Grandhotel Schwarzenberg – Der Weg des Schicksals - Sophie Oliver - E-Book
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Grandhotel Schwarzenberg – Der Weg des Schicksals E-Book

Sophie Oliver

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Beschreibung

Bad Reichenhall, 1905. In dem exklusiven Kurort in den bayerischen Alpen verliebt sich die junge Anna Gmeiner in den Salzsieder Michael. Beide wünschen sich ein besseres Leben. Michael beschließt, sein Glück in der Ferne zu suchen und Anna nachzuholen. Doch dann geschieht ein schreckliches Verbrechen und Anna ist gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten. Zwischen Salzbaronen, Hoteliers und reichen Kurgästen aus aller Welt muss sie sich ihren Platz im mondänen Bad Reichenhall erkämpfen.

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin:

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Die Figuren der Handlung

Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1905

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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1906

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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1907

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Bad Reichenhall, Königlich Bayerisches Staatsbad 1911

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Glossar

Nachwort und Dank

Weitere Titel der Autorin:

Das Erbe von Gullrock Hall

Der Sommer der Oliven

Mein kleines Café in Primrose Hill

Über dieses Buch

Bad Reichenhall, 1905. In dem exklusiven Kurort in den bayerischen Alpen verliebt sich die junge Anna Gmeiner in den Salzsieder Michael. Beide wünschen sich ein besseres Leben. Michael beschließt, sein Glück in der Ferne zu suchen und Anna nachzuholen. Doch dann geschieht ein schreckliches Verbrechen und Anna ist gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten. Zwischen Salzbaronen, Hoteliers und reichen Kurgästen aus aller Welt muss sie sich ihren Platz im mondänen Bad Reichenhall erkämpfen.

Über die Autorin

Geboren und aufgewachsen in Bayern, verließ Sophie Oliver nach dem Abitur ihre Heimat, um zu studieren und die Welt zu erkunden. Mittlerweile ist sie zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und lebt mit Familie und Hund auf dem Land. Sophie liebt die bunte Vielfalt, Schräges genauso wie Schönes sowie »all things British«. Ihre Lebensneugierde drückt sie in ihren Romanen und Kurzgeschichten aus, wobei sie sich darüber freut, in verschiedenen Genres schreiben zu dürfen.

Sophie Oliver

Der Weg des Schicksals

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Covergestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-6886-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für meine beiden Großmütter

Die Figuren der Handlung

Johann Gmeiner, Häusler und Trifter an der Saalach

Christoph Gmeiner, sein Sohn, Trifter

Anna Gmeiner, seine Tochter

Therese Bauer, Küchenchefin im Café Flora

Hertha, Annas Freundin, Küchengehilfin im Café Flora

Michael Schwarzenberg, Salinenabeiter

Leonhard Achleitner, Bürovorsteher in der Saline

Mathilde Mandling, seine Haushälterin

Veit Talhofer, Sauhändler

Konrad von Feil, Salinenmeister

Hedwig von Feil, seine Frau

Katharina von Feil, ihre Tochter

Brunhilde Weberbauer, Köchin

Adele, Hausmädchen

Albrecht, Hausdiener

Gernot, Torwächter, Gärtner, Kutscher und Hausmeister

Friedrich Bahlow, Berliner Geschäftsmann

Gertrud Fischer, Katharinas Freundin

Thomas Fischer, ihr Bruder

Ferdinand Hofmeister, Berliner Geschäftsmann

Margot Hofmeister, seine Frau

Bad Reichenhall,Königlich Bayerisches Staatsbad1905

1

Der viel zu rasche Beginn des Frühlings brachte nicht nur den Kreislauf mancher Bürger des Königlich Bayerischen Staatsbads Reichenhall durcheinander, sondern auch die Natur. Alles befand sich im Umbruch. Warme Winde ließen den Schnee flugs dahinschmelzen, sogar an den Schattenhängen der Berge, wo er sich sonst oft bis nach Ostern hielt. Palmkätzchen übertupften die Weidenbäume mit ihren flauschigen Knospen und lockten Bienen und Hummeln mit der Verheißung von frischer Nahrung an. Ein weiß-blauer Bilderbuchhimmel spannte sich über Wiesen und Felder, für den Johann Gmeiner in diesem Moment kein Auge hatte.

