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Eva Völkel hat Hinweise zu gewissenlosen Versuchen am Menschen von der Tochter des Großindustriellen Stephan von Arche erhalten. Gemeinsam mit dem Journalisten Moritz Dressler und dem Computergenie Christian Specht geht sie der Sache nach und stößt auf eine rätselhafte Serie von ausgeweideten Frauen im Main- und Hochtaunus-Kreis. Ihre Recherchen führen sie bis in die Abgründe berechnender und eiskalter Forschung, die, gut versteckt im Hintertaunus und ausgelöst von totalem Perfektionismus, unbemerkt betrieben werden.
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Seitenzahl: 561
Veröffentlichungsjahr: 2020
E.D.M. Völkel
Nullmenschen
© 2020 E.D.M. Völkel
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-19390-1
Hardcover:
978-3-347-19391-8
e-Book:
978-3-347-19392-5
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ein dickes Dankeschön an meine Familie für die großartige Unterstützung, den unermüdlichen Kaffeenachschub und die immense Geduld beim Probe-Lesen.
Zudem mein Dank an Herrn Klomann, der mir mit seinem historischem Wissen wertvolle Informationen gegeben hat, und an die vielen anderen Menschen, die mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
Prolog
Völkel stand am Klingelschild des kleinen Eckhauses in der Bergstraße Eschborn. Im weitläufigen Garten leuchteten in kräftigen Farben die letzten Blüten der Herbststauden. Karmesinrot blitzten die Hagebutten durch das grüne, dünner werdende Laub der Kletterrosen über dem Eingang des Gartentores. Der Weg am Haus entlang führte in einen mit hellgrauen Natursteinen gepflasterten Hof. Dieser wurde durch die Garage und einen Gartenschuppen zum Nachbargrundstück begrenzt. Hier standen, vor dem kälter werdenden Novemberwind geschützt, die empfindlichen Pflanzen und warteten darauf, in ihr Winterquartier gebracht zu werden. Der sonst weitaufgespannte Sonnenschirm war in seiner Hülle verpackt im Schuppen abgestellt. Dort lagen ebenfalls die Abdeckungen für den Holztisch, die Bank und die Stühle bereit.
Evas Schmerz über den unerwarteten Tod der Eltern, welcher ihre Rückkehr aus Hamburg nach Eschborn auslöste, wurde nach knapp zwei Jahren schwächer. Doch die Erinnerungen an die überaus merkwürdigen Umstände brannten sich unauslöschbar in ihren Kopf. Diese Ereignisse hatten eine gigantische Welle an Änderungen für ihr bisheriges Leben ins Rollen gebracht.
Als Tochter eines Wissenschaftlers war sie im Grunde ihres Wesens neugierig. Sie versuchte mit den bescheidenen Möglichkeiten, welche ihr zur Verfügung standen, die Fakten der abrupten Todesfälle zu klären, um diese vielleicht zu verstehen. Ihre Wertvorstellungen von richtig und falsch gerieten massiv ins Wanken. Letztendlich stürzten sie über ihr zusammen und begruben sie mitsamt ihrem Glauben an die Menschlichkeit unter sich.
Neue Freunde entpuppten sich als heimtückische Feinde, Personen, die unerreichbar schienen, wurden zu engen und geliebten Partnern. Die ungleichen Kumpel Moritz, der Journalist, und Chris, der überaus findige Fachmann am Computer, nahmen sie ohne Vorbehalte in ihre Gemeinschaft auf. Von ihnen lernte sie alles, was zum investigativen Journalismus gehörte. Rasch merkte Eva, das der bisherige Job in der Bank lediglich eine vorübergehende Tätigkeit gewesen war. Die erlebnisreiche Zusammenarbeit mit den beiden gefiel ihr weitaus besser, als sie es jemals für möglich gehalten hätte.
Ihre zögerliche und fast schon ängstliche Haltung in der ersten Recherche verwandelte sich stetig in entdeckerischen Wagemut. Dieser bescherte ihrem neuen Freund Moritz viele schlaflosen Nächte. Die gerade beendeten Nachforschungen, welche in einem spektakulären Artikel ihren Höhepunkt fanden, schlugen hohe Wellen. Die Ausläufer waren auch heute noch spürbar. Ihre Suche führte sie zu den fragwürdigen Machenschaften alteingesessener Aristokratie und als ausgleichendes Gegengewicht zu dem ortsansässigen Rockerclub, Lakota MC. Schmunzelnd bemerkte sie im vergangenen Sommer, dass ihre Vorstellung vom typischen Klischee des Rockers passte. Sie teilte die Männer für sich in drei Gruppen auf. Die drahtigen, die bierbäuchigen, und jene, die sich noch nicht entschieden hatten, zu welcher sie gehören wollten. Glücklicherweise hatte sie bei ihren Besuchen in deren Clubhaus auch Normalos kennengelernt und mit Tina, der Frau des Präsidenten, verband sie eine lockere Freundschaft.
Die gefährlicher werdenden Recherchen bescherten ihr unter anderem eine unfreiwillige Fahrt im Auflieger mit einem alptraumhaften Aufenthalt im Vorderen Orient. Moritz verlangte daraufhin, dass sie niemals mehr während einer laufenden Ermittlung einer Spur folgte, ohne Nachricht, wohin sie gehe.
* * * * * * *
Der November verlängerte den goldenen Oktober mit seinem atemberaubenden Farbenspiel der Natur. Dennoch kam der Herbst; unerbittlich zog er mit großen Schritten über das Land und kündigte den nahenden Winter an. Die Zeit des aus den Wiesen und Feldern aufsteigenden Nebels verwandelte die Landschaft auf geheimnisvolle Art und Weise.
›Jetzt fehlt nur noch der unverkennbare Geruch des Kartoffelfeuers‹, ging es Eva durch den Kopf. Sie seufzte und wandte sich den vertrockneten Stängeln der Stauden zu, die darauf warteten, abgeschnitten zu werden. Moritz kam eilig den Gartenweg entlang auf sie zugelaufen und reichte ihr das Telefon. Er hatte keine Augen für die feinen, schimmernden Tautropfen auf den in bunten Herbstfarben leuchtenden Blätter.
»Kathi ist dran, sie erzählt so viel durcheinander, ich kann damit nichts anfangen«, verdrehte er die graugrünen Augen. Eva warf ihrem ein Meter achtzig großen und muskulösen Freund glücklich strahlend einen Kuss zu.
»Hey Kathi, wo bist Du gestern hin verschwunden? Wir haben Dich gesucht…«, sie strich sich eine aus dem geflochtenen Zopf gelockerte Haarsträhne aus der Stirn.
»Ich musste mal an die frische Luft…«, entgegnete diese ohne Begrüßung, was alles bedeuten konnte.
»Gerade bin ich in der alten Firma. Stell Dir vor, er hat doch tatsächlich versucht, die Inhaber zu überzeugen, mich zu feuern und vor versammelter Mannschaft als unfähig hingestellt!«, drang ihre Stimme schrill und aufgebracht aus dem Hörer.
›Die unglaubliche Geschichte, geht weiter. Hatte der blaublütige, arglistige Vater der unantastbare Herr von Arche seine Tochter jetzt endgültig auf der Abschussliste?! Traute er selbst einer Frau selbst im 21. Jahrhundert nicht die Führung eines Unternehmens wie der Automo-Hessen zu?‹ »Ehrlich, mich wundert gar nichts mehr. Er ist und bleibt ein widerlicher, heimtückischer Fiesling«, kommentierte Eva schneller als gewünscht.
»Sie geben mir eine Chance mit fast unerreichbaren Zielen. Wenn ich es schaffe, den Kunden an Land zu ziehen, kann ich bleiben. Falls ich es verbocke, räum` ich meinen Schreibtisch«, keuchte sie. »Es sei ein Test, ob ich überhaupt fähig wäre einen Teil der Geschäftsleitung zu übernehmen.«
»Er hat auch dort so weitreichende Kontakte? Wo stecken eigentlich seine Finger nicht drin?!«
»Ja und noch sehr viel weiter. Beim letzten Mal hat er gedroht, mir das Leben so schwer wie möglich zu machen. Wenn er will, kann er mich jederzeit auf immer vernichten«, flüsterte sie. »Wie Du selbst erfahren hast, haben die von Arches fast überall die Finger drin, bis ganz nach oben in die Führungsebenen der Politik und Wirtschaft. Genau wie in Deinem Artikel beschrieben. Es macht ihm Spaß mich scheibchenweise zu diskreditieren. Er stellt mir Fallen wo es geht, nur um mir zu zeigen, dass ich keine Chance habe jemals in dem uralten Konstrukt aus Männermacht fußzufassen. Als Frau hast Du in dieser Familie keinerlei Rechte.«
Eva erinnerte sich an die ungeheuren Erkenntnisse. Eingeschworene Gruppen versuchten die neuralgischen Punkte des Staates und der Wirtschaft zu unterwandern, um diese zum geeigneten Zeitpunkt zu übernehmen. Innerlich hoffte sie, dass in Zukunft die Kontrollbehörden, aufgeschreckt der gefundenen Tatsachen, gründlicher arbeiteten. Die Ansicht von Moritz: Die Hintermänner sitzen in so hohen Positionen und haben ihre eigenen Vorstellungen. Außerdem hängt die halbe Politik, Industrie und Wirtschaft dort mit drin. Das Schlimmste, über all dem schwebt die Hand des allmächtigen Geldes und schützt sie; war ihr noch lebhaft im Gedächtnis.
»Kathi, was ganz anderes, Du warst gestern richtig fertig. Was war los? Können wir Dir helfen?«
»Erinnere mich bitte nicht mehr an gestern, ich war schwach und hab mich gehen lassen«, die Worte klangen eher unsicher als selbstbewusst.
