X-ambles - E.D.M. Völkel - E-Book

X-ambles E-Book

E.D.M. Völkel

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Beschreibung

Eva Völkel kommt nach dem Tod des Vaters in ihre Heimatstadt Eschborn im Mai-Taunus Kreis zurück. Gleichzeitig überzieht eine heimtückische Anschlagserie Deutschland. Eva erkennt, nach weiteren persönlichen Tiefschlägen, dass die Forschungsarbeit ihres Vaters, an dem Mittel X-ambles, im Zusammenhang mit dieser Serie stehen könnte. Mit der Unterstützung des befreundeten Journalisten Moritz Dressler beginnt sie die Hintergründe aufzudecken und kommt dem geheimnisvollen Auftraggeber gefährlich nahe.

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Seitenzahl: 544

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Ein dickes Dankeschön an meine Familie für die großartige Unterstützung, den unermüdlichen Kaffeenachschub und die unerschütterliche Geduld beim Probe-Lesen.

Zudem meiner lieben Freundin Silvia mein Dank für ihre unabhängige Meinung.

E.D.M. Völkel

X-ambles

Roman

© 2019 E.D.M. Völkel

Verlag & Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7482-4912-2

Hardcover:

978-3-7482-4913-9

e-Book:

978-3-7482-4914-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

April 2017

Der Wind zerrte ungestüm an den ersten, wenige Tage alten, hellgrünen Blättern der Bäume und zerzauste die langen kastanienfarbenen Haare der knieenden Frau. Direkt vor ihr sprudelte das klare und eiskalte Wasser aus dem mit groben Steinen ummauerten Rohr der Nepomukquelle in Königstein im Taunus. Geduldig hielten ihre, vor Kälte roten Hände, den hellgrauen zehn Liter Kanister unter den Auslass. Der glucksende Ton des steigenden Wassers veränderte sich von tief dumpf langsam weiter, bis hin zum hohen singendem Plätschern. Obwohl es kalendarisch bereits Frühling war, blies der Wind frostig durch den lichten Wald und wirbelte hier und da das verwelkte Laub vom vergangenen Herbst umher. Eva zog, trotz ihrer warmen, wattierten, dunkelblauen Jacke, die Schultern hoch, es war der Letzte von fünf Behältern. ›Gleich bin ich fertig‹, ein Lächeln huschte über ihr hübsches, rundes, freundliches Gesicht und die leuchtend blauen Augen strahlten wie Saphire, die das Sonnenlicht widerspiegeln.

Es war ein schöner Morgen, in wenigen Minuten würde sie den Korb aus dem Kofferraum ihres kleinen, grünen, leicht verbeulten, siebzehn Jahre alten Autos nehmen. Die Vorfreude auf die zu Hause vorbereitete Thermoskanne mit dem starken, heißen ungezuckerten Tee ließen ihre klammen Hände durchhalten. In Gedanken füllte sie bereits den Deckelbecher der Kanne. ›Der wie Nebel aufsteigende Dampf legt sich sanft auf mein Gesicht, der Becher wärmt mir die kalten Finger, ich lehne mich mit dem Rücken gegen das Auto und spüre, wie die bernsteinfarbene Flüssigkeit den Magen füllt. Wie warmer Sonnenschein breitet sie sich in meinem Körper aus.‹ Zufrieden drehte sie den Verschluss auf den Kanister, schleppte ihn den kurzen, leicht feuchten, Waldweg bis zum Parkplatz und lud ihn in den Kofferraum des Autos. Ihr Blick wanderte umher.

›Sehr viel hat sich nicht verändert, seit ich vor acht Jahren zum letzten Mal hier das Quellwasser geholt habe. Der Parkbereich war etwas größer geworden, der Weg zur Quelle von den vielen Gleichgesinnten ausgetretener und ganz deutlich sah man die unterschiedlichen Reifenspuren der Autos, die gestern oder bereits heute Morgen hier geparkt hatten. Eigentlich ist es doch schön, wieder hier zu sein.‹

Die Beständigkeit dieser abgelegenen und doch so nahen Stelle im Wald wirkten beruhigend und ausgleichend auf die harten und grausamen Erlebnisse der vergangenen sechs Monate. Sie hatte den Gedanken nach Hause zurückzukommen viele Jahre erfolgreich abgewehrt, zu tief war der Graben, um überwunden zu werden.

Samstag 17. September 2016

Das mobile Telefon klingelte schrill, wieder und wieder, verlangte es unerbittlich Evas Aufmerksamkeit.

»Verdammt, ich hatte es doch stumm geschaltet«, murmelte sie verärgert im Halbschlaf. ›Ausgerechnet heute, wo ich nach dem Treffen mit Silke ausschlafen wollte.‹ Der Blick auf die angezeigte Telefonnummer lies Eva schlagartig erwachen. ›Meine Mutter‹, schoss es ihr unvermittelt, durch die noch unsortierten, klarer werdenden Gedanken. Bevor sie abheben konnte, wurde die Verbindung unterbrochen. Eva ließ sich, leise stöhnend und genervt, in ihr breites, gemütliches Bett zurücksinken. Strich die langen verstrubbelten Haare aus dem Gesicht.

›Soll ich zurückrufen?‹, überlegte sie unentschlossen, ›Wenn es wichtig ist, ruft sie bestimmt noch einmal an‹, entschied Eva.

›Hoffentlich schlafe ich schnell wieder ein‹, wünschte sie und zog die leichte Sommerdecke über ihren Kopf. Doch die Geräuschkulisse des samstagmorgendlichen geschäftigen Treibens, welches von der Straße herauf, durch das offene Fenster, bis unter ihre Decke drang, verhinderte dies. Ebenso der hartnäckige Gedanke, ›Warum hat Mutti angerufen, sie meldet sich sonst nur selten oder habe ich etwas Wichtiges vergessen?‹, ließ die winzige Chance, wieder einzuschlafen, dahinschmelzen wie die Eiswürfel in ihrem Glas gestern Abend. Eva stand auf, nahm das Telefon, drückte die Rückruftaste und lauschte dem Freizeichen. Nach sehr langem Klingelzeichen, Eva hätte ebenfalls beinahe aufgelegt, hörte sie nur ein leises kaum vernehmbares,

»Ja?!«

»Hallo, wer spricht denn da?«, ungläubig fragte sie in den Hörer,

»Mutti? Bist du das?«

»Eva, Schatz, du musst nach Hause kommen, dein Vater ist tot.«

Die Stimme ihrer Mutter klang verzweifelt, sehr zerbrechlich, völlig ohne Kraft und Lebenswillen. Diese Nachricht traf sie wie ein Faustschlag in den Magen, die Gefühle stürmten auf sie ein, ihre Beine und Knie wurden weich. Benommen setzte sie sich auf die Bettkante. Der Hals schnürte sich furchtbar eng zu, bis sie fast keine Luft mehr bekam. Ihre Gedanken rasten, überschlugen einander, es dauerte lange die Bedeutung der Worte zu erfassen.

»Ja Mutti ich komme«, versicherte Eva. Die Leitung war bereits unterbrochen, ›ob sie meine Antwort noch gehört hat?‹, überlegte sie und bezweifelte dies.

Zu ihrem sehr strengen und konservativen Vater hatte sie damals jeden Kontakt abgebrochen. Nur mit ihrer Mutter schrieb sie gelegentlich, hier und da mal eine Karte, zum Geburtstag, Weihnachten oder aus einem ihrer Urlaube aber auch nur unregelmäßig.

Nachdem sie das Chaos in ihrem Kopf einigermaßen sortiert hatte und wieder klarer denken konnte, rief sie ihren Chef auf seiner privaten Nummer an, bat um kurzfristige Freistellung und packte ihre Reisetasche.

Sonntag 18. September 2016

Immer wieder fielen Schüsse, das typische abgehackte Knallgeräusch zerriss das fröhliche Lachen der Besucher, brachte einen neuen Rhythmus in die aus den Lautsprechern dringende unbeschwerte Musik. Von einer Sekunde zur anderen wurde es den Anwesenden eisigkalt trotz des strahlendblauen Himmels und den 26 Grad auf dem Thermometer. Die Menschen rannten in Panik und Todesangst wild durcheinander, schrien, kreischten. Die Stühle und Tische am Landungssteg stürzten durch die Flüchtenden um und die weitaufgespannten Sonnenschirme wankten bedrohlich. Eltern suchten verzweifelt, sich und ihre Kinder, hinter den Verkaufsständen, Imbissbuden und dicken Bäumen in Sicherheit zu bringen. Andere nahmen Deckung unter den geparkten Transportern. Der Moderator hatte seinerseits das Mikrofon fallen lassen und sich neben einer großen Lautsprecherbox versteckt.

