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Eva, ausgelaugt von den Recherchen der letzten drei Jahre, die sie in die Abgründe menschlichen Handelns geführt haben, überlegt auszusteigen. Ihre Freundin Sabine Giacomo kann sie überzeugen eine kurze Pause einzulegen. In dem abgelegenen Ferienhäuschen wird Eva wiederholt von plötzlichen Angstzuständen außer Fassung gebracht, deren Ursache sie in ihren Erlebnissen vermutet. Erik Arnold 32 Jahre arbeitet sehr hart um den besten Deal seines Lebens, die Übernahme der Firma HexoZel, abzuschließen und diesen Erfolg mit seiner Beförderung in die Führungsebene zu besiegeln. Seine Siegesstimmung währt nur kurz denn er muss feststellen, reingelegt und als Marionette im schmutzigen Spiel der Industrieunterwanderung benutzt worden zu sein. Um diese Machenschaften öffentlich anzuprangern wendet er sich an die investigativen Journalisten Eva Völkel 32 und Moritz Dressler 35. Erik flieht und versucht Beweise seiner Unschuld zu beschaffen. Ein Katz und Mausspiel beginnt, denn er wird von der geheimnisvollen Zahara aus dem Headquarter der HexoZel verfolgt.
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Seitenzahl: 666
Veröffentlichungsjahr: 2023
Meinen treuen Lesern einen besonderen Dank für ihre Geduld auf mein neustes Werk.
Ich danke meiner Familie für den aufmunternden Zuspruch und die guten Ratschläge. Durch die gemeinsamen Besuche auf der Burgruine Königstein im Taunus wurde sie als Schauplatz in diesem Buch ausgewählt.
E. D. M. Völkel
Vergessen
© 2021 E.D.M. Völkel
Druck und Distribution im Auftrag des Autors/der Autorin: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback 978-3-384-05494-4
e-Book 978-3-384-05495-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor/die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine/ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors/der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
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Sehnsuchtsvoll verharrte sie hinter dem Dachfenster ihres Arbeitszimmers im ersten Stock und blickte in den weitläufigen Garten des kleinen Eckhäuschens in der Bergstraße in Eschborn hinunter. Schwere dunkle Regenwolken hüllten alles grau in grau. Einzig die Kinder mit ihren leuchtend bunten Regenjacken und Schirmen auf dem Bürgersteig brachten für einen kurzen Moment hüpfende Farbtupfer in die Tristesse. Der Weg am Haus entlang führte in einen mit hellgrauen Natursteinen gepflasterten Hof. Dieser wurde durch die Garage und einen Gartenschuppen zum Nachbargrundstück begrenzt. Hier standen, gut geschützt vor den Minusgraden des langsam endenden Winters, die empfindlichen Pflanzen und warteten darauf, aus ihrem Quartier ins Freie gebracht zu werden. Ebenso der sonst weitaufgespannte Sonnenschirm lag in seiner Hülle verpackt, im oberen Regalfach des Schuppens.
Völkel stand seit 1955 am Klingelschild. Im Stillen dankte Eva den Eltern ein weiteres Mal, dass sie ihr dieses Häuschen vermacht hatten. Ihr Schmerz über deren unerwarteten Tod, welcher vor gut drei Jahren ihre Rückkehr aus Hamburg nach Eschborn auslöste, war nicht mehr so stechend. Doch die Erinnerungen an die überaus merkwürdigen Umstände brannten sich unauslöschbar in ihren Kopf. Diese Ereignisse hatten eine gigantische, unaufhaltsame Welle an Änderungen für ihr bisheriges Leben ausgelöst. Als Tochter eines Wissenschaftlers war sie im Grunde ihres Wesens sehr neugierig. Mit Unterstützung der beiden ungleichen Freunde Moritz Dressler, investigativer Journalist und Christian Specht, dem Computergenie im Hintergrund, konnte sie die Fakten der abrupten Todesfälle von Heinrich und Marie Völkel klären. Ihre Moralvorstellungen von richtig und falsch gerieten massiv ins Wanken. Letztendlich stürzten sie über ihr zusammen und begruben sie mitsamt ihrem Glauben an die Menschlichkeit unter sich.
Aus dem Erlebten, das sie in eine tiefe Krise stürzte, ging sie mit neuer Kraft und Tatendrang hervor. Eva hängte ihren Bankjob endgültig an den Nagel und verschrieb sich ebenfalls dem enthüllenden Journalismus, der sie zeitweise in die entsetzlichen Abgründe des menschlichen Handelns führte. Ihre zögerliche und fast schon ängstliche Haltung in der ersten Recherche verwandelte sich stetig in entdeckerischen Wagemut und dieser bescherte ihrem neuen Freund Moritz viele schlaflosen Nächte.
Die gerade beendeten Nachforschungen, welche in einer spektakulären Enthüllung ihren Höhepunkt fanden, schlugen hohe Wellen und die Ausläufer davon waren auch heute noch spürbar. Beteiligte aus gegnerischen Lagern wurden anfangs zu Verbündeten und später zu Freunden. Jetzt brauchte Eva dringend eine Pause zwischen den Recherchen und das nahende Frühjahr kam ihr gerade Recht. Sie sehnte sich die vielfältige Blütenpracht der Blumen und Bäume herbei, wenn die aufgehende Sonne mit lautstarkem Vogelkonzert begrüßt wurde. Die Luft erfüllt vom Aufbruch der Vegetation nach der langen Ruhezeit im Dunkeln der Erde. Dieser Winter hatte mit außergewöhnlich viel Schnee begonnen und war im Februar in Schmuddelwetter übergegangen.
Das kleine Einkommen aus den Lebensversicherungen der Eltern und die Zahlungen der Redaktion für ihre Artikel reichten zum Leben. Zusätzliche Sicherheit bot das angelegte Schließfach in der Privatbank Schwarz, dessen Inhalt sie lediglich in extremen finanziellen Situationen nutzten würde. Teure Träume hatte sie nicht und glücklicherweise gab es in den vergangenen drei Jahren noch keinen Grund darauf zurückzugreifen.
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Er hatte den ganzen Tag über konzentriert gearbeitet und wartete gespannt auf die Reaktion der Geschäftsführung. Sein Blick aus dem Fenster in der dritten Etage besagte, dass es auch heute wieder spät werden würde. Die Beleuchtungen der Straßen waren angesprungen und erhellten kreisförmig die unter ihnen liegenden Wege des Industrieparkes. Endlich leuchtete es am rechten Bildschirmrand kurz auf. Sofort öffnete Herr Arnold die eingegangene Nachricht und bestätigte den Termin in einer Stunde im großen Konferenzraum. Siegessicher, der aufgehende Stern in diesem Unternehmen zu sein, lehnte er sich zurück, ballte kurz die Fäuste und spannte die Muskeln der Arme an. Monatelang schuftete er schwer, ganze Nächte verbrachte er mit den Vorarbeiten, alle Informationen zusammenzutragen und das Pro und Kontra genauestens abzuwägen. Die Geschäftsführung hatte ihm die Verhandlungen zugewiesen, kannte doch jeder sein Geschick aus Dreck Gold zu machen und er bewies es mit diesem Deal. Der Abschluss mit unglaublichen Konditionen war die Krönung seines Lebens und ein Meilenstein in der persönlichen Vita.
Alle Kollegen wurden beordert um die neuen Geschäftspartner kennenzulernen und die zwangsläufigen Umstrukturierungen aus erster Hand zu erfahren. Alle hatten sich im großen Konferenzraum versammelt. Absichtlich nahm Erik Arnold auf einem der hinteren Stühle Platz. Seine Belobigung sollte spektakulär sein, jeder der Anwesenden nach ihm Ausschau halten und sich den Hals verrenken, während er mit gespielter Bescheidenheit durch die Reihen nach vorne schritt.
Wie nicht anders zu erwarten, saßen vor Kopf die vollständigen Geschäftsführungen der beiden Unternehmen. Die TV-Wand hinter ihnen zeigte ein ›Herzlich Willkommen‹ und wie die zwei Firmenlogos aufeinander zu schwebten, um sich zu vereinen.
Die vollständig besetzten Stuhlreihen bewiesen das immense Interesse der Mitarbeiter an der zukünftigen Ausrichtung der LaVaSom und HexoZel. Der letzte Eintretende schloss nachdrücklich die Türen hinter sich und eilte seinem Platz entgegen. Gespannt richtete jeder den Blick nach vorne und die vereinzelten halblauten Gespräche verstummten. Nichts geschah, keiner der hochdotierten Herren im feinen Zwirn stand auf, um sie zu begrüßen.
Was war los? Auf wen oder was warteten sie? Mit einem Kopfschütteln über die Verzögerung reckte er den Hals, um die Ursache zu erspähen. Leises Tuscheln und Flüstern erhob sich und eilte wie ein Lauffeuer durch die Reihen.
