsen, Büsche zu Hecken geworden und dicht verfilzt. Albert, Ernst und Rolf-Kaspar beschlossen, einen Metalldetektor zu kaufen, um damit möglicherweise das Versteck zu finden. Sie wussten um die durchgängigen Lochbleche der Lande- und Startbahnen, versuchten aber dennoch ihr Glück. Auf dieses ungewöhnliche Vorgehen wurden deren Söhne aufmerksam und sie bedrängten ihre Väter. Lediglich Rolf-Kaspar knickte nach den dauerhaften Fragen, den geschickt gestellten Fallen ein und verriet seinem Sohn Volker-Kaspar die alte Geschichte.
Zudem erfuhr dieser, dass die 2 Freude des Vaters bereits in der Besatzungszeit versucht hatten, nachts heimlich auf das Gelände zu kommen, um den Vergrabungsort zu markieren und ihn so besser wieder zu finden. Als sie dann einmal von den Wachen erwischt wurden, kam sehr schnell heraus, dass sie ehemalige Kriegsgefangene waren. Die argwöhnischen Amerikaner ließen sich nicht so leicht täuschen, gab es hier auf dem Flugplatz noch Kriegsbeute, die 1944 rasch vergraben auf ihre Entdeckung wartete? Die Besatzer hatten erhebliche Mengen an Reichsgold und Kunstgegenständen beschlagnahmt und außer Landes gebracht. Die Eindringlinge wurden verhört, ihre Akten angefordert und akribisch überprüft. Ihre angebliche Suche nach den damals vergrabenen Wertgegenständen, wie Eheringe, Klappmesser, Taschenuhr, glaubten die Amerikaner jedoch nicht.
Volker-Kaspar war sofort Feuer und Flamme, begeistert bot er seine tatkräftige Unterstützung an. Albert und Ernst aber waren überaus verärgert und stellten Rolf-Kaspar zur Rede, was das solle, wieso er ihren Schwur von damals brach und ob er sich nicht mehr erinnern könne und welche Strafe auf ihn zukommen würde. Sie hatten geschworen für immer! Wütend auf den Verrat des Kameraden wollten sie das Unterfangen abbrechen. Volker-Kaspar versuchte, sich einzuschalten, doch sein Vater hielt ihn rasch zurück.
»Ich kläre das selbst mit den Kameraden«, und schickte ihn fort. Aus der Entfernung sah er die beiden Männer heftig mit seinem Vater streiten, sie schlugen ihn so hart, dass er zu Boden stürzte. Schnell rannte Volker-Kaspar ihm zu Hilfe, doch der hielt ihn ein weiteres Mal zurück.
»Hast Du nicht verstanden? Ich kläre das selbst«, schrie er ihn zornig an, »Ich habe den Verrat begangen und muss meine Strafe tragen! Kapierst Du nicht, das es hier um Ehre und die Einhaltung eines geleisteten Schwures geht?« Unbeholfen rappelte er sich auf und wischte sich mit der zitternden Hand das Blut aus dem Gesicht.
Der Wind wehte leise einige Wortfetzen zu ihm hinüber, doch er verstand nicht den Zusammenhang. Endlich nach einer gefühlten Ewigkeit wurde er zu ihnen gewunken.
Albert, der älteste aus dieser Gruppe sah ihn misstrauisch an,
»Du kannst ihm vertrauen«, versicherte sein Vater, »Und wenn er dennoch redet, darfst Du ihm höchst persönlich den Hals umdrehen. Ich schwöre es.«
»Ha, wir wissen, wie viel dein Versprechen wert ist«, spuckte Ernst ihm angewidert entgegen.
»Volker-Kaspar, Du leistet jetzt, hier und heute, den heiligen Schwur, niemals ein Wort über das Gehörte zu erzählen, oder die Einzelheiten aus der von Deinem Vater erzählten Geschichte weiterzusagen. Das Brechen des Gelöbnisses wird mit dem Tode bestraft. Du schwörst bei Deinem Leben und bei Deinem Blut.«
Mit leichtem Grinsen im Gesicht wollte er den Mund öffnen, doch eine schallende Ohrfeige, die seinen Kopf ruckartig nach rechts beförderte, verhinderte dies.
»Junge, es geht um Dein Leben. Hast Du das verstanden?«
Reflexartig nickte er und fühlte seine rotglühende Wange anschwellen.