Das Drachenbootrennen mit den unterschiedlichen Rudermannschaften und Trommlern sollte eine fröhliche und friedliche Familienveranstaltung an der Außenalster sein. Lustig und unbeschwert schaukelten die Boote mit ihren Drachenköpfen auf dem Wasser. Sie warteten darauf, die Mannschaften aufzunehmen, um unter lautstarkem Beifall mit kräftigen Ruderstößen dem Sieg entgegengetragen zu werden.

Indessen herrschte das Chaos, nackte Todesangst und das blanke Entsetzen stand den Menschen ins Gesicht geschrieben.

Im Uferbereich und der Parkanlage sah es aus, als hätte ein Wirbelsturm alles durcheinander geworfen. Die unbeschwerte Musik spielte unaufhörlich weiter, vermischt mit den todbringenden Schüssen. Dies wirkte geradezu grotesk für die Betroffenen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit waren in der Ferne die Sirenen der Einsatzfahrzeuge zu hören, welche sich schnell näherten.

Kurze Zeit später sprangen bewaffnete Männer aus den dunklen Kleinbussen der Polizei und dem SEK, riegelten rasch und konsequent den gesamten Bereich der Parkanlage ab. Die Schüsse verstummten, ebenso hatte jemand die Musik abgeschaltet, und sofort breitete sich eine unheimliche Stille über dem Gelände aus, welche nur von den Befehlen des Einsatzleiters über Funk, das Weinen und Schluchzen der Verängstigten, sowie hier und da durch einen Hilferuf unterbrochen wurde.

Meter für Meter drangen die, in schwarzer Schutzkleidung gehüllten Männer auf das Areal vor. Von ihnen waren lediglich die Augen durch die Sehschlitze der Masken zu erkennen. Die Besucher der Veranstaltung trauten sich nicht aus ihren Verstecken, trotz Aufforderungen der Einsatzkräfte blieben sie ängstlich, weinend und geschockt in ihren Deckungen kauern.

Erst als jeder Winkel abgesucht war und die Entwarnung der Polizei gegeben wurde, kamen die Ersten zögerlich hervor, folgten den Anweisungen der Beamten, um hinter die Absperrung zu gelangen.

Kurz nach den Einsatzkräften waren ebenfalls Notärzte, Sanitäter, psychologisch geschulte Helfer und Seelsorger vor Ort eingetroffen. Sie standen bereit, um die betroffenen Menschen zu versorgen. In ihren Gesichtern spiegelte sich die Erkenntnis, dass der Terror jetzt auch in ihre Stadt Hamburg gekommen war.

Von den Beamten und Notfallhelfern tauchten immer wieder die Fragen: Gab es Verletzte oder sogar Tote zu beklagen?, auf.

Die Mannschaften der Rettungswagen warteten auf ihre Freigabe, sich um etwaige verwundete Menschen im abgesperrten Bereich zu kümmern. Nach und nach kamen über Funk die Meldungen aus den unterschiedlichen Abschnitten: gesichert, keine Schwerverletzten oder Toten.

In diesem hinterhältigen Anschlag hatte sich ein Wunder ereignet. Bis auf leichte Blessuren, Schürfwunden, verstauchte Knöchel und Handgelenke gab es zum Glück keine gravierenden Verletzungen. Langsam und zögerlich kamen auch die letzten verunsicherten Menschen aus ihren Verstecken und wurden hinter die Absperrung geleitet. Helfer verteilten Decken und Wasserflaschen an die Geschockten, Eltern riefen verzweifelt nach ihren Kindern, bis sie sich endlich wiedergefunden hatten.

Ebenso schnell waren die Übertragungswagen der Fernsehsender, mit ihren vollautomatischen Satellitenschüsseln auf den Autodächern, zur Stelle und übermittelten die Bilder des Anschlages in die Welt. Reporter versuchten eifrig, die Sachlage zu schildern, Kameramänner bemühten sich darum, die besten spektakulärsten Szenen der Parkanlage und Sequenzen hinter der Absperrung zu erhaschen.

Der Polizeisprecher gab jedoch noch keine Informationen über den Umfang und den eventuellen Grund von diesem Anschlag auf das Drachenbootrennen weiter. In kürzester Zeit dominierten die schrecklichen Ereignisse alle Nachrichten. Sonderberichte über den Terroranschlag in Hamburg unterbrachen die laufenden Sendungen.

Kleine Interviews von Besuchern der Veranstaltung wurden gezeigt, die ihre Erlebnisse schilderten. Den Menschen stand der Schrecken und die Erkenntnis immer noch ins Gesicht geschrieben, dass der Anschlag in ihrer Stadt verübt wurde und sie persönlich davon betroffen waren. Erstaunlicherweise wirkten einige von ihnen sehr gefasst und ruhig, fast schon gelassen.

Nach einer Stunde wurde die gute Nachricht bestätigt, es gab tatsächlich keinerlei Tote, Schwerverletzte oder Schussverletzungen. Die beteiligten Menschen waren mit leichten Blessuren und Schockzuständen davongekommen.

Die Ermittlungsbehörden hüllten sich jedoch in Schweigen, gaben keine Interviews, verwiesen lediglich auf die Pressestelle und den dortigen Verantwortlichen. Es dauerte nochmals mehrere Stunden, bis endlich feststand, dass momentan kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Die Richtung, aus der die Schüsse abgegeben wurden, war seltsamerweise nicht festzustellen. Die Polizei stand vor einem Rätsel, es gab kein Bekennerschreiben, keine verdächtigen Personen, die auf den unterschiedlichen Überwachungskameras hätten entdeckt werden können.

Es gab nichts.

Nichts Greifbares, als wäre ein unsichtbarer Schütze unterwegs gewesen um Panik und Horror zu verbreiten.

Von all diesem Schrecken bekam Eva nichts mit, sie saß im ICE und fuhr von Hamburg nach Frankfurt. Im Hauptbahnhof angekommen erinnerte sie sich sofort an den schwülen Spätsommertag, als sie vor knapp acht Jahren in den Zug nach Hamburg gestiegen war. Sie ging hinunter zu den S-Bahnsteigen und sah auf die von der Decke herabhängenden und ratternden Anzeigetafeln. In wenigen Minuten würde sie in die nächste S-Bahn steigen und weiter nach Eschborn fahren. Der Eschborner Bahnhof hatte sich nicht verändert, er war immer noch ein typischer Pendlerbahnhof. Ihr Weg führte sie durch den Viadukt, die Bahnstraße hinunter und über die Hauptstraße. Sie folgte dem Hessengraben bis zum Westerbach, den Hopfengraben wieder hinauf, in das 1950 erbaute Wohngebiet. Es waren nur zehn bis zwölf Gehminuten, dann stand sie nach langer Zeit erneut vor dem kleinen weißen Häuschen mit Garten in der Bergstraße.

Es war zwanzig Jahre ihre Heimat gewesen, bis sie sich mit ihrem Vater unwiderruflich überworfen hatte und urplötzlich ausgezogen war.

Der wunderschöne Altweibersommertag, angenehm warm, brachte viele Erinnerungen zurück, als sie zögernd ihre Hand nach der blanken, abgewetzten Gartentorklinke ausstreckte. Die Kletterrosen wucherten um das Tor, sie mussten dringend zurückgeschnitten werden und zeigten in der zweiten Blüte nochmals ihre kleinen, zart rosa und weißen aufgehenden Knospen. Das Summen der Bienen und Hummeln, die immer noch eifrig von Blüte zu Blüte schwirrten, erfüllte die Luft. Herbstastern blühten in rosa, pink und veilchenblau rechts den leicht vermoosten Weg entlang, welcher zum Haus führte. Sie drückte die Klinke hinunter, diese quietschte etwas, doch das Tor schwang nicht wie damals sanft auf. Es klemmte und sie musste mit einem Ruck nachhelfen es zu öffnen. Hier war lange keine gründliche Hand angelegt worden, wie sie dies von früher kannte. Immer mehr Bilder aus der Vergangenheit drängten sich unaufhaltsam in ihre Gedanken. Unwillkürlich lächelte sie. Der Weg mündete in einen kleinen gepflasterten Hof links hinter dem Haus, der durch eine Garage mit angrenzendem Schuppen zum Nachbargrundstück endete. Hier gab es einen Nebeneingang, von der Straße aus durch eine Mauer verdeckt. Unbewusst hatte sie diesen gewählt und nicht die Haustür in der Bergstraße. ›Alte Gewohnheiten‹, dachte sie und schmunzelte unwillkürlich. ›Ob mein Hausschlüssel noch passt, oder hatte Vater womöglich die Schließzylinder ausgetauscht?‹ Sie zog ihren Bund aus der Hosentasche, aus irgendeinem Grund hatte sie den elterlichen Haustürschlüssel immer weiter mitgenommen, von einem zum nächsten Bund. Nun stand sie vor der Tür und klopfte. Eine Klingel gab es hier nicht, doch es blieb alles ruhig. Erneut klopfte sie, jetzt mir mehr Nachdruck, ›Vielleicht hat sich Mutti etwas hingelegt und schläft.‹ Ein trauriges Gefühl erfüllte Eva, es war bestimmt sehr schwer, nach fast fünfzig Ehejahren den so lang vertrauten Mann zu verlieren.