»Anna!«, rief er vom Ufer der Saalach in Richtung des kleinen Hauses, in dem er mit Tochter und Sohn lebte. »Sie kommen! Beeil dich, das Wasser fließt schnell heute, sonst sind sie durch!«

Drinnen rannte Anna Gmeiner die Treppe zu ihrer Kammer hinauf und knöpfte dabei ihr Kleid auf. Hastig schob sie es von den Schultern, ließ es zu Boden fallen und griff nach Hose und Hemd. Ein knöchellanger Rock aus Wollstoff würde sie im Fluss hinunterziehen wie Blei. Für das, was sie vorhatte, war es besser, Männerkleidung zu tragen. Barfuß und so schnell sie konnte lief sie über die Wiese zum Ufer und watete hinein ins eisige Wasser. Bei den ersten Schritten hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde bersten. Die Kälte zwickte auf ihrer Haut wie tausend Nadelstiche. Lange würde sie das nicht aushalten. Ihr Vater warf ihr eine Holzstange mit einem Eisenhaken zu, und gemeinsam gingen sie in Stellung. Anna sah die ersten Stämme an der Flussbiegung auftauchen. Allesamt maßen sie etwas weniger als einen Meter, mit scharf angespitzten Enden. Sie wartete, bis einer davon in ihre Reichweite kam, wich seiner Spitze im unruhig dahinfließenden Wasser aus, schlug geübt den Haken ins Holz und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Strömung. Unter ihren Füßen rutschte der Kies, für einen Moment drohte sie den Halt zu verlieren, aber dann behauptete sie sich und zog mühsam ihre Last ans Ufer, das letzte Stück half ihr Vater. Der erste der Stämme war geborgen. Sofort wateten sie erneut hüfttief ins Wasser und fischten weitere Hölzer aus der Saalach, bis Johann Gmeiner schließlich verkündete: »Das reicht, Anna. Mehr nehmen wir nicht.«

Dankbar nickte sie ihm zu, denn mittlerweile spürte sie ihre Beine kaum noch.

»Du bist ja völlig durchgefroren, Kind«, sagte ihr Vater und strich ihr liebevoll übers Haar. »Deine Lippen sind schon dunkelblau. Geh hinein und setz dich an den Ofen, damit du nicht krank wirst. Ich komme gleich nach.«

Anna warf einen letzten Blick auf die zahlreichen Baumstämme, die wie eine Herde brauner Krokodile den Fluss hinuntertrieben, weiter bis nach Bad Reichenhall, wo die Männer der Saline schon darauf warteten. Im Winter hatten Holzknechte die Stämme in den Wäldern des benachbarten Salzburger Landes geschlagen, und gefährlich wie Krokodile waren sie nun auch zu bergen. Mit ihren scharfen Spitzen und der Wucht, mit der sie heranschossen, konnten sie einen Menschen leicht umreißen und verletzen.

Die Gmeiners hatten es einmal mehr geschafft, sich Brennholz zu sichern. Laut Gesetz stand ihnen das zu. Mit dem Klausschein durften die Anrainer der Saalach sich Holz für den Eigenbedarf abfischen – dieser Schwund war den Salinenbehörden durchaus bekannt und fiel nicht weiter ins Gewicht. Vielmehr kam es den Betreibern der Saline darauf an, dass die Trifter und Holzknechte ihre Arbeit gut verrichteten und beim Einsetzen der Schneeschmelze die Stämme über Klausbäche und Flüsse in Richtung Reichenhall trieben. Die dortigen Sudhäuser, in denen das Salz gewonnen wurde, verschlangen Unmengen Holz, waren gefräßige, nimmersatte Ungeheuer.

»Hier, Vater, ich hab uns einen Tee gekocht, und die Suppe steht schon auf dem Feuer«, sagte Anna, als Johann endlich in die Stube trat. Auch seine Lippen hatten wegen der Kälte eine ungesund dunkle Farbe angenommen, und die nassen Hosen klebten ihm an den Beinen. Anna hatte sich bereits umgezogen und hielt ihrem Vater ein Handtuch hin. Nachdem er sich ebenfalls trockene Kleidung angezogen hatte, setzte er sich auf die hölzerne Bank vor den Kachelofen und rieb sich die Hände. »Ich muss wieder Gefühl in die Finger bekommen, auch wenn ich nicht glaube, dass ich das Holz heut noch weiterverarbeiten kann. Das Eiswasser plagt mich von Jahr zu Jahr ärger.«

Anna reichte ihm eine Tasse mit dampfendem Tee. »Jetzt wärmst du dich erst mal auf«, bestimmte sie. »Danach helfe ich dir.«

»Was würde ich nur ohne dich machen, Anna?«, seufzte Johann Gmeiner und sah seine Tochter dankbar an. Für ihre siebzehn Jahre war sie groß und kräftig gebaut, was ihr beim Holzfischen zugutekam. Ihr dunkelblondes Haar, das, wenn die Sonne darauf fiel, wie Waldhonig schimmerte, trug sie meist zu einem dicken Zopf geflochten. In Annas blauen Augen lag eine erwachsene Ernsthaftigkeit, die einem Leben in Armut und dem frühen Tod der Mutter geschuldet war. Wortlos schöpfte sie dampfende Suppe aus dem Topf in zwei Teller und stellte sie auf den Küchentisch. Dann schnitt sie Brot von einem Laib, und ihr Vater sprach das Tischgebet. Schweigend nahmen die beiden ihr einfaches Mahl zu sich.

