Gottloser Westen? - Alexander Garth - E-Book

Gottloser Westen? E-Book

Alexander Garth

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Beschreibung

Während weltweit Religion, insbesondere das Christentum, boomt, neue kraftvolle Gemeinden entstehen und sich ganze Landstriche dem Glauben zuwenden, leeren sich im kulturellen Westen die Kirchen und die gesellschaftliche Gestaltungskraft des Christentums schwindet. Europa ist eine säkulare Insel im religiösen Meer. Worin könnten die Gründe dafür liegen, dass die Kirchen außerhalb der westlichen Hemisphäre lebendig sind, ausstrahlen und begeistern, während das Christentum des Westens eigenartig müde, kraftlos und überaltert wirkt? Der bekannte Pfarrer und Publizist Alexander Garth findet sechs Indikatoren für das enorme globale Wachstum des Christentums und benennt vier Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel zu einer Säkularisierung der westlichen Gesellschaften führen. Im zweiten Teil des Buches geht es um die Frage, wie die Kirchen in Deutschland darauf reagieren können. Hat der Glaube eine Zukunft oder müssen wir sein Aussterben hinnehmen? Müssen sich die Kirchen – die katholische, die evangelischen und freikirchlichen – ändern, wenn sie auf die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich reagieren wollen? In welche Richtung müssen Kirchenreformen gehen, damit Gott auch im Westen für die nachwachsenden Generationen wieder erfahrbar und zu einer prägenden Kraft wird?

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ALEXANDER GARTH

GOTTLOSER WESTEN?

Chancen für Glaube und Kirche in einer entchristlichen Welt

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Thomas Puschmann, Leipzig

Satz: makena plangrafik, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-05028-4

www.eva-leipzig.de

VORWORT

Eine Frage treibt mich um, die zum Schreiben dieses Buches führte: Was sind die Gründe dafür, dass sich im westlichen Kulturkreis die Kirchen leeren und die gesellschaftliche Gestaltungskraft des Christentums schwindet, während weltweit das Christentum boomt, neue kraftvolle Gemeinden entstehen und sich ganze Landstriche dem Glauben zuwenden? Europa ist eine säkulare Insel im religiösen Meer. Worin könnten die Gründe dafür liegen, dass die Kirchen außerhalb der westlichen Hemisphäre so außerordentlich lebendig, ausstrahlend und begeisternd für viele Menschen sind, während das Christentum des Westens eigenartig müde, kraftlos und überaltert wirkt? Die alte religionssoziologische These, dass Religion an Bedeutung verliert, wenn Bildung und Wohlstand zunehmen, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. Gesellschaftliche Modernisierungsprozesse gehen Hand in Hand mit einem religiösen Erwachen. Von einer Säkularisierung ist in den Kirchen, die außerhalb des Westens liegen, nichts zu spüren. Warum schwächeln die Kirchen des westlichen Kulturkreises, während die Kirchen des Südens und Ostens kraftvoll wachsen? Ich habe sechs Indikatoren ausgemacht für das enorme globale Wachstum des Christentums. Des Weiteren setze ich mich mit der Frage auseinander, was die Gründe sind für den Niedergang des Christentums in Europa? Worin liegen die Ursachen für die Säkularisierungsprozesse? Ich habe dafür vier Faktoren ausgemacht, die im Zusammenspiel zu einer Säkularisierung der westlichen Gesellschaft führen.

Im zweiten Teil des Buches geht es um die Frage, wie die Kirchen hierzulande darauf reagieren können. Hat der Glaube eine Zukunft, oder müssen wir uns mit einem Niedergang von Religiosität abfinden? Ist das Christentum des Westens – in katholischer, evangelischer und freikirchlicher Variante – bereit und fähig, auf die Herausforderungen der Säkularisierung angemessen zu reagieren? In welche Richtung müssen Kirchenreformen gehen, damit der Glaube auch im Westen eine prägende Kraft ist?

Als lutherisch gesinnter Christ mit katholischem Herzen und pfingstlichen Sympathien und als evangelischer Pfarrer und Theologe mit einem ökumenischen Horizont frage ich mich im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017: Welche Impulse können heute für einen Aufbruch der Kirchen von Bedeutung sein? Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Erbe Luthers und der Reformation besteht nicht nur in der Bewahrung der Tradition, sondern vornehmlich in der Innovation, damit das Evangelium unter die Leute kommt. Man möge es dem Autor nachsehen, wenn in den Ausführungen zu den geschichtlichen Ursachen, welche die Gründe für die Säkularisierung unserer Kultur thematisieren, in einigen Punkten nicht alle Faktoren die gebührende Berücksichtigung erfahren. Dafür gibt es Experten, die sich jahrelang damit befasst haben und über ein exzellentes Wissen verfügen. Der Autor kommt aus der Praxis, ist Gründer mehrerer Gemeinden in der Landeskirche und jetzt Pfarrer an der Stadtkirche St. Marien in Wittenberg, der Mutterkirche der Reformation. Er möchte Säkularisierung auch für Nichttheologen nachvollziehbar machen und Linien aufzeigen, wie die Kirche agieren kann in einer säkularen Welt, um hoffnungsvoll in eine Zukunft des Glaubens aufzubrechen.