Kurzentschlossen steckte sie ihren alten Schlüssel ins Schloss, drehte ihn und wie selbstverständlich öffnete sich die Tür. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, ›Vater hatte es trotz allem nie ausgetauscht, hat mir immer die Möglichkeit gelassen zurückzukehren.‹ Die aufsteigenden Schuldgefühle ließen ihre Augen feucht werden und ihre Hand an dem Türknauf erstarren. Die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf, ›Vielleicht hätte ich mich doch mit ihm versöhnen sollen, als er noch lebte, jetzt ist es zu spät.‹ Die Kehle schnürte sich immer enger zu, Tränen rollten hemmungslos ihre Wangen hinunter, als die Tür von innen ganz geöffnet wurde.

»Mutti«, war das Einzige, was über ihre Lippen kam, bevor sie in heftiges Schluchzen verfiel. Leere, traurige, rehbraune Augen sahen sie an,

»Komm rein Kind«, hörte sie die leise, gebrochene Stimme ihrer Mutter Marie. Beide gingen durch einen winzigen Flur in die geräumige Wohnküche, hier waren die schönsten und schlimmsten Erlebnisse ihres Lebens entstanden. Fassungslos sah Eva ihre Mutter von der Seite an, in ihrer Erinnerung sah sie lebenslustig, agil und temperamentvoll aus, doch nun war sie alt und grau geworden, ein Schatten ihrer selbst mit fast durchsichtiger Haut. Das sonst ordentlich frisierte, hochgesteckte weiße Haar hing wirr und verstrubbelt herunter. Ihre schlanke, grazile Figur steckte in fleckigen, verschmutzten Kleidern und die schmalen Finger hatten abgebrochene Nägel. Eva‘s schlechtes Gewissen, niemals mehr die Eltern besucht zu haben, wuchs von Minute zu Minute und drückte schwer auf ihren Schultern. ›Das darf ich nicht noch einmal geschehen lassen.‹ Hier, in dieser Küche, schwor sie innerlich, ab jetzt immer für ihre Mutter da zu sein. Verstohlen sah sie sich um, auf den Arbeitsplatten, dem Herd, der Spüle entdeckte sie benutztes Geschirr, Töpfe, Essensreste sowie vertrocknetes Brot, verrunzelten Käse und angefaultes Obst. Sofort vielen ihr die mahnenden Worte von früher ein.

›Eva, räume alle Lebensmittel zurück, achte sorgfältig auf Sauberkeit und Ordnung.‹ Der Verdacht, dass ihr Vater länger als nur zwei Tage tot war, wuchs beständig.

»Mutti, wann ist Papa gestorben?«, sorgenvoll betrachtete Eva sie.

»Ich weiß nicht, er lag morgens einfach tot im Bett«, leise kaum hörbar antwortete sie.

»Komm, setz dich«, bat Eva ihre unsicher dastehende Mutter, »Wie lange ist das her?«

»Gestern oder davor? Ich weiß nicht«, schwer stützte sie sich auf dem Küchentisch ab und nahm zögerlich Platz.

»Wo ist Papa jetzt?«, bekümmert legte Eva die Hand auf ihre Schulter. Ihre Mutter hob den Kopf und sah Eva mit verwirrtem Blick an.

»Mitgenommen, einfach mitgenommen haben sie ihn, ich weiß nicht wohin.« Eva überlegte, ›Das ist unmöglich, Mutti ist völlig durcheinander. Es musste sehr viel mehr passiert sein, um sie derartig aus der Bahn zu werfen‹, und fühlte das wachsende Misstrauen in sich. ›Es war zwingend notwendig, dass ein Arzt den Tod bestätigte und einen Totenschein ausfüllte.‹

»Mutti, Wer sind sie? Wer hat ihn abgeholt?«, fragte sie nachdrücklich.

»Die Männer waren da und haben ihn mitgenommen«, Verzweiflung lag in ihren Augen.

»Wer ist euer Hausarzt? War er da?«, bohrte Eva weiter.

»Dr. Schreiter, wir gehen immer zu Dr. Schreiter«, bekräftigte ihre Mutter.

Eva schüttelte ihren Kopf, um die Gedanken zu sortieren ›Dr. Schreiter? Nein, unmöglich, er praktizierte schon nicht mehr, als ich noch in Eschborn gewohnt habe.‹ Bekümmert stelle Eva fest, dass ihrer Mutter die Erinnerungen an dieses schlimme Ereignis vollständig verdrängt hatte. ›Gut, dass ich jetzt hier bin und mich um alles kümmern kann.‹ Nun bestand die Möglichkeit, etwas von dem Versäumten wieder gut machen.

Fürsorglich legte Eva ihr eine Hand auf die Schulter,

»Mutti, ich brühe uns einen Tee auf oder möchtest du lieber Kaffee trinken?«

»Ja Kind, ja.«

Eva stand auf, ging zur Kaffeemaschine, nahm die Glaskanne um diese mit Wasser zu befüllen, dabei entdeckte sie in ihr einen langen senkrechten Riss.

»Mutti, was ist hier passiert?«, und hielt verwundert die Kanne in die Höhe. Argwöhnisch dachte sie, ›Alles in diesem Haus ist merkwürdig. Was war bis heute noch geschehen um aus dieser agilen, lebenslustigen Frau solch ein menschliches Wrack zu machen?‹ Eine Antwort erhielt sie nicht, ihre Mutter hatte die Arme auf den Esstisch gelegt, den Kopf darin gebettet und war eingeschlafen. Eva sah sich weiter in der Küche um, erspähte einen Wasserkessel, befüllte ihn und schaltete den Herd an. In den Oberschränken fand sie verschiedene Vorräte, die in den Kühlschrank gehört hätten und jetzt verdorben waren. Sie mussten schnellstens in der Mülltonne entsorgt. Nach gründlicher Suche entdeckte sie eine Teedose im Geschirrschrank gleich neben dem hauchdünnen Teeservice aus fast durchsichtigem elfenbeinfarbenem Porzellan. ›Großartig‹, dachte sie, ›dann wenigsten richtigen Tee, hoffentlich ist die Dose nicht leer oder der Tee zu alt und überlagert.‹ Hoffnungsvoll griff sie nach ihr, ›Sie ist erstaunlich schwer‹, und drehte den Deckel auf. Zum Vorschein kam eine weitere, geschnitzte, mit Einlegearbeiten buntverzierte asiatische Holzdose. Fragend runzelte sie ihre Stirn, ›Das ist schon sonderbar, ihre Eltern verfügten über genügend Geld, aber Luxus wie diesen das ist neu.‹ Um die Holzteedose war ein helles Bändchen mit einem kleinen beschrifteten Kärtchen angebunden. Die Schriftzeichen vermochte sie nicht zu lesen. Die Übersetzung besagte jedoch, es sei Yin Zhen, der Silbernadel Tee. Evas Augen rundeten sich vor Staunen riesen groß, erst ein einziges Mal hatte sie diesen Namen gehört, als in ihrer Bank ein Geschenk für den Direktor abgegeben wurde. Nach ihrer damaligen Recherche hatte sie erfahren, dass es einer der teuersten Teesorten ist, die für Geld zu bekommen war. Ebenso das hauchdünne Teeservice musste überaus teuer gewesen sein. All dies passte nicht zu ihren Eltern, zu gegensätzlich waren die Tatsachen.

Eva liebte Tee weitaus mehr als Kaffee. Der Kessel auf dem Herd summte, ehrfurchtsvoll holte sie die Teekanne, zwei der hauchzarten Tassen mit Untertassen aus dem Schrank und begann die Aufgusszeremonie. Noch niemals hatte sie derart exklusiven, teuren Tee getrunken. Vorsichtig versuchte sie, ihre Mutter zu wecken. Diese war seltsamerweise nicht ansprechbar, wie weggetreten, im Tiefschlaf, ›Sonderbar‹, dachte Eva bekümmert, ›So kann und will ich Mutti nicht am Küchentisch sitzen lassen.‹ Flink lief sie leise durch die helle und geräumige Diele in das Wohnzimmer hinüber. Hier hatte sich ebenfalls in keiner Weise etwas verändert, ›Alles wie vor acht Jahren.‹ Eva holte eines der weichen Kissen sowie eine Decke vom Sofa. Mit den notwendigen Utensilien kehrte sie in die Küche zurück, doch diese war plötzlich leer. Irritiert sah sie sich um, ›Ist Mutti aufgewacht und zu Bett gegangen‹? Bepackt mit Kissen und Decke stieg sie die steile gewundene Holztreppe in den ersten Stock hinauf. Hier befanden sich drei Zimmer und das Bad, eines gehörte damals ihr. Gegenüber, am anderen Ende des kurzen Flures, war das elterliche Schlafzimmer. Leise öffnete sie die Tür, sofort drang ihr entsetzlicher Gestank entgegen und verschlug ihr den Atem. Instinktiv hob sie ihre Hand vor Nase und Mund, ›Was ist hier geschehen, etwa stimmte ganz und gar nicht in diesem Haus.‹ Dieser Verdacht fraß sich tief in ihren Kopf. ›Mutti ist so reinlich und sorgsam, stets darauf bedacht alles ordentlich sauber zu halten und jetzt ein derartig absonderlicher Zustand?‹ Geradewegs lief sie eilig zum Fenster und riss es schnell sperrangelweit auf. Sofort strömte frische Luft ins Zimmer, sie atmete einige Male tief ein, drehte sich zu ihrer schlafenden Mutter um.

