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Als der Privatdetektiv John Kaiser den Auftrag annimmt, die Bestandteile eines antiken Schmuckensembles – einer Grande Parure – wieder zusammen zu tragen, ahnt er noch nicht, worauf er sich einlässt. Seine Recherchen führen ihn quer durch zweihundert Jahre europäischer Geschichte, und so ist Johns ganzer Einsatz gefragt – und seine ganz spezielle Begabung ...
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Seitenzahl: 179
Veröffentlichungsjahr: 2022
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1. Hamburg, 15.05.2020, 16:30
2. München, 18.05.2020, 15:25
3. Hamburg, 19.05.2020, 15:45
4. Hamburg, 19.05.2020, 18:00
5. Hamburg, 20.05.2020, 23:00
6. Hamburg, 21.05.2020, 09:30
7. Saarbrücken, 02.08.1870, 06:55
8. Hamburg, 22.05.2020, 16:30
9. Hamburg, 23.05.2020, 17:00
10. Hamburg, 23.05.2020, 19:30
11. Neuenfelde, 31.12.1913, 13:54
12. Neuenfelde, 25.05.2020, 15:00
13. Hamburg, 25.05.2020, 18:35
14. Mogadischu, 18.10.1977, 02:07
15. Hamburg, 26.05.2020, 05:40
16. Mogadischu, 17.10.1977, 22:05
17. Köln-Müngersdorf, 28.10.1977, 14:30
18. Hamburg, 28.05.2020, 10:45
19. Hamburg, 27.07.1943, 23:38
20. Hamburg, 28.07.1943, 05:00
21. Hamburg, 29.05.2020, 10:15
22. Bern, 04.07.1954, 18:39
23. Hamburg, 29.05.2020, 10:39
24. Hamburg, 13.04.1962, 08:35
25. Hamburg, 29.05.2020, 11:40
26. Kampen, 27.10.1977, 10:05
27. Köln-Müngersdorf, 28.10.1977, 14:25
28. Kampen, 08.04.2018, 11:38
29. Venedig, 08.12.1994, 20:45
30. Hamburg, 29.05.2020, 12:35
31. Hamburg, 02.06.2020, 10:48
32. Hamburg, 05.10.2020, 10:30
Dramatis Personae
Weitere Atlantis-Titel
Die Reifen des dunkelblauen Tesla knirschten auf dem schneeweißen, säuberlich geharkten Kies, als der Wagen vor dem Haupteingang der vornehmen Villa der Familie Alberts zum Stehen kam.
Hans Palaschke griff nach seiner ledernen Aktentasche, die hinter ihm auf dem Rücksitz lag. Als er sie zu sich ziehen wollte, verteilte sich ihr Inhalt im Innenraum des Fahrzeugs. Palaschke fluchte. Er hatte diesen blöden Schnappverschluss doch zugemacht! Wozu kaufte man eigentlich teure Markenware, wenn die genau so schnell kaputtging wie der Ramsch aus dem Supermarkt?
Grummelnd klaubte er die Papiere, die er mitgebracht hatte, wieder zusammen und stopfte alles zurück an seinen Platz.
Er war noch nicht ganz damit fertig, als er ein feines Prasseln über sich vernahm. Palaschke sah auf.
»Na großartig!«
Ein feiner Regen hatte eingesetzt und wurde mit jeder Sekunde stärker. Palaschke konnte zusehen, wie die spärlichen Tropfen in wenigen Augenblicken zu einem ausgewachsenen Landregen anschwollen. Den adrett gepflegten Park, welcher die Villa und den davor parkenden Tesla umgab, sah er nur noch durch einen dichten Vorhang aus Wasser. Irgendwo in der Ferne rollte ein lang gezogener Donner wie ein dumpfer Trommelwirbel über den Himmel.
Palaschke schüttelte den Kopf. Heute hatte sich anscheinend alles gegen ihn verschworen. Er war den ganzen Weg von Köln nach Hamburg vor dieser Unwetterfront hergefahren und ausgerechnet jetzt, nur fünf Schritte vor dem Ziel, hatten ihn die Gewitterwolken eingeholt. Wie gut, dass er immer einen Regenschirm und seinen Trenchcoat im Auto hatte …
»Mist, verdammter!«
… im Kofferraum.