Berlin und Wittenberg im April 2017

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1. Religion – ein Auslaufmodell?

1.1 Niedergang oder Aufschwung?

1.2 Religion wird eines Tages verschwinden

1.3 Die Wende in der Religionssoziologie

1.4 Säkularisierungsprozesse verstehen

1.5 Vier weltanschauliche Felder

2. Religiöses Erwachen?

2.1 Eine immer religiösere Welt

2.2 Gründe für das weltweite Boomen von Religion

3. Europa – säkularisierte Insel im religiösen Meer

3.1 Säkulares Europa

3.2 Ein Zusammenspiel vieler Faktoren

4. Deutschland zwischen Säkularisierung und spirituellem Erwachen

4.1 Spiritualität in einer säkularen Welt

4.2 Aber die Sehnsucht bleibt

4.3 Glauben suchen und finden

5. Die Kirche und der religiöse Markt

5.1 Hilfe, wir bekommen amerikanische Verhältnisse!

5.2 Die Pluralisierung sozialer Milieus und Lebensstile

5.3 Kirche in der Netzwerkgesellschaft

5.4 Individualisierung und Privatisierung

5.5 Kirche auf dem Markt

5.6 Kirche neu erfinden

Exkurs: Walt Disney und der Aufbruch der Kirche

6. Aufbruch ist möglich

6.1 Neue Dynamik in Sicht?

6.2 Der ursprüngliche Traum

6.3 Luther und der Herzschlag des Glaubens

6.4 Die Leidenschaft des Glaubens

6.5 »Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen«

6.6 Eine spirituell lebendige Kirche

6.7 Das Leben der Kirche ist Mission

7. Kleiner aber feiner

7.1 Krisen – Gottes Reden

7.2 Ökonomisierung?

7.3 Weniger Behörde, mehr Ortsgemeinde

7.4 Alternative Gemeindeformen

8. Kommunikation des Evangeliums in eine säkulare Kultur

8.1 Die Einladung zum Glauben

8.2 Christliche Verkündigung im postmodernen, säkularen Kontext

9. Eine sich wandelnde Kirche in einer globalisierten Welt

9.1 Kirche mit Kraft zur Inkulturation

9.2 Die Chancen der Großkirchen

9.3 Abschließendes Fazit

Literatur- und Quellennachweise

Weitere Bücher

1. RELIGION – EIN AUSLAUFMODELL?

1.1 NIEDERGANG ODER AUFSCHWUNG?

Wer sich in der Medienlandschaft nach dem Thema Religion umschaut, dem bietet sich ein widersprüchliches und verwirrendes Bild. Einerseits gibt es eine Fülle von Artikeln und Publikationen, welche die wachsende weltweite Bedeutung von Religion ankündigen. Die Rede ist von einer Rückkehr der Religion in das Bewusstsein der Weltbevölkerung (Wolfram Weimer), von Desäkularisierung, von Respiritualisierung als globalem Megatrend (Matthias Horx), von einem Anbruch eines neuen religiösen Zeitalters auch in der westlichen Welt (Monica Toft), von einer weltweiten Wiederkehr der totgesagten Religion (Terry Eagleton). 2008 nannte »Die Welt« »acht Gründe, warum Religion boomen wird«. Andererseits sind die Medien voll mit Abgesängen auf Religion, insbesondere auf das Christentum. Da ist die Rede vom Sterben der Kirche, von wachsendem religiösem Desinteresse, von Massenaustritten, vom Ende des Christentums. Auf jeden Fall ist Religion in den Schlagzeilen. Aber man bekommt die unterschiedlichen Aussagen nicht zusammen. Einerseits soll Religion boomen wie verrückt (und bald sogar auch bei uns), andererseits entfernen sich die meisten Europäer immer mehr vom Glauben.

Die widersprüchlichen Aussagen hängen mit der Blickrichtung zusammen. Schaut man auf West- und Mitteleuropa, so kann man vor allem einen Niedergang religiösen Lebens konstatieren. Der globale Blick indes führt zum gegenteiligen Schluss: Religion ist ein Megatrend. Dieses Wort, das im Marketingbereich wahre Orgien feiert, bedarf der näheren Erläuterung. Megatrends sind langfristige Triebkräfte des Wandels, die global wirken und in Gesellschaft, Wirtschaft, Politik, Konsum und Kultur zu starken Veränderungen führen.1