»Wann kommt Christoph nach Hause?«, fragte sie schließlich, als Johann Gmeiner den Löffel beiseitelegte.

Annas älterer Bruder war vor ein paar Wochen mit den anderen Triftern aus Bad Reichenhall hinüber ins Österreichische gegangen, um das Holz, das über den Winter mithilfe von Steinsperren in den Bächen gestaut worden war, freizuschlagen und auf den Weg in die Stadt zu schicken.

»Ich hab noch nichts gehört«, erwiderte ihr Vater. »Aber es kann nicht mehr lange dauern. Weil es so schnell warm geworden ist, mussten sich die Männer dieses Jahr beeilen. Ein Großteil der Stämme ist schon durch, er kommt bestimmt bald zurück.«

Den restlichen Tag verbrachten sie mit Arbeiten im Haus, da sie beide nach dem Aufenthalt im eisigen Wasser kaum mehr warm wurden.

Am nächsten Morgen machten sie sich daran, ihre Ausbeute vom Flussufer über die Wiese hinauf in den Garten zu schleppen und mit Säge, Axt und Keilen in Holzscheite zu zerteilen. Anna stapelte die zerkleinerten Stücke an der überdachten Wand des Schuppens geschickt zu einer ordentlichen Zeile, die über den Sommer trocknen musste, bevor das Brennholz im kommenden Winter verfeuert werden konnte. Gerade dachte sie daran, ihrem Vater eine Pause vorzuschlagen, da sah sie, wie sich auf dem Weg, der von der Stadt herführte, zwei Männer näherten. Der Kleidung nach waren es Holztrifter. Über ihre Hosen hatten sie eine Art ledernes Tuch wie eine Schürze geknotet, dazu trugen sie Hemden und Westen und Hüte mit einer schmalen Krempe. Der hochgewachsene Christoph mit seinem flachsblonden Haar war nicht bei ihnen.

Ein beklemmendes Gefühl stieg in Anna auf. Rasch griff sie nach dem silbernen Kreuz, das sie an einer Kette um den Hals trug, und drückte es beschwörend, wie um nahendes Unheil abzuwehren. Aber natürlich ließ sich Geschehenes nicht durch ein Stoßgebet verhindern. Zu selten waren Annas Fürbitten bisher erhört worden, als dass sie auf eine glückliche Schicksalsfügung vertrauen würde. Auch Johann schien zu ahnen, weshalb sie kamen. Er bekreuzigte sich hastig, nachdem er das Beil ein letztes Mal mit bitterer Endgültigkeit auf den Hackstock hatte hinabsausen lassen.

»Grüß Gott, Johann. Grüß Gott, Anna.« Die beiden Neuankömmlinge nahmen ihre Hüte ab und drehten sie in den Händen.

»Hans, Richard, grüß euch Gott. Seid ihr schon zurück aus dem Österreichischen?«, fragte Johann Gmeiner. Anna vermochte kein Wort hervorzubringen. Richard, der jüngere der beiden, nickte nur, ohne aufzusehen, und überließ seinem Kollegen die schwere Aufgabe, die Nachricht zu überbringen.

»Wir kommen wegen … wegen Christoph.« Hans fasste sich schließlich ein Herz. »Es hat leider einen Unfall gegeben.«

»Wo?«

»An der Muckbachklause. Dort hatte sich ein Fuchs gebildet, und Christoph wollte die Stämme freischlagen. Dabei ist er ausgerutscht und ins Wasser gestürzt.«

Wenn sich die Holzstämme in den reißenden Wildbächen verkeilten und Haufen bildeten, hinter denen sich alles anstaute, wurde das Fuchs genannt. Mutige Männer mussten dann das Holz mit Stangen entwirren – eine Aufgabe, die schon viele mit dem Leben bezahlt hatten. Daher durften nur unverheiratete junge Burschen als Trifter arbeiten, zu gefährlich war es für Familienväter, die Frau und Kinder zu ernähren hatten. Weder Anna noch ihr Vater mussten fragen, ob Christoph tot war. Niemand, der in schnell fließendes Eiswasser fiel, in dem sich neben Felsen angespitzte Holzstämme auftürmten, überlebte. In der Wallfahrtskirche Maria Kirchental drüben im Salzburger Land hing zwar die eine oder andere Votivtafel, die vom glücklichen Überstehen derartiger Unfälle berichtete, aber Anna wusste von keinem tatsächlichen Fall.

»Wo ist er?«, fragte Johann tonlos.