Palaschke konnte unmöglich den Schirm und den Mantel holen gehen. Der Weg um das Auto herum war genau so weit wie der Weg zur Tür der Villa. Sobald er einen Fuß aus dem Wagen setzte, würde er von oben bis unten durchnässt sein und er wollte weder den Termin mit seiner Mandantin nass bis auf die Knochen wahrnehmen noch seinen neuen Maßanzug ruinieren. Auf das Ende des Schauers warten konnte er auch nicht. Bei seiner Pechsträhne heute konnte es Stunden dauern, bis es wieder aufklarte.
Kurz entschlossen betätigte er den Anlasser und hupte zweimal.
Eine halbe Minute verging, ohne dass etwas geschah. Palaschke wollte gerade erneut hupen, als sich die Tür der Villa öffnete und ein junger Mann in der Livree eines Butlers erschien, der ihm zuwinkte, einen großen schwarzen Regenschirm aufspannte und damit an die Fahrerseite des Wagens eilte.
»Na bitte, warum nicht gleich so?« Palaschke öffnete die Autotür.
»Guten Tag, Herr Palaschke!«, begrüßte ihn der Butler. »Hatten Sie eine gute Fahrt?«
Palaschke winkte ab. »Der übliche Stau zwischen Osnabrück und Bremen, Stefan. Aber wenigstens war zu Hause das Wetter besser als hier bei Ihnen.«
Stefan zuckte mit den Achseln, während Palaschke den Tesla abschloss. »Das Wetter war den ganzen Tag eigentlich ganz schön.«
»Verstehe. Bis ich gekommen bin.«
Der junge Mann machte ein betretenes Gesicht. »Das wollte ich damit nicht sagen, Herr Palaschke.«
»Natürlich nicht.«
Sie beeilten sich, ins Haus zu kommen. Der Butler schüttelte den Schirm aus und stellte ihn zurück in den Schirmständer. »Einen Moment bitte, Herr Palaschke. Frau Alberts empfängt sie in ein paar Minuten.«
Palaschke runzelte die Stirn. »Ich bin ein wenig spät dran. Wir waren eigentlich schon für sechzehn Uhr verabredet.«
»Gewiss«, nickte Stefan. »Sie erwartet Sie auch schon. Sie ist nur ein wenig – wie soll ich sagen? – unpässlich. Sie hat ihre Medikamente nehmen müssen und sich einen Moment hingelegt, während sie auf Sie gewartet hat. Wenn Sie einen Moment im Salon warten möchten?« Der Butler öffnete die Tür zu einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer. Palaschke trat ein und nahm in einem bequemen Ledersessel Platz.
»Darf ich Ihnen etwas bringen? Kaffee oder ein Glas Wasser?«
Palaschke kämpfte gegen den Impuls an, nach einem Tee zu fragen. Im Haus der Seniorchefin einer der ältesten und traditionsreichsten Kaffeeröstereien Deutschlands um einen Tee zu bitten, kam in den Augen von Wilhelmine Alberts bestimmt einer Majestätsbeleidigung gleich. Aber da er es sich mit seiner besten Mandantin nicht verscherzen wollte, stellte er seine persönlichen Präferenzen zurück. »Kaffee wäre prima, danke. Entkoffeiniert.«
»Selbstverständlich. Kommt sofort.« Der Butler machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein.
Palaschke schloss für einen Moment die Augen und genoss die ihn umgebende Stille. In all den Jahren, in denen er die Interessen der Familie Alberts vertrat, hatte er Momente wie diesen immer sehr genossen – die Augenblicke der Ruhe vor einem Gesprächstermin im Salon der Villa, wo nichts zu hören war außer dem Ticken der Standuhr, dem Knistern des Kaminfeuers und dem Prasseln der Regentropfen gegen die Scheiben des Wintergartens. Insgeheim wünschte er sich auch so ein Haus, aber leider reichte es bei ihm nur für ein Apartment im Kölner Stadtteil Kalk. Die beiden Scheidungen hatten seinen Kontostand nachhaltig beeinflusst. Nun ja, wenigstens lief die Kanzlei gut – unter anderem dank potenter Mandanten wie der Familie Alberts.