»Nein Kathi, Du hast uns um Hilfe gebeten Deine Identität herauszufinden und es ist für uns, Deine Freunde, selbstverständlich, Dich zu unterstützen.«
»Ach Eva, ich habe gestern zu viel getrunken und kann mich fast nicht mehr an euren Besuch erinnern«, versuchte sie abzulenken. Eva runzelte die Stirn, ›was zum Kuckuck war plötzlich in sie gefahren?! Erst machtsie uns rebellisch und jetzt kneift sie? Das ist nicht die Kathi, die ich kenne!‹, stand sofort für sie fest. ›Es musste in der Zwischenzeit etwas passiert sein, das sie veranlasste, einen Rückzieher zu machen. Hing das alles noch mit der dubiosen Familiengeschichte aus, Erpressung, Mord und Totschlag zusammen?‹ Unbewusst schüttelte sie sich, ›gruselig, was dort in den vergangenen Jahrzehnten alles passiert war.‹
»Eva, ich wünsche euch beiden eine gute Zeit und wir sehen uns irgendwann einmal. Grüß Moritz von mir. Ciao.« Perplex starrte Eva auf das Telefon in ihrer Hand.
›Da stimmt was nicht. Nicht nach gestern‹, beunruhigt ging sie rasch den Weg zum Haus. Den spät blühenden Astern und Primeln in den Beeten rechts und links schenkte sie nur einen kurzen, flüchtigen Blick.
Moritz erwartete sie bereits mit einer Tasse voll heißem duftenden Kräutertee in der Küche. Die langen hellbraunen Locken umrahmten sein kantiges Gesicht.
»Was hat sie Dir am Telefon erzählt?!«, überfiel sie ihren Freund und die saphirblauen Augen funkelten. Ein Teil des kastanienfarbenen Haares hatte sich endgültig gelöst und hing wirr um ihr hübsches, rundes Gesicht. Er kniff die Augen zusammen, legte seinen Kopf in den Nacken und dachte einen Moment lang nach.
»Es war allerlei wirres Zeug, ich bin nicht daraus schlau geworden, deshalb habe ich Dir das Gespräch gegeben. Ihr Frauen versteht euch nun mal anders.«
»Also los. Was hat sie gesagt«, bestand Eva auf einer Antwort. »Los, erinnere Dich!«
»Hm… ich habe es erkannt, es ist ein Kopf, seine Bösartigkeit wird noch übertroffen…« Moritz sah zur Decke und überlegte. »Sebastian ist auch einer… und, ich habe es gesehen.« »Was noch?«, sah sie ihn wartend an.
»Das war es. Nichts mehr. Ich konnte ihr nicht folgen und habe sie gebeten einen Moment zu warten. Das ich Dich im Garten suche, weil Du sicherlich mehr mit diesem Kauderwelsch anfangen kannst.«
»Sie hat mich abgewimmelt, da stimmt was nicht.« Eva verzog misstrauisch ihr Gesicht. »Denk an gestern, als wir zu Kathi in die Villa gefahren sind. Denk an ihren fürchterlichen Zustand. Etwas später erzählte sie, wie ihr Vater die Tatsache offenbarte, das sie ein Experiment sei, ein … wie hat sie es ausgedrückt? Bestell-Baby aus dem Reagenzglas-Katalog. Damit wäre sie keine echte von Arche und hätte, nicht nur als Frau sondern auch genetisch, keinerlei Anspruch auf einen Sitz in der Firmenleitung.« Unruhig schritt Eva durch die Küche in die Diele und wieder zurück. Moritz kannte dieses Verhalten, das er selbst ab und an zum Nachdenken an den Tag legte.
»Sie wollte wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Dann unser Erstaunen, wir konnten es zu Beginn nicht glauben. Kathi hat noch genickt und ihre Augen waren sehr traurig, als sie bestätigte ganz sicher zu sein. Das gruselige Stöhnen, als sie flüsternd erzählte, dass es ihrem Vater Spaß gemacht hätte sie zu demütigen. Sie habe es ganz deutlich in seinen Augen gesehen. Das boshafte Aufleuchten kurz bevor er zu dem zerschmetternden Schlag ansetzte. Du konntest Dich nicht länger zurückhalten und hast sie gefragt, ob es handfeste Beweise gäbe, die er ihr gezeigt habe, damit sie die Korrektheit seiner Behauptungen prüfen könne.« Eva war stehengeblieben und trank einen großen Schluck ungesüßten Tee.
»Dann ihre Bestätigung, dass sie die Belege angeschaut habe und diese die Krönung seiner Vernichtung gewesen seien. Sie habe es gelesen und schwarz auf weiß mit eigenen Augen gesehen.« Moritz nickte, er konnte sich sehr gut an den gestrigen Tag erinnern.
»Auch dass es Originale gewesen seien, die Möglichkeit einer Fälschung kam für Kathi nicht in Frage. Deine Empörung über diese Bösartigkeit wuchs unaufhaltsam und dein Sinn für Gerechtigkeit rumorte solange in Deinem Inneren, bis Du ihm mit einem Aufschrei durch den ganzen Salon Luft gemacht hast. Unsere Frage, ob er ihr eine Kopie ausgehändigt hätte oder sie den Briefkopf auf den ominösen Beweisen sehen konnte.«
»Genau, Du warst aufgesprungen und zu den hohen Fenstern hinübergegangen. Ich erkannte Deine Abscheu gegen so viel Niedertracht ganz deutlich im Gesicht.«
»Ja, als ich in den Park hinuntersah, dachte ich: Verdammt was nutzteinem das schönste und reichste zu Hause, wenn du dort nicht willkommen bist. Kathi bewohnt einen ganzen, mit allem, was das Herz begehrt, ausgestatteten Flügel der Villa allein. Und jetzt? Jetzt ist sie eine Persona non grata.«
»Mit etwas Glück könnte sie dort wohnen bleiben, doch wie ich diesen niederträchtigen, arglistigen Drecksack einschätze, schmeißt er sie raus. Nur so zum Spaß. Weil er es kann.«
»Ruf sie gleich an«, schlug Moritz pragmatisch vor, »wenn sie jetzt keine Lust oder Zeit hat, mach einen Termin aus, wir treffen uns nochmals.«
»Da stimmt was nicht. Sie bat uns, ihr zu helfen, herauszufinden, wer sie ist«, beharrte Eva.
»Genau. Aber ihre Frage war: ›Auch wenn ich erst einmal nicht alle Fakten offenlegen kann?‹, was meinst Du verheimlicht sie uns noch?«
»Bestimmt sehr vieles, ich will nicht in ihrer Haut stecken. Die von Arches haben es in sich, das ist ein kolossaler Haufen von hinterhältigen und widerwärtigen, Möchtegern-Aristokraten die auf das gemeine Volk hinabblicken und es verachten. Die niederen Wesen können froh sein für den Clan der Hochwohlgeborenen zu arbeiten und haben auch noch die Unverschämtheit, Geld dafür zu verlangen«, erbost über diese Tatsache stemmt Eva ihre Hände in die Hüften.
»Lass uns die Geschehnisse weiter rekapitulieren«, holte Moritz Eva zum Thema zurück. »Nach ihrem dritten Whisky, habe ich die Flasche in den Vitrinen Schrank gestellt. Du hast vorgeschlagen, sie solle versuchen von dem Logo aufzumalen, woran sie sich erinnere. Hast sogar noch in Deiner Handtasche nach einem Papier und Stift gegraben.«
»Hab ich auch gefunden und bin runter in die Küche, auf der Treppe ist mir noch Henry der Butler begegnet, der anbot den Tee zu kochen. Dann klingelte der gnädige Herr und er ist verschwunden. Ich habe alles recht schnell in dieser topmodernen Küche gefunden und bin mit dem Tablett wieder zu euch hoch.«
Moritz nickte wissend. »Ja, ich hatte mich auf das Sofa gesetzt und die Beine ausgestreckt, dann muss ich eingeschlafen sein.«
Eva zog die Augenbrauen bis zum Haaransatz.
»Muss ich eingeschlafen sein?! Du hast tief und fest geknackt, nicht alles, dass Du noch laut geschnarcht hast«, frotzelt sie.
»Ach hör schon auf, die letzten Monate waren echt anstrengend. Dich zu lieben und mit Dir zu leben ist eine echte Herausforderung. Ich hatte viele schlaflose Nächte, bevor Du wieder zu Hause warst«, verteidigte er sich.
»Als ich Dich wachrüttelte, war Kathi schon weg, einfach so, ohne Nachricht, oder hat sie Dir noch etwas gesagt?«
»Nein, wirklich nicht. Sie saß immer noch auf dem Sessel und so viel wie sie intus hatte, war ich der Meinung, dass sie nicht mehr stehen kann, geschweige denn laufen.« Eva hatte den Tee ausgetrunken und füllte erneut ihre Tasse.
»Ich bin felsenfest überzeugt, von gestern auf heute ist was passiert. Zu Beginn unseres Gespräches war sie noch Kathi und plötzlich, von einer Sekunde zur anderen, war sie ganz Geschäftsfrau.«
»Apropos Geschäftsfrau, wo arbeitet sie?«
»Das hat sie mir leider nicht verraten. Aber Chris, der kann es bestimmt herausfinden«, verschwörerisch grinste Eva Moritz an.
»Ja. Is´ schon gut. Aber ich ruf ihn an, schließlich hast Du mich in diese Sache hineingezogen«, schob er als Einwand vor und drückte die Kurzwahltaste auf seinem Handy. Eva knuffte ihn an der Schulter, »vielen Dank Herr Dressler für Ihre unendliche Güte sich herabzulassen, mein Anliegen vorzutragen«, lachte sie und machte eine leichte Verbeugung.