Nun schlug auch Hans die Augen nieder, und es vergingen lange Augenblicke, bevor er leise weitererzählte. »Christoph hat den Fuchs beseitigt, die Stämme sind nur so an uns vorbei den Bachlauf hinuntergeschossen. Sie haben ihn mitgerissen. Es war die letzte Klause vor der Einmündung in den Fluss.«

»Das heißt, mein Bub wurde in die Saalach geschwemmt und ist tot an unserem Haus vorbeigetrieben, ohne dass wir es bemerkt haben? Dann finden sie ihn wahrscheinlich erst an der Rechenanlage in Bad Reichenhall.«

Anna schluchzte laut auf und rannte ins Haus. Ihr Bruder würde nicht mehr heimkommen, er war verschwunden, und falls der Fluss ihn nicht doch nicht freigab, was keine Seltenheit war, würden sie einen leeren Sarg zu Grabe tragen müssen. Weinend warf sie sich auf ihr Bett. Am liebsten wäre sie für immer in ihrer Kammer geblieben und hätte sich der Welt draußen nie wieder gestellt.

Das war natürlich unmöglich. Dinge mussten erledigt werden, Arbeit wollte verrichtet werden, das tägliche Überleben musste gesichert werden. Christoph als Hauptversorger der Familie fiel nun weg. Sein Lohn hatte für das Auskommen der Gmeiners gesorgt, dennoch befanden sie sich am unteren Ende der Bad Reichenhaller Gesellschaft. Sie waren weder Bauern noch Stadtbürger, sondern besaßen nur ein Sacherl am Fluss, ein bescheidenes Häuschchen mit kleinem Garten und Stadel.

In der Stadt, die sechs Jahre zuvor zum Königlich Bayerischen Staatsbad erhoben worden war, versammelten sich von jeher Geld und Einfluss. Eine Welt, von der die Gmeiners weit entfernt waren. Zuerst war es der Salzhandel gewesen, der den Leuten viele Jahrhunderte lang Reichtum beschert hatte, nun schossen palastartige Villen wie Pilze aus dem Boden, und ein internationales Publikum flanierte durch Parks und Straßen. Es galt als schick, sich zur Kur nach Bad Reichenhall zu begeben und seine Zeit in Bädern und Sanatorien zu verbringen. Alpenluft, Solewasser, Bergpanorama und die Gesellschaft Gleichgestellter schienen den feinen Leuten gutzutun. Ebenso wie der Stadtkasse. Jeden Tag sah Anna die schönen Damen in ihren eleganten Kleidern, und jeden Tag schwor sie sich, irgendwann eine von ihnen zu sein. Sie würde sich niemals mit dem Platz im Leben abfinden, den ihr das Schicksal durch den Zufall der Geburt angedachte. Armut und Hunger zwangen ihre Familie zu einem täglichen Überlebenskampf, bei dem Menschen, die Anna liebte, zu Tode kamen. Sie sehnte sich nach Wohlstand, nicht wegen des Ansehens, sondern wegen der Sicherheit.

2

Unweit von Johann Gmeiners Häuschen und gleichzeitig Welten entfernt, thronte Burg Schönegg über der Saalach, eine kleine Festung und der Familiensitz derer von Feil.

Von ihrem Fenster im Turmzimmer hatte Katharina von Feil einen herrlichen Ausblick. Jahr um Jahr beobachtete sie die Holzfischer unten im Fluss. In der anderen Richtung konnte sie bis zur Saline sehen, in der ihr Vater, Konrad von Feil, als Salzmeier die Geschäfte führte. Seit Generationen leiteten die von Feils die Saline und waren in Bad Reichenhall überaus angesehen.

An diesem Abend kam ihr Vater später als sonst und sichtlich aufgewühlt nach Hause. Nachdem er Mantel und Hut abgelegt hatte, zog er ein Taschentuch hervor und fuhr sich über den kahlen Schädel, auf dem Schweißperlen standen. Konrad von Feil gehörte zu jenen unglücklichen Männern, die bereits in der Blüte ihrer Jahre sämtliche Haarpracht auf dem Kopf eingebüßt hatten, dafür spross es überall sonst am Körper. Er ging hinüber in den Salon des Erdgeschosses, der für eine alte Burg erstaunlich mondän möbliert war, und goss sich aus einer Kristallkaraffe Kräuterlikör in ein kleines Glas. Katharina beobachtete ihn dabei, wie er den Vorgang wiederholte, einmal und zweimal, dann seufzte er laut.

»Was ist geschehen, Papa?«, fragte sie ihn.

Er tupfte mit dem Taschentuch über seinen üppigen, dunklen Schnauzbart und sah sie aus müden Augen an. »Einer der Trifter ist verunglückt. Sie haben ihn unten an der Rechenanlage, wo das Wasser langsamer wird und die Stämme gesammelt werden, aus der Saalach gefischt. Sein Vater und seine Schwester haben ihn eben mit einem Handkarren geholt. Ein junger Bursche, kaum zwanzig Jahre alt.«

Katharina goss ein weiteres Gläschen ein und reichte es ihm. »Gräm dich nicht, Papa. Der Mann kannte die Gefahr, und das Gleiche gilt für seine Familie.«

»Das macht den Verlust für die Angehörigen nicht leichter«, erwiderte von Feil.