»Wir sind wenige der übriggebliebenen Hüter für ein -wahres- Deutsches Reich. Schwöre nicht leichtfertig. Wir vergessen niemals!«
Ein weiteres Mal nickte er. Albert griff nach seiner linken Hand, zog ein Taschenmesser hervor und ehe Volker-Kaspar es begriff, schnitt er ihm in die Handfläche. Danach reichte er das Messer an Ernst weiter, der sich ebenfalls einen Schnitt zufügte. Als letzter Mann wiederholte Albert das Vorgehen.
»Sprich mir nach. Bei meinem Leben, bei meinem Blut schwöre ich niemals mit einem Außenstehenden über unser Geheimnis zu sprechen und das Versteck des Goldes zu verraten. Ich gebe dieses heilige Versprechen und lasse mein Leben für den Bruch. Ich schwöre es.«
Albert reichte ihm die blutige Hand, er legte seine hinein, und wiederholte den gesprochenen Schwur. Dann folgte Ernst, »Ich erneuere mein heiliges Gelöbnis«, und streckte ihm ebenfalls die blutende Hand zum Einschlag entgegen. Eine Gänsehaut überzog den gesamten Körper von Volker-Kaspar, jetzt erst realisierte er, dass sein Vater nicht an diesem Vorgehen beteiligt war. Verwundert drehte er sich zu ihm um. Albert war seinem Blick gefolgt, »Er wird sterben, so wie er es für das Brechen des Schwures versprochen hat. Wir entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen ist, er weiß es, sieh ihn Dir gut an, auch Du hast bei Deinem Leben geschworen. Vergiss das niemals.«
Die heimliche Suche gestaltete sich auf dem zum Teil wildbewachsenen Gelände extrem schwierig und aufwendig. Wieder einmal lief ihnen die Zeit davon, sie hatten von den Plänen der Städte gehört, dass das Gelände zum Teil als Naturschutzgebiet gestaltet werden sollte und ein weiterer Teil als Industriegebiet neu bebaut wurde. Ihre Begeisterung, die Euphorie endlich mit dem Unterfangen starten zu können erwies sich als absolut ernüchternd, sie gruben mit Hilfe des, in das Geheimnis eingeweihten Sohnes, an sehr vielen unterschiedlichen Stellen, fanden allerdings nichts von Bedeutung. Hier lagen jede Menge Nägel, Schrauben, andere Metallteile aus dem damaligen Montage der Lastensegler. Das Jahr neigte sich dem Ende und die Landvermesser waren den ganzen Tag über unterwegs um das Areal für die Bebauung vorzubereiten. Einige Wochen später rückten die ersten Bagger an, sie befreiten das Gelände von den Bäumen und Büschen, schufen die Voraussetzungen für die Ausschachtung der Fundamente. Der beginnende Winter mit Dauerregen und Minusgraden erschwerte ihre Suche zusehends. Alles Weitere wurde auf das kommende Frühjahr verlegt.
Eschborn 1992
Zu allem Überdruss hatte die Stadtverwaltung entschieden, die ehemaligen Fuhrparkgebäude mit einem neuen Dach zu versehen und diese an ortsansässige Vereine zu vermieten. Wütend schlug Albert die Zeitung auf den Tisch, das hatte ihnen gerade noch gefehlt, schlimmer konnte es fast nicht mehr werden. Umgehend informierte er Ernst und Rolf-Kaspar über die zusätzlichen Hindernisse.
Sie hatten keine Chance, tagsüber auf die Suche zu gehen, und erschwerend kam der seit neustem ansässige Motorradclub, Lakota MC, hinzu. Jeden Abend waren die Rocker in ihrem Clubhaus und beobachteten misstrauisch das umliegende Gelände.