»Du brauchst mich als Bodyguard, à la Kevin Costner, so wie Du von einer Aktion in die nächste stolperst, muss Dich ja einer beschützen.« Eva verstand sehr wohl die Andeutung auf ihr gegebenes Versprechen. Sie setzte sich ihm gegenüber an den Küchentisch, öffnete den zerzausten Zopf und strich sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Augen blitzten ihn unternehmungslustig an.
»Guude mein Lieber«, begrüßte Moritz seinen besten Freund, den etwas kurz und breit geratenen, kahlköpfigen Chris, der mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten die verstecktesten Informationen ausgraben konnte. »Wie geht´s Dir? Hat sich die siebte Etage nach dem Vorfall wieder beruhigt?«
»Moritz, schön von Dir zu hören. Evas Artikel hat sehr viel Staub aufgewirbelt, Respekt. Zwei Kollegen sind immer noch dran und verfolgen die Auswirkungen bis ins kleinste Detail.« Durch das Handy war das Klappern der Tastatur zu hören. »Hau raus Alter, was kann ich für Dich tun?«
»Wir suchen zusätzliche Informationen über eine Katharina von Arche. Sie ist zirka dreißig Jahre alt, plus minus und die Tochter des Automo-Hessen Besitzers.«
»Mehr nicht?! Ist das alles? Moment«, bat er, »so, ich habe hier eine Katharina von Arche, ja sie ist dreißig, die Unternehmertochter der Automo-Hessen, Wohnsitz im Kreis Wiesbaden. Arbeitet bei … Moment mal, hier passt was nicht«, führte Chris eine Art Selbstgespräch. »Ich melde mich«, und legte auf.
Fragend sahen sich Eva und Moritz an.
»Ich wusste, da stimmt was nicht.« Die Sorge um Kathi spiegelte sich in ihren Augen.
»Ja. Du hast Recht«, nickte er, »so wie meistens.«
* * * * * * *
Das diabolische Glühen seiner stahlgrauen Augen steigerte sich zu einem Lodern, befriedigt legte Stephan von Arche den Hörer auf die Gabel. Die letzten Anweisungen waren erteilt und Katharina, die Verräterin der Familiengeheimnisse, würde einen sehr hohen Preis für ihr aussichtsloses Unterfangen bezahlen. Ärgerlich verzog er den Mund, undenkbar, eine Frau an der Führungsspitze! Niemals! Nicht solange er das Sagen hatte und die Geschicke der eigenen Unternehmen lenkte.
Vor dreißig Jahren hatte er sich gegen seine Überzeugung überreden lassen, einen der Bälger aufzunehmen, um ihren Charakter zu formen. Sie entwickelte sich überraschenderweise ausgesprochen gut, erwies sich als sehr intelligent und besaß eine schnelle Auffassung. Sie wuchs zu einer begehrenswerten jungen Frau heran und würde die Verhandlungen mit dem Großindustriellen der Stahl-Branche erleichtern. Sie war sein perfektes Aushängeschild, wie bedeutungsvoll die Veränderung der DNA sein konnte. Sebastian hatte er zu seinem Ebenbild erschaffen lassen und setzte wirklich alles daran, ihn mit absoluter Härte zu dem eigenen, persönlichen Charakter zu formen. Mit Genugtuung stellte Stephan fest, dass sein Sohn ebenfalls die Vorliebe zum Sadismus verinnerlichte und ließ ihm freien Lauf. Empathielose Menschen sind die besseren Führungskräfte. Keine Gefühlsduseleien lenkten sie ab, Mitgefühl und Anteilnahme waren störende Züge, um die notwendige Entscheidungen zu treffen.
Schade, dass Katharina aus einem anderen Experiment stammte und kein männlicher Nachkomme war. Sie übertraf Sebastian an Intelligenz um ein Vielfaches. Immer wieder hatte er die Organisation bedrängt, endlich auch männliche Ausführungen in dieser Versuchsreihe zu erschaffen. Aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen sei dies angeblich unprofitabel. Die jetzigen Erkenntnisse aus den Experimenten waren bedeutend aber noch nicht hundertprozentig zu ihrer Zufriedenheit. Die Produktion lief auf vollen Touren und bescherte ihnen satte Gewinne. Erst wenn der letzte Baustein zum perfekten, komplikationsfreien Produkt gefunden war, würde seinem Wunsch entsprochen werden.
All dies lag viele Jahre zurück, Sebastian war schon siebenundzwanzig Jahre alt und sich jetzt noch einmal mit einem Säugling zu befassen, ihn zu formen und ihm seine grausamen Vorlieben beizubringen, kam für ihn als Vater nicht mehr in Frage. Sein Sohn sollte sich damit auseinandersetzten, auf einen Enkel hatte er immer noch genügend Einfluss, um ihm den rechten Weg zu weisen.
* * * * * * *
Durch den Lärm der Bohrmaschine und den hohen, durchdringenden Laut der Kreissäge war der markante Klingelton von Fritz mobilem Telefon kaum zu hören.
»Dein Handy«, schrie Berti laut, stellte den Strom der Maschine ab und deutete auf die Weste seines Präsidenten. Nickend dankte der drahtig schlanke Mann von mittlerer Größe. Er wischte rasch die mit Holzstaub bedeckten Hände an der Dachdeckerhose ab. Seine schwarze Lederweste mit dem Abzeichen des Lakota Motorradclubs hing über der benachbarten Stuhllehne und geschickt zog das Telefon aus der Innentasche.
»Guude«, begrüßte er den Anrufer herzlich mit seiner sonoren Stimme, »was has´de?« Ein harter Zug um die Mundwinkel zeigte sich auf dem mit tiefen Furchen durchzogenen Gesicht. Schmerzlich dachte er an die vergangenen Monate zurück. Sie hatten dem Lakota MC gravierende Lücken in ihre Reihen gerissen, viele der Brüder waren getötet und einige von ihnen mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert worden. Die Beerdigungen der, durch die mutwillige Explosion ihres ehemaligen Clubhauses in Eschborn, Getöteten, waren vergangen. Der Trauerflor wehte, als sichtbares Zeichen des Gedenkens an jedem einzelnen Motorrad. Der MC hatte seine eigenen Gesetzte, die Hierarchie war klar abgesteckt und deutlich auf jeder Weste der Rocker erkennbar.
»Danke Mann«, nickte er kurz, legte auf und sah in die Gesichter der anderen.
»Habt ihr was rausgefunne?!«, wartend standen Berti, Hugo und Mike vor ihm. Unerwartet flog polternd die Haustür auf und Kralle, der bärtige Vizepräsident, kam mit zwei Eimern Farbe herein.
»Draußen ist noch mehr im Auto, ihr steht hier und babbelt, los, auf, auf!« Seine unverkennbare, raue und tiefe Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagte, drang durch die Eingangshalle. Ein kurzer Blick auf die Brüder genügte, »Was ist passiert?«
»Neuigkeiten«, bestätigte Fritz.
»Ihr habt was, ich seh´s Euch genau an«, Berti schwang sich behände auf die halbfertige Theke, zündete sich eine Zigarette an und blickte erwartungsvoll auf sie.
»Ja, das ist korrekt«, bestätigte Kralle und strich sich mit der Hand durch den Bart. »Wir sagen es heute Abend beim Meeting. Schon mal zur Beruhigung, den Bombenbastler haben wir gefunden.«
»Ha! Ich wussd es!«, rief Hugo. »Bestimmd bis de schon seid Taachen an em dran«, grinste er breit und schlug ihm mit seiner riesigen Hand anerkennend auf die Schulter.
Kralle nickte, baute bedächtig einen Joint, zündete ihn an und zog den Rauch tief in seine Lungen. Dann reichte er ihn weiter, langsam drehte er die Runde und der unverkennbare Geruch des erstklassigen Marihuanas breitete sich im Erdgeschoß aus.
»Wir konnten alte Verbindungen neu aufleben lassen und ham eine Übereinkunft getroffen. Alle Brüder entscheiden heute Abend, ob und wie es weitergeht«, bestätigte er.
»Okay, dann lasst uns weidermache, vielleichd läufd zum Meeting schon des ersde kühle Blonde aus em Zapphahn.« Mike schupste Berti von dem Tresen und warf Hugo den Schraubendreher zu.
»Wie sagte unser Vize vorhin? Los, auf, auf, babbelt ned, es gibt viel zu tun.«
Fritz stellte sich unauffällig zu Kralle und reichte ihm eine Flasche Wasser.
»Bist Du in eigner Sache weitergekomme?«, er sah besorgt, wie dieser den Kopf schüttelte.
»Nein, leider nicht.«
* * * * * * *
Gekonnt hatte Chris eine Recherche gestartet und innerhalb kurzer Zeit lagen die ersten Ergebnisse vor.
Das Unternehmen, für welches Kathi arbeitete, beriet Firmen, die Führungskräfte entsprechend ihren Anforderungen suchten. Geeignete Kandidaten wurden gerne mit unwiderstehlichen Angeboten abgeworben. Dieses Vorgehen bescherte ihnen nicht nur Lob und Anerkennung, sondern ebenfalls unverhohlenen Tadel bis hin zu Drohungen.
Umgehend meldete er sich per Mail mit einigen interessanten Neuigkeiten.
- Hallo ihr beiden, es gibt eine Diskrepanz in Kathis frühster Vergangenheit, die ich beinahe überlesen hätte. Ihr Vorname und das Geburtsdatum wurden am 20. September eingetragen, der Familienname ›von Arche‹ allerdings erst zehn Tage später, am 30. Ich habe etwas weiter gegraben, anscheinend wurde sie kurz nach der Geburt im Waisenhaus aufgenommen. Sowas passiert jedoch nur, wenn sie ein Findelkind war. Das würde auch den nachträglich eingetragenen Familiennamen erklären. Schwieriger wird es, wenn die Mutter selbst sie nicht wollte oder noch viel zu jung war. Oder, sie wurde der Mutter wegen unzureichender Fürsorge durch die Behörden entzogen. In den beiden letzten Fällen wäre allerdings der Familienname vermerkt. Glück im Unglück, als Baby hast du die größten Chancen adoptiert zu werden. Wenn ich etwas Neues gefunden habe, melde ich mich.