Sie lag schlafend in der arg verschmutzen Bettwäsche. Ihr böser Verdacht erhärtete sich, die Wäsche war nach Vaters Tod nicht gewechselt worden und stank fürchterlich. ›Hier kann Mutti auf gar keinen Fall bleiben‹, energisch rüttelte sie die Schlafende, leider erfolglos, es hatte wenig Zweck sie reagierte überhaupt nicht. Zielstrebig öffnete sie den hohen Wandschrank, fand sauberes Bettzeug, Decken, Kissen, Wäsche und begann das Ehebett neu zu beziehen. Zum Glück war eine Feuchtigkeit undurchlässige Auflage über die Matratzen gespannt, sie hatte das Schlimmste verhindert.

Im dritten Zimmer, welches ihr Vater als Arbeitszimmer benutzte, fand sie im Schubfach des Schrankes große Müllsäcke für den Aktenvernichter, in die das gesamte Bettzeug wanderte. Behutsam rollte sie ihre Mutter auf die frischbezogene Bettseite und erneuerte ebenfalls die zweite Hälfte. Kleine Schweißperlen liefen ihre Schläfe hinunter und mit dem Unterarm wischte sie die Haare aus der Stirn, packte die sorgfältig zugeschnürten, prallgefüllten Müllsäcke brachte sie hinunter und stellte sie, in die an den Hof grenzende Garage. Ein freudiges Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie das kleine grüne Auto, welches sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag bekommen hatte und früher gefahren war, vorfand. ›Ob es noch lief? Der Schlüssel lag bestimmt in der Küchenschublade, worin alle wichtigen und unwichtigen Dinge einen Platz fanden.‹ Sofort verwarf sie den Gedanken an eine Spritztour, sie wollte ihre Mutter in diesem Zustand auf gar keinen Fall alleine lassen. Außerdem musste sie dringend die Küche aufräumen und einen Plan für morgen, Montag erstellen, wen sie anrufen und nach den Beerdigungsabläufen fragen konnte. Der Tee schoss es ihr in den Kopf, sie hatte ihn völlig vergessen, jetzt ist er kalt geworden. Zurück in der Küche bestätigte sich ihre Vermutung, sie nippte an dem Tee, verzog angewidert das Gesicht, er schmeckte ausgesprochen eigenartig und bitter. Entschlossen leerte sie den Inhalt der Kanne und Tassen ins Spülbecken, suchte Zettel und Stift, um die weiteren Vorgehensweisen aufzuschreiben. Sie durfte nichts vergessen, ›Die Bank, solange eine ungeklärte Erbfolge existierte und kein Erbschein vorgelegt wird, wurde das Konto gesperrt. Mutti steht ohne Geld da. Nur die Beerdigungskosten und die laufenden Daueraufträge werden weiterhin ausgeführt. Abhebungen sind nicht möglich. Na wenigstens habe ich ein kleines Polster auf meinem Konto, damit wir Lebensmittel kaufen und andere Besorgungen erledigen können. Die Pietät, ein Unternehmen musste sich um Vaters Leichnam kümmern. Der Arzt, den Totenschein, ohne ihn gab es zwangsläufig keine Beerdigung. Mutti, wie sollte es weitergehen? Mein Job, wie lange kann ich Urlaub nehmen? Der Tee, schade, dass ich ihn nicht heiß probiert habe.‹ Der Kopf, die Gedanken, alles begann sich zu drehen, zu schwirren, durcheinanderzuwirbeln, ›Ich darf nichts vergessen‹, kreiste unablässig, immer wiederkehrend durch ihr Bewusstsein. In der Zwischenzeit war die Nacht heraufgezogen, sie knipste das Licht an, zog die Vorhänge zu und schloss die Haustüren ab. Erneut versuchte sie ihren Plan zu verwirklichen, doch müde, vollkommen erschöpft, wollten keine logischen Abläufe mehr entstehen. Entschlossen erhob sie sich, und ging in den ersten Stock hinauf. Sah nach ihrer Mutter, die immer noch friedlich schlafend dalag und öffnete die Tür zu ihrem ehemaligen Zimmer.

Links an der Wand war der Lichtschalter und es sah aus, als sei sie nie fortgewesen. Alles befand sich am gleichen Platz, wie sie es vor acht Jahren fluchtartig verlassen hatte. Als warte es auf sie, damit eine Heimkehr jeden Augenblick möglich war. Jedoch hatte sie ihre eigene, ganz persönliche Entscheidung getroffen nie mehr heimzukommen. Ihre Eltern warteten anscheinend darauf, allerdings wurde niemals darüber gesprochen. Auch ihre Mutter hatte bei den wenigen Anrufen kein einziges Wort davon gesagt. Wäre dadurch etwas anders geworden? Nein, ich, habe die Brücken abgebrochen und bin im Streit gegangen.

Heftig schloss sie die Tür, ›Ich ertrage es nicht, in diesem Zimmer zu schlafen‹, das Gefühl bohrte sich durch ihre Erinnerungen. Entschieden machte sie kehrt, ging hinunter und richtete ein Bett auf dem altmodischen, mit karamellbraunen Samt bezogenen Sofa her. Es dauerte lange, unzählige Male drehte sie sich von der einen auf die andere Seite, bis sie letztendlich in einen unruhigen Schlaf sank.

Montag 19. September 2016

»Eva, Kind wieso schläfst du auf dem Sofa, ist dein Bett nicht in Ordnung?« Schlagartig war Eva wach und richtete sich kerzengerade auf. Ihre Mutter stand genau neben ihr und sah verwundert auf sie herab.

»Kind wann bist du denn heimgekommen, ich habe dich gar nicht gehört. Heinrich ist schon zur Arbeit. Willst du Frühstück? Ich kann dir ……«, die letzten Worte blieben unausgesprochen, Eva sah, wie sich ein Schatten auf die Augen ihrer Mutter legte.

Der unfassbare Schmerz grub tiefe Furchen in ihr Gesicht.

»Heinrich, dein Papa, er ist tot«, kam es sehr verzweifelt über ihre Lippen und Tränen rollten ungehindert ihre bleichen, eingefallenen Wangen hinunter.

»Mutti, es tut mir so leid. Setz dich doch bitte und erzähle mir, was geschehen ist.« Sie zog ihre Beine an, schob die Decke weg und bot den frei gewordenen Sitzplatz an.

»Sie haben ihn mitgenommen, ohne zu fragen, einfach mitgenommen«, erzählte sie und versuchte krampfhaft Ordnung in ihren Kopf zu bekommen.

»Welcher Arzt war hier und hat den Totenschein ausgestellt?« Eva sah, wie verzweifelt ihre Mutter versuchte, sich zu erinnern, legte den Arm um ihre Schultern und drückte sie mitfühlend. Marie schlug die Hände vor das Gesicht, begann sich hin und her zu wiegen.

»Kein Arzt, einfach mitgenommen«, wiederholte sie beständig und monoton. Es hatte wenig Zweck, ihre Mutter befand sich in einem verwirrten Zustand. Eva stand auf, nahm den Kulturbeutel und ging hinauf ins Bad. Nach dem Frühstück wollte sie in Vaters Arbeitszimmer nachsehen, es mussten Adressen von Ärzten ehemaligen Arbeitskollegen und Freunden vorhanden sein. Ein Anhaltspunkt mit wem sie sprechen konnte.

Im Badezimmer roch sie, wie früher, die vertraute Sandelholzseife. Auch hier ist die Zeit stehengeblieben, es kam ihr vor, als sei sie nur kurz fortgewesen.

Zurück im Erdgeschoss rief sie,

»Mutti, ich mach für uns Frühstück«, erhielt jedoch keine Antwort.

›Bestimmt hat sie sich noch einmal hingelegt‹, überlegte Eva, ›Wer weiß wie lange Mutti schon allein in diesem Hause ist und auch nicht mehr ordentlich gegessen hatte.‹ In all dem Chaos der Küche versuchte sie, etwas Essbares zu finden. Im Kühlschrank stank es fürchterlich und sah ebenso schlimm aus wie in dem Vorratsschrank. Verschimmelte Wurst und Käse, saure Milch und vergorenes Gemüse. Eva verging abrupt der Appetit, sie nahm den Mülleimer unter der Spüle hervor und warf den gesamten Inhalt des Kühlschrankes hinein. Ließ heißes Wasser mit Putzmittel in einen Eimer laufen und schrubbte den Innenraum gründlich aus. Dann begann sie den Vorratsschrank auszuräumen und ebenfalls sorgfältig zu reinigen. Sie spülte das verschmutzte Geschirr, die festgetrockneten Reste aus den Töpfen ließen sich kaum entfernen, machte blitzblank sauber und ging mit vier vollen Müllbeuteln hinaus zur schwarzen Tonne am Gartentor.