Endlich nach vielen Nächten der erfolglosen Suche, entdeckten sie im Wurzelballen eines herausgerissenen Baumstumpfes die ersten Münzen. Aufgeregt gruben sie an verschiedenen Stellen die Wände des Erdloches auf. In der herabrieselnden Erde fanden sie weitere Goldstücke. Argwöhnisch belauerten sie sich gegenseitig. Die Morgendämmerung begann über das Gelände zu steigen, als der Spaten auf einen großen, flachen Stein stieß. Diesmal erzeugte dies kein stumpfes Geräusch, sondern ein völlig anderes, hell klingendes. Wie erstarrt, sahen sich alle Beteiligten an. Hatten sie jetzt endlich das eigentliche Versteck der Münzen gefunden? Erneut stieß Albert gezielt mit der Schaufel zu. Es dauerte einige Sekunden, bis die Erkenntnis in den Köpfen ankam und die Gier in ihnen ausbrach. Sie begannen mit bloßen Händen in der Erde zu graben, jeder wollte der Erste sein, die vier händevoll Münzen zu finden. Die Sonne stieg höher, erfasste die Baumwipfel und warf die langen Schatten der Absteckpfosten über das Gelände. Sie mussten sich beeilen, die frühen Spaziergänger mit ihren Hunden würden bald auf der Bildfläche erscheinen.
Endlich hatten sie die versteckten Goldmünzen ausgegraben und Rolf-Kaspar fühlte heimlich mit den Fingerspitzen nach den vorher gefundenen in seiner Jackentasche. Ernst sah den verstohlenen Blick und erinnerte sich sofort an die vorhin aufgespürten Goldstücke. Wie sollte der Fund aufgeteilt werden? Mussten sie des Verräters Anteil tatsächlich seinem Sohn überlassen? All dies entfachte ihre Gier und entfesselte einen heftigen Streit in der Gruppe. Erst das entfernte Bellen eines Hundes brachte sie zur Besinnung. Jetzt nur schnell und überlegt handeln. Rasch kletterten sie aus dem tiefen Loch, Rolf-Kaspar breitete seine Jacke aus und legte die gefundenen teilweise erdverkrusteten Münzen darauf. Albert und Ernst warfen die von ihnen Ausgegrabenen dazu. Volker-Kaspar kniete sich auf den Boden, er konnte es immer noch nicht glauben, vor ihm lag ein kleines Vermögen, das für einige Zeit keine Geldsorgen versprach. Er vernahm nur den dumpfen Schlag des Spatens, sah im Augenwinkel seinen Vater vorwärts in die Grube stürzen und hörte die Knochen brechen. Bestürzt sprang er auf die Beine, mit schreckensweiten Augen sah er die beiden an.
»Du wusstest, das er wegen seines Verrates sterben musste. Denk immer daran, auch Du hast es geschworen, so wie vor 49 Jahren Otto am oberen Rand des Kraters stand und diesen Schwur ablegte, den er nicht mehr halten wollte.«
Seine Gedanken rasten, ›Hatte Albert ihm gerade einen weiteren Mord gestanden? Was zum Teufel war mit den Alten nur los?‹ Sein anfängliches eher geringes Interesse für die Vergangenheit seines Vaters wuchs sprunghaft an. ›Ich muss dringend mehr über die damaligen Zusammenhänge erfahren. So konsequent hatte er bisher noch niemanden erlebt, gab es weitere von dieser Sorte Menschen? Wenn ja, wo fand er sie?‹
Gemeinsam planten sie, das Gold zu verkaufen und sich den Erlös zu teilen, was sich unerfreulicher weise als überaus schwierig herausstellte. Keiner der Beteiligten hatte einen Eigentumsnachweis. In der Szene wurden für Originale astronomische Summen gezahlt, als heikel erwies sich die Herstellung des Kontaktes. In Deutschland war der Verkauf nicht durchführbar, ganz im Gegenteil sogar strafbar, nicht jedoch in benachbarten europäischen Staaten oder gar in Übersee. Die Nachfrage war riesig. Wie sollten sie die tatsächlichen Interessenten von verdeckten Ermittlern unterscheiden und wie konnte man sicherstellen das versprochene Geld zu erhalten und nicht hereingelegt zu werden? Jetzt waren sie zwar in Besitz eines Goldschatzes, doch der schnelle Reichtum wollte sich nicht einstellen. Ihre Rechnung ging nicht auf. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Man war im Grunde genommen reich, konnte theoretisch und in Gedanken viel Geld ausgeben, aber jetzt bröckelten ihre Träume und begannen sich in Nichts aufzulösen.