Ciao Chris
Post Skriptum, Eva, ich kann es fühlen, es liegt fast greifbar in der Luft. Du bist dem nächsten Skandal auf der Spur.-
»Ich glaube, die Kommissarin Heinzer hatte vor einigen Wochen doch recht mit ihrem Spruch, die Ratten haben sich in ihren Löchern verkrochen.« Moritz stützte seinen Kopf in die Hände und blickte nachdenklich zum Fenster hinaus.
»Jetzt warten sie erst bis die Luft rein ist und zack, sind sie wieder da.«
»Sie sind clever und opfern einen, damit der Clan überlebt«, vervollständigte Eva das Beispiel aus der Fauna. »Ich bin noch nicht überzeugt, dass der hochwohlgeborene von Arche wirklich ein Opfer ist. Ich denke mal, er zieht nach wie vor die Fäden aus dem Hintergrund und sein Sohn Sebastian, der widerliche Sadist, macht, was Papa sagt. Kathi haben sie ganz nach Familienmanier fein säuberlich abserviert.«
»Jetzt verstehe ich das auch, durch ihre Adoption ist sie keine ›genetisch echte‹ von Arche. Sie ist das Bauernopfer, der Herr Graf ist fein raus und Sebastian wird zum Alleinerben.« Moritz war aufgestanden und schüttelte sich bei diesem Gedanken. Eva versuchte zum x-ten Mal Katharina auf dem Handy zu erreichen.
»Apropos Sebastian, habe ich es richtig in Erinnerung? Sagte sie nicht, er ist auch einer? Was ist er? Auch adoptiert oder ebenfalls ein Experiment?« Sie legte enttäuscht das Telefon zur Seite. Alle Bemühungen waren leider erfolglos, aber sie hinterließ mehrere Nachrichten auf der Mailbox mit Bitte um Rückruf.
»Genau, Du hast vollkommen recht«, erhellte sich Moritz bedrücktes Gesicht, »ich schreibe Chris, er soll mal prüfen, ob es bei ihm ebenfalls Diskrepanzen gibt.«
Der Winter zog mit großen, nasskalten Schritten über das Land und vertrieb die letzten warmen Tage des endenden Herbstes. Eine dichte Nebelsuppe schwappte bis in die Straßen und hüllte die Umgebung in sein verschwommenes Gewand. Es roch nach feuchter Erde, nassem Laub und der erste Schnee schien auch nicht mehr weit zu sein.
Tags drauf klingelte unerwartet Evas Handy und flink angelte sie es aus der Dielenschale.
»Kathi!«, rief sie erstaunt und freudig zugleich. »Schön, dass Du Dich meldest.«
»Eva, er hat es tatsächlich geschafft, ich bin raus! Er war höchstpersönlich da und hat mir die Entlassung mitgeteilt. Es hat ihm richtig Spaß gemacht! Seine Augen hatten einen teuflischen Ausdruck und er war wie früher, wenn er mich verprügelte«, hörte sie ihre Worte mit leichtem Zittern in der Stimme.
»Du kannst zu uns kommen, das Gästezimmer ist frei. Klein aber fein.
Du hast die Adresse?!«, reagierte Eva blitzschnell.
»Ist schon gut, ich danke euch. Sei nicht böse, ich habe ein Zimmer im Hotel und suche mir einen neuen Job. Vielleicht ist es besser, da raus zu sein und einen anderen Weg einzuschlagen.«
»Stopp! Kathi. Wo kann ich Dich erreichen?«
»Ja, das ist korrekt. Vielen Dank, auf Wiederhören.«
»Was war das?«, hörte Eva Moritz Stimme direkt neben ihrem Ohr. Er war ganz dicht an sie getreten und hatte das Telefonat mitgehört. Stirnrunzelnd sah er sie an.
»Da stimmt was nicht. Hast Du die Veränderung im letzten Satz gehört?!«, resigniert legte sie das Handy auf den Tisch. »Sie hat mich schon wieder abgewimmelt. Was habe ich falsch gemacht?!«
»Gar nichts. Sie ist eben so. Vielleicht hat sie Dich ein weiteres Mal benutzt?! Wie lange kennst Du sie und wie oft hast Du mit ihr gesprochen?« Fragend sah er sie an. Eva wiegte den Kopf hin und her, Moritz nahm ihr die Antwort ab. »Eben. Sie ist und bleibt eine unbekannte Größe in Deiner Rechnung. Das x, das Du bestimmen musst.«
Die durchdringende Klingel an der Haustür holte Eva in die Realität zurück.
»Ja. Möglicherweise hast Du recht«, seufzte sie. Moritz ging voraus und öffnete.
Der Briefträger mit seiner großen, gutgefüllten Zustellertasche stand vor ihm, lächelte freundlich und hielt ihm einen unfrankierten Umschlag entgegen. Moritz entzifferte etwas mühsam die rasch hingeschmierten Namen, Völkel und Dressler.
»Guten Tag, ich habe einen Brief ohne Porto. Sind Sie bereit die Nachgebühr zu zahlen?«, hörte Eva die ihr bekannte Stimme des Postboten. Bevor Moritz antworten konnte, trat sie rasch zu ihnen, sah neugierig auf den Umschlag und nahm das zerknitterte hastig beschriftete Kuvert in die Hand.
»Er ist an uns beide adressiert. Leider ohne Absender«, sie drehte und wendete ihn mit gemischten Gefühlen.
»Ja, selbstverständlich«, entschied Moritz spontan und zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche und bezahlte. Eva reichte ihm das Kuvert, »mach ihn auf, es bringt nichts, die Entscheidung hinauszuzögern.
Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung.«
Vorsichtig schlitzte er den arg mitgenommenen Umschlag auf. In seinem Inneren befand sich lediglich ein Zettel, den Moritz sofort als, das abgerissene Stück der Rechnung wiedererkannte.
»Das ist von Kathi«, stellte er sachlich fest und betrachtete das Papier aus allen Richtungen.
»Zeig her«, forderte Eva und griff nach dem kleinen Blatt.
»Es ist nur Gekritzel darauf, sieh es Dir an und überzeug Dich selbst«, überreichte er ihr den Zettel in der Diele. »Egal wie Du ihn ansiehst, er ergibt keinen Sinn. Was will sie uns damit sagen?«
»Es ging um eine Art Bestellung oder Formular als ich sie aufforderte, das Symbol auf dem Absender zu zeichnen.« Sie drückte Moritz die Zeichnung in die Hand und holte sich eine neue Tasse Tee.
»Du hast recht, aber ich kann trotzdem nichts mit dem Krickelkrakel anfangen, was soll das sein?!« Moritz drehte das Blatt in alle Richtungen, doch die Zeichnung ergab keinen weiteren Hinweis. Kein Symbol, keinen Gegenstand oder eine Andeutung von irgendwas. Eva kam mit einer großen Tasse aus der Küche.
»Halt! Stopp! Nicht bewegen, bleib genau so stehen.« Moritz erstarrte direkt, langsam kam sie näher, »es ist spiegelverkehrt, gegen das Licht betrachtet kannst Du ganz feine Linien sehen, als habe der Stift nicht geschrieben. Es ergibt die Andeutung von einem Gesicht.«
Moritz verdreht erst einmal den Hals, wendete das Blatt letztendlich und hielt es etwas näher gegen die Deckenlampe. »Genau, das könnte ein Kopf sein, oder eine Fratze, möglicherweise auch ein Symbol. Schatz Du hast eine blühende Phantasie«, schüttelte er seinen Kopf.
»Ach was, Du musst nur genauer hinsehen«, sagte sie, schnappte den Zettel und ging in die Küche zurück. Mit dem Bleistift zog sie die kaum sichtbaren Linien nach. Moritz schaute über ihre Schulter.
»Sei mir nicht böse, ich kann immer noch nicht erkennen, was Du gesehen haben willst.«
Eva sah über ihre Schulter und grinste schelmisch.
»Achtung, Abrakadabra, Du verbindest diese Punkte miteinander und bekommst eine Art Kopf. Das hat Kathi auch erkannt und ist wahrscheinlich deswegen unbemerkt von Dir gegangen. Sie sagte doch auf den Unterlagen, die sie gesehen habe, sei etwas in dem oberen Bereich gewesen…«
»Genau, wenn es zum Briefkopf gehört, hat sie es spiegelverkehrt betrachtet und konnte deshalb nichts damit anfangen«, unterbrach Moritz Eva.
»Lass uns gemeinsam zu diesem Kopf recherchieren. Er wird nicht einfach so in der Luft schweben, es muss noch einen Rahmen oder Umrandung dazu geben.«
»Oder einen Schriftzug?!« Moritz sah das bestimmte Lächeln auf Evas Gesicht und die Art und Weise, wie sie ihre Augen blitzten.
»Denk nicht mal dran! Er ist eigentlich im Urlaub und hat nur uns zu liebe recherchiert. Sein Handy ist ausgeschaltet. Nein! Eva, er braucht eine Pause. Er war die letzten Monate durchgängig am Arbeiten.«
* * * * * * *
Jens Schmidt war stinksauer über die indirekte Unterstellung seiner Vorgesetzten, der Hauptkommissarin Melanie Heinzer. Das er vielleicht illoyal sei, kränkte ihn zutiefst.
Im letzten Sommer hatte er seinen verschwunden Halbbruder Julius bei den Rockern des Lakota MC´s wiedererkannt. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, zumal sie die Meinung vertrat, dass alle Personen aus der Szene kriminell waren. Aber dass sie nach jahrelanger Zusammenarbeit seinem Wort nicht mehr vertraute, nagte schwer am Selbstbewusstsein.