Selbst nach so vielen Jahren erkannte sie sofort die unverwechselbare Stimme der Nachbarin Frau Launer, welche vom Zaun herüberwehte.

»Tach Frau Völkel, besuche se ihr Mudder? Des wurd‘ abbe aach Zeid, ned schö, die arm Fraa solang alleins zu lasse.«

Eva registrierte aus den Augenwinkeln, wie sie sich reckte, um neugierig hinüber zu sehen. Diese Person konnte sie noch nie richtig leiden, in sämtliche Angelegenheiten mischte sie sich ein, wusste alles besser. Klatsch und Tratsch waren ihre zweiten Vornamen. Sie hielt ihre Bildung für ausgezeichnet und überaus Weltgewand, hatte sie ihr Wissen doch direkt aus der Regenbogenpresse.

Ihre füllige Gestalt versuchte sie, in die angesagte Mode ihrer Tochter zu pressen, was sie zur komischen Figur der Straße machte. Die mittellangen schwarzen Haare waren von den vielen chemischen Behandlungen brüchig und dünn, was sie mit einem Haarteil zu verstecken suchte. Erneut vernahm Eva ihre Stimme,

»Wann duhdn ihrn Vadder von de Geschäftsreis komme? Er sollt doch eischentlich schon die letzt Woch dehaam sei. Stimmt was net bei ihne? Wo isser denn diesma hie gefahrn? Widder da hinner nach Asien?« Vor dieser Nachbarin gab es kein Entrinnen, Eva drehte sich ruckartig zum Gartenzaun,

»Guten Tag Frau Launer, meine Mutter wartet, ich geh hinein.« Sichtlich beleidigt nicht mehr zu erfahren rief sie ihr hinterher,

»Ja, gehnse nei un kümmern sich endlich. Die arm Fraa, was die all mitmache musst. Es is e Schand. schäme se sich.«

Eva ging, ohne länger hinzuhören, ins Haus. Wenn nur die Hälfte dieser Aussagen stimmten, dann war hier manches zu klären. Die Nachbarin bestätigte Ihre anfängliche Vermutung und lies ihr Misstrauen weiter anwachsen. Bereits in der Küche begann sie zu rufen,

»Mutti, Mutti, lass uns zusammen einkaufen gehen und wir frühstücken im alten Café Hauptstraße. Existiert das noch? Mutti?« Eva suchte im Erdgeschoss und im ersten Stock. »Mutti?« Vielleicht war sie in den Keller gegangen, oder doch im Garten? Eva öffnete die Kellertür, das Licht einer vierzig Watt Birne erhellte nur mit schwachem Schein die steilen Stufen abwärts. »Mutti?« Das leise Klappern verriet, sie musste im hinteren Kellerraum sein. Was um alles in der Welt machte ihre Mutter dort? Eva stieg die Stufen hinab und sofort kamen die Erinnerungen an ihre Kindheit wieder. Jedes Mal, wenn sie als kleines Mädchen die Kartoffeln oder Äpfel hinauf holen sollte, pochte sie als erstes ganz fest an die Kellertür. Sobald sie die Treppenstufen hinunterstieg, begann sie zu singen, am Anfang leise und dann immer lauter.

Das war ihre unbezwingbare Geheimwaffe gegen den bösen Geist, der heimlich in diesem Keller wohnte. Der Gedanke zauberte ein Schmunzeln, welches über ihr Gesicht huschte.

»Mutti? Was machst du hier unten? Ist etwas nicht in Ordnung?«, verwundert kam sie näher. Mit einem Ringschlüssel aus dem Werkzeugkasten versuchte Ihre Mutter mit zittrigen Händen einen hüfthohen, ein auf zwei Meter großen Behälter zu öffnen.

»Mutti, was hast du vor? Was ist das für ein Container?«, unverständig das Vorhaben nachzuvollziehen, zog Eva ihr das Werkzeug aus den Fingern. Erstaunlich klar und sicher klang ihre Stimme,

»Das Wasser, es ist das Wasser«.

Eva entdeckte auf dem Behälter eine Taschenlampe, schaltete sie ein und grell strahlte der kreisrunde Schein auf das oben angebrachte Schild. Eva musste ihre Augen zusammenkneifen.

Achtung Entkalkungsanlage. Öffnen nur durch das

Wartungspersonal.

»Mutti, das ist eure Entkalkungsanlage, da sollst du nichts verändern.«

»Das Wasser, es ist das Wasser. Eva hilf mir«, verlangte sie.

»Mutti, wir gehen erst einmal einkaufen, dann frühstücken wir und danach sehen wir weiter. Bitte, komm jetzt.« Eva umschlang mit ihrem Arm die Schultern der Mutter, legte die Taschenlampe zurück und schob sie unnachgiebig Richtung Treppe.

»Eva, versprich, dass du mir nachher hilfst.« Sonderbar klar und exakt beharrte sie auf ihrer Unterstützung. So fest entschlossen und zielstrebig hatte Eva sie früher immer gekannt. Die Hoffnung, der Zustand ihrer Mutter würde sich jetzt wieder bessern ließ sie erleichtert aufatmen.

»Ja Mutti, ich verspreche es dir. Wenn es dich beruhigt, dann machen wir das zusammen. Sag mal, fährst du den Frosch?«, unvermittelt wechselte sie das Thema. Ein winziges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Mit ihm fahre ich immer zum Einkaufen oder nach Frankfurt.«

›Eine winzige Veränderung, vielleicht fängt sich Mutti jetzt wieder‹ lies Eva fragen, »Willst du vorher noch einen Tee trinken?«

»Das Wasser, es ist das Wasser« machte Evas Hoffnung schlagartig zunichte. Sonderbar, einerseits schien ihre Mutter total klar zu sein, dann wiederum hatte sie diese unbegründete Angst vor dem Wasser. Ausgerechnet Trinkwasser, das meistuntersuchte und bestgeschützte Lebensmittel, zugegebenermaßen in Eschborn war es kalkhaltiger als im Taunus aber dennoch einwandfrei.

»Kind, fahr du, ich bin so müde und erschöpft«, bat sie mit kraftloser Stimme. Eva sah sie beunruhigt an, während sie den Autoschlüssel aus der Küchenschublade kramte und den Einkaufskorb neben der Heizung griff. Eva hakte ihre Mutter unter, ›etwas wacklig ist sie schon‹, überlegte sie. Beide Frauen gingen in den mit Sonnenschein überfluteten Hof zur naheliegenden Garage. Evas fühlte eine Hand auf ihrem Unterarm.

»Ich glaub, es ist besser hierzubleiben, ich bin so müde und leg mich lieber hin. Fahr allein mein Schatz.«

Eva sah ihrer Mutter ins Gesicht, die tiefliegenden, ausdruckslosen Augen mit breiten dunklen Ringen umgeben und die fast durchsichtige weiße Haut machten ihr Angst.

»Mutti, du musst mal hier raus, wann warst du das letzte Mal mit dem Frosch unterwegs? Ich bitte dich, komm mit mir, Bitte«, bettelte Eva und versuchte, ihre Mutter zu überreden.

»Ich bin ganz zitterig, meine Beine sind so kraftlos, mir ist heiß und kalt, lass mich hier«, hörte Eva vom Tor herüber. Mit zwei schnellen Schritten erreichte sie ihre Mutter, bevor diese in sich zusammensacken konnte. Energisch entschied sie,

»Nein Mutti, du gehst jetzt zu einem Arzt. Vielleicht bist du krank. Komm, setz dich ins Auto, ich fahr.«

Dass es ernst war, wusste Eva, jedoch hatte sie nicht mit diesem besorgniserregenden Zustand gerechnet.

»Zu welchem Doktor? Ich war seit Jahren in keiner Praxis.«

Nachdem Dr. Schreiter in den Ruhestand ist war ich nicht mehr krank«, entgegnete sie hilflos. Eva glaubte kaum, was sie hörte.

»Aber Mutti, du musst doch wenigstens einmal im Jahr zum Check Up. Das ist wichtig, du solltest auf deine Gesundheit achten«, forderte sie mit Nachdruck.

»Kind, die Main-Pharma-Tec hat uns mit kostenlosen Medikamenten versorgt, manchmal war ein Kollege von Heinrich da, der sagte immer: Alles ok, euch geht´s hervorragend«, verteidigte sich ihre Mutter schwach. »Die Main-Pharma-Tec? Aber Vater hatte doch in der Entwicklung und Forschung gearbeitet. Seit wann haben die auch Internisten oder Allgemeinmediziner?«, verständnislos schüttelte Eva ihren Kopf.