Nur wenige Straßen weiter verfolgte Peter Schröder die Berichterstattung zu den Plänen der Stadt, wie das neue Gewerbegebiet aufgeteilt werden sollte. Kaum waren die amerikanischen Truppen abgezogen, durchstreiften bereits die ersten Neugierigen das Gelände. Alte Geschichten von Naziverstecken breiteten sich rasend schnell aus und die Zahl der Sondengänger wuchs täglich. Einen alten Trottel hatte es schon erwischt. Er war mit seinen 72 Jahren auf Schatzsuche gegangen und in eines der Wurzellöcher gestürzt. Peter schüttelte den Kopf, und las weiter, Rolf Kaspar M. lebte noch einige Stunden, bevor er qualvoll in dem Erdloch starb. Ein rechtzeitig herbeigerufener Notarzt hätte ihn retten können.
›Wenn die Bauarbeiten so rasch weitergehen, graben sie auch Paul Wenzel aus‹, in Gedanken sah er die groß aufgemachte Schlagzeile und schlagartig kamen die Erinnerungen zurück, welche er jahrelang erfolgreich unterdrückt hatte. Die Vergangenheit erwachte zu neuem Leben, unbewusst legte er seine Handflächen auf die Ohren und schloss ganz fest die Augen. Er hörte das Angriffssignal, kurz darauf das Dröhnen der Flugzeuge und das Pfeifen der abgeworfenen Bomben, bevor sie detonierten. Laut stöhnend sprang er auf, »Ich will das nicht noch einmal erleben«, drangen klagend die Worte aus seiner Kehle, »Wieso war ich so begierig Vaters Geheimnis zu erfahren?«
Die langen Jahre des Wartens hatten die Gier und das Verlangen, Vaters Versteck auszugraben in sich zusammenfallen lassen. Im Grunde genommen hatte er keine großen Ambitionen mehr mit Schaufel und Hacke auf ›Schatzsuche‹ zu gehen, zumal sich das Gelände extrem verändert hatte und seit neustem ein Motorradclub im ehemaligen Fuhrparkgebäude ansässig war. Wie sollte er ihnen gegenüber seine Grabungen erklären? Würden sie nicht selbst Anspruch auf den versteckten Inhalt erheben? Sollte er die Presse informieren und einen Strom der Schatzsucher auslösen, die mit Sicherheit in Scharen auftauchten?
›Nein‹, entschied er, ›Ich habe alles zum Leben, was ich brauche. Es ist verflucht! Die Phiolen und das Gold, mit so vielen Menschenleben bezahlt. Mein Sohn Andreas, ich gebe das Geheimnis an ihn weiter, soll er entscheiden, ob es für ihn wichtig ist.‹
Juni 2017
Die Kameradschaft
Moritz durfte seit einigen Wochen auf die ambulanten Rehabilitationsmaßnahmen zurückgreifen, rigoros hatte er die weitere stationäre Unterbringung abgelehnt. Die noch kalten Nachttemperaturen und kühlen Morgenstunden verursachten ihm große Schmerzen, doch er bestand darauf, mit dem Bus nach Bad Homburg zu fahren. Starrköpfig blieb er dabei, »Viel zu lange musste ich im Krankenhaus bleiben, ich will endlich raus. Keinen Tag mehr halte ich das aus.«
Sein Gemütszustand schwankte wie ein Jojo zwischen Euphorie und Frustration hin und her. Ebenfalls den Entschluss das Buch zu schreiben verwarf er mehrfach, zerriss die Notizen nur um sie am nächsten Tag mit Klebeband wieder aneinanderzufügen. Die Freunde aus der Redaktion, Chris und Tom, kamen regelmäßig, versuchten ihm die neue Lebenssituation zu erleichtern und boten ihre Unterstützung an. Moritz musste eine wichtige Entscheidung zu seiner beruflichen Zukunft treffen, was sich als echte Herausforderung erwies. Die Versuche, am vorherigen Leben anzuknüpfen, scheiterten kläglich. Er konnte und wollte die neue Situation so nicht akzeptieren. Die vergangenen Monate hatten ihn doch stärker verändert, als er sich einzugestehen bereit war. Mit den wärmer werdenden Tagen kam ein umgänglicher Moritz zum Vorschein, die Schmerzen verflogen teilweise und seine üble Launenhaftigkeit schwand zusehends. Eva freute sich über Moritz Wunsch, wieder ein Auto zu kaufen, sein Altes war, durch den Unfall, nur noch ein Klumpen Schrott.
Fleißig lernte sie die alte deutsche Sütterlin Schrift und vermochte von einer Kopie zur nächsten, die Inhalte der Niederschriften besser zu lesen. ›Danke Herr Gerhardt‹, und blätterte in den handschriftlichen Aufzeichnungen der Stadtgeschichte.