Nach einigen Minuten der Entspannung kehrte der Butler mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem eine Tasse mit schwarzem Kaffee einladend dampfte. Daneben standen ein winziges silbernes Milchkännchen und ein noch winzigerer Silberteller mit zwei Stück Würfelzucker. Er stellte das Tablett auf dem Tischchen vor dem Kamin ab. »Frau Alberts ist in fünf Minuten bei Ihnen.«
»Danke sehr.« Palaschke ließ den Würfelzucker in dem Kaffee verschwinden und nippte daran. Mit der Tasse in der Hand ging er im Salon auf und ab, bewunderte die Ölgemälde und die Teppiche, die Holzvertäfelungen und die kostbaren antiken Eichenmöbel. Die Familie Alberts wusste, wie man sich vornehm einrichtete.
Eine helle Frauenstimme riss ihn aus seinen Tagträumen. »Hansi!«
Palaschke drehte sich um. Es gab nur einen Menschen auf der Welt, der ihn trotz seiner mittlerweile sechzig Jahre noch immer mit Hansi ansprach. Er hasste nichts mehr, als so genannt zu werden, doch solange sie seine Rechnungen pünktlich bezahlte, machte er gute Miene zum bösen Spiel. Er schluckte seinen Stolz herunter und lächelte seine Mandantin freundlich an. »Frau Alberts!«
Wilhelmine Alberts stand in der Tür des Salons und hielt ihm die Hand zum Handkuss hin. Klein, faltig und inzwischen über neunzig Jahre alt, aber noch immer mit einem überaus wachen Geist und einem messerscharfen Verstand gesegnet, war sie die Seniorchefin der Hanseatischen Kaffee Compagnie und Matriarchin des Alberts-Clans, jener schon sprichwörtlich reichen Kaffeerösterfamilie, die seit Generationen die Geschicke der Hansestadt Hamburg mitbestimmt hatte.
Palaschke deutete eine Verbeugung an, die ihm dargebotene Hand geflissentlich ignorierend. »Schön, mal wieder in Hamburg zu sein. Sie sehen gut aus, Frau Alberts.«
»Du bist spät dran, Hansi. War viel Verkehr unterwegs?« Die alte Dame schlurfte an Palaschke vorbei und ließ sich schwer in das samtbezogene Sofa vor dem Kamin fallen.
»Kann man wohl sagen. Diese ewigen Baustellen …« Der Anwalt nahm wieder in seinem Sessel Platz und legte seine Aktentasche in seinen Schoß. »Und wie geht es Ihnen so?«
Sie seufzte theatralisch. »Mein Arzt sagt, ich soll derzeit nicht unter Leute gehen, solange dieses neuartige Virus im Umlauf ist. Im Betrieb läuft alles recht gut. Die Leute trinken auch in Zeiten von Pest und Pandemie ihren Kaffee, jetzt eben nicht mehr im Büro, sondern im … wie sagt man das auf Neudeutsch? Im Homeoffice. Ich soll dich übrigens ganz lieb von Jürgen grüßen.«
Palaschke heuchelte Verzücken. Jürgen Alberts, Wilhelmines Neffe, war der Geschäftsführer der Familienunternehmens und mit Abstand die unsympathischste Person, mit der Palaschke jemals geschäftlich zu tun gehabt hatte. Einer der wenigen Vorteile der derzeitigen Pandemie und den damit einhergehenden neuartigen Abstandsregeln war, dass der Anwalt jetzt nicht mehr in die Verlegenheit kam, Jürgen Alberts die Hand geben zu müssen. Mit dem feuchtkalten Händedruck des Mannes assoziierte Palaschke immer unwillkürlich tote Fische. »Danke. Schönen Gruß zurück.«
»Wie ich sehe, hattest du schon einen Kaffee. Möchtest du noch einen?«
Palaschke hob abwehrend die Hände. »Nein, danke.«
»Wie du meinst.« Die alte Dame orderte bei ihrem Butler eine Tasse Kaffee für sich. Die Zeit bis zu Stefans Rückkehr überbrückten Palaschke und seine Mandantin mit Small Talk. Dann, als Wilhelmine Alberts ihren Kaffee umrührte, öffnete Palaschke seine Aktentasche. »Ich denke, ich habe die Lösung für Ihr Problem.«
»Wirklich?« Wilhelmine setzte ihre Tasse ab. »Ich wusste gar nicht, dass ich ein Problem habe.«
Palaschke runzelte die Stirn. Hatte die alte Dame etwa schon wieder vergessen, worum sie ihn bei seinem letzten Besuch kurz vor Weihnachten gebeten hatte? »Die Grande Parure«, soufflierte er.