»Sie werden es verkraften. Diese einfachen Leute sind meist recht robust. Viel wichtiger ist, dass du dich ein wenig ausruhst, bevor unser Gast erscheint. Du weißt doch, wie bedeutend der heutige Abend für Mama und mich ist.«

Mit väterlicher Nachsicht tätschelte Konrad von Feil die Hand seiner Tochter und ließ sich von ihr zur Tür hinaus und in Richtung Treppe schieben. Schweren Schrittes stieg er in den ersten Stock hinauf. Katharina hingegen setzte ein munteres Lächeln auf und rief nach dem Hausmädchen.

»Adele! Wo ist Mama?«

Die junge Frau knickste und teilte ihrer Herrschaft mit, dass sich die gnädige Frau unten im Ort befinde und in einer halben Stunde zurückerwartet werde. Als wäre es ihre Schuld, dass Hedwig von Feil noch nicht im Hause war, bedachte Katharina die arme Adele mit einem unleidlichen Blick und schickte sie wieder hinaus. Hätte man sie gefragt, welche Augenfarbe das Mädchen hätte oder ob ihr Haar glatt oder lockig wäre, Katharina hätte es nicht zu sagen vermocht, so wenig Notiz nahm sie vom Personal. Unruhig lief sie im Raum auf und ab, hielt dann vor dem goldgerahmten Spiegel inne, der über einer Kommode hing, und prüfte kritisch ihr Aussehen. Das blassrosa Kleid mit dem hochgeschlossenen weißen Kragen bildete einen ansprechenden Kontrast zu Katharinas kunstvoll aufgesteckten kupferfarbenen Locken und der blassen Haut. Sie war schön, und sie wusste es. Allerdings nicht so atemberaubend wie ihre Mutter, von der sie Haarfarbe und Figur geerbt hatte.

»Gut, dass du das rosa Kleid trägst«, hörte sie in diesem Moment deren Stimme von der Tür her.

Katharina fuhr herum. »Mama. Ich dachte, du kommst erst später.«

»Ich war doch geschwinder mit meinen Erledigungen fertig, als gedacht.« Schwungvoll zog Hedwig von Feil eine Hutnadel aus ihrem eleganten Ausgehhut und warf ihn nachlässig auf einen Sessel. Dann schritt sie an ihrer Tochter vorbei in Richtung ihrer Räume und rief über die Schulter zurück: »Unterwegs habe ich Frau Geheimrat Stockenhuber aus Wien getroffen. Sie ist gerade aus Paris zurückgekehrt und hat mir erzählt, dass Gelb die Farbe der Saison ist. Rosa geht auch noch. Du hast also gut gewählt.« Damit entschwand sie und ließ ihre Tochter allein zurück.

Erst zum Abendessen im Speiseraum der von Feils, der eher einem Rittersaal ähnelte, tauchte sie wieder auf. Katharina staunte. Ihre Mutter hatte es in der Kürze der Zeit geschafft, ein Kleid in duftigem Teerosengelb aufzutun, noch dazu eines, in dem sie geradezu vollendet elegant aussah. Aber das war eben Hedwig von Feil – allen anderen stets einen Schritt voraus und auf größtmögliche Außenwirkung bedacht.

Ihr Gast schien beeindruckt, allerdings mehr von der Mutter als von der Tochter, was Katharina mit Schadenfreude erfüllte. Sie kam sich ohnehin wie eine schwer vermittelbare Zuchtkuh auf dem Viehmarkt vor, so viele junge Männer hatte ihre Mutter schon zum Diner geladen. Bei diesem Herrn hier sollte es nun endlich klappen.

Friedrich Bahlow war ein vermögender Geschäftsmann aus Berlin, der erst im vergangenen Jahr nach München übersiedelt war. Vorigen Sommer hatte er während seines Kuraufenthaltes in Bad Reichenhall Konrad von Feil und dessen Familie kennengelernt. Mitte zwanzig, unverheiratet und mit rosigen Zukunftsaussichten, war er geradezu ein Wunschkandidat für Hedwig von Feils Ambitionen.

»Sehr angenehm, Sie wiederzusehen, Fräulein von Feil«, begrüßte er Katharina, nachdem er die Hausherrin ausgiebig mit Komplimenten bedacht und ihr so ungeniert in den Ausschnitt gestarrt hatte, dass Konrad von Feil irritiert eingeschritten war und alle aufgefordert hatte, Platz zu nehmen.

Überhaupt schien Herr Bahlow ein ausgesprochen aufmerksamer Mensch zu sein. Neben ihrer Mutter widmete er sich nicht nur Katharina mit durchdringender Intensität, sondern auch Adele, die dem Hausdiener Albrecht beim Servieren half.