»Viktor hat ihn eines Tages zu ihren Treffen mitgebracht. Er hat ihn vorgestellt aber ich weiß den Namen nicht mehr. Koll oder Kall irgendein kurzer.«

»Viktor? Papas ehemaliger Studienfreund?«, forschte Eva.

»Ja Viktor und Klara Andersen sie haben alle zusammengearbeitet. Ich will mich hinlegen, mir ist schlecht«, verlangte sie.

Die beiden Namen kannte Eva nur von kurzen Erzählungen, die ihr Vater immer sofort unterbrochen hatte, sobald sie begann Fragen zu stellen.

»Mutti, lass uns reingehen, vielleicht legst du dich aufs Sofa. Der Nachfolger von Dr. Schreiter ist sicherlich erreichbar, ich rufe ihn gleich mal an«, entschied Eva. »Aber erstmal mache ich dir eine schöne Tasse heißen Tee. Sag mal, den Silbernadel Tee woher hast du ihn?«, hakte sie nach. Die Gesichtsfarbe ihrer Mutter wurde aschgrau, sie schüttelte ihren Kopf

»Ich will nicht darüber reden.«

Eva schaute verwundert und brachte ihre zitternde, schwankende Mutter behutsam zurück ins Haus, legte sie auf das Sofa, schob ihr eines der bordeaux farbenen, flachen Kissen unter den Kopf und deckte sie mit der beigen Lamawolldecke zu.

»Nein, nimm nicht das Wasser«, beharrte diese auf ihrer Forderung.

In der Zwischenzeit war es schon später Vormittag und sie hatten beide noch nicht gefrühstückt, geschweige denn etwas getrunken. Eva stieg erneut in den Keller hinunter, ›Bestimmt gab es im Vorratsraum Saft oder Sprudelwasser.‹ Sie fand einen Sechser Pack stilles Wasser und klemmte diesen unter ihren Arm. Im Vorbeigehen griff sie eine Flasche Orangensaft, stieg die steilen Stufen hinauf und ging in die Küche zurück. An der Wohnzimmertür sah sie nochmals nach ihrer Mutter. Sie schien bereits eingeschlafen zu sein, doch bei näherem Hinsehen erkannte Eva, die Stirn des kalkweißen Gesichtes war mit Schweiß bedeckt. Instinktiv streckte sie ihre Hand aus und fühlte die Schläfen. Sie waren heiß, ihre Mutter zitterte und zuckte unkontrolliert unter der warmen Decke. Sofort suchte Eva das Telefonbuch, fand schnell das Ärztezentrum in der Berliner Straße und rief sogleich den Internisten Dr. Mauer an. Er schien der Nachfolger von Dr. Schreiter zu sein. Bereits beim zweiten Klingeln meldete sich eine freundliche jedoch energische Frauenstimme.

»Praxis Dr. Mauer, mein Name ist Bettina Lerz, guten Tag«, hörte Eva aus der Muschel des Telefons. ›Fasse alles kurz und knapp zusammen, damit die Helferin den Ernst der Lage einschätzen kann‹, dachte Eva und erwiderte,

»Guten Tag Frau Lerz, Eva Völkel hier, es geht um meine Mutter, Marie Völkel, sie hat Fieber und Schüttelfrost, außerdem zuckt sie unkontrolliert, kann Herr Dr. Mauer bitte nach ihr sehen?«

»Ist Ihre Mutter Patientin bei uns?«

»Nein, sie war früher bei Dr. Schreiter, in den letzten Jahren fühlte sie sich gesund und hat deswegen keinen neuen Hausarzt.«

»Die ehemaligen Patientenakten sind in einem Archiv ausgelagert, ich habe momentan keinen Zugriff. Wie alt ist Ihre Mutter denn? Besteht nicht doch die Möglichkeit in die Praxis zu kommen?«, entgegnete Frau Lerz.

»Sie ist 68 Jahre alt, liegt auf dem Sofa, ist kalkweiß im Gesicht und zittert extrem schlimm. Ihre Stirn ist heiß und mit kaltem Schweiß bedeckt. Sie fühlte sich sehr schwach, wie soll ich sie alleine ins Auto bekommen, geschweige denn bei Ihnen in die Praxis.« ›Verstand diese Frau gar nicht den Ernst der Lage oder war sie, durch ihre tägliche Arbeit, immun gegen die Dringlichkeit eines Arztbesuches‹, dachte Eva aufgebracht. Fünf Sekunden lang hörte sie nur ein tiefes Ein- und Ausatmen, dann kam die befreiende Frage,

»Wie ist Ihre Adresse? Ich trage Sie für heute Mittag als Hausbesuch mit ein. Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, damit Dr. Mauer Sie erreichen kann und machen Sie eine Liste mit den Medikamenten, die Ihre Mutter regelmäßig einnimmt.«

»Wir wohnen in der Bergstraße hier in Eschborn. Vielen Dank und ich kümmere mich sofort um die Medikamentenliste«, versicherte Eva sogleich.

»Auf Wiederhören.«

»Vielen Dank, Tschüss«, erleichtert beugte sich Eva zu ihrer Mutter hinunter und strich ihr sanft das schweißnasse Haar aus der Stirn. So wie sie dalag, ein Schatten ihrer selbst, als ob alle Kraft aus ihrem Körper gewichen sei, hatte Eva Zweifel, ob sie rasch wieder auf die Beine kam. Dennoch war sie auch jetzt mit achtundsechzig Jahren immer noch eine schöne Frau, zarte Gesichtszüge, eine markante spitze Nase und das halblange volle weiße Haar. Die schlanke Figur meistens klassisch gekleidet, nicht übermäßig elegant jedoch schick und sportlich. Eva bedauerte es seit ihrer Kindheit, dass sie so gar nichts von dieser feinen Zartheit geerbt hatte.

Im Gegenteil, sie war das Mischwerk aus Großmutter und Vater. Mit ihren einen Meter fünfundfünfzig war sie die Kürzeste in der Familie, das runde Gesicht und die frauliche Figur war die der Oma Katharina, die kastanienroten Haare die des Vaters Heinrich.

Entschlossen ging sie in die Küche, befüllte den Kessel mit stillem Wasser aus der Flasche und setzte ihn auf den Herd. Die Teekanne von gestern spülte sie heiß aus, bereitete zwei Tassen vor, suchte nach etwas Essbarem und brühte erneut den ihr unbekannten Silbernadel Tee über. Während dieser Arbeit wanderten ihre Gedanken, ›Was weiß ich von dem Leben meiner Eltern? Ich bin ein Einzelkind, der Wunsch nach weiteren Geschwistern hatte sich leider nie erfüllt, mit zwanzig bin ich ausgezogen, dann hatte ich acht Jahre lang fast keinen Kontakt mehr und vorher? Ich war so mit erwachsenwerden beschäftigt, mit der großen Liebe, dem Abitur und dem anschließenden Studium. Vater erschien mir schon immer sehr alt, Mutti nicht so, aber ebenfalls viel älter als die Eltern der anderen Klassenkameraden.‹ Ein leises Stöhnen aus dem Wohnzimmer ließ sie aufhorchen, sofort lief sie hinüber, und konnte gerade noch verhindern, dass ihre Mutter aufstand.

»Mutti bleib bitte liegen, ich habe mit Dr. Mauer telefoniert, er kommt heute Mittag nach der Sprechstunde und macht einen Krankenbesuch bei dir.« Sanft drückte sie sie in die Kissen zurück.

»Der Tee ist gekocht, keine Angst, er ist mit stillem Wasser aus dem Vorrat zubereitet. Du kannst ihn ganz beruhigt trinken, ich hole ihn sofort.« Ihre braunen Augen sahen sie dankbar an und widerstandslos ließ sie sich vorsichtig, auf das Sofa zurücksinken. Eva ging flink hinaus und kam kurz darauf mit einem vollbepackten Tablett zurück, welches sie auf dem Tisch abstellte. Sie half ihrer Mutter beim Aufrichten, stopfte ihr noch zwei dicke Kissen in den Rücken, damit sie bequem sitzen konnte, reichte ihr eine Tasse mit Tee und stellte den Teller mit Keksen in Reichweite ab. Gemeinsam saßen sie auf dem Sofa und frühstückten.

Der Tee schmeckte heute Vormittag erheblich besser als gestern Abend, nicht mehr so streng und bitter.