Wilhelmines Gesicht hellte sich auf. »Die Grande Parure!«, echote sie. »Du meinst wirklich, da kann man etwas machen?«
»Man kann.« Der Anwalt griff in seine Aktentasche und holte einen zerfledderten Stoß Papiere hervor. Ehe er seine Unterlagen auf dem Couchtisch ausbreitete, atmete er noch einmal tief durch. »Bevor ich Ihnen das hier zeige, muss ich Sie um äußerste Diskretion bitten.«
Wilhelmine blinzelte überrascht. »Natürlich.«
»Ich meine, was ich Ihnen jetzt sage und zeige, muss unbedingt unter uns beiden bleiben. Kann ich mich darauf verlassen?«
Die alte Dame lächelte verschmitzt. »Soll ich auf die Bibel schwören?«
Palaschke schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein. Hauptsache, Sie halten mich nicht für völlig übergeschnappt, wenn Sie gehört haben, was ich Ihnen erzählen will.«
»Aber Hansi, du weißt doch: ›Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt‹«, dozierte Wilhelmine. »Nun spann mich doch nicht so lange auf die Folter.«
»Schön.« Er drehte den ersten Bogen Papier um und legte ihn vor Wilhelmine Alberts auf den Tisch. Es handelte sich um das Foto eines unscheinbar wirkenden Mannes von dreißig oder vierzig Jahren. Es schien aus großer Entfernung und heimlich aufgenommen worden zu sein, wie der Schnappschuss eines Paparazzos. »Darf ich vorstellen: John Kaiser. Privatdetektiv aus Berlin. Und möglicherweise der einzige Mensch auf der Welt, der Ihnen helfen kann.«
Wilhelmine studierte das Bild. »Ein hübscher Bursche. Was ist denn jetzt so speziell an ihm?«
Palaschke schürzte die Lippen. »Ich habe in der Vergangenheit schon mal mit ihm zu tun gehabt. Der Mann spürt Beweismittel mit einer unheimlichen Präzision auf, wie ich es noch nie erlebt habe. Das Seltsame daran ist, dass er sein Zimmer dabei nicht verlässt.«
Wilhelmine ließ das Foto sinken. »Bitte?«
»Ich kann es nicht erklären«, seufzte Palaschke. »Er schließt sich in sein Zimmer ein, dann kommt er nach ein paar Stunden wieder heraus und der Fall ist gelöst.«
Wilhelmine nippte an ihrem Kaffee. »Ich habe in den Achtzigern mal Yoga gemacht. Meinst du, das ist auch so eine Art Meditation, was er macht?«
»Keinen Schimmer. Aber was immer er macht, es scheint zu funktionieren. Sonst würde ich mich gar nicht trauen, es Ihnen gegenüber zu erwähnen.«
Wilhelmine leerte ihre Tasse in einem Zug und stand auf. »Einen Versuch ist es wert. Bring den Herrn Kaiser doch mal her.«
Palaschke wies auf sein Smartphone. »Wir könnten ihn erst mal anrufen oder mit ihm skypen.«
»Nein, bring ihn her. Ich will mir selbst ein Bild von diesem Detektiv machen.«
Ein Ruck ging durch die Linienmaschine, als die Räder die Landebahn des Flughafens Franz-Josef Strauß berührte. Die Triebwerke heulten auf, die Maschine bremste ab und rollte allmählich aus.
Wenigstens fliegen sie noch, dachte Hans Palaschke und faltete die Morgenpost, in der er auf dem knapp einstündigen Flug von Hamburg nach München geblättert hatte, säuberlich zusammen.