»Ich freue mich ebenfalls«, versicherte Katharina artig. »Bleiben Sie länger in Bad Reichenhall?«

»Nur eine Woche. Ich bin wieder im Hotel Louisenbad abgestiegen, wie beim letzten Mal.«

»Dort ist es gewiss sehr angenehm.«

»Nun ja, ein Landhotel eben, nichts Spektakuläres. Aber die Zimmer sind komfortabel, und die Lage im Ortszentrum ist gut. Allerdings entspricht die Küche nicht ganz meinen Vorstellungen. Viel zu bayerisch, schwer und fettig.«

»Dann müssen Sie unbedingt bei uns speisen, Herr Bahlow«, rief Hedwig von Feil.

Er lächelte sie an. »Das könnte ich unmöglich. Ich will Ihnen nicht zur Last fallen.«

»Aber das tun Sie keineswegs, nicht wahr, Konrad?«

Nun richteten sich sämtliche Augenpaare auf den Hausherrn. »Selbstverständlich sind Sie uns jederzeit herzlich willkommen«, antwortete er höflich, und Katharina meinte, eine gewisse Abneigung aus seiner Stimme herauszuhören.

Als der Hauptgang aufgetragen wurde, flüsterte Herr Bahlow, der neben Katharina saß, ihr zu: »Gilt das auch für Sie, mein Fräulein? Soll ich wiederkommen, damit wir uns ein wenig beschnuppern können?«

»Wenn Sie das Essen im Louisenbad nicht vertragen, helfen wir gerne aus. Schließlich sollen Sie sich nicht den Magen verderben, wo Sie doch auf Kur sind.«

Ihre Mutter würde ihr für diese Antwort die Leviten lesen, aber gottlob hatte sie nichts gehört.

Herrn Bahlows Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er amüsiert. »Es wird mir eine Freude sein. Ihre Frau Mutter erwähnte bereits, dass Sie bisweilen recht unangepasst sind. Ich mag Herausforderungen, ich langweile mich sonst rasch.«

Am liebsten wäre Katharina vom Tisch aufgestanden und davongelaufen, doch sie rief sich zur Räson. Bahlow sah blendend aus, er war groß, schlank und elegant, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und geraden Brauen, aus der Stirn gekämmtem Haar und einem leicht arroganten Zug um den Mund. Genau der Typ Mann, den sicher viele Frauen anziehend fanden. Und bei Weitem der beste Kandidat, den ihre Mutter in den letzten Jahren hervorgezaubert hatte. Es war wohl ratsam, dass Katharina sich ein wenig anstrengte, um ihn für sich zu gewinnen. Dennoch musste sie sich eingestehen, dass die Vorstellung, ihr Leben mit Friedrich Bahlow zu verbringen, einen ganzen Schwall von Ressentiments in ihr aufsteigen ließ.

3

Im Morgengrauen befeuerte Anna den Ofen in der Küche und setzte Wasser auf. Ihr Vater war im kleinen Stall, der an das Haus angrenzte, um die beiden Kühe zu versorgen. Sie kochte einen großen Topf Kartoffeln, schüttete sie in einen Holztrog und gab reichlich Gerstenkleie darüber. Dann übergoss sie alles mit heißem Wasser und stampfte die Kartoffeln mit einem s-förmig gebogenen Haken zu Brei für die Schweine.

Nach den schönen Frühlingstagen hatte es wieder abgekühlt, und Anna empfand die Wärme des Herdfeuers und den wohligen Stärkegeruch des Schweinefutters als angenehm. Sie war müde. Seit Christophs Tod schlief sie schlecht, weil sie beständig an ihn denken musste. Vor ein paar Tagen hatten sie ihn auf dem Friedhof von St. Zeno bei der Klosterkirche beerdigt. Zuvor hatten sie ihn daheim auf seine letzte Reise vorbereitet, ihm den Sonntagsanzug angezogen und die guten Schuhe. Johann hatte das übernommen, damit Anna die Verletzungen an Christophs Körper nicht sah, welche die Stämme und Steine im Fluss hinterlassen hatten. Die Totenwache hatten sie gemeinsam gehalten, mit vielen Vaterunsern und Ave Marias, Tränen und Verzweiflung. Nun lag Christoph neben der Mutter im Grab und würde nie erfahren, wie es war, selbst eine Familie zu haben, Kinder großzuziehen oder alt zu werden.

Anna trug den schweren Trog mit dem Futter hinüber in den Stall und stellte ihn den Schweinen hin, die begierig schnüffelten und sofort zu fressen begannen, obwohl der Brei noch dampfte. Dann half sie ihrem Vater beim Ausmisten. Gerade als sie den letzten vollen Schubkarren auf den Misthaufen geleert hatte, kam der Sauhändler mit seinem Fuhrwerk auf den Hof gefahren.