»Da fehlt noch einer«, schnappte Erik aus dem Flüstern vor sich auf. Verwundert ging er in Gedanken die Verhandlungspartner der letzten Monate durch.
›Sie sind komplett. Ich habe mir extra die Eigentümeranteile des neuen Unternehmens schicken lassen. Die sitzen vollzählig mit gesenkten Köpfen da vorne und warten.‹ Leise öffnete sich die Tür und ein kleiner, unscheinbarer Mann trat ein.
›Was will der denn hier? Hat der neue Geschäftsleiter etwas vergessen?‹, Herr Arnold schüttelte den Kopf. ›Bei einem so wichtigen Termin kontrolliere ich alles zwei- und dreimal. Wie peinlich ist das denn. So unorganisiert habe ich ihn nicht eingeschätzt. Aber gut.‹ Diesen ›abgebrochenen Meter‹ hatte er sich nur einmal kurz angesehen und ihm höflich zugenickt. Er war es nicht der Mühe wert, ihn genauer zu beachten, unscheinbar, das Alter schwer zu schätzen, hatte er den Zwerg rasch aus seinen Gedanken gestrichen.
›Was zum Teufel…‹
»Guten Tag meine Damen und Herren«, begrüßte der kleine Mann die Versammelten. Seine viel zu hohe Stimme drang bis in die letzte Fuge des Saales. »Mein Name ist Bill Clarksen. Ich begrüße sie als neuer Geschäftsführer und möchte ihnen…«
Eriks Gedanken überschlugen sich. ›Das kann doch gar nicht wahr sein. Wir haben die gekauft, es war mein bester Deal! Alle Verträge sind unterzeichnet, beglaubigt und eingetragen, ich war dabei! Hier muss ein Irrtum vorliegen.‹ Ruckartig schoss er von seinem Platz auf.
»Ah, Herr Arnold, schön, dass Sie heute anwesend sind. So kann ich Ihnen persönlich für die großartige Ausarbeitung der Verträge danken.«
Erik konnte nicht länger schweigen.
»Bei allem gebotenen Respekt, hier liegt ein Missverständnis vor. LaVaSom hat die HexoZel übernommen und nicht umgedreht! Wie Sie bereits sagten, ich habe die Bedingungen ausgehandelt.« Alle Köpfe drehten sich zu ihm. ›Ich mache keine Fehler, meine Arbeit ist anstandslos.‹
»Herr Arnold. Sie sollten lesen was Sie unterschreiben, auch die letzten Zeilen und die Zusätze.« Irritiert sah er durch den Raum, sein Geschäftsleiter, die Kollegen, alle Augen richteten sich auf ihn.
»Nochmals, Sie haben hervorragende Arbeit abgeliefert, das bestätige ich gerne und spreche Ihnen jetzt und hier in aller Form meinen Dank dafür aus. Sie haben Potential, das in unserem Unternehmen sehr willkommen ist.«
›Ich bin im falschen Film! Das muss ich richtigstellen! Ja, ich habe meine zusätzliche Bevollmächtigung unterschrieben, ebenso meine Beförderung. Das war reine Formsache, damit ich den Deal abschließen und eintüten konnte.‹ Hastig eilte er an den Stuhlreihen der Kollegen vorbei auf die Tür zu. ›Was habe ich übersehen oder überlesen?‹, seine Gedanken rasten. ›Unmöglich, ich mache keine Fehler!‹
»Bitte bleiben Sie und genießen Ihren Erfolg«, hörte er noch, bevor die Türen leise hinter ihm ins Schloss fielen. Sein Lauf beschleunigte sich, fast rannte er den endlos erscheinenden Korridor entlang dem Treppenhaus entgegen. Zwei Stufen auf einmal nehmend hastete Erik in den dritten Stock hinunter zu seinem Büro. Ungehalten stieß er die Tür auf und erreichte mit drei langen Schritten den Aktenschrank, entriegelte ihn und zog den Ordner ›Persönlich‹ heraus. Fahrig blätterte er die Seiten um.
›Die ersten Absätze kenne ich‹, überflog er die Einzelheiten. ›Was sagte er? Ich habe die letzten Zeilen und Zusätze nicht gelesen?!‹ Ungläubig starrte er auf den Anhang. ›Das ist ein Alptraum, aus dem ich gleich erwache‹, seine Hände begannen zu zittern, die Knie wurden weich, er stützte sich auf der Schreibtischplatte ab und sein Mund wurde staubtrocken. ›Geheimnisverrat! Meine Unterschrift?! Wie war das möglich?!‹ Herr Arnold blinzelte, schloss kurz die Augen, atmete beruhigend ein und aus. ›Es ist ein Spuk, meine Wahrnehmung hat mir einen Streich gespielt.‹ Erneut las er die Passage. ›Nein, nein! Unmöglich!‹ Seine Hand legte sich auf das Papier, die Finger krümmten sich und zerknitterten es. Ruckartig riss er den Bogen aus dem Ordner und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er schnellstens hier weg musste. ›Sie haben mich reingelegt, ich muss meine Unschuld beweisen, sonst verschwinde ich auf ewig in irgendeiner Klitsche und stempele bis ans Ende aller Zeit die Post. Es war volle Absicht. Sie haben mich. Mit einem Bein stehe ich bereits im Knast. Verdammt, wie konnte mir das passieren?!‹
Mit einem prüfenden Blick durch das Büro vergewisserte sich Erik nichts von Bedeutung vergessen zu haben. Flink zog er den Mantel über, sah kurz auf den Korridor hinaus und schlug den Weg Richtung Treppenhaus ein. ›Nicht rennen‹, befahl er sich, ›Du gehst ganz normal. Nicht auffallen. Nur noch zwei Schritte und du bist da.‹
»Herr Arnold«, hörte er eine heisere höfliche Stimme unvermittelt hinter sich und erstarrte. »Herr Clarksen wartet auf Sie. Hier entlang bitte.« Langsam drehte Erik den Kopf und erblickte sein Gegenüber. Der Mann war nur von mittelgroßer Statur, doch der schwarze Anzug vermochte seinen gut trainierten Körper nicht zu verbergen. Der blankrasierte Schädel wies einige Narben auf und die pechschwarzen Augen bohrten sich in seine. Panik ergriff ihn, sein Herzschlag beschleunigte sich, er hörte das Blut in den Ohren rauschen und spürte den Adrenalinschub heiß durch die Adern fließen. Reflexartig sprang Erik den letzten halben Meter und hetzte erneut immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter.
›Raus, erstmal muss ich hier raus und sie abschütteln.‹ Mit beiden Händen stieß er die doppelflügelige Haupteingangstür auf und rannte weiter auf die Leunenstraße zu. ›Vielleicht erwische ich den Bus? Egal wohin, nur schnell weg von hier.‹
Den Verfolger konnte Herr Arnold durch den abendlichen Lärm des Straßenverkehrs kaum hören, spürte ihn jedoch knapp hinter sich. ›Gleich hat er mich!‹ Der Mut der Verzweiflung gab ihm Kraft die vor ihm liegende Strecke durchzustehen, um in letzter Sekunde gewandt durch die sich gerade schließenden Bustüren zu schlüpfen. Unmittelbar setzte der Fahrer seine Tour fort und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. Sein Blick zurück bestätigte das Gefühl. Der Mann auf dem Bürgersteig hob zwei Finger zu den Augen und deutete anschließend auf ihn. Bevor der Blickkontakt abbrach, sah er ein Auto neben ihm halten, in dass er rasch einstieg.
›Sie verfolgen den Bus. Hoffentlich ist eine Ampel rot und sie müssen warten oder ich kann irgendwo unbemerkt aussteigen.‹ Vorsichtig lugte Erik aus dem Fenster und hielt Ausschau. ›Sie sind weg!‹, stellte er überrascht fest. Ein weiterer Kontrollblick folgte. ›Auch im zweiten und dritten Wagen sitzen sie nicht. Haben die aufgegeben?‹ Der deutliche Signalton, dem eine quäkende Computerstimme folgte und den nächsten Halt Marktplatz ankündigte, riss ihn aus den Gedanken. ›Ich muss zum Bahnhof! Aber … Vielleicht warten sie dort auf mich. Ich steig hier aus und lauf durch die schmalen Straßen, da kann ich mich besser verstecken‹, entschied sich Herr Arnold, schlängelte sich zum Ausstieg und verschwand rasch im Dunkeln der nächsten Toreinfahrt. Als wolle er sich eine Zigarette anzünden senkte Erik den Kopf und schielte verstohlen den Gehweg und die Straße entlang. Die vorbeikommende lachende, laut und deutlich scherzende kleine Gruppe kam ihm gerade recht. Als Nachzügler folgte er ihnen unauffällig mit geringem Abstand. Seine Atmung wurde ruhiger, das Herz raste nicht mehr, doch die Anspannung und das Ungewisse zerrte an seinen Nerven. Leider bog die Clique kurz vor dem Bahnhof in die Pizzeria ab. Unentschlossen, ob er es wagen sollte auf den Viadukt zuzugehen, verharrte er an der Straßenecke Dahlburgstraße und spähte zum Bahnhof hinüber.