Europa ist so etwas wie eine säkulare Insel im religiösen Meer, die Ausnahme von der Regel. Die besagt, dass wir in einer hochreligiösen Welt leben. Einerseits ist der Bedeutungszuwachs von Religion ein weltweiter Trend, andererseits stecken wir in Europa mitten in einer Säkularisierungswelle, deren Ende nicht abzusehen ist. Daraus folgen einige Fragen, mit denen wir uns hier auseinandersetzen: Ist Europa tatsächlich eine Ausnahme: hier Säkularisierung, da weltweiter religiöser Aufbruch? Worin könnten die Gründe dafür liegen, dass Europa seit 300 Jahren einen Säkularisierungsprozess durchläuft? Wohin führt diese Entwicklung? Wird es in Europa eine mehrheitlich atheistische Bevölkerung geben, in der muslimische und christliche Einwanderer religiöse Parallelgesellschaften bilden? Oder schwappt vielleicht die religiöse Welle aus den anderen Kontinenten auch zu uns herein, so dass die Menschen wieder nach Religion fragen und beginnen, ihr Leben danach auszurichten? Wird Europa und insbesondere Deutschland dem Trend der Wiederkehr von Religion widerstehen und seinen Sonderweg weitergehen? Gibt es auch bei uns Anzeichen für ein spirituelles Erwachen, und wie können die Kirchen in Deutschland von einem möglichen wachsenden Interesse an Religion profitieren? Haben die alten Kirchen des Westens eine Zukunft oder werden sie zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen, sich weiter selbst säkularisieren und jungen vitaleren religiösen Bewegungen Platz machen? Könnte es eine dynamische Zukunft des Christentums in Deutschland geben im Angesicht eines schwindenden Interesses am Christentum? Wie muss die Kirche sich wandeln, um für spirituell Offene und Suchende attraktiv zu werden? Vielleicht muss die Kirche sich neu erfinden für Menschen, die nicht in die Kirche gehen?

1.2 RELIGION WIRD EINES TAGES VERSCHWINDEN

Noch in den 1980er Jahren waren sich so gut wie alle Religionssoziologen und Historiker einig, dass mit der Ausbreitung von Bildung, Wohlstand und modernen Lebensformen religiöse Weltsichten mehr und mehr an Überzeugungskraft verlieren und durch wissenschaftlich fundierte, säkulare Weltdeutungen ersetzt werden. Diese sogenannte Säkularisierungsthese besagt, dass in dem Grad, in dem die Modernisierung einer Gesellschaft voranschreitet, auch die Stabilität und Vitalität religiöser Institutionen schwinden. Die Prozesse der Modernisierung wie Industrialisierung, Wohlstandsvermehrung, Demokratisierung, Individualisierung, Alphabetisierung, Urbanisierung, Etablierung sozialer Sicherungssysteme wirkten sich negativ auf das religiöse Bewusstsein aus. Religion – so die Überzeugung jener Zeit – spiegelt eine prämoderne Entwicklungsstufe des menschlichen Denkens wider. Religiöse und metaphysische Vorstellungen werden durch wissenschaftliche Rationalität überwunden und durch diese ersetzt. Kurz: Religion ist altmodisch und wird aus immer mehr Lebensbereichen verdrängt werden. 1968 prognostizierte der Religionssoziologe Peter L. Berger: »Im 21. Jahrhundert wird man religiöse Gläubige möglicherweise nur in kleinen Gruppen finden, wo sie eng zusammengedrängt einer weltweiten säkularen Kultur widerstehen.«2

1.3 DIE WENDE IN DER RELIGIONSSOZIOLOGIE

Ging man noch bis fast zum Ende des vorigen Jahrhunderts selbstverständlich davon aus, dass der abnehmende gesellschaftliche Stellenwert von Religion und Kirche eine unausweichliche Entwicklung sei, so machten die globalen religiösen Prozesse diese These immer fragwürdiger und führten zu einem gründlichen Umdenken. Peter L. Berger revidierte seine Überzeugung und schrieb 1999: »Die Annahme, dass wir in einer sich säkularisierenden Welt leben, ist falsch. Die heutige Welt ist intensiv religiöser geworden, und in einigen Regionen mehr als je zuvor. Das bedeutet, dass sich eine ganze Abteilung, die von Historikern und Sozialwissenschaftlern geschrieben wurde, lose zusammengefasst unter der Bezeichnung ›Säkularisierungstheorie‹, grundsätzlich geirrt hat.«3 Ähnlich der kanadische Religionswissenschaftler Peter Beyer: »Es scheint offenkundig, dass die Vorstellung von der Säkularisierung als etwas, wo die Religion allen gesellschaftlichen Einfluss und Bedeutung verliert, auf die globale Gesellschaft als Ganzes keine Anwendung findet. In der Tat sind nur wenige Beobachter willig, die Hypothese zu verteidigen, dass wir, global gesprochen, in einer säkularisierten Gesellschaft leben.«4

Heute setzt sich in der Sozial- und Geisteswissenschaft der Konsens durch, dass die Grundannahmen der Säkularisierungsthese nicht zu halten sind. Einige Religionssoziologen lehnen die Säkularisierungsthese grundsätzlich ab. Sie sei eurozentrisch, eindimensional, deterministisch und fortschrittsgläubig. Andere sprechen sich für eine Modifizierung der These aus. Um Säkularisierungsprozesse zu verstehen, müsse man stärker die historischen Entwicklungen berücksichtigen, die mit dafür verantwortlich sind, dass die Relevanz von Religion zunimmt oder schwindet, wie das zum Beispiel in Europa der Fall ist.