Die Kabine war so gut wie leer. Während die Flugbegleiterin die wenigen Passagiere anwies, noch so lange angeschnallt auf den Plätzen sitzen zu bleiben, bis das Flugzeug seine endgültige Parkposition erreicht hatte, schaltete Palaschke bereits wieder sein Smartphone ein, um seine Voicebox abzuhören. Acht Anrufe in Abwesenheit, fünf hinterlassene Nachrichten, davon drei von seiner Sekretärin Gabi. Nichts Wichtiges, Gott sei Dank …
Erfreulicherweise konnten sie direkt am Terminal andocken und durch einen der schlauchartigen Tunnel das Flugzeug verlassen. Palaschke hasste es, nach einem Flug erst noch mit einem Bus quer über das Rollfeld zum Terminalgebäude gebracht zu werden, und so war er froh, wenigstens hier ein paar Minuten zu sparen.
Noch mehr kostbare Zeit sparte er dadurch, dass er wie immer nur mit Handgepäck reiste und nicht noch eine halbe Stunde am Gepäckband auf seinen Koffer warten musste.
Nachdem er einen BMW gemietet hatte – zu seinem Bedauern hatte die Leihwagenfirma, bei der er Stammkunde war, keinen einzigen Tesla mehr da –, verließ er damit das Flughafengelände und fuhr auf die Autobahn A 92 Richtung Stadtmitte.
Natürlich hatte es während des Feierabendverkehrs einen Auffahrunfall in Höhe Garching gegeben und so stand Palaschke eine Stunde im Stau, ehe er endlich die Stadt erreichte. Er passierte die Allianz-Arena, schlängelte sich zwischen einer Flut von Taxis vor dem Hauptbahnhof vorbei und stellte seinen Leihwagen schließlich in der Nähe des Sendlinger Tors ab.
Zu Fuß legte er den kurzen Weg zur Landwehrstraße zurück, wo er seinen heutigen Gesprächspartner zu treffen hoffte. Der Anwalt hatte eigentlich gehofft, noch im Hellen dort einzutreffen, aber nun dämmerte es bereits und Palaschke war ein wenig mulmig zumute. Es war in diesen Zeiten kein Vergnügen, zu reisen und unter Leute zu gehen. Er hoffte, den Termin schnell hinter sich bringen und anschließend wieder in die Sicherheit seines Zuhauses – oder zumindest seines Büros – zurückkehren zu können.
Palaschkes Weg führte ihn vorbei an Imbissbuden, Sexkinos und Spielhallen. Was in den darüber liegenden Etagen für Gewerbe betrieben wurde, wollte Palaschke lieber gar nicht wissen. Er beschleunigte seine Schritte, als einige Angetrunkene ihn misstrauisch beäugten.
Schließlich erreichte er das Hotel Rialto, ein mit knallbunten Graffiti verunziertes Gebäude, welches zwischen einem winzigen Geschäft für türkische Brautmoden und einem verräucherten kleinen Café lag, aus dem laute Musik von Bob Marley drang. Palaschke öffnete die Tür und betrat das Foyer.
Zu seiner Überraschung schien im Rialto die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Wände waren holzvertäfelt oder mit dunkelgrünen Stofftapeten bespannt, an den Wänden leuchteten kleine Gaslampen und unter der Decke hing ein schwerer Kristallleuchter. Alles wirkte sehr hochwertig und vornehm für ein Hotel, das bestenfalls zwei Sterne verdiente. Lediglich der bärtige Mann an der Rezeption erinnerte Palaschke daran, wo er sich befand. Untersetzt, tätowiert und gepierct, passte er eher auf den Sattel einer Harley Davidson als in die Empfangshalle eines Hotels. Er nippte an einer Coladose und sah von der Lektüre eines Herrenmagazins auf, als der Anwalt eintrat.