»Herr Arnold«, zu Tode erschrocken fuhr er herum, ohne zu überlegen sprang er einen Schritt zurück direkt auf die Fahrbahn. Der nahende Autofahrer konnte gerade noch bremsen, drückte wütend die Hupe des Wagens und gestikulierte wild. Intuitiv rannte Erik los, der nahegelegenen Unterführung entgegen.
›Weg, sie dürfen mich nicht erwischen‹, trieb ihn erbarmungslos vor sich her. ›Schnell in die S-Bahn und das Schließfach am Hauptbahnhof leeren. Dort ist alles für den Notfall hinterlegt. Dann erstmal untertauchen.‹
Die kalte Luft brannte in seinen Lungen und das Echo der raschen Schritte hallte von den Wänden der Unterführung wider. Gehetzt blickte er sich nach möglichen Verfolgern um. Das unregelmäßig zuckende gelbe Licht der defekten Neonröhre und der Gestank nach Urin ließen Zweifel an seiner Entscheidung in ihm auftauchen, diesen Weg gewählt zu haben. Völlig allein in dem Drecksloch brauchte er nicht auf Hilfe zu hoffen. Das deutlich spürbare Vibrieren des Bodens kündigte den Nachtzug aus Frankfurts Hauptbahnhof nach Wiesbaden an. Plötzlich donnerte es ohrenbetäubend für einen kurzen Moment über ihm. ›Ich sollte in einem dieser Züge sitzen. Im warmen, die Spätausgabe der Zeitung lesen und meine Pläne für die Zukunft schmieden.‹ Schnell hob und senkte sich sein Brustkorb, das Herz pochte hart gegen seine Rippen und der stechende Schmerz in seiner Seite wurde unerträglich. ›Verflucht noch mal, wieso konnte ich den Mund nicht halten und einfach so, wie alle anderen auch, weitermachen wie bisher. Warum musste ich seine Aufmerksamkeit auf mich lenken?‹ Der kaum wahrnehmbare Schatten im Augenwinkel ließ ihn erschrocken herumfahren. Nackte Angst explodierte in ihm. Reflexartig warf er den Kopf in die Gegenrichtung, wo er einen zweiten hünenhaften Umriss erkannte. ›Sie haben mich!‹ Panisch suchte er nach einem Ausweg und die Gedanken überschlugen sich. ›Was kann ich am besten? Verhandeln! Ich muss mit ihnen verhandeln, vielleicht haben sie an Geld Interesse oder an den Münzen in meinem Schließfach?!‹ Er straffte seinen Körper, richtete sich gerade auf und versuchte das Zittern der Hände zu unterdrücken. Hitze und Kälte durchflutete ihn abwechselnd, sein Mund war trocken und es schnürte ihm die Kehle zu. ›Sei ein Mann! Wo bleibt dein gewandtes Auftreten, deine Raffinesse und Überzeugungsgeschick?!‹
»Sie sind falsch abgebogen«, hörte er die heisere, höfliche Stimme mit leichtem undefinierbarem Akzent des Kahlrasierten.
»Herr Clarksen wartet auf Sie und wird mit jeder Minute ungeduldiger.« Seine Hand wies auf den Ausgang und ließ keinen Zweifel, dass es eine Alternative gab. Sogleich spürte er den zweiten größeren Mann nur wenige Zentimeter hinter sich. Sein nach Menthol Zigaretten und Pfefferminzbonbon riechender Atem kroch ihm in den Mantelkragen, unter den dunkelblauen Kaschmirschal.
›Hatte ich jemals eine Chance zu entkommen?‹ Herr Arnolds Ellenbogen wurde von einer Hand umfasst, die den Druck auf der Innenseite des Gelenkes schmerzhaft verstärkte und eindeutig die Richtung vorgab. Schweigend schritten sie nebeneinander her, in eine der kaum beleuchteten Nebenstraßen auf ein mit laufendem Motor wartendes Auto zu. Kaum hatten sie die Reichweite der Scheinwerfer erreicht, wurde das Fernlicht eingeschaltet und gleißendes LED-Licht blendete sie. Reflexartig wollte er die Hand heben um seine Augen zu schützen, doch der harte, quälerische Griff am Ellenbogen verhinderte dies. Erik zwinkerte und blinzelte, senkte letztendlich den Blick zu Boden. Unnachgiebig zwangen ihn seine Begleiter in die Knie, er spürte die eisige Nässe auf der Straße durch den hochwertigen anthrazitfarbenen Wollstoff der Anzughose kriechen. Der rabiate Griff im Genick beugte seinen Oberkörper solange nach vorn, bis die Stirn den Asphalt berührte. Herr Arnold hörte das metallische Klicken direkt neben dem Ohr und sah den Lauf eines Revolvers in seinem Blickwinkel auftauchen.
»Ich kooperiere, bitte tun sie mir nichts«, flehte er und hob die Hände, so weit es ihm möglich war. Den festen Schlag auf dem Hinterkopf registrierte er nicht mehr, bevor sein Körper bewusstlos zur Seite sackte. Erbarmungslos wurde Erik rechts und links an den Armen gepackt und weiter gezerrt. Seine aus teurem Leder gefertigten Schuhe schleiften über den rauen Straßenbelag und der Kopf wippte baumelnd im Gleichschritt der Männer.
»Bringt ihn lebend zurück, er muss noch Rede und Antwort stehen können«, erhielten sie die Anweisung und steckten ihn in den Kofferraum eines weiteren wartenden Wagens.
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Eva stand im Arbeitszimmer am Dachfenster und schaute nachdenklich in den Garten hinunter. Moritz betrat den kleinen Raum und reichte ihr eine große Tasse mit heißem dampfendem Kräutertee. Er wusste, dass dieser als eine Art Lebenselixier wichtig für sie geworden war. Das Gebräu half ihr beim Nachdenken und beruhigte sie.
»Was denkst Du gerade?«, fragte der ein Meter achtzig große, muskulöse Mann und lehnte sich an die Dachschräge. Seine graugrünen Augen folgten ihrem Blick in den Garten. Fahrig strich er sich die langen hellbraunen Locken aus dem kantigen Gesicht.
»Wozu Menschen alles fähig sind«, entgegnete sie leise, ohne ihn anzusehen.
»Hm«, brummte er zustimmend. »Grausam, was wir gerade ausgegraben haben«, und sah sich in dem spartanisch eingerichteten Raum um. Die Wandschränke fügten sich in die Dachschräge, der alte dunkelbraune, fast schon antike Massivholzschreibtisch mit den Schnitzereien hatte vor einigen Jahren den Aufbruchversuchen des intriganten Dr. Crolls getrotzt und seine Geheimnisse sicher bewahrt. Dahinter befand sich ein hochlehniger, mit blankgewetztem schwarzem Leder bezogener Stuhl. Die ehemalige Aktentasche von Evas Vaters stand in Gedenken an ihn auf ihrem gewohnten Platz, gleich im ersten Regalfach neben der Tür. Moritz legte seinen Arm um Evas Schulter, einer ungewöhnliche Frau Anfang dreißig. Die langen, kastanienfarbenen Haare trug sie oft als Zopf geflochten oder gerade im Sommer hochgesteckt mit einem Bleistift, der den Dutt fixierte. In ihrem runden Gesicht strahlten saphirblaue Augen und die wohl gerundete Figur verleitete manchen dazu, sie allzu rasch in eine Schublade zu stecken. Ihr außergewöhnlich scharfer Verstand überraschte ihn teilweise auch heute noch mit eindrucksvollen Kombinationen von Zusammenhängen, die aus ihrem Team in der Redaktion niemand in Betracht zog. Dass sie jetzt so auffallend ruhig zum Nachdenken am Fenster stand, bedeutete nichts Gutes. Üblicherweise lief sie von einem Raum in den anderen, kam zurück, nur um sofort wieder zu verschwinden. Er konnte dieses Verhalten nachvollziehen, hatte er es doch selbst bis zu seinem schrecklichen Unfall, der ihm ein halb steifes Bein bescherte und sein ganzes Leben auf den Kopf stellte, praktiziert.
»Willst Du allein sein?«, sprach Moritz den Gedanken aus, welchen er gründlich überlegt hatte. Eva in diesem Zustand sich selbst zu überlassen war eine zweiseitige Schneide und konnte ganz gewaltig nach hinten losgehen. Die Ruhe vor dem Sturm oder das Auge im Tornado war die korrekte Bezeichnung.