›Frau Schling hat mir den Namen Otto Freckel genannt, mal sehen, ob ich ihn im Stadtarchiv finde.‹
Nach vielen Stunden, die sie in den Urkundensammlungen und Geburtsanzeigen aus den Jahren 1900 bis 1930 verbrachte, wurde Eva endlich fündig. Freckel war nicht sehr verbreitet und mit dem letzten Namensträger Otto Freckel ausgestorben. Doch seine Schwester Claudia, verheiratete Köhler, hatte Kinder, die noch in Eschborn ansässig waren und einen der Höfe bewirtschafteten. Mit neuer Bestätigung auf dem richtigen Weg zu sein, nahm Eva Kontakt mit der Familie Köhler auf. Als Begründung schob sie zum wiederholten Male die Arbeit an einer Dokumentation vor, bei der sie, während ihrer Recherche, auf den Namen Freckel gestoßen sei. Jetzt suche sie die nächsten Angehörigen um möglicherweise noch Berichte zu den Nachkriegsjahren und dem Wiederaufbau der Höfe mit ihren Familien, zu erhalten.
Keiner der Nachkommen freute sich über ihr Anliegen, sie hatten genug von diesen alten Geschichten und lehnten es ab darüber sprechen. Eva stieß auf eine breite Wand der Zurückweisung. Ebenfalls ihre Bitte eventuell vorhandene Briefe oder Tagebücher nur lesen, vielleicht das eine und andere Foto davon machen zu dürfen, wurde glatt weg abgewunken. Nachdem Eva hartnäckig in der darauffolgenden Woche erneut bei der Familie vorstellig wurde, war eine der Töchter endlich bereit, auf dem Speicher die alten Sachen aus der damaligen Zeit zu suchen. Eva hinterließ ihre Handynummer in der Hoffnung auf den einen oder anderen Dachbodenfund. Nach weiteren drei Tagen meldete sich unerwarteter Weise einer der Enkel und berichtete, es sei ein Schuhkarton aufgetaucht, in dem Briefe lägen, die allerdings in einer merkwürdigen Schrift verfasst seien, welche niemand von ihnen lesen könne. Erwartungsvoll, was sich Interessantes in der Schachtel verbarg, fuhr Eva hin. Sie wurde von einem sichtlich nervösen jungen Mann erwartet, der sie sofort in die nicht einsehbare Toreinfahrt zog.
»200,- Euro und Sie bekommen den Karton«, verlangte er.
»Junger Mann, erst einmal möchte ich den gesamten Inhalt sichten«, entgegnete sie verwundert. Umständlich kramte er eine Seite aus der Schachtel hervor und reichte diese ihr. Das Schriftbild erinnerte sie an ihre bisherigen Recherchen im Stadtarchiv, er war in Sütterlin geschrieben. Eva überlegte blitzschnell, ›Wenn er bemerkt, das ich die Schrift lesen kann, steigt der Preis. Verhandle, lass‘ Dich nicht über‘n Tisch zieh‘n.‹ Kritisch zog sie die Augenbrauen hoch und spitzte die Lippen,
»Hören Sie, 200,- Euro für eine Seite und irgendwelchen Krimskrams in diesem Karton, das ist Wucher.«
»Heehh, Sie wolle was aus der Vergangenheit un sinn ganz scharf druff, also könne Sie auch dafür was zahle.«
»Nein. Erst einmal will ich den gesamten Inhalt sichten. Für alte Zeitungen zahle ich nicht, die finde ich auch im Stadtarchiv«, lehnte sie kategorisch ab.