»Mein herzliches Beileid, Gmeiner«, sagte er zu Annas Vater. »Ich hab‘s schon gehört, das mit dem Christoph. Eine Tragödie.«

Johann Gmeiner nickte mit zusammengepressten Lippen, Anna wusste, es fiel ihm schwer, etwas darauf zu sagen.

»Bist spät dran dieses Jahr mit deinen Schweinen, Talhofer«, bemerkte er stattdessen und deutete auf die Lattenkiste auf dem Gefährt, in der sich einige Ferkel befanden. »Was hast du dabei?«

Der Schweinehändler schien erleichtert, das Kondolieren hinter sich gebracht zu haben und über Geschäftliches sprechen zu können. Er sprang vom Bock des Wagens. Eifrig pries er den Gmeiners die Tiere an, und sie entschieden sich schließlich für zwei Ferkel. Der Preis wurde verhandelt, bezahlt, und Anna trug das Erste in den Stall, als Talhofer launisch anmerkte: »Letztes Jahr hast du drei gekauft. Bist du sicher, dass dir zwei Sauen reichen werden?«

Johann Gmeiner zuckte müde mit den Schultern. »Natürlich wären mir drei lieber. Aber der Lohn von Christoph fällt weg, da müssen wir haushalten und können es uns nicht mehr leisten, drei Schweine zu mästen.«

Anna holte das zweite Ferkel und blieb dann bei den Tieren. Sie mochte diesen Talhofer nicht. Regelmäßig kam er im Frühling zu ihnen, um Geschäfte zu machen. Lange hatte er sie ignoriert, als wäre sie nicht vorhanden, sprach nur mit Vater oder Christoph. Aber seit ein paar Jahren warf er ihr lüsterne Blicke zu, versuchte nicht einmal, anständig zu wirken. Und wenn er ihr die Ferkel aus der Kiste reichte, presste er sich an sie, sodass sein Arm ihre Brust streifte. Er roch widerlich, und aus der Nähe waren seine schwarzen Haare fettig und verklebt und die Zähne gelb. Immer hing der Stummel einer dünnen, krummen Zigarre in seinem Mundwinkel. Weil Anna sich schämte, erwähnte sie gegenüber ihrem Vater nicht, dass sie den Sauhändler für zudringlich hielt. Immerhin sah sie ihn nur einmal im Jahr. Das reichte ihr auch vollauf.

Vor Weihnachten hatten sie ein Schwein geschlachtet, in der Selchkammer hingen noch ein paar Stücke Rauchfleisch. Ein zweites Tier hatten sie verkauft, und die beiden anderen würden sie beizeiten dem Metzger geben müssen, sobald das Geld knapp wurde. Mit nur zwei Ferkeln würden finanzielle Einschränkungen auf sie zukommen, das wussten sowohl Anna als auch Johann, aber es gab keine andere Möglichkeit.

Nachdem sie den Neuankömmlingen zu fressen gegeben hatte, fütterte Anna die Hühner und ging ins Hühnerhaus, um die Eier zu holen. Danach bereitete sie das Frühstück für sich und ihren Vater zu, warme Milch mit ein wenig Salz, in der Stücke von altbackenem Brot schwammen.

»Ich könnte mir in der Stadt eine Anstellung suchen«, schlug sie vor.

Johann hielt inne und ließ den Löffel sinken. »Nein, Kind. Ich brauche dich hier für die Arbeit, gerade jetzt im Frühling ist viel zu tun. Wir werden schon zurechtkommen. Und im Winter frage ich bei den Holzleuten nach, ob ich Christophs Stelle übernehmen kann.«

»Niemals, Vater!« In Annas Ausruf lag all die Angst, die sie schlagartig spürte. »Das ist zu gefährlich.«

Er lächelte sie an. »Meinst du, ich bin zu alt dafür? Früher hab ich viele Jahre beim Triften geholfen, ich kenne mich aus damit.«

»Der Christoph kannte sich ebenfalls damit aus. Trotzdem ist er jetzt tot. Ich will nicht, dass dir auch ein Unglück zustößt.« Tränen schossen ihr in die Augen.