»Ja, bitte«, entgegnete sie wortkarg und kehrte in ihre Erinnerungen zurück. ›Er ist beunruhigt und meint es gut. Nach dem, was hinter uns liegt, kann ich seine Sorge nachvollziehen. Die erlebten, schrecklichen Misshandlungen durch die schizophrene Elena und das abscheuliche Vorgehen im Sanatorium der Vita Nova, haben ihre Spuren hinterlassen.‹ Sie trank einen großen Schluck von dem ungesüßten kräftigen Kräutertee. ›Kaum deckten wir im vergangenen Herbst die geplante Übernahme der neuralgischen Punkte in Deutschland durch irrgelenkte Gruppen auf, schon flossen die Recherchen fast nahtlos in die gerade beendeten über.‹ Sie hörte Moritz unrhythmischen Gang auf der Treppe. ›Er hatte bereits zum zweiten Mal wegen unserer Recherchen im Krankenhaus gelegen, erst sein Knie, das durch den Autounfall nicht mehr frei beweglich war und jetzt sein gebrochenes Fußgelenk. Wie weit bin ich bereit zu gehen? Wie viel Schmerz kann ich zulassen?‹ Eva trank die Tasse leer, stellte sie auf dem Heizkörper ab und schloss die Augen. Sofort stiegen die Bilder des Brandes in ihr auf, der Balkon, die winkende lachende Frau auf ihm und eine Minute später stürzt alles in die lodernde Tiefe. Danach die Seiten des Berichtes, in dem schwarz auf weiß zu lesen war, dass die menschlichen Knochenfragmente über das gesamte Areal verteilt gefunden wurden.
›Zu Beginn dachte ich, meine unfreiwillige Fahrt nach Istanbul und der dortige Aufenthalt seien gefährlich, oder mein Einstieg in den investigativen Journalismus, der Mitschnitt von Dr. Crolls Geständnis. Doch das kürzlich Erlebte, übertraf alles Bisherige.‹ Abrupt öffnete sie die Augen. ›Das muss ein Ende haben, ich kann nicht länger die Verantwortung übernehmen.‹ Eva griff die Tasse und schritt die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Moritz saß im Wohnzimmer und arbeitete an einer Zusammenfassung, irritiert horchte er auf Evas gleichmäßige langsamen Schritte.
›Die bedeuten nichts Gutes. Sie hat einen Entschluss gefasst, den sie mir gleich mitteilt,sonst rennt sie mit flinken Beinen hoch und runter.‹ Alarmiert des bevorstehenden Gespräches, sah er zur Tür, doch sie bog in die geräumige Wohnküche ab. ›Ist das jetzt etwas gutes oder schlechtes?‹, er hörte die Kaffeemaschine brummen und kurz darauf den Wasserkessel auf dem Herd summen. ›Ich geh besser zu ihr, die Küche ist unser neutrales Territorium.‹ Moritz erhob sich und humpelte zu ihr.
Mit traurigen Augen sah sie kurz auf, brühte einen weiteren frischen Tee über und stellte ihm einen heißen Kaffee hin.
»Setzt Dich bitte, wir müssen reden.« Sie deutete auf die Stühle vor dem großen Tisch.
»So schlimm?!«
Sie nickte, setzte sich zu ihm und legte ihre kleine weiche Hand auf seine große starke.
»Bitte hör mir erst zu, bevor Du Dich entscheidest.«
Seine Augen weiteten sich und ein flaues Gefühl breitete sich im Magen aus.
»Du willst jetzt aber nicht mit mir Schluss machen?!«, sprach er mit blassem Gesicht seine schlimmste Befürchtung aus.
»Moritz, ich kann nicht länger verantworten, dass Du noch mehr Schaden nimmst. Sieh Dich an! Durch mich bist Du zum Invaliden geworden. Diese verdammten Recherchen, wir haben Machenschaften angeprangert und was ist passiert? Die Kleinen werden gehängt, sind die Bauernopfer und die Großen machen munter weiter wie bisher.« Enttäuschung, Wut und Angriffslust sprach aus ihren Worten.
»Wir haben viele wachgerüttelt, sie sehen jetzt besser hin und wenn wir nur wenige überzeugen sind sie die Steine in den Schuhen der Gesellschaft.«
»Das mag sein, aber sei ehrlich, durch mich bist Du gehandikapt, kannst nicht mehr wie früher Deine außergewöhnlichen Recherchen in aller Welt betreiben und bist für immer in Deiner Bewegung eingeschränkt …«
»Stopp Eva!« Er drehte seine Hand um und ergriff fest die ihre.
»Hör sofort auf! Ich bin ein Mann Mitte dreißig und für mich selbst verantwortlich! Hörst Du?! Was hast Du vor einigen Monaten, da draußen in der Diele, dem Rocker bei seinem ersten Besuch um die Ohren gehauen?! Hoffentlich erinnere ich mich richtig, ich denke Deine Worte waren: Du erwartest von mir jetzt keine Absolution?! Was auch immer Deine Gründe waren sich dem MC anzuschließen, es ist Deine Angelegenheit und damit Deine Verantwortung.« Bittend sah er Eva an und bemerkte, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht aufzuspringen. Schnell hielt er ihre Hand noch fester. »Verstehst Du?! Ebenso ist es bei mir! Meine Gründe, mit Dir zu arbeiten sind: Du bist eine herausragende Denkerin mit einzigartigem Gespür und unglaublicher Kombinationsgabe. Meine Entscheidung, mich schon seit unserer ersten Begegnung auf Dich einzulassen war das Beste, was ich bisher beschlossen habe. Meine Bestimmung ist, Dich wunderbare Frau nicht zu verlieren!« Eindringlich sah er ihr in die noch abwägenden Augen. »Über allem steht, dass ich Dich liebe und es nicht ertrage, ohne Dich zu leben!«
»Aber …«
»Nein Eva, es ist mein Wille hier zu sein, so wie damals ins Auto zu steigen und diesen vermaledeiten Unfall auf eisglatter Straße zu haben«, seine Stimme wurde eindringlicher. »Meine! Du bist nicht dafür verantwortlich. Verstehst Du! Ich, nur ich selbst habe diese Entscheidungen getroffen und die daraus erwachsenden Konsequenzen zu tragen.«
»Aber«, begann sie zum zweiten Mal, »Ich habe Angst um Dich«, gestand Eva, zog ihre Hand aus seiner und sprang auf.
»Ja, ich weiß. Deshalb habe ich ihn an seine Verpflichtung Dir gegenüber erinnert«, gab er zu. Blitzschnell fuhr sie herum und funkelte ihn angriffslustig mit gerunzelter Stirn an.
»Glaubst Du ich weiß nicht, wie gefährlich unsere Recherche manchmal ist?«, verteidigte er sich. »Wir werden bedroht, zusammengeschlagen, entführt, unser Ruf wird diffamiert … Soll ich fortfahren?«
Eva schüttelte verneinend den Kopf. ›Er hat recht, wer sich mit den Großen anlegt, muss mit Repressalien rechnen.‹
»Wenn mir was passiert oder ich nicht mehr zurückkomme, dann brauchst Du jemanden, der sich kümmert und er ist die unbestreitbar beste Wahl. Außerdem magst Du ihn«, fügte er leise hinzu.
»Wir sind quitt. Er hat uns aus Elenas Gefangenschaft und Wahnsinn befreit, wir ihn aus seinem Familiengefängnis. Er ist uns nichts schuldig«, argumentierte sie, während die Erinnerungen auf sie einstürzten.
»Du hast mir damals keine Antwort gegeben und ich habe nicht weiter darauf bestanden«, gab er ehrlich zu.
Unentschlossen was sie entgegnen sollte stand Eva im Türrahmen. ›Soll ich lachen oder weinen?!‹ Das schrille Läuten der Klingel riss sie aus ihren Gedanken. Erleichtert, nicht antworten zu müssen, ging sie zur Haustür und öffnete. Sabine und Chris standen freudestrahlend vor ihr. Eva trat zur Seite und ließ die beiden eintreten.
»Was ist hier los?«, erfasste der etwas kurz und breit geratene, kahlköpfige Freund sofort die angespannte Situation, kaum dass er eingetreten war. »Ihr habt Krach? Nein, es ist viel schlimmer!«, stellte er sogleich fest, nachdem er Evas Gesicht, und Moritz mit gesengtem Kopf am Küchentisch sitzen sah. »Ihr wollt euch aber nicht trennen?!«
Sabine verabschiedete sich sofort und bot an, im Auto zu warten. Der rotblonde Lockenberg auf ihrem Kopf wippte und aus ihren grünen Augen sprach Verständnis, die drei langjährigen Freunde allein zu lassen. Doch Eva holte sie mit dem Argument, das sie Chris Freundin sei und zu ihnen gehörte, zurück. Als alter Kumpel gab er nicht nach und bestand darauf endlich zu erfahren, was sich hier gerade abspielte.
Moritz schnaufte bedrückt und erklärte, dass Eva der Meinung war, für ihn und seinen Gesundheitszustand verantwortlich zu sein. Außerdem waren sie gerade dabei ihre gemeinsame Zukunft zu hinterfragen. Empört wandte sich Chris Eva zu, er konnte nicht glauben, dass sie ihren Freund raus schmiss, weil sie das schlechte Gewissen plagte oder wie sollte er das verstehen? Skeptisch starrte er Eva an.