1.4 SÄKULARISIERUNGSPROZESSE VERSTEHEN

Was beinhaltet eigentlich der Säkularisierungsprozess? Peter L. Berger hat den Säkularisierungsbegriff scharf definiert: »Wir verstehen darunter einen Prozess, durch den Teile der Gesellschaft und Ausschnitte der Kultur aus der Herrschaft religiöser Institutionen und Symbole entlassen werden. Wenn wir von Gesellschaft und Institutionen der modernen abendländischen Geschichte sprechen, verstehen wir Säkularisierung natürlich als Rückzug der christlichen Kirchen aus Bereichen, die vorher unter ihrer Kontrolle oder ihrem Einfluss gestanden haben. Wenn wir jedoch von Kultur und Symbolen sprechen, implizieren wir, dass es sich um mehr als einen soziostrukturellen Prozess handelt. Säkularisierung wirkt sich auf die Totalität des kulturellen Lebens und der Ideation aus und lässt sich am Verschwinden religiöser Inhalte aus den Künsten, der Philosophie und Literatur sowie – und dies ist am wichtigsten – am Aufkommen der Naturwissenschaften als autonome, durch und durch säkulare Weltsicht beobachten. Mehr noch, wir implizieren, dass der Säkularisierungsprozess auch eine subjektive Seite hat. Wie eine Säkularisierung der Kultur und Gesellschaft, so gibt es auch eine Säkularisierung des Bewusstseins. Das heißt also, dass mindestens in Europa und den Vereinigten Staaten heutzutage eine ständig wachsende Zahl von Menschen lebt, die sich die Welt und ihr eigenes Dasein auch ohne religiösen Segen erklären können.«5 Man kann die Auswirkungen des Säkularisierungsprozesses in drei Punkten beschreiben:

Erstens: Staat, Kultur, Recht, Wissenschaft und Moral entziehen sich der Dominanz und Einflussnahme religiöser Institutionen. Das geschah in Deutschland in vielen Schritten. Meilensteine dieser Entwicklung waren die Abschaffung des staatlichen Taufzwanges und die Einführung der Zivilehe nach Gründung des Deutschen Reiches 1871 und vor allem die längst fällige Trennung von Thron und Altar nach dem Ersten Weltkrieg. Seitdem sind Staat und Kirche offiziell getrennt, obgleich es weiter viele Verzahnungen gibt.