»Verdammt, Sie bekomme die Kohle doch eh von Ihrer Zeitung zurück. Ich brauch‘ den Zaster.«
»Für die Katze im Sack gibt es nichts«, entgegnete sie entschieden, wandte sich um und verließ den Hof. Der Enkel eilte hinter ihr her,
»Na gut, gebbe se mir 100,- Euro. Aber dann Schluss, mein letztes Wort.«
»Erst will ich den Inhalt sehen«, beharrte sie auf ihrem Standpunkt, »Oder kaufen Sie eine Schachtel ohne etwas drin?«
Demonstrativ schüttelte er den Karton, sie hörte das Klappern und rascheln, »Also gut, es ist etwas darin, nun heben Sie den Deckel hoch und lassen mich hineinsehen«, verlangte Eva unnachgiebig, »Hop oder Top?« Die zusammengekniffenen Augen und der schmale Mund ihres Gegenübers sagten ihr, das sie fast am Ziel war. Sie zog einen 50,- und 20,- Euroschein aus der Hosentasche und hielt sie auffordernd hoch. »Den Fuffi gibt es fürs Hineinsehen, den anderen, wenn der Deckel zubleibt.« Seine Entscheidung war schnell gefallen, hastig griff er nach den Geldscheinen. Eva wich ihm geschickt aus, »Ts, ts, ts, so nicht.«
»O.K., aber wenn des da drin gut is, bekomm ich die 70,- Mäuse.«
»Aufmachen, dann sehen wir weiter.«
Nach zähem Ringen gelang es Eva, den Inhalt des Kartons zu sichten, fand noch weitere Feldpostbriefe, einen Füllfederhalter, alte Postkarten und ein angefangenes, im Laufe der Jahre stockig und mit Wasserflecken durchzogenes Tagebuch. Für dieses Sammelsurium war sie bereit, die 70,- Euro zu zahlen und kaufte den Nachlass im Karton.
Nach einigen Versuchen gelang es ihr, die eigenwillige Handschrift des Verfassers, immer flüssiger zu lesen und deren Inhalt verstehen. Sie fertigte für ihre weiteren Recherchen eine Kopie an, mit genügend Platz, um ihrerseits Notizen einzufügen. Verschiedene Wörter konnte sie nur im Zusammenhang des Satzes erkennen, der Zahn der Zeit hatte sein Übriges getan und teilweise ganze Silben ausgelöscht.
In den Briefen fand Eva den bereits gehörten Sturmvogel wieder, und weitere Informationen zu den Personen der Vierer Gruppe. Die Namen von Rolf-Kaspar, Albert, Feodor und Ernst sowie andere Details zu ihren Familien unterstrich sie mit einem Textmarker.
Alberts Frau hatte einen Sohn geboren, Rolf-Kaspars Schwester geheiratet, Ernsts Vater war verstorben und sein Bruder galt als vermisst. Zu Feodor gab es keine weiteren Angaben.
Sie durchdachte die verschiedensten Möglichkeiten, ›Das Gruselmärchen von der Schling hatte sich aufs Neue bestätigt. Ebenfalls die drei Namen der Gruppe. Wer von ihnen hatte Otto erschlagen oder war es ein gemeinschaftlicher Mord? Was würde ich unternehmen, um ein Geheimnis, beziehungsweise die Lage eines Schatzes zu bewahren, wenn mir der Zugang über sehr viele Jahre verwehrt ist? Hinterlasse ich schriftliche Aufzeichnungen für meine Nachkommen? Welche Maßnahmen ergreife ich, wenn mein fortgeschrittenes Alter die Bergung nicht mehr zulässt? Ab wann bereite ich meine Kinder darauf vor?‹ Dies waren Familiengeheimnisse der besonderen Art und mit Sicherheit gab es weitere davon.
›Grabe tief genug und Du findest in jeder Familie eine Leiche im Keller, egal welcher Art‹, hatte Chris immer gesagt, wenn sie sich wunderte, was er alles fand. ›Wie zum Kuckuck hängt der Pilot Paul Wenzel in der Geschichte?! Ordentlich begraben, wie es einem Hauptmann würdig ist.‹
Eva klappte das muffig riechende Büchlein zu, für heute hatte sie genug Vergangenheit gelesen, Moritz würde sicherlich in der nächsten Stunde zurückkommen und sie wollte einen schönen Nachmittag mit ihm verbringen. Sie vermisste seine leidenschaftlichen Umarmungen und ihr vertrautes Zusammensein sehr. Außerdem brauchte er dringend eine Aufgabe, die ihn forderte, das Bisherige, rein und raus aus den Kartoffeln, machte ihn nur strubbelig im Kopf. Tom hatte sich ebenfalls angesagt, vielleicht besaß er als Mann mehr Einfluss auf ihn. Morgen war auch noch ein Tag, an dem sie wieder in die Kriegs- und Nachkriegsjahre eintauchen konnte.