»Nein. Ich such mir einen anderen Job«, ließ sie die Bombe platzen. »Meine Entscheidung ist gefallen. Vielleicht geh ich in die Bank zurück, mal sehen, was ich finde.« Für einen Moment herrschte absolute Stille, in der ein Fall einer Stecknadel als Donner gewirkt hätte. Drei Augenpaare fixierten sie. Als erster fand Moritz die Sprache wieder. Er konnte sich Eva in ihrem alten Job nicht mehr vorstellen, unmöglich, nein, dies kam für ihn nicht in Frage. Umgehend beschwerte sich Chris. Empört hieb er ihr seine Argumente um die Ohren. Das könne sie nicht machen, wer sollte ihn nerven, auf die Pelle rücken und ihn im Urlaub belästigen? Außerdem zahlte Eva in Naturalien! Abgelehnt! Das musste sie gleich vergessen. Sabine hatte sich zurückgehalten, sie kannte Eva noch nicht so lange, um sich ein Urteil zu erlauben. Bedrückt, wie er seine Freundin zurückhalten konnte stemmte sich Moritz vom Stuhl hoch und humpelte zu ihr. Fest schloss er sie in beide Arme, drückte Eva an sich und versicherte ihr, dass sie nicht mehr die zögerliche, etwas ängstliche, fast schon schüchterne war, wie er sie bei Lisa kennengelernt hatte.
Sabine blickte entschieden in die Runde.
»Ihr zwei, raus!«, sie deutete auf Moritz und Chris. »Wir zwei, Frauengespräch!«, bestimmte sie und ihr Gesicht ließ keinen Zweifel, dass sie meinte, was sie sagte. Chris setzte zum Sprechen an, doch Sabine unterbrach ihn umgehend. »Später«, und deutete unmissverständlich auf die Tür.
»Die hat was zu bestimmen«, flüsterte Moritz Chris beim Verlassen der Küche zu. Dieser nickte nur. »Das kannst Du laut sagen. Sie weiß genau was sie will«, bestätigte er und schloss die Tür zum Wohnzimmer.
Sabine goss sich einen Kaffee ein, setzte sich an den Tisch und sah zu Eva, die am Kühlschrank lehnte.
»Raus damit, was ist tatsächlich der Grund für Deinen Rückzug aus der Materie?«
»Ich habe Angst«, gestand Eva.
»Kluges Mädchen, sehr gut und überaus wichtig«, bestätigte Sabine. Kopfschüttelnd erklärte Eva, dass ihre Angst Moritz galt und die Begegnung mit der Schizophrenen, hier in dieser Küche, deutlich gemacht hatte, wie angreifbar er war. Ein fester Tritt gegen sein Knie und innerhalb von einer Sekunde hatte sie ein Meter fünfundachtzig, neunzig Kilogramm Muskeln, ausgeknockt. Wie sollte sie ihn beschützen?! Sabine musterte sie von Kopf bis Fuß.
»Mit Deinem überaus scharfen Verstand«, lächelte sie. Verzweifelt blickte Eva die neue Freundin an, zuckte mit den Schultern und fragte, wo zum Teufel dieser ach so scharfe Verstand geblieben war, als sie gegen jede innere Warnung die Frau ins Haus gelassen und Moritz damit in Gefahr gebracht hatte. Ihre Intuition war weg, sie fühlte sich leer, unbrauchbar für die Recherchearbeit. Es machte keinen Sinn, ihr Handeln richtete mehr Schaden an, als Ergebnisse dabei heraus kamen. Eva wollte die Küche verlassen, doch Sabine hielt sie zurück.
»Wann hast Du das letzte mal nichts gemacht? Ich meine nicht zwangsläufig Urlaub, sondern einfach nur den Tag verbummelt?« Nachdenklich blieb Eva stehen.
»Eben! Du musst überlegen und kannst Dich nicht mal daran erinnern. Ich weiß von Chris, dass Du seit knapp einem Jahr voll drin steckst und extrem viel durchgemacht hast.«
Eva nickte, ›Schon ein Jahr?! Es stimmt. Sie hat in allem Recht.‹ Sabine trat zu ihr, legte eine Hand auf Evas Arm und riet ihr eine Pause einzulegen. Dieses Arbeitspensum und die emotionale Belastung würde sie sonst auf Dauer nicht durchhalten. Eva sollte einfach nur spazieren gehen, oder in ihr Ferienhaus fahren, Hauptsache war Abstand zu gewinnen. Chris und sie würden sich in der Zwischenzeit um Moritz kümmern. Spontan legte Sabine ihren eigenen Autoschlüssel auf den Tisch.
»Geh packen, ich sag den beiden Bescheid.« Zögerlich blickte Eva sie an, doch ihre strengen Augen sprachen Bände. »Mindestens drei Tage, besser eine Woche!«, verordnete sie und schob Eva zur Tür hinaus Richtung Treppenaufgang.
»Vielleicht hast Du recht«, gab sie sich geschlagen. ›Schlafen, essen, spazieren gehen, mal ein Glas Wein trinken. Nichts hören und sehen, zum Mäuseturm wandern, wie ich es als Kind so gern gemacht habe.‹
Eine halbe Stunde später stand sie mit der gepackten Tasche in der Diele. Moritz sah sie mit betretenem Blick an, Chris und Sabine hatten sich ins Wohnzimmer verzogen.
»Nimm mein Auto, mach Dir keine Sorgen, die beiden kümmern sich. Wenn Du zurück bist, kaufen wir für Dich eines. Die Reste von Deinem geklauten und ausgeschlachteten haben die an der Grenze ja direkt verschrottet.« Er nahm sie in die Arme, küsste sie lang und innig. »Bitte melde Dich, wenn Du angekommen bist.« Moritz bemerkte ihr unterschwelliges Zögern. »Sabine hat Recht, mach eine Pause. Sie hat den Kühlschrank geplündert und Dir den Korb gepackt«, er deutete breit grinsend zur Haustür.
»Moritz ich …«
»Alles okay. Schalt mal ab und komm auf andere Gedanken. Ich warte auf Dich. Versprochen. Jetzt geh, raus mit Dir, wir drei kommen schon zurecht«, griente er und dirigierte sie hinaus.
Ihre Fahrt führte sie tief ins Sauerland. Genauer gesagt in das 190 Kilometer entfernte Marsberg. Hier und da riss die Wolkendecke auf und vereinzelt blitzen Sonnenstrahlen auf die regennassen Straßen. Zwiegespalten, ob es korrekt war sich einfach auszuklinken und alles hinter sich zu lassen, erreichte sie das kleine fast vollständig von Bäumen und Hecken zugewachsenen Grundstück mit dem Häuschen außerhalb der Ortschaft. Das Gartentor zur Einfahrt quietschte deutlich vernehmbar in seinen Angeln, als wolle es protestieren aus dem bisherigen Zustand herausgerissen zu werden. Unzählige Efeuranken hatten die Zufahrt mit dem Gartenweg erobert und ihn in einen grünen Teppich verwandelt.
Vorsichtig lenkte Eva Moritz´ Auto auf das Gelände.
›Ich war schon zu lange nicht mehr hier‹, stellte sie fest, stieg aus und schloss das Tor. ›Kralle versteckte sich einige Tage hier‹, wie von selbst wanderten ihre Gedanken zu dem neu gewonnenen Freund. ›Er hat den Haustürschlüssel bestimmt wieder zwischen die dunkelgrünen Holzlamellen des Fensterladens auf der Rückseite gehängt. Obwohl, notfalls habe ich den Ersatzschlüssel einstecken.‹ Nachbarn gab es hier nicht, was ihr im momentanen Zustand sehr recht war. Eva hatte keine Lust Fragen zu beantworten, wo sie doch selbst nach Antworten suchte.
›Ich erinnere mich, als Kind war ich regelmäßig hier. Früher sah es ganz anders aus, es erschien mir sehr viel größer.‹
Zielstrebig öffneten sie die Haustür, Spinngewebe zerrissen und schwebten fast schwerelos im Luftzug. Der winzige Flur bot gerade so viel Platz um die Tasche abzustellen und nicht über die an der Wand stehenden Schuhe zu stolpern. Automatisch drückte sie auf den Lichtschalter, doch nichts geschah. ›Ja richtig, Vater hatte immer die Hauptsicherung ausgeschaltet. Mögliche Einbrecher sollten es recht ungemütlich haben.‹
Erwartungsvoll öffnete sie die Türen und sah schemenhaft die Einrichtung, nur von den schalen Lichtstreifen erhellt, welche durch die Ritze der geschlossenen Fensterläden fielen. Das Wohnzimmer, nebenan das Schlafzimmer und auf der anderen Seite die Küche und das Badezimmer. Vorsichtig begann sie die hellen Staubabdeckungen von den Möbeln zu heben, um sie nach draußen zu bringen und auszuschütteln. Danach öffnete sie die Fenster und Läden. Sofort strömte Licht und frische Luft herein, verwandelte den Raum in ein heimeliges Reich.