»Wir haben geschlossen«, brummte er. »Oder sind Sie geschäftlich unterwegs?«
»Guten Abend!« Palaschke trat näher und rückte seinen Mund-Nasen-Schutz zurecht. »Ich möchte gerne zu Herrn Kaiser.«
Der Tätowierte zuckte mit den Schultern. »Ja, und?«
Palaschke stutzte. »Herr Kaiser ist doch Gast bei Ihnen, oder etwa nicht?«
»Schon möglich.« Widerwillig schlug der Tätowierte ein ledergebundenes Buch auf, das zweifellos ein Register der Hotelgäste beinhaltete. »Johann Kaiser, oder?«
»Genau der.« Der Anwalt seufzte erleichtert. Zwar nannte sich Kaiser meistens John, aber in seiner Geburtsurkunde und seinem Personalausweis stand Johann. Er war also an der richtigen Adresse. »Wo finde ich ihn?«
»Zimmer siebenundzwanzig. Zweiter Stock.«
»Danke.«
Die winzige Aufzugkabine brachte Palaschke in einem Tempo in die zweite Etage, die ihn wünschen ließ, doch besser die Treppe genommen zu haben. Nach einer halben Ewigkeit hielt der Fahrstuhl mit einem Furcht einflößenden Quietschen an und Palaschke beeilte sich, die winzige Kabine zu verlassen. Er hatte noch nie in seinem Leben unter Klaustrophobie gelitten, aber Fahrstühle wie dieser hier würden ihm eines Tages noch ein Trauma bescheren.
Der Korridor, an dem die Zimmer lagen, war genau so altmodisch eingerichtet wie das Foyer. Das untere Drittel der Wände war mit dunklem Holz vertäfelt, darüber reichten blutrote Stofftapeten bis zur Decke. Ein dicker roter Teppich dämpfte Palaschkes Schritte.
Während er nach dem richtigen Zimmer suchte, kam er an mehreren Türen vorbei, aus denen mehr oder weniger unterdrücktes Stöhnen und das rhythmische Quietschen von Bettfedern drang. Palaschke ging schmunzelnd weiter. Offenbar waren doch einige Gäste geschäftlich hier. In was für ein Etablissement hatte Kaiser sich da nur verkrochen?
Vor dem Zimmer mit der Nummer siebenundzwanzig blieb Palaschke stehen. Er überprüfte rasch den Sitz seiner Krawatte, ehe er an die Tür pochte.
Nichts geschah.
Palaschke wartete eine Minute, ehe er noch einmal klopfte.
Wieder machte ihm niemand auf. Palaschke sah auf seine teure Armbanduhr. Es war doch eigentlich gar nicht so spät; konnte es sein, dass Kaiser bereits schlief?
Er wollte gerade ein weiteres Mal anklopfen, als er Schritte hörte und die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde.
»Qu’est-ce que vous voulez?«
Palaschke stutzte. Französisch? Hatte man ihn etwa doch falsch informiert? Oder war das lediglich ein Ablenkungsmanöver? »Pardon«, murmelte er verlegen, »mein Name ist Palaschke. Ich suche John Kaiser. Bin ich hier richtig?«
Das Innere des Zimmers war dunkel und der Anwalt konnte den Mann nicht sehen, der hinter der Tür stand. »Je ne comprends pas.«
Palaschke wandte seufzend die Augen zur Decke. »Hören Sie, Herr Kaiser, ich weiß, dass Sie da drin sind. Ich komme extra Ihretwegen aus Hamburg. Es geht um viel Geld.«
Die Antwort war eine lange Pause. Der Mann hinter der Tür schien doch so viel Deutsch zu verstehen, dass er über das Gesagte nachdachte. Wenigstens hatte er nicht sofort wieder die Tür zugeknallt, dachte Palaschke. »Wenn Sie nicht interessiert sind, kann ich ja wieder gehen.«
»Warten Sie!«
Die Zimmerbeleuchtung wurde eingeschaltet und die Tür weit geöffnet. Der Mann, der dort stand und eine großkalibrige Smith & Wesson auf den Anwalt richtete, war etwa vierzig Jahre alt, dunkelhaarig und durchtrainiert. Ein dunkler Schatten auf seinem Kinn zeugte davon, dass seine letzte Rasur einige Tage zurücklag. Seine großen braunen Augen starrten Palaschke anklagend an. »Herr Palaschke.«