Damals war sein erstes Gefühl, ›ich habe mich getäuscht‹, doch von diesem Tage an geisterten die alten Geschichten des Erwachsenwerdens immer wieder durch seine Gedanken.
Langsam ließ er das kalte Wasser in die Hände laufen und schüttete es ins Gesicht. Vor wenigen Wochen hatte die Explosion des Clubhauses der Rocker sein Leben verändert. Hartnäckig kehrte diese Erinnerung regelmäßig in seine Träume zurück. Er sah die Trümmer, Steine, Metall, Glas, Holz, der halbverbrannte Bezug eines Sofas und abgerissene menschliche Körperteile.
Der nächste Schwall Wasser landete im Gesicht. Er roch den heißen Staub, versengten Stoff gemischt mit nasser Asche, verbrannter Erde und verkohltes Fleisch. Über allem schwebte der Tod.
›Das Wasser ist nicht kalt genug, es spült die Erinnerung nicht fort.‹ Die zahlreichen Toten und Schwerverletzten hatten ihn bis ins Mark getroffen. Er konnte nicht anders, als ihn anzusprechen. ›Komisch in solchen grauenvollen Situationen finden sich Geschwister, ziehen sich wie Magnete an, sie können sich nicht ignorieren.‹
Dieses Erlebnis kehrte immer und immer wieder, es war wie eine Dauerschleife in seinem Kopf und er fand den Ausschalter nicht.
Bereits als der damals noch Fremde zum ersten Mal mit ihm sprach, hatte er die unverwechselbare Stimme wiedererkannt. Sie hatte ihn durch seine Jugend getragen und ihm Ratschläge von unschätzbarem Wert gegeben. Manches verstand er als Heranwachsender nicht, doch es erwies sich im Nachhinein als richtig. Jens hob kurz den Kopf und blickte in den Spiegel, bevor er ein weiteres Mal die Hände mit dem eiskalten Wasser füllte.
›Sobald ich das Bedürfnis hatte konnte ich ihn anrufen, Julius war immer für mich da. Dann, urplötzlich, hatte er von mir verlangt, sich um unsere Mutter zu kümmern und war abgetaucht. Ausgerechnet als ich in der Polizeiakademie und mitten in meiner Ausbildung steckte.‹
Ruckartig drehte Jens den Wasserhahn zu und zerrte einige Papiertücher aus dem Wandspender. Damals war er sehr verärgert, hatte begonnen ihn zu hassen, ausgerechnet dann, als er ihn am meisten gebrauchte hatte, war er abgehauen. Einfach von der Bildfläche verschwunden und hatte ihm die ganze Verantwortung überlassen. Aggressiv knäulte er die Tücher zusammen und warf sie in den Mülleimer.
Kurz bevor Mutter starb hat sie ihm die Wahrheit über Julius erzählt, der sich heimlich all die Jahre um sie und ihn gekümmert hatte. Dass er den Schlägertrupp von drei Mann aus der Wohnung vertrieben und so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Alles, um sie beide zu schützen. Bevor Mutter die Hintergründe des Vorfalls erzählen konnte, verstarb sie. Erst aus den Papieren im Nachlass erfuhr er mehr von seinem Bruder und dessen Vater.
Nachdenklich blickte er in den Spiegel und stützte sich auf dem Waschbecken ab. Die Hartnäckigkeit, mit der seine Chefin Melanie versuchte, ihn von Julius Kriminalität zu überzeugen, hatte ihm den Rest gegeben. So konnte und wollte er nicht weitermachen. Er brauchte Abstand und musste nachdenken. Vielleicht war es an der Zeit seine Zukunft neu zu gestalten. Die Vorstellung bis zum Ende aller Zeiten Verbrecher, Mörder und andere kriminelle Individuen zu jagen, hatte ihm schon seit Kindertagen gut gefallen. In der Realität sah es leider ganz anders aus. Allzu oft waren ihnen die Hände gebunden. Der kleinste Fehler genügte, um die Arbeit von Wochen und Monaten durch einen herbeigepfiffenen Anwalt zerrissen und in den Dreck getreten zu bekommen. Verflucht, diese schmierigen Winkeladvokaten, kannten jedes Schlupfloch und uns sind die Hände gebunden. Der eintretende Kollege holte ihn aus den Gedanken, »Morgen«, grüßte Jens kurz und strich sich mit den Fingern durch das blonde, teilweise widerborstig abstehende Haar.
›Ich reiche Urlaub ein, muss dringend mal hier raus‹, nahm der Gedanke Form an. ›Als erstes zum Friseur und runter mit der Wolle bevores richtig kalt wird. Dann pack ich meine neuen Laufschuhe aus und probiere was sie draufhaben‹, dachte er, ›Wetter hin, Wetter her, völlig egal mein Marathontraining ist viel zu kurz gekommen.‹
Ruckartig wandte er sich um und lief zielstrebig ins Büro. Die Kommissarin Melanie Heinzer hob kurz den Kopf, ihr langer, schwarzer, geflochtener Zopf hing über die linke Schulter und reichte fast bis zur Taille.
»Gut, dass Du kommst, es gibt Arbeit«, sie schob ihm eine Akte zu. »Es wurde eine Frauenleiche nahe dem Bahnübergang im Gewerbegebiet Liederbach gefunden. Die Kollegen warten schon auf uns, los komm…«
»Sie warten nicht auf mich«, entgegnete er härter als beabsichtigt.
Ungläubig richtete sie sich auf und runzelte fragend die Stirn.
»Ich mach` Urlaub. Jetzt sofort. Wenn`s Dir nicht passt, schwärz mich an, schmeiß mich raus, ist mir egal.« Er griff nach seiner Jacke und zog den Autoschlüssel aus der Tasche.
»Jens!« Misstrauisch starrte sie ihn an, »was ist passiert? Kann ich Dir helfen?«
›Verdammt noch mal, ich Idiot hab ihr von meinem Verdacht, es sei jemand in der Wohnung gewesen, erzählt‹, schoss es ihm durch den Kopf. »Nix, ich muss endlich mal raus aus dieser Tretmühle. Mich ausklinken und neu auftanken«, wiegelte er rasch ab. ›Sobald die Tür hintermir zugeht, lässt sie ihn durch´s System laufen.‹
Argwöhnisch kniff die Kommissarin ihre fast schwarzen, leicht mandelförmigen Augen zusammen und setzte zum Sprechen an. Rasch verkniff sie sich aber gerade noch ihren Kommentar. Die Vermutung, er träfe sich mit seinem Bruder, brannte ihr auf der Zunge, doch sie hatte ihm versprochen sich erst einmal rauszuhalten. Abwartend stand Jens mit beiden Händen in den Taschen vor ihr.
›Wenn ich nicht zustimme, geht er trotzdem, auch wenn dies eine disziplinarische Maßnahme nach sich zieht. Es hat keinen Zweck, er muss sich zurechtfinden. Je mehr ich versuche ihn zu stoppen, umso hartnäckiger wird er sein Ziel verfolgen.‹ »Also gut«, nickte sie zustimmend, »ich gebe es weiter. Wie lange?«
»Zwei Wochen«, schoss es sofort aus seinem Mund.
»Na schön, erhole Dich gut spann mal aus und lass was von Dir hören. Falls du reden willst, du kannst mich immer erreichen«, gab sie ihm mit auf den Weg.
* * * * * * *
Der Industriesauger dröhnte und beseitigte die letzte Staub- und Schmutzschicht in dem großzügigen Raum gleich neben der Eingangshalle. Der hohe, oval geschwungene Treppenaufgang führte in den ersten Stock und Dachboden. Weit oben leuchteten die Lampenrosette von der stuckverzierten elfenbeinfarbenen Decke, auf die hellgrauen Bodenfliesen. Jeder war froh, dank Bertis Beharrlichkeit seinen Traum zu verwirklichen, so rasch ein neues Clubhaus für den MC und sich selbst gefunden zu haben. Die Blauzeder Villa am Ortsausgang von Königstein, stand schon sehr lange leer und sollte unerwartet verkauft werden. Die Erben der verstorbenen Besitzer hatten kein Interesse mehr an der weiteren Erhaltung des alten Gebäudes. Berti kannte das Haus als Kind war er oft mit seinem Großvater, der als Jäger in dieser Familie das Wild verkaufte, hier ein- und ausgegangen. In genau diesem Haus zu leben, war sein Ziel. Er hatte über Jahre in einer winzigen Absteige gewohnt und jeden Cent zusammengekratzt. Endlich war er in der Lage gewesen die Anzahlung zu leisten, um sich das Vorkaufsrecht eintragen zu lassen. Dass die Brüder des MC´s sein Angebot sofort annahmen, erfüllte ihn mit großem Stolz.
»Prost«, rief Hugo von der fertig gezimmerten Theke herüber, trank genüsslich das Bier aus und zapfte sofort die nächsten.
Pünktlich auf die Minute trafen sich alle Mitglieder des Lakotas MC´s zum Meeting in dem großen Raum. Es war ein ungewohntes Gefühl. Das Wenige, was aus dem Clubhaus übrig geblieben war, hatte bereits einen Platz erhalten und die Bilder der Verstorbenen reihten sich aneinander. Keiner der Anwesenden war hier in den vergangenen Wochen wirklich heimisch geworden. Die gewohnte Umgebung fehlte, aber noch mehr die schmerzlich vermissten Brüder. Es roch nach frisch gestrichenen Wänden, Farben und Lacken. Ihnen fehlte der geliebte Qualm, auf halber Höhe schwebend, nach Zigaretten, Rillos, Zigarren und Marihuana riechend. Bei jedem Luftzug nahm er eine neue Gestalt an und ihre Frauen, liebevoll ›Ol´ Lady‹ genannt, schimpften oft auf ihn. Das war der unverkennbare Geruch von Heimat und Brüdern, einzigartiger Freundschaft, beispiellosem Vertrauen und Freunden für das ganze Leben. Er war aus der zerstörten Halle des alten Clubhauses davongeflogen. Es schmerzte unendlich und jeder sann auf Rache. Diese fraß unaufhaltsam Löcher in ihre Seelen, zermürbte unerbittlich ihre Gemüter und riss erbarmungslos Stücke aus ihren Herzen.