Fröstelnd zog sie die Schultern hoch, schloss die Fenster, stapelte Holzscheite in den Kamin und entfachte das Feuer. Etwas später füllte sich der Raum mit behaglicher Wärme und Eva betrachtete die geschmackvolle Einrichtung. Der bequeme breite Sessel mit floralen Bezug an einem niedrigen runden Tisch und dem passenden Sofa gleich an der gegenüber liegenden Wand. Der halbhohe, hellbraune Bücherschrank mit den Glastüren gab den Blick auf Freizeitlektüre aller Art und etliche Kinder- und Märchenbücher frei. Der hohe ovale Esstisch mit seinen vier Stühlen vervollständigte das Bild.
Sabines gepackter Korb erwies sich als Fundgrube von Leckereien. Sie hatte eine hervorragende Wahl getroffen und Eva schloss darauf, dass in ihr eine gute Köchin steckte. Rasch waren die Lebensmittel verstaut, ein Tee übergossen und der Sessel vor den Kamin gezogen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, sie stellte ihre Tasse griffbereit auf den niedrigen Tisch, legte Holz nach, wickelte sich in eine der Decken und kuschelte sich in den Sessel. Sie verweigerte der aufsteigenden Erinnerung von ihr Besitz zu ergreifen und beobachtete die Flammen. Wie rote Zungen leckten sie über die Holzscheite, es knisterte und knackte, der typische Geruch breitete sich im Zimmer aus. ›Ein klein wenig wie Nadelholz‹, dachte sie.
»Eva, warte nicht so schnell«, hörte sie hinter sich rufen. Abrupt blieb sie stehen und sah zurück. Die schlanke feingliedrige blonde Frau winkte ihr lachend zu. »Mutti, ich lauf vor zum Mäuseturm«, rief sie und rannte weiter den Hügel hinauf, zu ihrem Lieblingsplatz im Inneren des alten Gemäuers.
Erschrocken fuhr sie in die Höhe.
›Es hat geklopft‹, schnell sah sie sich um, das Feuer war ausgegangen und die hellen Sonnenstrahlen zeichneten kleine abstrakte Muster auf den Boden. ›Es ist schon Morgen?‹, überlegte sie irritiert und lehnte sich zurück, doch das erneute Klopfen trieb sie aus dem Sessel. Verstrubbelt in die Decke gewickelt ging sie zur Tür, kniff das Auge zusammen und lugte aus dem Spion. Der Gartenweg zum Tor war leer, Moritz Auto stand genauso in der Einfahrt, wie sie es gestern abgestellt hatte und der Wind zerrte an den immergrünen Büschen.
›Wie spät mochte es sein?‹ Benommen lehnte Eva ihren Kopf gegen die Haustür, doch ein lauter Knall gefolgt von einem weiteren ließ sie zusammen zucken. ›Der Fensterladen im Schlafzimmer!‹, lokalisierte sie das Geräusch, gähnte herzhaft und zog die Schultern nach hinten. ›Er muss sich gelöst haben‹, vermutete sie und betrat den Raum. Sogleich bestätigte sich ihr Verdacht, der kräftige Wind schlug erneut den Laden zu. Rasch öffnete sie das Fenster, eine kalte, frische Bö wehte ihr ins Gesicht und zerzauste ihre Haare.
›Jetzt bin ich endgültig wach.‹ Sorgfältig hakte sie die Befestigung ein und nickte zufrieden. ›Du wirst mich nicht mehr erschrecken‹, lächelte Eva und schloss das Fenster. ›Eine große Tasse Tee und anschließend einen Spaziergang zum Mäuseturm. Das ist jetzt genau richtig‹, entschied sie und blickte auf ihre Uhr. ›Schon vier?! Das kann nicht sein. Ich habe bis zum Nachmittag geschlafen?‹, ihr Verstand zweifelte an dieser Tatsache und rasch suchte sie ihr Handy. ›Wo zum Kuckuck steckst du? Überleg, ich habe Moritz die Nachricht geschickt, dass ich gut angekommen bin, dann Feuer gemacht und den Kessel aufgestellt. Neben dem Kamin? Nein. In der Küche? Nein. Der Sessel, in dem ich eingeschlafen bin.‹ Triumphierend hielt sie das Telefon in die Höhe und sah auf das Display. ›Unglaublich, es ist tatsächlich schon so spät.‹ Flink lief sie in das kleine Badezimmer um sich fertig zu machen. ›Ich will bis zur Abenddämmerung wieder zurück sein, im Halbdunkeln durch die Felder und Wiesen zu stolpern ist kein Vergnügen.‹
Zügig marschierte Eva wenig später einige Hundert Meter an der Landstraße entlang, bevor sie in den Feldweg abbog, der in einem leichten Bogen direkt bis zum Mäuseturm führte und schmunzelte unwillkürlich.
›Hier habe ich fast jeden Sommer verbracht, manchmal auch die Herbstferien und mein allererster Weg war zum Mäuseturm, in dem nach meinen Vorstellungen ein Schatz liegen musste.‹ Sie schloss kurz die Augen und zog tief die kalte Luft in ihre Lungen. Sogleich erwachte die Erinnerung aus der Kindheit. Der Weg, die im Sommer blühenden Wiesen und der Geruch von trocknendem Heu lag in der Luft. Unzählige Insekten schwirrten auf der Suche nach Nektar von Blüte zu Blüte. Irgendwo sang die Lärche ihr Lied, hoch oben zog ein Raubvogel seine Kreise und der Wind trieb die weißen Wolken zu phantasievollen Gebilden.
›Wieso war ich seit damals nie mehr hier?‹ Der kurze Anstieg den Hügel hinauf belohnte jeden mit einem wunderschönen Panorama auf die Umgebung. Intuitiv blieb Eva einen Augenblick stehen und genoss die Aussicht über die hügelige geschwungene Landschaft, bis sie den Turm erblickte. ›Mir ist kalt.‹ Sie fröstelte, zog die Jacke enger um ihren Körper, drehte sich reflexartig um und trat den Rückweg an. ›Verdammt noch mal, was mache ich gerade? Mein Ziel war der Turm und nicht auf halber Strecke umzukehren‹, wunderte sie sich und blieb jählings stehen. Der eisige Wind kroch ihr in den Kragen, doch sie zwang sich den Kopf zu drehen und ihre Augen suchten das Ziel der Wanderung. Forsch schritt Eva den erst leicht abfallenden und anschließend ansteigenden Weg voran.
›Gleich bin ich angekommen, nur noch ein kurzes Stück. Nach der Biegung führt ein schmaler Pfad direkt zu dem alten Gemäuer. Der offizielle Weg ist außen entlang. Wie spät mochte es sein? Bestimmt schon fünf Uhr, die Tage werden länger aber ich wollte vor der Dämmerung zurück sein. Dreh um für heute ist es genug. Du sollst dich ausruhen und keinen Marsch hinlegen. Morgen, vielleicht habe ich morgen mehr Lust.‹ Ihre Schritte wurden langsamer, sie blickte zurück und zum Himmel hinauf. ›Bestimmt regnet es gleich, möglicherweise wird es in den nächsten Tagen besser, dann kann ich den Rundweg laufen, der ist auch sehr schön.‹ Überrascht sah Eva auf ihre zitternden Hände, ohne Vorwarnung rannen die Tränen über ihre Wangen, das flaue Gefühl im Magen ließ ihr die Knie weich werden und auf den Feldweg sinken. Stoßweise atmete sie aus und kalter Schweiß bildete sich auf Evas Stirn, ihre Hände krallten sich in den wenigen Grasbüscheln fest um nicht den Halt zu verlieren. Unerklärliche Gefühle stürmten auf sie ein, sie schluchzte auf und weinte laut.
Wie lange sie sich auf dem feuchten Untergrund zusammengekauert hatte, vermochte sie nicht zu beurteilen.
›Sabine hat recht, anscheinend bin ich tatsächlich urlaubsreif, oder sind das die Auswirkungen der durchlebten Ereignisse?‹ Mühsam stand sie auf, wischte sich mit den Handrücken die nassen Spuren aus dem Gesicht und trat den Rückweg an.
In dieser Nacht träumte sie von ihrem Vater, der mit ihr durch die weitläufigen grünen Wiesen zum Mäuseturm wanderte. Mutti war schon dort und lehnte weinend an der dunkelgrauen, aus groben Steinen errichteten Mauer. Vater nahm sie besorgt in den Arm, doch sie schüttelte ihn ab und zeigte auf …, ruckartig fuhr Eva in die Höhe. Verstört sah sie auf die Uhr.