Nach einiger Zeit klingelte es, das war sicherlich Dr. Mauer zum Hausbesuch. Schnell ging Eva zur Haustür, sah durch die Milchglasscheibe eine große männliche Person mit Tasche draußen auf dem Treppenabsatz stehen. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür und sagte erleichtert zu dem vor ihr stehenden Mann,

»Dr. Mauer, Sie sind schon da«, es war ein, circa fünfundvierzig Jahre alter, sehr gut aussehender Mann, die streichholzkurzen blonden Haare ordentlich mit Gel nach hinten frisiert, die graublauen Augen sahen abschätzend durch eine rahmenlose Brille. Der anthrazitfarbene einreihige Anzug saß hervorragend an seiner sportlichen durchtrainierten Figur. Unter dem Arm trug er eine schwarze Lederaktentasche.

»Guten Tag, mein Name ist Dr. Samuel Croll und ich erwarte Frau Marie Völkel zu sprechen.« Dr. Croll versuchte, sich an Eva vorbei ins Haus zu drängen. Sie sah ihn überrascht und verwundert an, bevor er sie überrumpeln konnte, versperrte sie ihm blitzschnell den Zutritt.

»In welcher Angelegenheit?«, fragte sie aufgebracht. Der hochmütige Ausdruck in seinem Gesicht vollendete Evas Abneigung ihm gegenüber.

»Das bespreche ich mit Frau Völkel persönlich«, schnarrte er mit arroganter Stimme und zupfte an seinem linken Ohrläppchen.

Sofort dachte Eva, ›Aha, so einer bist du‹, erstmal musst du an mir vorbei, bevor du zu meiner Mutter kommst‹, und richtete ihre Körper zu seiner vollen Größe auf. Sie stemmte die Arme in die Taille und schob energisch das Kinn vor. ›Was für ein unangenehmer, schrecklicher Mensch und diese Stimme, da sträuben sich mir alle Nackenhaare.‹ Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

»Nein, Sie sagen mir, um was es sich handelt, oder Sie gehen wieder«, entschieden kamen die Worte über ihre Lippen.

Dr. Croll machte erneut einen Schritt auf Eva zu, als wolle er nochmals versuchen sich ohne ihre Erlaubnis Einlass zu verschaffen, doch sie stelle ihren rechten Fuß hinter die Tür, sodass diese nicht weiter aufging und Dr. Croll beinahe gestolpert wäre.

Bedrohlich funkelten seine Augen Eva an,

»Sie lassen mich jetzt sofort rein, oder Ihr Verhalten wird sehr bedauerliche Konsequenzen für Sie haben.« Er drückte mit der Hand an ihrer Schulter. ›Was soll ich machen? Gegen diesen Mann kann ich nur wenig ausrichten, die Unterschiede sind zu groß, er ist mir körperlich weit überlegen.‹ Evas Blick fiel suchend auf die Straße, ob Nachbarn zu sehen seien, die sie um Hilfe bitten könne, als ein dunkelgrünes Oldtimer Cabriolet um die Straßenecke bog und vor der Garageneinfahrt hielt. Ein grauhaariger, circa sechzig Jahre alter, gutgekleideter Herr stieg geschmeidig aus. Sein Blick suchte die Hausnummern, er nickte zufrieden, griff die Arzttasche auf den Beifahrersitz und kam mit langen Schritten rasch auf sie zu. Er hob die Hand zum Gruß und Eva erwiderte diesen. Erleichterung durchflutete sie, Eva zog die rechte Augenbraue hoch,

»Sie gehen jetzt besser Dr. Croll«, raunte sie leise, »und kommen Sie nie mehr wieder.«

Dieser kam ihr bedrohlich nahe,

»Sie hören von mir«, zischte er, drehte sich verärgert um, schritt die drei Treppenstufen zum Fußweg hinunter, wo er Dr. Mauer begegnete. Die beiden Männer nickten einander abschätzend kurz zu, bevor Dr. Croll schnell um die Straßenecke in den Hopfengraben bog und verschwand. Der Arzt verzog geringschätzig sein Gesicht und sprach Eva an.

»Ein unangenehmer Mensch. Verzeihen Sie, Frau Völkel? Ich bin Dr. Mauer, Sie haben mich für Ihre Mutter gerufen. Wie geht es ihr jetzt?« Eva trat bereitwillig zur Seite und gab die Tür frei, um ihn einzulassen. Nachdrücklich schloss sie diese. Dr. Mauer ging in die Diele voran, Eva zeigte auf die angelehnte Wohnzimmertür.

»Kommen Sie bitte hier entlang, meine Mutter ist bestimmt wach, wir haben gerade eine Tasse Tee getrunken und hoffentlich hat sie noch ein, zwei Kekse gegessen. Sie fühlte sich den ganzen Morgen und Vormittag furchtbar schwach und zittrig«, erklärte Eva,

durchquerte die Diele und ging ins Wohnzimmer voraus, Dr. Mauer folgte ihr. Das Sofa war leer, eine der Tassen lag halb auf der Seite und die bernsteinfarbene Flüssigkeit bildete einen ovalen See auf dem Tisch. Einige der restlichen Kekskrümel hatten sich, jetzt dick und aufgeweicht, als kleine Inseln in diesem gebildet.

»Mutti?«, erstaunt registrierte Eva, das leere Sofa »Mutti?«, fragte sie erneut. Ein leises Wimmern hinter einem der Sessel verriet ihr Versteck. Dr. Mauer und Eva sahen einander verwundert an, rasch zogen sie gemeinsam an dem Möbelstück und zum Vorschein kam ein verängstigtes, zusammen gekauertes Häufchen Elend.

»Mutti?!«, erschrocken, sie in diesem Zustand vorzufinden, beugte sich Eva hinunter und nahm die hemmungslos Schluchzende fürsorglich in die Arme. Dr. Mauer griff sogleich gekonnt unter ihre Achseln und half beiden Frauen beim Aufstehen. Verwundert über das Geschehene öffnete er seine Arzttasche, während Eva ihre Mutter besorgt in den Sessel setzte und ihn erwartungsvoll ansah. Dieser nickte verständnisvoll,

»Frau Völkel, ich bin Dr. Mauer, Ihre Tochter hat mich gerufen, sie macht sich Sorgen um Ihre Gesundheit. Ich möchte Sie jetzt untersuchen, darf sie bitte hierbleiben und Ihnen helfen?«

Verängstigt und irritiert über das unbekannte Gesicht zuckte sie wie von einem Faustschlag getroffen zusammen. Hilflos suchte sie Evas Blickkontakt mit eingefallenen Wangen und riesig geweiteten Pupillen kam die Frage:

»Wer ist der fremde Mann Eva?«

Sie kniete sich vor ihrer, im Sessel zusammengesunkenen Mutter, auf den mittlerweile matt und stumpf gewordenen Parkettboden.

»Das ist Dr. Mauer, ich habe ihn heute Vormittag angerufen, als es dir so schlecht ging und du so zittrig warst. Er möchte dich untersuchen, um herauszufinden, ob du vielleicht krank bist.«

Eva sah ihn auffordernd an, nickte ihm zur Bestätigung und dieser begann mit seinen Untersuchungen. Augenreflexe, Kopf und Halswirbelsäule betasten, Blutdruckmessen, Puls, abhören der Lunge und Atemwege, das gesamte Programm. Ab und zu brummte er, nickte wissend, schrieb kurze Notizen in die mitgebrachte Patientenakte, um sogleich fortzufahren.

»Welche Medikamente nimmt Ihre Mutter?«, wollte er wissen ohne Eva anzusehen. ›Verdammt, das habe ich vergessen‹, schoss es ihr durch den Kopf. Schnell entgegnete sie zur Erklärung,

»Viel war nicht zu finden, ich bin erst seit gestern wieder hier und konnte noch kein vernünftiges Wort mit meiner Mutter sprechen. Oben im Badezimmerschrank sind zwei Packungen mit Tabletten, ich hole sie herunter.« Eva verließ rasch den Raum, rannte die Treppe hinauf ins Badezimmer, griff die Medikamentenpackungen und war schnell zurück.

»Hier, das sind die beiden«, sie überreichte Dr. Maurer zwei unscheinbar aussehende Schachteln. Er nahm sie verwundert, mit hochgezogener Augenbraue in Empfang, drehte sie zur Seite um nach den Wirkstoffangaben zu suchen. Sein Blick war besorgniserregend, als er nachhakte,

»Woher haben Sie die Medikamente? Wer hat die herausgegeben?« Eindringlich und forschend sah er Eva an. Ein überaus ungutes Gefühl breitete sich in ihr aus. Dr. Mauer bestätigte ihre Ahnung, in diesem Haus gab es viele Unstimmigkeiten. Worin waren ihre Eltern verwickelt?

»Das weiß ich nicht, meine Mutter war das letzte Mal bei Dr. Schreiter und hat seitdem angeblich keine ärztliche Behandlung mehr gebraucht.« Sie wandte sich um, »Mutti, von wem hast du das?«, fragend hielt Eva ihr die Packungen entgegen. Diese sank immer tiefer in den Sessel, als wolle sie darin verschwinden.

Leise und zittrig kamen die Worte über ihre Lippen.

»Ich glaube Dr. Kall oder so hat jedes mal was mitgebracht, wenn er bei Heinrich war.«

Sofort fiel Eva die unangenehme Begegnung vor dreißig Minuten ein.