Nichts war wie vor zwei Monaten. Nichts würde jemals wieder so sein. Ausgelöscht, verbrannt, in Staub zerfallen und vom Wind davongetragen. Wer sollte das fast Unmögliche schaffen, die um Haaresbreite zerschlagene Gemeinschaft erneut aufzubauen? Wie konnten sie weiterhin Lakotas sein? Stolze Männer, untrennbare Brüder und respektvolle Weggefährten, die einander nicht im Stich ließen?
Vergeltung! Rache! Für jeden Einzelnen der Ermordeten.
Die beiden großen Räume rechts und links der Eingangshalle waren für die Besucher und Partys gedacht. Der Mittlere mit Ausgang in den hinteren Hof als Meeting Raum und der letzte kleine direkt neben der geräumigen Küche als Vorratsraum.
Fritz als Präsident saß am Kopfende und Kralle, der Vize, gleich zu seiner rechten. Jeder der Anwesenden war mit den eigenen Gedanken beschäftigt und hörte nur mit halbem Ohr zu.
»Brüder«, begann Fritz mit rauer Stimme, »wir gedenke der Verstorbene un sie lebe in uns bis mir selbst einma dem Teufel begegne.« Leises Gemurmel antwortete ihm.
»Männer!«, laut krachend schlug seine Faust auf die Tischplatte. Erschreckt sahen alle auf. »Wolle mir so weiter lebe?« Sieben neugierige Augenpaare blickten ihn an. »Als erbärmlicher Haufe?« Ihr allgemeines Kopfschütteln erfolgte. »Wo is unser Stolz, unsere Ehre, unsere Freundschaft?« Ein aufgeregtes Raunen lief durch die Runde. Bedeutungsvoll sah Fritz zu seinem Vize, ›ich habe ihre Aufmerksamkeit gewonnen, gewinne Du ihren Mut‹, bedeutete er ihm ohne Worte. Kralle nickte, jetzt war der richtige Zeitpunkt sie mit den Ergebnissen ihrer diskreten Nachfragen zu konfrontieren.
»Brüder, jeder von uns hat mindestens einen treuen Freund verloren. Doch die Zeit der Trauer ist jetzt vorbei! Richtet euch auf und hebt die Köpfe, der Tag der Rache ist gekommen!« Kralles unverkennbare Stimme schwoll an, zog die Brüder in seinen Bann und rüttelte an ihrer Ehre. Spontan erhob sich Hugo, sein imposantes Erscheinungsbild zog das Augenmerk der anderen auf sich. Er streckte seine Hand über den Tisch in die Mitte.
»Ich bin debei«, laut und deutlich flogen die Worte wie brennende Pfeile durch den Raum. Berti, Mike, Atze, Spider und die noch neuen Brüder Knox und Dag standen nacheinander auf und folgten Hugos Beispiel. Als letztes legten Kralle und Fritz ihre Hände auf die anderen. Fritz` Blick schweifte durch die Runde, in den Augen spiegelte sich die Bereitschaft und gleichzeitig noch etwas Zweifel. Kralle war seinen gefolgt, auch er bemerkte den Zwiespalt.
»Wir sind noch elf Lakotas. Stolze, ehrenvolle Männer, die ihre Brüder nicht im Stich lassen. Unser Kampf im Clubhaus der Dirty Ghost´s, sie waren uns zahlenmäßig überlegen. Doch unser geschickter Plan, unser Mut und unsere Ehre hat den Sieg davongetragen«, rief er ganz bewusst die Erinnerung mit lauter werdenden Stimme wach. »Reno braucht noch Zeit und Angel ist im Krankenhaus, aber wir sind neun, neun Laktotas, neun Männer mit Stolz und Ehre!«
»Lakotas for ever!«, rief Berti laut, »Fritz un Kralle ham Recht, die Zeit der Trauer, der Untätigkeit, des Zueinander-Finden is endgültig vorbei. Wir sin stark un die Rache lässt uns mächtiger werde denn je.«
»Brüder, mir wisse jetz, wer die Bombebastler sin und wo sich einer von ihnen versteckt hält«, sprach Fritz in die Runde. Sofort bombardierten sie ihn mit Fragen und weiteren Vorschlägen, den Scheißkerl aus seinem stinkenden Loch zu zerren. Kralle übernahm die weiteren Ausführungen.
»Aus Hugos Sportstudio kam ein nützlicher Hinweis. Die scharfe Bardame im ›Violet‹ wusste von einem kleinen Angeber, der sich damit brüstete, das Clubhaus des Lakota MC´s gesprengt und viele von ihnen nach Walhalla geschickt zu haben.« Ihre Ungeduld steigerte sich von Satz zu Satz. »Er versteckt sich momentan in einem drittklassigen Puff in dem schmalen Tal am Ortsrand von Eppstein.« Hugo war aufgestanden er streckte den muskulösen Körper und baute sich bedrohlich zu voller Größe auf.
»Her mit dem Hurnsohn, ich zerquedsch em de Kopp wie e rohes Ei«, geräuschvoll knackte er mit den Fingerknöcheln und öffnete die riesigen Hände.
»Die Begebenheiten vor Ort sind leicht. Es gibt drei Ausgänge und einen alten, ziemlich engen Verbindungstunnel zum Bach«, erklärte Kralle weiter. »Das bedeutet, wir brauchen vier Mann zum Absperren und zwei bis drei für die Durchsuchung der Räume. Hört zu! Hier ist der Plan. Jeder von euch bekommt eine Aufgabe von großer Wichtigkeit. Nur mit unserem perfekten Timing können wir die Übermacht des Gegners bezwingen. Ruhe jetzt hört mit zu.« Mit steigender Spannung folgten sie den Ausführungen ihres Vizes und nickten, jeder begriff sofort die Zusammenhänge und wusste von der Bedeutung seiner Aufgabe.
»Lass uns fahrn, soford! Ich werd ned länger wade«, raunte Mike durchdringend die Worte und sprang abrupt auf. Der Stuhl fiel polternd auf die Steinfliesen. Das laute Geräusch durchbrach die entstandene, hochgradig aufgeladene Anspannung.
Präsident und Vize standen gemeinsam auf, »wer noch eine Waffe braucht, meld sich bei Hugo. Mir treffe uns in zehn Minute drauße.« Sofort brach ein Gewirr aus durcheinanderredenden Stimmen aus.
Kralle steckte sich zwei Rillos an und reichte eine an Fritz weiter. Dann zog er seine Smith & Wesson Modell 686 aus dem Schulterholster, prüfte sie akribisch und öffnete die Trommel. Er kontrollierte die Munition und das typisch metallische Geräusch vom Einrasten bestätigte die Einsatzbereitschaft und steigerte seine Vorfreude.
»Lass uns fahren Bruder. Vielleicht können wir heut mehr als nur eine Angelegenheit klären«, grinste er.
* * * * * * *
Ungeduldig trommelten seine Finger auf der Schreibtischplatte und seine Augen bohrten sich in die alten, vergilbten Blätter der Unterlagen vor ihm. Ruckartig hob er den Hörer ab und wählte die ihm sehr gut bekannte Nummer. Bereits nach dem zweiten Freizeichen hörte er eine männliche Stimme,
»Sanatorium Vita Nova, guten Tag.«
»Stellen Sie mich durch«, befahl Stephan von Arche in gewohnt herablassender Weise.
»Sehr wohl Herr Graf«, antwortete es geflissentlich und eine der nervigen, etwas schiefklingenden Wartemusiken ertönte.
»Stephan«, hörte er kurz darauf die Baritonstimme der Vita Nova – Leitung, »was liegt an?«
»Du musst sie abholen, schnellstens! Sie ist zu neugierig geworden und hat, wie Du sicherlich mitbekommen hast, der Organisation großen Schaden zugefügt.«
»Ja, das ist in Ordnung. Selbstverständlich, Du warst langmütig und sie ist im besten Alter.«
»Schaff sie mir unverzüglich vom Hals, es ist unerträglich sie gleich neben Sebastian in der Firmenleitung zu sehen. Sie muss weg, ich habe genug.«
»Sebastian hat sich zu Deiner Zufriedenheit entwickelt?« »Ja, er ist wohlgeraten, es gibt keinerlei Probleme mit ihm.«
»Das ist gut zu hören. Er wird die Aufgabe zu gegebener Zeit übernehmen?«
»Ja, er brennt darauf und kann es gar nicht mehr abwarten bis er alt genug ist und ich ihm die Vollmacht gebe. Was ist mit Deinem?«
»Leider zeigt er wenig Interesse, ich habe unsere Sucher eingeschaltet und hoffe, er kommt zur Besinnung.«
»Du brauchst nur schlagkräftige Argumente«, lachte von Arche gehässig, »ich habe meinen von Kindesbeinen an auf seine Zukunft vorbereitet. Vielleicht war es doch ein Fehler ihn nicht bei Zeiten zu holen.«
»Ja! Ich denke auch. Es war damals eine Verirrung, aber was macht man nicht alles in jungen Jahren. Man hat die Weisheit mit Löffeln gefressen und ist der Meinung alles besser zu wissen«, Bedauern schwang hörbar in seiner Stimme.