›Schon wieder Mittag?! Was zum Teufel ist mit mir los, dass ich dauernd so lange schlafe?‹ Flink stand sie auf, frühstückte und entschied der Stadtmitte ihren Besuch abzustatten. ›Vielleicht gibt es noch das kleine Geschäft, in dem ich mir die Postkarten gekauft habe. Dort gibt es bestimmt eine Tageszeitung. Danach bummele ich durch die Altstadt. Mal sehen, was sich in den letzten Jahren alles verändert hat.‹
›Das muss auch mal etwas Multi-Spray auf die Zargen bekommen‹, dachte Eva, nachdem sie das quietschende Tor geöffnet und wieder hinter sich geschlossen hatte. Der kurze Spaziergang an der frischen Luft tat gut, tief inhalierte sie die Sauerlandluft in ihre Lungen und betrat nach gut fünfzehn Minuten freudig den kleinen Laden. Neugierig drehte sie den Ständer mit Ansichtskarten, wählte kurz darauf aus dem Angebot der Zeitungen das Tagesblatt und hörte ungewollt ein Gespräch der beiden Senioren an der Kasse vor ihr. Die Polizei suchte Personen, welche sich gestern in der Nähe des Mäuseturms aufgehalten hatten. Am späten Mittag hatte sich dort ein Unglück ereignet. Eva wurde speiübel, sie zwang sich Ruhe zu bewahren, bezahlte rasch und verließ fluchtartig das Geschäft.
›Jede Nacht träume ich von dem vermaledeiten Gemäuer, jetzt passiert ein Unglück und ich habe undefinierbare Gefühlsausbrüche. Zum Teufel auch, was für ein Geheimnis ist dort verborgen? Geh ich hin und sehe nach, was sich dort befindet? Mein Gespür sagt: Kläre das und mein Bauchgefühl findet jede Menge Ausflüchte.‹
Zwiegespalten der Intuition oder Sabines verordneter Auszeit zu folgen, lief sie schnurstracks zurück und legte die Zeitung ins Wohnzimmer. ›Du hast Urlaub, sollst Dich ausruhen, mal abschalten, deswegen hast Du keinen Laptop dabei.‹ Eva drehte ihre Runden durch die Zimmer. ›Sabine verordnete mir Erholung, faulenzen, rumgammeln und nicht recherchieren‹, mahnte es in ihrem Kopf.
Ausgestattet mit festen Schuhen, Regenjacke und ihrem Handy in der Tasche war sie bereits auf dem halben Weg zum Ort des Geschehens, als sie schon von der Anhöhe ein Polizeiauto sah. Es stand unterhalb des mit vertrocknetem Gras überdeckten Hügels, auf dem der Turm stand. Sie beschleunigte ihren Schritt, und stellte sich zu den beiden Personen an der Wegkreuzung.
»Hallo«, grüßte sie höflich und nickte den beiden freundlich zu. »Hier ist gestern ein Unfall passiert?!« Nickend wandte sich der Mann zu ihr.
»Einer aus em Ort, der is von obbe abgestürzt, des versteht keiner.«
»Er ist …« Eva spürte erneut ein unheilvolles Gefühl in sich aufsteigen. ›Was ist mit diesem Ort? Er ist mir unheimlich, fast als hätte ich Angst hier zu sein.‹ Sie bemerkte das Zittern ihrer Hände und steckte diese in die Jackentaschen, bevor die beiden Anwesenden vielleicht unbequeme Fragen stellten, auf die sie selbst keine Antwort wusste. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und ließ sie frösteln.
»Ja der ist dod. Ein Tipp, bleibe Sie ned zu lang, es fängt gleich an zu regne un dann verwandelt sich hier alles in Morast«, riet die Frau ihr beim Abschied. Eva sah ihnen hinterher, fast wünschte sie, dass die beiden blieben, sie wollte hier nicht allein sein. Abschätzend blickte sie zum Himmel, es roch nach Regen. Die schweren dunklen Wolken und der aufkommende Wind bestätigten die Aussage der beiden. ›Dann komm ich morgen nochmal‹, beschloss sie und verdrängte das beklemmende Gefühl. Ein Wagen holperte langsam über die bucklige Zufahrt heran. ›Zivile, sicherlich Kripo‹, vermutete sie. ›Bedrückend, richtig unheimlich. Ich will überhaupt nicht hier sein‹, gestand sie sich ein. Rasch drehte Eva sich um und lief zurück. ›Jetzt bin ich erst den zweiten Tag hier und spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass an diesem Gemäuer etwas nicht stimmt. Es ist unheimlich und macht mir Angst.‹ Der auffrischende Wind trieb sie zur Eile an und Eva beschleunigte ihre Schritte. ›Informationen, ich geh auf die Suche, mal sehen was daraus wird. Stopp‹, rief sie sich zur Ordnung. ›Du bist zur Erholung hier und nicht zum Arbeiten.‹
Kaum hatte sie den Panoramahügel erreicht, fielen die ersten Tropfen und schienen sich mit jedem ihrer Schritte zu vertausendfachen. ›Bis ich das Haus erreiche, bin ich sacknass. Egal, eine heiße Dusche, ich koche mir was Leckeres, trinke ein Glas Wein dazu und folge meiner Intuition. Bisher hat sie mich kaum im Stich gelassen. Ist es der Turm oder das halbverfallene Gemäuer? Etwas stimmt nicht, macht mir Angst, es ist dunkel … Gestern, das war nicht alles Überarbeitung, sei ehrlich zu dir, irgendwie hänge ich da mit drin.‹
Am nächsten Vormittag unternahm sie einen neuen Versuch, dem Turm endlich einen Besuch abzustatten. Gut ausgerüstet schlug sie ein weiteres Mal die Richtung ein.
Wie Eva es erwartet hatte, flatterten Absperrbänder um den Turm, allerdings war weit und breit niemand zu sehen. Ein ungutes Gefühl beschlich sie und am liebsten wäre sie umgekehrt.
›Stell dich nicht so an, hier ist keiner‹, zwang sich Eva, umkreiste das Bauwerk und vergewisserte sich auch tatsächlich allein zu sein. Mit einem raschen Schritt stieg sie über das Band und näherte sich der Rückseite. Ihr Herz pochte wild, sie schwitzte und fror gleichzeitig. Vorsichtig bewegte sie sich auf die grobe, runde Mauer zu, um durch eines der Löcher in das Innere des Turmes zu spähen.
›Lauf weg!‹, schrie es in ihr, sie erhaschte einen Blick auf die halbeingefallene Treppe und herabhängenden Holzbalken der oberen Plattform. Zitternd stützte sie ihre Hände gegen die rauen, feuchten Steine der Mauer und lehnte ihre heiße Stirn an die kalte Wand. Etwas Düsteres wollte von ihr Besitz ergreifen, doch Eva stieß sich von den Steinen ab und schüttelte energisch ihren Kopf. Die aufkommenden Gefühle ließen sich nicht so leicht vertreiben und auf der Stelle trat sie den Rückweg an.
›Was zum Kuckuck ist los? Wieso macht er mir Angst? Es hat überhaupt nichts mehr mit meinen Erinnerungen aus der Kindheit gemeinsam. Denk nach. Wann war ich das letzte mal hier?‹
Die aufgekommene Neugier trieb sie vor sich her und nachdenklich zog sie ihre Runden durch das kleine Haus.
›Chris, er kann näheres zu der Vergangenheit und möglichen Vorfällen am und im Turm herausfinden.‹ Ein breites Grinsen zeigte sich auf ihrem Gesicht. ›Mindestens drei Tage sagte sie, heute ist der vierte. Danke für den Tritt Sabine, Du hattest recht, ich habe schon lange nicht mehr so viel geschlafen wie in den letzten Nächten.‹ Genussvoll wärmte sie sich den Rest Essen von gestern auf und genehmigte sich noch ein Glas Wein. ›Die möglichen Vorkommnisse mussten viele Jahre zurück liegen, da kommt es auf einen weiteren Tag auch nicht mehr an.‹ Eva setzte sich an das behaglich knisternde Kaminfeuer, jetzt verstand sie, wieso ihre Eltern dieses Häuschen gekauft hatten, die Ruhe, kein Fernsehen, Telefon oder gar Internet, nichts! Außer schlafen, spazieren gehen, lesen, ausruhen und essen. ›Moritz, er würde sich hier hundertprozentig auch wohlfühlen. Chris? Nein auf gar keinen Fall, er brauchte seinen Computer und hielt es hier mit Ach und Krach gerade mal einen Tag aus‹, schmunzelte sie.
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Zufriedenheit spiegelte sich auf dem ebenmäßigen, selten schönen Gesicht der knapp ein Meter siebzig großen, wohlproportionierten Frau. Das kurze Aufleuchten in den dunkelbraunen, mit schwarzem Kajal umrandeten Augen bestätigte, dass ihre Wahl, bewährte Ausführer zu beauftragen die richtige Entscheidung war. Sorgfältig strich sie ihre halblangen glänzend schwarz schimmernden Haare zu seinem tiefsitzenden Knoten zusammen.