Zweitens: Religiöse Überzeugungen und Praktiken befinden sich auf dem Rückzug. In der Tat lassen eine Reihe von Faktoren den Schluss zu, dass die gesellschaftliche Gestaltungskraft der beiden großen Kirchen schwindet. Trotz aller Bemühungen »gegen den Trend zu wachsen« (so der Titel eines Impulspapiers der evangelischen Kirche) schrumpfen die Kirchen noch schneller als die Bevölkerung. Viele Menschen können mit dem überlieferten kirchlichen Glauben samt seinen Riten nichts mehr anfangen. Sie nennen sich Atheisten, Agnostiker oder einfach nur Unreligiöse und wohnen vor allem in Europa. Jedes Jahr verlassen knapp 300.000 Menschen die Evangelische Kirche in Deutschland. Bei den Katholiken sind die Zahlen etwas niedriger. Viele sehen keinen Sinn darin, eine ihnen fremde Institution mitzufinanzieren. Hinzu kommt, dass die sie umgebende Kultur eine Kirchenzugehörigkeit immer weniger stützt. Andere verlassen die Kirche, weil sie das, was sie an Spiritualität und Sinn suchen, in der Kirche nicht finden. Durch den demographischen Wandel und durch die steigende Zahl von Kirchenmitgliedern, die ihre Kinder nicht taufen lassen, ist mit einem weiteren Rückgang der Zahl der Kirchenmitglieder zu rechnen. In dem Reformpapier der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) »Kirche der Freiheit« von 2006 wurde prognostiziert, dass die Zahl der evangelischen Kirchenmitglieder bis zum Jahr 2030 auf etwa 17 Millionen zurückgehen wird. Ab etwa 2017 wird sich dieser Abwärtstrend auch auf die Kirchensteuereinnahmen auswirken, die bis 2030 um bis zu fünfzig Prozent geringer ausfallen werden.6 Das ist kein deutsches Phänomen. In vielen anderen Ländern Europas kann man einen signifikanten Rückgang der Kirchenmitgliedschaft feststellen. Freikirchen sind von diesen Erosionsprozessen nicht ausgenommen. Vor allem die traditionellen Freikirchen klagen über erhebliche Mitgliederverluste. Indes gibt es eine Reihe von neuen Freikirchen, die sich über großen Zulauf freuen. Die Säkularisierung beschränkt sich aber nicht nur auf die äußerliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution. Überzeugungen, die für den Glauben konstitutiv sind, verblassen, wie zum Beispiel der Glaube an einen persönlichen Gott oder an ein Leben nach dem Tod, so wie die Kirche es lehrt. Auch die kirchlich-rituelle Praxis schwächt sich ab. So wird in Europa der regelmäßige Gottesdienstbesuch seltener, die Menschen beten auch privat weniger und traditionelle kirchliche Sexualmoralvorstellungen finden immer schwerer Anhänger. Überhaupt gehört eine christlich begründete Grundübereinstimmung in der Gesellschaft inzwischen der Vergangenheit an. Noch vor einhundert Jahren teilten die Menschen unserer Kultur einen großen Schatz an gemeinsamen Überzeugungen wie z.B. Gott der Schöpfer, Jesus, der Inbegriff für Mitmenschlichkeit und Werte, die Zehn Gebote als anerkannte Richtschnur für das Verhalten, der barmherzige Samariter als Modell sozialen Miteinanders. Die Zeit, in der die Gesellschaft automatisch auf christlichen Werten basierte, läuft aus. In den Medien werden christliche Überzeugungen als veraltet, überholt und reformbedürftig apostrophiert. Gleichzeitig werden die Versuche vor allem von evangelischen Kirchenvertretern, das Christentum an die Entwicklungen unserer Zeit anzupassen, verhöhnt oder zumindest nicht ernst genommen. Die christliche Glaubensvermittlung in Elternhaus und Schule ist weitgehend weggebrochen. Kinder werden nicht mehr wie früher in den Glauben »hineingeboren«. Im Gegenteil, der Glaube erscheint ihnen als eine fremde Welt, in die sie erst mühsam durch Jugendleiter, Pfarrer, Konfirmandenunterricht, Jugendkirche hinein sozialisiert werden. Christliche Überzeugungen werden schon heute nur von einer Minderheit geteilt. Obgleich (noch) weit über 50% der Menschen in Deutschland einer Kirche angehören, können sich doch nur wenige Kirchenmitglieder mit zentralen Aussagen des christlichen Glaubens identifizieren, wie sie z.B. im apostolischen Glaubensbekenntnis zusammengefasst sind. Zwar bezeichnen sich die meisten Kirchenmitglieder als religiös, »definieren aber den Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus«, wie eine Sinus-Studie 2013 unter deutschen Katholiken ergab.7 Bei Protestanten dürfte die Zahl derer, die mit der christlichen Kernbotschaft etwas anfangen können, noch geringer ausfallen. In den beiden großen Kirchen ist eine Light-Version des Glaubens der Mainstream, von der Basis bis hin zu den kirchenleitenden Amtsträgern.

Drittens: Religion im öffentlichen Raum wird immer mehr zurückgedrängt. Die schwindende Zahl der Kirchenmitglieder reduziert den Einfluss der Kirche in der Gesellschaft. Glaube ist Privatsache geworden. Spiel und Genuss, Konsum und Freizeit werden zu primären Zielen des Lebens und zum Religionsersatz. Die Kirchen hierzulande haben sich schleichend damit abgefunden, dass sie immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt werden. Das liegt nicht nur daran, dass sie immer kleiner werden. Der christliche Glaube scheint an Attraktivität in weiten Teilen der Bevölkerung abzunehmen. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann beobachtet eine »Verdunstung« des christlichen Glaubens als gesellschaftlich relevante Größe in Europa. Ein ganzer Kontinent ist dabei, sich von seinem geistlichen und damit langfristig auch von seinem geistig-moralischen Fundament zu verabschieden.8

1.5 VIER WELTANSCHAULICHE FELDER

Man kann in Deutschland unter weltanschaulich-religiöser Perspektive vier grundsätzliche Bereiche ausmachen:

Da ist zum einen das Feld des traditionellen Christentums in katholischer, protestantischer oder freikirchlicher Gestalt. In diesem Feld spielen Kirche, konservative Werte, die christliche Tradition, kirchliche Kultur, klassische Gottesdienste (auch die Freikirchen haben Gottesdienstmodelle, die für sie klassisch sind) eine verbindende Rolle. Dieser Bereich wird gestärkt durch Zuzug aus Polen, Afrika, Südamerika und Indien, besonders dem katholischen Kerala.

Dann gibt es das atheistisierende Feld, in dem sich Menschen bewegen, die aus sehr unterschiedlichen Beweggründen heraus eine Existenz Gottes verneinen oder zumindest die Frage danach ablehnen. Sie verstehen sich als Areligiöse, Atheisten, neue Atheisten, Agnostiker oder einfach nur Skeptiker. Nicht wenige sind zu einer atheistischen Grundüberzeugung gekommen, weil sie durch die Begegnung mit einem falschen oder vergifteten Gottesbild den Glauben ablehnen. Andere führen naturwissenschaftliche Gründe, wieder andere das Leid der Welt an.