»Guten Abend!« Palaschke blickte fragend auf die Waffe. »Ist das wirklich notwendig?«
John Kaiser zuckte gleichgültig mit den Schultern, dann sicherte er den Revolver und steckte ihn zurück in sein Schulterhalfter. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
»Darf ich reinkommen?«
»Wo Sie schon mal da sind.«
Palaschke folgte Kaiser in sein unaufgeräumtes Hotelzimmer. Das Bett war zerwühlt und ein Blick auf Kaisers zerknautschte Garderobe bestätigte den Verdacht, dass er angezogen darin geschlafen hatte. »Ich würde Ihnen gerne was anbieten, Herr Palaschke, aber ich fürchte, die Minibar ist leer.«
»Lassen Sie’s gut sein. Wahrscheinlich war sowieso kein Kölsch dabei.« Der Anwalt nahm in einem zerbrechlich aussehenden Rattansessel Platz und öffnete seine Aktentasche. Mit spitzen Fingern zog er ein Bündel Hunderteuronoten hervor. »Wissen Sie, was das ist?«
Kaiser warf einen hungrigen Blick darauf. »Eine gute Art, meine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
»Sie machen auf mich den Eindruck, als hätten Sie schon mal bessere Zeiten gesehen«, sagte Palaschke. Er deutete auf den gähnend leeren Kleiderschrank. »Sie reisen mit leichtem Gepäck, residieren in so einer Absteige, vernachlässigen Ihr Äußeres … was ist nur aus dem erfolgreichen, aufstrebenden Privatdetektiv geworden, den ich mal kannte?«
Kaiser setzte sich auf die Bettkante und warf Palaschke einen vernichtenden Blick zu. »Den gibt es nicht mehr. Den haben Sie kaputt gemacht.«
Palaschke schluckte seine Antwort hinunter. Bei ihrer letzten Begegnung vor fünf Jahren hatten sich die beiden Männer vor Gericht gegenübergestanden. Kaiser hatte in dem Fall überraschende Beweismittel aufgetrieben, welche die Unschuld des Angeklagten belegten. Palaschke, der den Nebenkläger vertrat, hatte den Privatdetektiv daraufhin in den Zeugenstand berufen und ihn über die Herkunft der Beweise ausgefragt. Kaiser hatte den Fehler begangen, die Aussage nicht zu verweigern. Sein Versuch, seine Ermittlungsmethoden zu erklären, hatte beim vorsitzenden Richter für Fassungslosigkeit gesorgt. Er hatte Kaisers Integrität als Zeuge und Ermittler infrage gestellt und die rettenden Beweise letztlich nicht zugelassen. Nachdem seine Recherchen als unprofessionell und »esoterisch« abgestempelt worden waren, gab es niemanden mehr, der mit Kaiser noch geschäftlich zu tun haben wollte – zumindest niemand, der noch etwas auf seinen Ruf hielt. Palaschke konnte verstehen, dass Kaiser nicht gut auf ihn zu sprechen war. Doch wenn er in gewissem Sinne eine Mitschuld daran trug, dass Kaiser in der Gosse gelandet war, so hatte er nun die Möglichkeit, dem gestrauchelten Ermittler wieder auf die Beine zu helfen.
»Hören Sie«, sagte er in versöhnlichem Tonfall, »es tut mir leid, was damals passiert ist. Wenn ich damals geahnt hätte, dass die ganze Sache so aus dem Ruder läuft, hätte ich Sie nicht in den Zeugenstand gerufen.«
»Schönen Dank auch«, bemerkte Kaiser trocken. »Sind Sie jetzt fertig?«
»Das hier«, Palaschke legte das Bündel Banknoten auf den Tisch, »ist für Sie. Zweitausend Euro, nur damit Sie mich ausreden lassen.«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
Kaiser grinste schief. »Okay, Sie haben meine Aufmerksamkeit, Herr Palaschke. Dann lassen Sie mal hören.«
»Nun gut.« Der Anwalt faltete die Hände. »Es geht um einen Auftrag für eine meiner Mandantinnen. Wir müssen etwas wiederbeschaffen, das ihr gehört und abhandengekommen ist. Und dafür brauchen wir jemanden mit Ihren besonderen Fähigkeiten.«
Kaiser sah ihn erwartungsvoll an. »Und?«