›Lars der Anstifter‹ nannte sie ihn. Sein bürgerlicher Name war, ebenso wie ihrer, für diese Art der geschäftlichen Beziehungen nicht mehr von Bedeutung. Namen waren Schall und Rauch, konnten jederzeit ausgetauscht werden. Sehr viel wichtiger war, ihn überall aufzuspüren, falls er einen Fehler beging und sie dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. Es gab zahlreiche Menschen wie sie beide und diese kamen aus jeder Schicht der Gesellschaft. Eingefangen mit verlockenden Zukunftsaussichten und festgehalten in den klebrigen Fäden des riesigen Spinnennetzes. Gesteuert durch einen gütigen und freundlichen Mann, der als Entlohnung seiner Hilfsbereitschaft ihre hundertprozentige und lebenslange Treue forderte.
Ein Lächeln umspielte ihre dunkelrot geschminkten, vollen Lippen und die langen schmalen Finger scrollten in der online Ausgabe des Tageblattes. Im von ihr vorgegebenen Zeitrahmen führte Lars die Aufträge in ganz Deutschland aus und verdiente sich nebenbei ein hübsches Sümmchen. Sie wusste, dass er geschickt im verhandeln war und die ihm zur Verfügung gestellten Bestechungsgelder zwar in voller Höhe abrief, aber niemals benötigte. Mindestens ein Viertel der Mittel flossen auf sein persönliches Konto. Böse war sie ihm deswegen nicht, denn für ihre eigene Firmenkreditkarte gab es kein Limit. Gewissenhaft hielt Lars sich an die Anweisungen und würde es nicht wagen die Reihenfolge zu ändern um damit sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzten, denn sie würde keine Sekunde zögern, ihm die Kehle aufzuschneiden.
Lebhaft stellte sie sich vor, wie er den vorerst letzten Auftrag in einem der Industriegebiete vor München zur vollsten Zufriedenheit abgeschlossen hatte. Sein Vorgehen war in der Grundstruktur immer gleich, lediglich die detaillierte Durchführung richtete sich nach den Gegebenheiten vor Ort.
Zirka zwei, maximal drei Tage später packte Lars mit leichtem Bedauern, dass es schon wieder vorbei war, dennoch zufrieden mit seiner Arbeit die Tasche. Er reiste erst ab, nachdem die Regionalnachrichten den Zwischenfall im Werk bestätigten.
Lars` Vita und die Ergebnisse seiner Arbeit bewiesen, dass er sich immer ein genaues Bild des Gegenübers anfertigte. Mit allen Schwachpunkten und Stärken des Charakters und der Persönlichkeit. Er konnte nicht anders, es lag in seiner Natur und er versuchte dieses Prozedere auch bei ihr anzuwenden, was ihm allerdings nicht gelang. Mehrfach hatte sie den Wechsel des Tonfalls in seiner Stimme gehört, wenn er, so wie immer keine Gelegenheit bekam sie persönlich kennen zu lernen. An dieser Hürde zu stehen und sie nicht überwinden zu können, musste seine Phantasie beflügeln und das Geheimnis um sie selbst noch zu verstärken. Bereits nach ihrem ersten Telefonat mit Lars erkannte sie an seiner Reaktion, dass er ihr mit Haut und Haar verfallen war. Er würde es niemals zugeben, doch innerlich brodelten die Vorstellungen, wer sie tatsächlich sein konnte.
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Die schallende Ohrfeige ließ ihn aufwachen und sogleich spürte er die sicherlich feuerrote Wange anschwellen. Irritiert sah er sich um. Der Raum war bis auf einen komfortablen Ledersessel völlig leer. Seine graublauen Augen erkannten das Muster des Fußbodens. Es erinnerte ihn an den in seinem Büro, auch die Strukturtapete glich sich und der Geruch von frischer Farbe und Lösungsmittel drang ihm in die Nase.
›Wo bin ich?‹, sein Kopf schmerzte, er wollte aufstehen, konnte sich allerdings nicht bewegen. ›Was ist passiert? Wieso bin ich an einen Stuhl gefesselt?‹ Langsam kam die Erinnerung zurück und er stöhnte innerlich auf. ›Ich habe es nicht geschafft‹, stellte er niedergeschlagen fest. Herr Arnold drehte den Kopf und konnte durch die Fenster den beleuchteten Namen LaVaSom lesen.
›Ich bin in der Firma‹, resigniert senkte er den Kopf. ›Ich wurde benutzt, absichtlich auf eine falsche Spur gesetzt und ich bin ihnen auf den Leim gegangen. Idiot! Sie haben mich verarscht! Ganz fein und sauber verbrannt, kein Unternehmen weltweit nimmt mich mehr, ich bin erledigt. Genauer gesagt, habe ich sogar Verrat von Firmengeheimnissen im großen Stil begangen, wofür sie mich jederzeit belangen können. Im ungünstigsten Fall verschwinde ich auch noch für einige Jahre im Knast‹, diese Erkenntnis traf ihn schlimmer als die vor einem Augenblick erhaltene Ohrfeige.
»Herr Arnold«, hörte er plötzlich und unerwartet eine hohe Stimme hinter sich. »Ihr Aufbegehren während der Sitzung und das Verlassen des Konferenzraumes war ein geschickter Schachzug. Die Kollegen sind sich zwar noch nicht schlüssig, ob sie Ihnen glauben, aber die Tendenz weist darauf hin. Hochachtung, Sie haben sich einen Platz in unserem Unternehmen verdient.« Herr Clarksen hob die Hand. »Bindet ihn los«, befahl er und sogleich roch Erik den Menthol-Pfefferminzatem rechts dicht neben seinem Kopf und sah auf der linken Seite den blanken, glänzenden Schädel des zweiten Mannes. Er spürte, wie sich das Klebeband löste und sah die hässlichen Ränder auf den Ärmeln des teuren Wollmantels. Unbewusst rieb er sich die Handgelenke, zog die Schultern hoch und strich sich über das verstrubbelte dunkelblonde Haar.
»Sie scheinen irritiert zu sein«, vernahm er aus der Richtung vom Fenster. »Entschuldigen Sie, vielleicht wissen Sie meinen Namen, aber wir wurden einander noch nicht offiziell vorgestellt und leider verließen Sie überstürzt die Konferenz.« Der kleine gutgekleidete Mann, mit fünf Millimeter Haarschnitt auf seinem runden Kopf, trat zu ihm. »Clarksen, Bill Clarksen, ihr neuer Arbeitgeber«, er reichte ihm die Hand.
»Erik Arnold«, gewohnheitsmäßig stand er auf und schlug ein. Sein Blick für Qualität erfasste sogleich, dass der neue Chef einen dunkelgrünen, fast schwarzen Maßanzug trug. ›Bei der geringen Körpergröße nicht verwunderlich. Bestimmt werden ebenfalls die Hemden und Krawatten für ihn angefertigt.‹ Neidlos nickte er, konnte allerdings sein Misstrauen nicht völlig verbergen, was sein Gegenüber sofort registrierte.
»Verständlicherweise fühlen Sie sich hintergangen, vielleicht sogar etwas ausgenutzt oder gar reingelegt. Dennoch, ihre Reaktion musste unbedingt authentisch sein, wir haben große Pläne mit Ihnen«, er kam noch näher und sah ihn mit seinen braunen Augen an. »Single, ehrgeizig, mit Biss. Sie fühlen sich zu höherem berufen, haben es aus eigener Kraft bis knapp vor die Führungsebene geschafft und arbeiten hart dafür. Ihre gelegentlichen Damenbekanntschaften sind nicht von allzu langer Dauer und Sie besitzen einen guten Geschmack für Qualität, was sich in Ihrer Kleidung und Wohnungsausstattung widerspiegelt.«
›Woher weiß der, wie ich wohne?!‹, argwöhnisch wandte er den Kopf.
»Herr Arnold, wir sind doch beide Profis«, lächelte Herr Clarksen. »Bevor ich Ihnen einen Job anbiete und Sie in mein Haus einlade, muss ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.« Es schien für ihn eine Selbstverständlichkeit zu sein in einen fremden privaten Bereich vorzudringen, jede noch so persönliche Angelegenheit hervorzuzerren und genauestens unter die Lupe zu nehmen.
»Was passiert, wenn ich nicht mitmache?«, versuchte er seine Möglichkeiten abzuklopfen.
»Das ist jetzt unter Ihrem Niveau. Bitte, verwerfen Sie diesen Gedanken, er ist Ihrer unwürdig.« Die Antwort war sehr höflich und seine Stimme gefährlich leise, fast schon ein Flüstern.
›Sie besitzen meine Unterschrift auf der Bestätigung, genaugenommen quittiere ich meinen Verrat auch noch. Ich bin ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert‹, wissend nickte er.
»Gut! Sie haben Ihre Situation überdacht. Bestehen sonstige Fragen oder können wir jetzt zum eigentlichen Teil übergehen?«
»Nein, ich verstehe und ja, ich bin bereit.«