Einen dritten Bereich bilden die Muslime. Es gibt nicht den Islam, genauso wenig wie es das Christentum gibt. Vielmehr bilden die Muslime eine heterogene Gruppierung, die sowohl radikale Islamisten umfasst wie auch gemäßigte und liberale Gläubige. Allerdings ist der Anteil der sogenannten Hochreligiösen in dieser Gruppe immens.

Und schließlich viertens ist die Gruppe der Spirituellen zu nennen: Menschen, die religiös sind, vielleicht sogar regelmäßig beten, ein spirituelles Weltbild haben, die sich aber nicht an organisierte Religionsformen binden.

Während die erste Gruppe, das traditionelle Christentum, abnimmt, wachsen die Felder Atheismus, Islam und spirituell Offene.

Wie ist es eigentlich um die Zukunftsfähigkeit der Kirche in Deutschland bestellt? Schaut man auf die zurückgehenden Mitgliederzahlen, die Finanzentwicklung und auf die immer wieder diagnostizierte schwindende Relevanz des christlichen Glaubens in Kirche und Gesellschaft, so sehen die Prognosen für die Zukunft dieser ehrwürdigen Institution eher düster aus. Wenn die Kirche weiter als prägende Größe in der Gesellschaft mitwirken will, dann kommen Herausforderungen auf sie zu, die einen Umbau erforderlich machen.

2. RELIGIÖSES ERWACHEN?

2.1 EINE IMMER RELIGIÖSERE WELT

Schaut man von Europa weg, so bekommt man das Bild einer zunehmend religiösen Welt. Global boomt Religion in einem für europäische Geister unvorstellbaren Maße. Die Prognose, dass in einer modernen Gesellschaft Religion sowohl kulturell als auch politisch an Bedeutung verliert und sich selbst säkularisiert, hat sich als falsch erwiesen oder bedarf zumindest einer radikalen Modifikation. Betrachtet man die religiösen Entwicklungen seit 1990 in den meisten Ländern der Erde, so liegt der Schluss nahe, dass der von vielen prophezeite Siegeszug des Säkularismus eine Fehlprognose war und die alte Säkularisierungsthese global gesehen widerlegt ist. In fast allen Teilen der Welt boomt Religion wie nie zuvor, besonders auch das Christentum. Nur in Europa wirkt es eigenartig müde und überaltert.

Gerade Gesellschaften, die stark im Aufschwung sind und einen intensiven Modernisierungsprozess durchlaufen, öffnen sich dem christlichen Glauben. Ausgerechnet in China, einem immer noch irgendwie kommunistischen Land, ist das Christentum eine Bewegung geworden, die Millionen erfasst. China hat heute mit einem Anteil von schätzungsweise 10% Christen die wahrscheinlich kraftvollste und bald größte christliche Kirche der Welt. Während es noch zur Zeit der sogenannten Kulturrevolution (1966–1976), in der die Christen grausam verfolgt wurden, gerade knapp 2 Millionen Christen gab, wuchs die Zahl auf heute schätzungsweise 100 Millionen. Besonders in den Städten und unter der akademischen Elite ist der Glaube attraktiv geworden. Das Mercator Institute for China Studies prognostiziert für das Jahr 2030 ein Wachstum der Kirche auf 200 Millionen Christen.9 Diese Zahl ist auch insofern bedeutsam, als dass Kirchenmitgliedschaft (sowohl in einer offiziellen Kirche als auch in einer Untergrundkirche, Hauskirchen genannt) tatsächlich etwas über Glaube und Glaubenspraxis aussagt. Das Phänomen europäischen Christentums, dass viele Kirchenmitglieder in innerlicher und äußerlicher Distanz zu Glaube und Kirche leben, ist in China so gut wie unbekannt. Das gilt auch für andere asiatische Kirchen (wie z.B. Südkorea) und für die meisten afrikanischen Kirchen.

Das explosive Wachstum der protestantischen Kirchen in Südkorea zeichnet ein ähnliches Bild. In den fünfziger Jahren war Südkorea ein rückständiges Agrarland. Der Anteil von Protestanten an der Bevölkerung betrug gerade ca. 3%, Katholiken ca. 2,5%. Im Jahre 2010 wurde das Christentum mit einem Anteil von 29% der Gesamtbevölkerung zur größten Religionsgemeinschaft des Landes, davon 18,3% Protestanten. Damit ist die Zahl der Christen um mehr als das Zweihundertfache gestiegen. Dieses unglaubliche Wachstum ging Hand in Hand mit einer umfassenden Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, also genau mit jenen Faktoren, die eigentlich eine Säkularisierung forcieren. Heute gehört Südkorea zu den modernsten und religiösesten Nationen der Welt.10