»Bereinige es, je eher, desto besser für uns alle. Greif durch, hart und emotionslos nur auf das höhergesteckte Ziel ausgerichtet. Das wird er verstehen.«
»Bestimmt hast Du recht, ich war zu nachgiebig, er muss jetzt endlich zu seiner Verantwortung stehen.«
»Es ist seine Pflicht der Sache zu dienen, das muss er akzeptieren.« »Stephan, ich kümmere mich um Dein Anliegen«, versprach er. Das Knacken in der Leitung bestätigte die Ausführung des Auftrages. Zufrieden, das Problem Katharina gelöst zu haben, legte er auf. Sogleich zitierte seinen Butler Henry herbei und wandte sich mit auf dem Rücken gehaltenen Armen zum Fenster. Nach einmaligem Klopfen und sich fast lautlosem Öffnen der hohen schweren Holztür zum Arbeitszimmer stand der Diener bereit.
»Packen Sie Katharinas Sachen, sie zieht aus«, befahl er in gewohnter Manier, ohne sich umzudrehen.
»Sehr wohl«, bestätigte Henry und verließ ebenso still und leise das Arbeitszimmer, wie er eingetreten war.
›Die ungeheuerliche Dreistigkeit mich in das Licht der Öffentlichkeit zu zerren wird sie bezahlen. Wie konnte sie es wagen, diesen Schmierfinken der Zeitung Familieninterna zu erzählen! Die Hand zu beißen, welche sie dreißig Jahre lang gefüttert und gekleidet hat.‹ Immer noch erbost über das ungeratene Experiment musste er all seine Willensstärke aufbringen, um nicht doch noch dem ersten spontanen Impuls zu folgen. Es wäre eine Schande, die Flaschen mit den sündhaft teuren Spirituosen an der Wandtäfelung und der schwarzen Marmor Kamineinfassung zu zerschlagen.
›Endlich hatten wir die passende Zusammensetzung und dann entwickeln sich die Versuche daraus zu einer Katastrophe. Zum Teufel auch, eventuell mussten sie sich mit einer Version zufriedengeben.‹
* * * * * * *
Der markante Signalton auf Moritz Laptop signalisierte den Eingang einer neuen Nachricht. Eva sah kurz von ihrer Arbeit auf und suchte mit dem Blick nach ihrem Freund.
»Ich geh schon«, drang aus der Diele in den ersten Stock und einen Moment später, »Chris fragt an, ob Du an einer nahe Bahnübergang Liederbach gefundenen Frauenleiche interessiert wärst.«
Blitzartig sprang sie auf, »Kathi?!«, und rannte die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
»Nein, scheint nicht so sie stammt eher aus dem Osten, blond, ein Meter fünfundsechzig groß, er ist dran. Sobald es etwas Neues gibt, meldet er sich sofort.« Erleichtert atmete sie aus.
›Glücklicherweise ist es nicht Kathi. Wo mochte sie nur stecken?‹ »Schreib ihm bitte, dass ich jetzt die Zeichnung per Kurznachricht verschicke. Es ist wahrscheinlich ein Kopf, der als Teil eines Absenders den Briefkopf schmückte. Und dass Kathi ihn auf den Unterlagen gesehen hat, die der feine Herr Vater ihr unter die Nase hielt.« Ironisch mit viel Verachtung sprach Eva die Worte aus.
»Ist erledigt, er kümmert sich darum. Eva was…«, erstaunt sah er auf. Doch er hörte nur ihre schnellen Schritte auf der Holztreppe mit ihren knarrenden Stufen in den ersten Stock hinauf eilen. Sie betrat ihr kleines Arbeitszimmer unter dem Dach. Der große und sehr alte Massivholz Schreibtisch schimmerte dunkelbraun. Seine Schnitzereien liebte sie schon als Kind. Er war ordentlich aufgeräumt und wartete auf die nächste Belagerung.
›Hier ist es viel zu leer, es wird Zeit, das sich die Recherchen stapeln‹, dachte sie und holte eine neue giftgrüne Mappe aus dem Schrank. Sorgfältig schrieb sie mit einem dicken schwarzen Stift das heutige Datum darauf.
›Die investigative Arbeit ist genau das Richtige für mich. Moritz und Chris sind die besten Lehrmeister. Ihre Erfahrungen und Möglichkeiten sind einfach genial.‹ Unwillkürlich fröstelte es sie.
›Es ist Ende November, schon bald überzieht der erste Frost die Landschaft und zaubert einzigartige Eisblumen auf die Scheiben.‹ Ihr Blick fiel durch das schräge Dachfenster, auf den bleigrauen, wolkenverhangenen Himmel.
›Das ist schon mein zweites Weihnachten und Sylvester hier ohne meine Eltern. Leider war ich zu dumm und dickköpfig, um mich beizeiten mit ihnen auszusöhnen.‹ Bevor die Vergangenheit mit ihren Schrecken sich erneut in ihr ausbreiten konnte, rief sie sich zur Ordnung. In stillen Dank an die Eltern, welche ihr das Häuschen in der Bergstraße Eschborn vererbt hatten, schnappe sie sich den Ordner und kehrte in das Erdgeschoß zurück.
»Hat Chris schon geantwortet?«, erwartungsvoll sah sie ihren Freund an und grinste.
»Was grinst Du so?!«
»Och, nichts«, beeilte sie sich zu sagen, konnte allerdings ihr Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Du hast was, ich sehe es ganz genau. Was ist?«, argwöhnisch kam er näher.
»Ich bin glücklich, dass der unglückselige Tom uns nicht auseinanderbringen konnte. Wir sind trotz aller seiner Intrigen immer noch ein Paar.« Eva war dicht zu ihm getreten, stellte sich auf die Zehenspitzen, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn leidenschaftlich.
»Hm, Dein Schmunzeln und was es mir gerade verspricht ist unwiderstehlich. Das kannst Du ruhig öfter machen«, er zog sie mit ins Wohnzimmer auf die Couch. »Chris ist sowieso im Urlaub und wir beide haben dafür viel Zeit.«
* * * * * * *
Beunruhigt durch Jens Verhalten und seinem vor zwei Wochen geäußertem Verdacht, es sei jemand in der Wohnung gewesen, hatte Hauptkommissarin Heinzer den Bruder mit bürgerlichem Namen Julius Kralleths verdächtigt. Ohne ihren Kollegen zu informieren, durchleuchtet sie ihn gründlich. Allerdings fand sie außer zwei Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens keine weiteren Einträge. Erneut prüfte sie ihre Eingabe und schüttelte verwundert den Kopf.
›Das kann nicht sein. Unmöglich. Der muss was auf dem Kerbholz haben.‹ Die Tatsache, nur Geringfügigkeiten vorzufinden, machte die Kommissarin erst recht neugierig.
›Da stimmt was nicht, wie konnte ein Rocker fast blitzsauber sein. Er hat sich und die anderen gut im Griff, damit sich keiner traut, gegen ihn auszusagen.‹ Oder was überhaupt nicht in ihr Weltbild passte, ›er ist tatsächlich sauber.‹ Verbissen kräuselte sie ihre Lippen, kniff die Augen zusammen und rechnete schnell nach.
›Jens ist sechzehn Jahre jünger, zwischen den beiden liegen Welten, er kann ihn gar nicht kennen oder gar beurteilen. Ich muss dem Kerl mal auf den Zahn fühlen, er kann ruhig wissen, dass ich ihn im Auge behalte.‹ Nachdenklich legte sie ihre Hand auf den Ausdruck.
›Herr von und zu wohnt in Eppenhain, das gehört zum Main-Taunus-Kreis. Das neue Clubhaus ist gleich hinter Königstein im Hochtaunuskreis. Offiziell liegt nichts an, dann kann ich nur privat dort aufkreuzen.‹ Ärgerlich stand sie ruckartig auf.
›Verflucht noch mal, im Dienst kann ich nur hin, wenn ich Jens besuche. Er ist im Urlaub, wie peinlich ist das denn, wenn ich ihm als Vorgesetzte hinter her schnüffel.‹ Sie fluchte in allen ihr bekannten Sprachen.
›Geh ich privat, denkt er womöglich ich lauf ihm nach und kontrolliere ihn. Das bringt noch mehr Misstrauen in unsere sowieso schon angespannte Situation.‹ Wütend gab sie dem Mülleimer einen Tritt, der scheppernd durch das Büro rollte und seinen Inhalt auf dem Boden verteilte. Die Ohnmacht, untätig abwarten zu müssen, war ihr unerträglich.
›Sabine, die beste Innendienstdame und Freundin aller Zeiten, fand bestimmt einen Weg an mehr Informationen zu gelangen.‹
In Gedanken sah sie den rotblonden Lockenkopf mit den strahlenden grünen Augen und der kleinen rundlichen Gestalt vor sich. Energisch rief sie sich zur Ordnung, ›die Frauenleiche in Liederbach.‹ Der Pathologe Doktor Allendorf, seinem Aussehen nach ein Durchschnittsmensch wie aus dem Lehrbuch, wartete auf sie. Als einzige Auffälligkeit überraschte er mit seinen einzigartigen veilchenblauen Augen, die er mit Sicherheit missbilligend rollen würde, weil sie zu spät dran war.
Hastig öffnete sie die Tür zur Pathologie und erkannte sofort, das ihre Vermutung, zutreffend war. Strafend kniff er in gewohnter Manier die Augen zusammen und verdrehte sie kurz. Wippend hielt er einen Aktendeckel in Händen und blickte fragend zur Tür.
»Tschuldigung«, beeilte sich die Kommissarin zu sagen, »ich bin allein, er kommt nicht, braucht etwas Zeit«, schusterte sie Jens Abwesenheit zusammen. Nickend schlug Doktor Allendorf das weiße Tuch, welches die Leiche bedeckte, zurück und Frau Heinzer erschauderte bei dem Anblick des Leichnams vor sich.
»Was haben Sie?«, unwillkürlich schluckte sie.
»Sie ist zirka fünfundzwanzig Jahre alt, gut ernährt und gepflegt.« »Todesursache?«
»Schwer zu sagen, es fehlt zu viel.« Langsam beugte sich die Beamtin näher. »Was ist mit ihr?«, sie deutete auf die Augen.