Zeitig stand Eva auf, die Morgendämmerung kroch über die Häuser und im Osten verhieß der zarte rosa Schimmer einen sonnigen Tag. Heute hatte sie die Suche nach dem ungewöhnlichen Vornamen Rolf-Kaspar geplant. Mit einer großen dampfenden Tasse voll heißem Früchte Tee nahm sie an ihrem Schreibtisch platz. Irritiert durchblätterte sie die Briefe aus dem Schuhkarton. Das muffig riechende Tagebuch war nicht zu finden, gestern lag es noch ganz oben drauf. Sie stutzte, merkwürdig, nun fand sie es als unteres in dem gesamten Stapel. ›Hatte das Gespräch mit Tom gestern doch nichts gebracht? Schade, ich war überzeugt, er würde sich für sein Buch entscheiden. Lag sein Interesse jetzt doch wieder auf Reportage und er hat deswegen neugierig in meinen Unterlagen gelesen? Warum fragte er mich nicht? Diese Heimlichkeit war neu in seinem Verhalten,‹ überlegte Eva, ›Hat er dies spontan und aus Interesse gemacht oder befand er sich immer noch auf der Suche nach einer Aufgabe?‹ Irritiert schüttelte sie ihren Kopf. ›Ich muss Chris anrufen, ob er bereits etwas ausgegraben oder den Hinweis auf einen Goldfund erhalten hatte.‹
Der Vorname Rolf-Kaspar war sehr markant. Eva kämpfte sich durchs Internet, hatte zwei verschiedene Treffer im Umkreis von 150 Kilometern, einer davon, quasi direkt vor ihrer Haustür, versprach sehr interessant zu werden und erschien ihr momentan ganz besonders vielversprechend. ›Soll ich Chris noch einschalten, um weitere Informationen zu diesem ungewöhnlichen Namensträger zu erhalten?‹, überlegte sie, ›Nein, erst mal sehen wie das Ergebnis meiner eigenen Suche ausfällt‹, entschied sie.
Ihr Treffer in Schwalbach erwies sich als korrekt. Hier lebte noch eine Familie Mertens, die den markanten Vornamen weitergegeben hatte. Eva nahm erst einmal telefonischen Kontakt auf, und bevor Frau Mertens am anderen Ende auflegen konnte, schob sie erneut die Dokumentation in den Vordergrund und bat sie um Mithilfe. Das Zögern ihres Gegenübers gab Eva die Chance, näher auf ihr Vorhaben einzugehen und sie bat darum den ehemaligen Soldaten sprechen zu dürfen, falls er noch lebte.
»Mein Vater ist bereits Anfang 1994 verstorben«, entgegnete sie zurückhaltend.
»Meine Anteilnahme. Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewusst«, Eva machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach.
»Vielleicht können Sie mir weiterhelfen, ich suche Zeitzeugen, oder deren Kinder und Enkel, die möglicherweise Geschichten aus diesen Jahren wissen und mir davon erzählen. Es geht mir rein um den Inhalt, ich verwende keine Namen«, versicherte sie. Frau Mertens zögerte, Eva spürte ihren Zwiespalt, »Verzeihen Sie, ich bin eine völlig Fremde am Telefon, die Sie ausfragt, ich kann verstehen, wenn Sie nicht mit mir sprechen möchten, aber vielleicht haben Sie einen Namen oder einen Verein, den ich kontaktieren könnte.« Stille am anderen Ende der Leitung.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
Frau Mertens senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »Warten Sie, verraten Sie auf keinen Fall, das ich Ihnen die Information gegeben habe. Es ist zwar schon alles sehr lange her, aber mein Bruder will nicht, das ich mit jemandem darüber rede. Volker-Kaspar trifft sich immer Mittwochs in der Lindenschänke mit Gleichgesinnten. Sie sind alle die Söhne von Ehemaligen und diskutieren über die unwahrscheinlichsten Zukunftsmodelle, wenn der Krieg anders ausgegangen wäre. Ich glaube dort erhalten Sie die gesuchten Informationen.«
»Das ist großartig, ich danke Ihnen. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten«, blitzschnell überlegte Eva, ob es respektlos wäre Frau Mertens nach vorhandenen Briefen oder Ähnlichem zu fragen. »Verzeihen Sie, ich möchte nicht unverschämt erscheinen aber befinden sich in Ihrem Besitz vielleicht noch Feldpostbriefe oder andere Aufzeichnungen?«