In Lateinamerika gewinnt man den starken Eindruck, dass sich das religiöse Klima dort nicht abkühlt, wie man es durch die Modernisierung des Kontinents erwarten müsste. Im Gegenteil! Das unglaubliche Wachstum evangelikaler Kirchen, vor allem pfingstlich-charismatischer Prägung, verdeutlicht, dass man eher von Desäkularisierungstendenzen sprechen müsste. In einem Kontinent, in dem die katholische Kirche das Monopol auf Religion hatte, gewinnt eine enthusiastische Form des Protestantismus immer mehr Anhänger. Heute sind rund 20%, also rund 120 Millionen der über 600 Millionen Lateinamerikaner evangelische Christen, die meisten davon Anhänger einer der zahlreichen Pfingstkirchen. In Brasilien zählt man bereits ein Viertel dazu. Der begeisterte Glaube von Brasiliens neuen Frommen flimmert selbst in deutsche Wohnzimmer, wenn die Fußballstars Roberto, Neymar oder Calau vor laufender Kamera die Botschaft »Jesus liebt dich« auf oder unter ihrem Trikot präsentieren oder ein solches Transparent durchs Station tragen. Es gehört zu den allgemeinen Erkenntnissen der religionssoziologischen Untersuchungen, dass sich in Lateinamerika eine Säkularisierung kaum feststellen lässt.

Auch der afrikanische Kontinent ist für säkulare Ideen wenig zugänglich. Das gilt sowohl für den muslimischen Norden als auch für die christliche Mitte und den Süden. Nach dem Ende der Kolonialzeit in den 60ern des 20. Jahrhunderts, also in den Blütejahren der Säkularisierung, kam es zu einer regelrechten Christianisierung von großen Teilen Afrikas. Um 1900 gehörten gerade mal 9% der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. 2010 waren es 57%. Der Islam wuchs im gleichen Zeitraum von 14 auf 29%.11 Der Historiker, Afrika-Kenner und Priester Adrian Hastings bezeichnet die Jahre zwischen 1960 und 1999 als die Zeit, in der »das Christentum möglicherweise seine größte quantitative Ausbreitung erfahren hat«.12 Auch hier sind es vor allem die pfingstlich-charismatischen Kirchen, die eine entscheidende Rolle für das dynamische Wachstum des Christentums spielen. Interessant ist, dass in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts Afrikas Intellektuelle eine gewisse Affinität für marxistisches Gedankengut und dessen Religionskritik hegten. Doch zum Ausgang des Jahrhunderts wandelte sich das Bild vollständig. An den Universitäten boomen die christlichen Studentengemeinden.13 Als ich 2012 eine große Gemeinde in Nairobi /Kenia besuchte, die auf dem Universitätscampus entstanden war, bekam ich einen lebendigen Eindruck von der Vitalität von Religion unter den Studenten. In den Städten Kenias fielen mir außerdem die vielen Kirchen und Gemeindezentren ins Auge, die fast an jeder Ecke und jedem Straßenzug zu finden sind.

Die USA gehören zu den wirtschaftlich-technologisch entwickeltsten Nationen der Erde. Trotzdem belegt das nordamerikanische Land in Sachen Religiosität Spitzenplätze. Trotz eines leichten Rückgangs der Kirchenmitgliedschaft und des Gottesdienstbesuches in den letzten Jahren erklären 2010 immer noch 59%, dass ihnen Glaube sehr wichtig ist, und 62% der Befragten, dass es einen Gott gibt. Über ein Drittel der Amerikaner besucht wöchentlich einen Gottesdienst.14 Der Religionswissenschaftler Michael Bergunder fasst es so zusammen: »Die hohen Werte bei der Erfragung von religiösen Überzeugungen und kirchlich-rituellen Praktiken zeigen, dass sich eine innere Säkularisierung empirisch nicht nachweisen lässt. Wenn sich Religion und Moderne nicht vertragen, müssten in den USA, der führenden Industrienation, besonders deutliche Säkularisierungstendenzen sichtbar werden. Dies ist aber nicht der Fall.«15 Allerdings deuten sich inzwischen auch in den USA Säkularisierungstendenzen an. Das ist für Religionssoziologen wie Detlef Pollack ein Indiz dafür, grundsätzlich an der Säkularisierungsthese, wenn auch in veränderter Form, festzuhalten. Wir gehen im nächsten Kapitel noch einmal auf die USA ein.

In diesem Kapitel haben wir uns mit der Fragestellung befasst, ob Säkularisierung ein globales Phänomen ist. Dabei haben wir den Fokus vor allem auf das Christentum gelegt. Das weltweite religiöse Erwachen aber kann man auch im Islam, Buddhismus, Hinduismus, in den Stammesreligionen, esoterischen und New-Age-Kulten etc. beobachten. Auch hier verhalten sich Modernisierung der Gesellschaft und Säkularisierung eher umgekehrt proportional. Das sind auch die Forschungsergebnisse der in Havard und Oxford lehrenden Politologin Monica Toft. In ihrem 2012 erschienenen Buch »God’s Century« kündigt die amerikanische Wissenschaftlerin die machtvolle Rückkehr von Religion in die Weltpolitik an. Gottes Jahrhundert ist angebrochen. Auch der Westen wird von diesem Trend erfasst werden. Sie benennt drei Faktoren, die für den Aufstieg von Religion verantwortlich sind: Modernisierung, Demokratisierung und Globalisierung. Das sind die gesellschaftsformierenden Kräfte, die gemäß der Säkularisierungsthese den umgekehrten Effekt haben müssten.16