›Dr. Samuel Croll dieser widerliche Kerl war regelmäßig hier ein und ausgegangen. Was um Himmelswillen hatte er nur gemacht? Weswegen wollte er so nachdrücklich zu meiner Mutter? Hing das etwa mit den Pillen zusammen?‹ Sorgenvoll sah Eva auf sie hinunter und eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen und sie fragte, »Mutti, für was sollten die gut sein?«

»Na ja für alles im Alter sagte er«, kam unschuldig als Erwiderung. Evas Misstrauen verfestigte sich und wuchs weiter, ruckartig drehte sie sich zu Dr. Mauer, schneidend fragte sie,

»Was ist mit diesen Tabletten nicht in Ordnung?«

Er wägte seine Worte sehr sorgfältig ab als er entgegnete,

»Eigentlich dürfte ich dazu jetzt keine Auskunft geben, ich denke jedoch hier liegt eine ungewöhnliche Situation vor und Sie müssen Bescheid wissen. Ebendiese Medikamente haben weder eine Zulassung durch die Aufsichtsbehörde, noch befinden sie sich offiziell in der Erprobungsphase. Dass sie bereits im Stadium der Probanden Tests sind, ist mir unbekannt.«

Eva traute ihren Ohren kaum, was sie soeben gehört hatte war ungeheuerlich.

»Sie denken also meine Mutter ist möglicherweise, vielleicht sogar unfreiwillig ein Versuchskaninchen?«, entsetzt über die Wahrscheinlichkeit bohrte Eva tiefer. »Wer stellt das Zeug her? Auf den Packungen ist keine aussagekräftige Information zu finden.«

Dr. Mauer fühlte sich sichtlich unwohl bei seiner Antwort.

»Soweit ich informiert bin, hat die Main-Pharma-Tec das Patent darauf angemeldet.«

Eva stieg die Zornesröte ins Gesicht, sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

»Die dürfen einfach so Menschenversuche machen? Das glaube ich nicht, das ist abscheulich, ein Skandal sondergleichen. Ist die Aufsichtsbehörde darüber informiert?«

Dr. Mauer bemerkte sehr wohl die Empörung Eva‘s, die sich sehr aufregte und versuchte, die Situation etwas zu entschärfen.

»Vielleicht hat Ihre Mutter eine Einwilligung unterschrieben und nimmt möglicherweise aus freien Stücken an der Versuchsreihe teil.« Dr. Mauer‘s Versuch ging gründlich schief, sein Satz war Wasser auf Evas Verdachtsmühle.

»Meine Mutter? Freiwillig? Medikamente testen? Niemals!«

Kategorisch lehnte Eva diese Möglichkeit ab.

»Sie hat früher nicht einmal etwas gegen Kopfschmerzen genommen, im Gegenteil sie war immer eine strikte Gegnerin der gesamten Chemie und ihren breitgefächerten Nebenwirkungen.«

Unterdessen bemühte sich ihre Mutter, aus dem Sessel aufzustehen.

»Ich will mich hinlegen«, hilfesuchend streckte sie ihre Hand nach Eva aus, das war das Aufbruchssignal für Dr. Mauer. Er begann die Arzttasche zu packen.

»Suchen Sie in den persönlichen Unterlagen Ihrer Eltern, eventuell finden Sie ein solches Dokument.« Er sah von seiner Tätigkeit auf, »Setzen Sie die Medikamente ab, lassen Sie Ihre Mutter viel trinken und schlafen. Gehen Sie mit ihr spazieren, Bewegung hilft ihr und frisches Obst, Salat und Gemüse.« Er reichte beiden nacheinander die Hand.

»Ich komme am Donnerstag wieder. Gute Besserung Frau Völkel, Ihre Tochter kümmert sich um Sie, es geht Ihnen bald besser.«

Mit diesen Worten sah er Eva an, »Passen Sie auf, die Gedächtnislücken, Desorientierung und Panikattacken sind Nebenwirkungen die bei Ihrer Mutter besonders stark ausgeprägt auftreten. Behalten Sie sie in ihrer Nähe. Alles Gute.«

Damit verabschiedete er sich und ging zur Haustür. Eva begleitete ihn,

»Dr. Mauer, eine Frage noch, mein Vater ist vor kurzem verstorben und Mutti kann mir nichts Genaueres darüber erzählen. Weder wer ihn abgeholt hat oder welcher Arzt den Totenschein ausgestellt hat. An wen könnte ich mich wenden, um Näheres zu erfahren?«

Dr. Mauer überlegte, spitzte dabei seine Lippen.

»So viele Möglichkeiten gibt es in diesem Fall nicht, der Hausarzt oder der behandelte Arzt Ihres Vaters. Vielleicht wurde der Notarzt gerufen, das weiß dann die Rettungsleitstelle in Hofheim.«

Eva merkte, dass Dr. Mauer ihr in der Angelegenheit nicht weiter helfen konnte. Sie musste dringend die persönlichen Papiere der Eltern durchsehen, irgendein Hinweis gab es doch sicherlich.

Das hatte ihm gerade noch gefehlt, alles war so erfreulich gelaufen, dann tauchte plötzlich diese unverschämte Person auf und wollte ihn daran hindern die letzten entscheidenden Maßnahmen einzuleiten.

›Wer ist sie überhaupt? Vielleicht eine neue Nachbarin, die Mitarbeiterin der ortsansässigen Sozialstation, hatte einer der Anwohner den Pflegedienst angerufen?‹ Verärgert darüber erfolglos abziehen zu müssen, ging Dr. Croll mit langen Schritten auf sein geparktes Auto zu, welches im Hopfengraben stand. Die schwere, schwarze Limousine hatte er als Anerkennung für die wichtigen Erfolge, in den unterschiedlichsten Forschungsreihen, der Main-Pharma-Tec bekommen. Dr. Croll´s Auffassung nach, war diese schon seit langem fällig gewesen, doch die ›Alten‹ ewig gestrigen legten ihr Veto ein und verhinderten die Auszeichnung einige Jahre lang. Verschlagenheit zeigte sich auf seinem Gesicht, eine der vielen cleveren Eigenschaften veranlasste ihn, niemals direkt vor einem Haus zu parken.

Neugierige Nachbarn erwiesen sich zu oft als lästige Beobachter und Fragesteller. Er zückte das Handy aus der Jackettasche, drückte eine der Kurzwahltasten und lauschte dem Freizeichen.

»Hallo?« Ertönte eine raue, männliche Stimme aus dem winzigen Lautsprecher. Dr. Croll überlegte ›Der ändert sich nie mehr, sollte ich ihn überhaupt für diesen Auftrag einsetzten?‹, dennoch befahl er schneidend, »Ich habe Arbeit. Vierzehn Uhr. Wie üblich.«

»Ok«, erhielt er die kurze Antwort.

Dr. Croll legte auf, verstaute das Handy in der Innentasche des Jacketts und kramte den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Befriedigt huschte ein kurzes Grinsen über das angespannte, verkniffene Gesicht. Keine klobigen Schlüssel mehr, alles funktionierte erfreulicherweise nur noch per Knopfdruck. Er stieg ein, legte die Aktentasche auf den Beifahrersitz und wartete. Seinen perfekten Ohren waren ihre Sätze nicht entgangen. ›Wie hatte sie mich bei dem Türöffnen genannt? Dr. Mauer? Ein Hausbesuch, dann musste sie einen Arzt aus der nahen Umgebung gerufen haben.‹ Mit der Faust schlug er verärgert und hart auf das mit weichem schwarzen Leder bespannte Lenkrad. ›Zum Auswachsen, so kurz vorm Ziel. Ich muss das zu Ende bringen, diese Unterlagen sind viel zu wichtig, ich brauche sie unbedingt und habe keine andere Wahl.‹ Nervös zupfte er am linken Ohrläppchen. Der Erfolgsdruck war extrem hoch und sein gigantisches Ego erlaubte nicht den kleinsten Fehlschlag. Nach einer halben Stunde sah er das Cabriolet aus der schmalen Nebenstraße kommen, am Steuer Dr. Mauer, mit einem sehr nachdenklichen, fast schon beunruhigten Gesichtsausdruck. Schnell notierte er sich das Autokennzeichen, es war immer notwendig den Gegner rechtzeitig zu kennen, mit allen Stärken und Schwächen. Jeder Mensch hatte eine Schwachstelle, an der er ansetzen konnte und Geld war stets ein hervorragendes und überzeugendes Argument. Das fiese Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und für die besonders hartnäckigen Verweigerer gab es ja immer noch Frank Berger, den Mann für‘s Grobe. Dieser war mit zwei Metern recht groß, sehr muskulös und die kantige Visage mit der breiten zerquetschten Nase, den wässrig blauen Augen und der fünf Millimeter Haarschnitt verlieh ihm ein bedrohliches Aussehen. Der perfekte Überzeuger.