»Sie wurden fachmännisch entfernt, ebenso die Organe und alles weitere Verwertbare wie Knochen, Venen, Gewebe und große Teile der Haut.« Unbeeindruckt dieser Tatsache fuhr er fort. »Sie hat erst vor kurzem ein Kind geboren. Der Uterus fehlt zwar, aber alles andere, wie die gedehnte Bauchdecke und die Werte bestätigt dies eindeutig.«
Die Beamtin hatte schon vieles gesehen, dies war etwas völlig Neues, noch niemals da gewesenes. Unwillkürlich schüttelte sie sich.
»Wer das«, er deutete auf die Leiche, »alles entfernte, muss Übung, eine entsprechende Ausbildung und Ausstattung besitzen. Das schafft keiner in einer Lagerhalle oder Keller.«
»Wie lange ist sie schon tot?«
»Hm, zirka vierundzwanzig bis sechsundzwanzig Stunden und der Fundort ist definitiv nicht der Tatort«, abschließend klappte er den Aktendeckel zu. »Der Bericht ist per Mail an Sie raus. Ein, zwei Laborergebnisse fehlen noch, die schicke ich, sobald sie vorliegen.«
Die Kommissarin bedankte sich und verließ eilig den kalten und sterilen Raum.
›Welche Ursache könnte ihren Tod ausgelöst haben? War sie während der Entbindung gestorben und hatte einen Organspende Ausweis? Dann müsste sie im Zentralregister gemeldet worden sein. Wo war das Baby? Sabine, sie hatte vielleicht die Möglichkeit einiges zu klären, oder wir irgendwie an weitere Informationen kommen.‹
* * * * * * *
Fritz` ehemalige Entscheidung mit einem MC vor Ort den Deal abzuschließen, um erstklassige Ware direkt einzukaufen und nicht über Zwischenhändler, hatte seine Wahl auf den Eiderha MC in Istanbul fallen lassen. Seit diesem Zeitpunkt standen beide MC`s in Verbindung. Sie achten und respektieren sich, was die unerlässliche Grundlage für alle weiteren Geschäfte darstellte.
Jahrelang lief alles wie geschmiert. Doch letzten Sommer verschwieg Andreas, ein neuer Anwärter für den Eintritt in den
Lakota MC, ein seiner Familie bekanntes Versteck aus dem Zweiten Weltkrieg. Leider hatte er kein besonders großes Interesse, sein Wissen mit dem MC zu teilen und versuchte, es im Alleingang zu räumen. Sein Pech, dass er die Brüder unterschätzte und erwischt wurde. Das brachte ihm erhebliche Schwierigkeiten ein, die er letztendlich nicht überlebte. Die gefundenen Substanzen erwiesen sich als bemerkenswerter Verkaufsschlager und riefen die benachbarten Motorrad-Rocker des Dirty Ghost und Scrollo MC´s auf den Plan. Sie waren der Meinung, ihnen stände ein Stück des Kuchens zu und mischten sich in ihre Geschäfte ein. Als sie später noch Goldbarren aus alten Nazibeständen fanden, mussten sie die Reißleine ziehen, bevor es zur Eskalation in der Szene kam. Nur die am Fund beteiligten Brüder, Kralle, Hugo, Reno, Berti und er selbst, wussten davon. Die fünf schworen den Eid als Lakota, dieses Wissen mit ihrem Leben zu verteidigen und es keinesfalls preiszugeben. Glücklicher weise hatten sie noch die Gelegenheit den Fund rechtzeitig fortzuschaffen. Im abzweigenden Schacht des Brunnens hinter der Villa wurde er versteckt, bevor sich die Situation verselbstständigte und zur Katastrophe führte.
Kralle holte Fritz aus seinen Erinnerungen.
»Die Frankfurter waren bestens über unsern momentanen Status informiert«, sagte er bedeutungsvoll, verzog das Gesicht und eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.
»Kleiner Pisser, schickt höchsdens seine Leud denn selbst traud er sich ned an uns ran«, Fritz warf einen raschen Blick auf die Brüder. »Sin sie schon bereid?«, besorgt kniff er die Lippen zu kaum sichtbaren Linien zusammen. »Sie solle ned meinedwege in den…«
»Heh Mann, Bro, ich führe sie. Halt Dich da raus. Du darfst auf keinen Fall mit unserer heutigen Aktion in Verbindung gebracht werden«, Kralle umarmte seinen Präsi. »Ich als Vize bin entscheidungsberechtigt. Egal, was Dir gleich passiert, komm nicht nach!«, fügte er eindringlich flüsternd hinzu. »Vertrau mir«, und stieg zu Hugo in den Van. Irritiert sah dieser von einem zum anderen und verzog fragend sein Gesicht. Kralle schüttelte verneinend den Kopf,
»Fahr los, wir wollen die Brüder nicht verlieren.«
»Und…«, deutete er rückwärts auf Fritz, der sich plötzlich zusammenkrümmte und die Arme um seinen Körper schlang. »Was…«
»Fahr schon, Tina ist gleich da«, befahl er einsilbig und deutete auf das kleine silberne Auto, welches rasch den Waldweg auf sie zukam.
»Du…«, zog er in die Länge, dann begriff Hugo den Zusammenhang, »…willst ihn ned dabei ham«, flüsterte er, damit die hinter ihm Sitzenden es nicht hörten.
»Was is mit Fritz?«, vernahmen sie Berti sofort besorgt fragen. »Er hat die Frikadelle ned vertrage«, entgegnete Kralle spontan. »Wir ham alle davon gegesse un ham nix«, konterte Mike sofort. »Oder habt ihr was?«
»Fahr, die anderen warten bestimmt am Parkplatz und wundern sich, wieso wir ned auftauchen«, befahl Kralle hart und beendete die Diskussion.
Tina fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu, Hugo lenkte den Van automatisch zur Seite und ließ sie durch. Kralle nickte nur und grüßte Tina durch das Beifahrerfenster.
»Wo will die hie?«, überrascht sah Hugo ihr hinterher.
»Ins Krankenhaus«, erklärte Kralle kurz.
»Aber…Fritz?«, Berti sah entgeistert die Brüder an.
»Is morgen wieder fit«, beruhigte Kralle ihn. »Los jetzt. Wollen wir uns den Bombenbauer schnappe oder ned?!« Dieser Satz wirkte Wunder, sofort schlug die Besorgnis in Tatkraft der Rache um. Atze und Spider dachten laut über die Art der weiteren Behandlung ihres Gastes nach und steigerten ihre Ideen bis zum langsamen Haut in Streifen abziehen.
Blitzschnell hatten sie ihren geschmiedeten Plan in die Tat umgesetzt und den kräftemäßig überlegenen Gegner in dem drittklassigen Puff überrumpelt. Reibungslos und präzise wie ein Uhrwerk hatte jeder Lakota seinen Part geleistet und so den entscheidenden Vorteil zum Ergreifen der gesuchten Ratte bewirkt.
Berti hatte nicht eine Sekunde beim Anblick des prallen Dekolletees gezögert und die männliche Bardame niedergeschlagen, bevor diese den Alarm auslösen konnte. Atze und Spider brachten den riesigen Sascha auf der steilen Treppe zu Fall, stachen ihm die Spritze bis zum Anschlag in den Hals und injizierten ihm die klare Substanz. Schlaff sank er auf den Stufen in sich zusammen. Aufgeschreckt durch diesen Tumult erschien Sergej ein zwei Meter Hüne im engen Flur, der zu den Privaträumen führte. Hugos gezielter Schlag á la Klitschko und der zerborstene Baseballschläger auf seinem Schädel knockten ihn endgültig aus.
Alarmiert vom Gepolter und Sergej`s wütenden Aufschrei verdrückte sich die gesuchte Ratte in den Entwässerungsgraben, wo sie auch hingehörte. Die aufgestellten Wachposten ergriffen ihn in null Komma nichts und schleiften ihn zum Haus zurück.
Der üble, widerliche Geruch nach Gülle verbreitete sich unaufhaltsam im Gastraum und stieg den Anwesenden ekelerregend in ihre Nasen. Angewidert verzog Hugo das Gesicht.
»So transportiert die Sau keiner von uns«, beschwerte er sich und spukte dem Ghost vor die Füße.
»Der kleine Bach, wo wir ihn geschnappt ham, hat gerad genug Wasser. Entweder wir ersäufe ihn, oder er muss sich wasche«, schlug Mike böse grinsend vor.
»Genau so machen wir es«, bestätigte Kralle. »Ein kaltes Bad wird seine Erinnerungen beleben.«
Gemeinsam stiefelten sie in Reih und Glied den verschneiten Pfad entlang und versammelten sich an dem teilweise zugefrorenen Rinnsal. Ihr Atem stieg als kleine weiße Wolken dem Himmel entgegen.
»Ausziehn«, befahl Berti unbarmherzig. Irritiert sah der Mann ihn ungläubig an. Anscheinend hatte er den Vorschlag als Finte bewertet, um ihm Angst zu machen. Der Stoß in seinen Rücken belehrte ihn eines Besseren.
»Ausziehn«, scharf hörte er aufs Neue den Befehl, begann mit zitternden Händen und steifen Fingern die Kleidung abzulegen. Schlotternd stand er kurz darauf nackt vor ihnen.
»Geh bade!«, befahl Hugo, »wirds bald? Oder soll ich nachhelfe?« Bedrohlich mit in die Hüften gestemmten Händen kam er auf den Nackten zu. Dieser wich automatisch zurück, stolperte und rutschte über die gefrorenen Steine in den niedrigen Wasserlauf. Nach Luft schnappend ruderte er mit den Armen. Er versuchte Halt zu finden manövrierte sich aber nur noch tiefer in den eiskalten Bach. Mike trat nahe ans Ufer, drückte mit seinem Stiefel den Kopf unter.