2.2 GRÜNDE FÜR DAS WELTWEITE BOOMEN VON RELIGION

Mir begegnet bei vielen durchaus gescheiten Leuten eine unglaubliche Unkenntnis über das globale Erstarken von Religion. Das Phänomen, dass es weltweit ein religiöses Erwachen gibt, nimmt man in Deutschland höchstens beim Islam wahr. Das ist durch den weltweiten islamistischen Terror, der nun auch in Europa angekommen ist, unvermeidlich. Aber dass Religion allgemein und speziell auch das Christentum weltweit in einer atemberaubenden Dynamik an Bedeutung gewinnt, haben viele unserer europäischen Zeitgenossen noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Für sie ist die alte Säkularisierungsthese vom Rückgang der Religion mit dem Grad der Modernisierung eine gegebene Tatsache, die sie als unreflektierte Überzeugung verinnerlicht haben. Wenn sie aber mit der Realität einer weltweiten Renaissance von Religion in Berührung kommen, dann reiben sie sich verwundert die Augen und fragen nach den Gründen. Woran liegt es eigentlich, dass in globaler Perspektive Religion »in« ist? Was führt zu ihrem Erstarken? Welche Bedingungen machen Religion attraktiv? Die publizistische und religionssoziologische Landschaft zu diesem Thema ist reich und unübersichtlich. Hier soll versucht werden, die wichtigsten und vielleicht einleuchtendsten Gründe aufzuzeigen.

Enttäuschte Hoffnungen

Man kann sich heute kaum noch vorstellen, welche euphorischen Hoffnungen einst mit der Modernisierung der Gesellschaft verknüpft waren. Industrialisierung, Wissenschaft, Bildung, Demokratisierung und technologischer Fortschritt sollten endlich Armut, Aberglaube, Krankheit, Hunger, Abhängigkeit und Unterdrückung für immer beseitigen. Man erblickte schon die Morgendämmerung einer neuen Welt, in der der Mensch frei, gesund, gebildet, wohlhabend, selbstbestimmt und religionsfrei lebt. John Lennons »Imagine« von 1971 war die Hymne dieser Hoffnung: »Nothing to kill or die for. And no religion, too. Imagine no possessions. No need for greed or hunger. A brotherhood of man.«

Doch das 20. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem neue säkulare Ideen das Antlitz der Erde positiv verändern sollten, ist gleichzeitig eine Epoche der grausamsten Szenarien, welche dieser Planet je gesehen hat: Kriege mit Millionen Toten, millionenfacher Massenmord an Völkern und Menschengruppen, brutalste Unterdrückung durch religionsfeindliche Weltanschauungen. Die Idee, dass eine religionsfreie Welt eine bessere sei, hat sich als tragische Illusion erwiesen. Der Publizist und Gründer des Politmagazins »Cicero« Wolfram Weimer nennt in seinem Büchlein »Credo« das Versagen säkularer Ideen als auslösenden Faktor für das Comeback von Religion in das Bewusstsein der Weltbevölkerung. »Das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.«17 »Die kulturelle und intellektuelle Pervertierung des Fortschrittsglaubens in entgöttlichten, radikal-diesseitigen Ideologien beendete, zunächst unbewusst, zunehmend dann auch reflektiert den Säkularisierungsprozess, weil dieser seine moralische Integrität verloren hatte.«18

Das Pendel schlägt vom Atheismus als destruktive Leitidee zurück zur Religion. Im intellektuellen Diskurs wird das Thema Religion wieder hoffähig. Jürgen Habermas – für viele der bedeutendste Philosoph der Gegenwart – schreibt, »dass einer zerknirschten Moderne nur noch die religiöse Ausrichtung auf einen transzendenten Bezugspunkt aus der Sackgasse verhelfen kann«19. Der atheistische Materialismus der säkularen Moderne ist ein zu enger Rahmen, um unsere komplexe und widersprüchliche Welt philosophisch zu beschreiben.

Religion als Motor für positive gesellschaftliche Transformationsprozesse

Die Rolle der Kirchen in der Vergangenheit war im Hinblick auf den Umgang mit Diktaturen, Menschenrechten, Rassismus, Sklaverei, Antisemitismus oft widersprüchlich, ja mitunter ausgesprochen problematisch. Das Sündenregister der christlichen Kirchen ist lang. Sie gerieten in den Ruf, Modernisierungsverweigerer zu sein, Diktaturen zu unterstützen, Antisemitismus zu fördern, Rassismus zu tolerieren und patriarchalische Herrschaftsformen zu stützen. Auch der deutsche Protestantismus trat in seiner dunkelsten Ära für rassistische Positionen und Praktiken ein.