»Also gut«, lenkte er ein. »Wir werden sehen. Ist ja noch lange hin, lass uns nicht mehr davon sprechen. Wie viele Eier haben wir? Morgen ist Markttag, rentiert es sich, sie zu verkaufen?«

»Ja. Die Hühner legen erstaunlich gut in letzter Zeit, ich kann zwei volle Körbe mitnehmen.«

So stand Anna anderntags auf dem Markt in Bad Reichenhall mit dem Rücken an einer Hauswand, vor sich zwei bescheidene Tragen mit Eiern. Da sie keinen richtigen Verkaufstisch besaß, blieb ihr nur ein Platz am Rande des Geschehens, zwischen einem Mädchen, das Weidenkörbe anbot, und einem Scherenschleifer. Begeistert sah sie dem bunten Treiben zu. Sie genoss Momente wie diesen, da sie in ihrem Häuschen an der Saalach nur wenig Ablenkung erfuhr und kaum unter Menschen kam. Einem jeden, der ihr Eier abkaufte, schenkte sie ein strahlendes Lächeln, auch einem kurzen Schwatz war sie nicht abgeneigt, sodass die Zeit geradezu verflog. Zahlreiche Bauern aus dem Umland boten hier auf dem Markt ihre Waren feil, es gab Schmalzgebäck, Käse, Milch, Fleisch, Gemüse und Obst, wobei manche der Winteräpfel schon reichlich schrumplig aussahen und die Lagerrüben ebenso. Erst mit der neuen Ernte würde das Angebot wieder größer werden, bis dahin musste reichen, was vorhanden war. Die Äpfel aus dem Italienischen waren für gewöhnlich früher reif als die hiesigen, doch die Bad Reichenhaller hielten etwas auf sich und ihre Produkte und kauften am liebsten von Einheimischen.

Als es auf Mittag zuging und einige der Verkäufer bereits anfingen, ihre Stände abzubauen, lag nur noch ein Ei in Annas Korb. Eigentlich hätte sie nun nach Hause gehen können, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Ein junger Mann hatte es sich ein paar Meter entfernt auf dem Rand des Brunnens bequem gemacht und beobachtete sie schon seit geraumer Zeit ungeniert. Mit seinem Dreitagebart, den strubbeligen braunen Haaren und dem kantigen Kinn wirkte er widerspenstig, fast ein wenig wild, wie ein junger Wolf. Jedoch sah der Bursche sie so freudig an, dass Annas Herz einen Hüpfer tat. Nun stieß er sich vom Brunnenrand ab und kam auf sie zugeschlendert, die Hände in den Hosentaschen. Der Kleidung nach musste er ein Salzsieder sein. Sein helles Hemd stand am Kragen offen, Jacke trug er keine. Dennoch schien er nicht zu frieren, obwohl es recht frisch war. Als er näher kam, fiel ihr auf, dass die Farbe seiner Augen gleichzeitig blau und grau war, wie der Himmel, wenn er sich nicht zwischen Sonnenschein und Regenschauer entscheiden kann.

Schließlich stand er direkt vor ihr. Anna musste zu ihm aufschauen, so groß war er, größer als die meisten Männer, die sie kannte.

»Was soll das letzte Ei kosten?« Seine Stimme klang tief und ein wenig rau, ein eigentümlicher Ton, der ihr gefiel.

Sie schmunzelte. »Was willst du denn mit einem einzigen Ei?«

»Essen. Du hast ja nur noch eines übrig.«

Sie griff in den Korb und reichte es ihm. Dabei berührten sich ihre Finger. »Ich schenke es dir. Satt wirst du davon eh nicht werden. Hättest früher rüberkommen sollen, anstatt mich nur anzustarren, dann wäre nicht alles ausverkauft.«

»Danke.« Er grinste und steckte das Ei ein. »Es ging nicht schneller, weil du ständig zu tun hattest. Ich wollte aber mit dir allein reden. Ich heiß Michael, Michael Schwarzenberg.« Er streckte ihr die Hand hin, und Anna ergriff sie.

»Anna Gmeiner.«

»Ich habe die ganze Zeit überlegt, Anna Gmeiner, was du dazu sagen würdest, wenn ich dich frage, ob du am Sonntag nach der Kirche einen Spaziergang mit mir machst.«

Rasch ließ sie seine Hand los und strich sich verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du bist ziemlich direkt. Und neu in Bad Reichenhall, oder?«

Er nickte. »Ich arbeite seit drei Wochen in der Saline. Also, was ist, darf ich dich am Sonntag treffen?«

»Ja. Aber nicht nach der Kirche, lieber im Kurgarten.«

Seit dem Tod der Mutter vor fünf Jahren war Anna keine Kirchgängerin mehr. Ihr Vater besuchte den Gottesdienst regelmäßig, verlangte jedoch von seiner Tochter nicht, dass sie ihn begleitete. Dieses ungewöhnliche Verhalten sorgte in der katholischen Bürgerschaft für Stirnrunzeln und hatte dazu geführt, dass Anna der Ruf einer trotzigen Eigenbrötlerin anhaftete, was aber keineswegs der Wahrheit entsprach. Sie fand nur keinen Trost im Glauben. Weder damals noch jetzt, nach Christophs Unfall. Tief in ihrem Herzen war sie überzeugt davon, dass kein Gott und keine Heiligen für sie da waren und dass sie sich selbst helfen musste, falls es ihr schlecht ging. Eine Rettung von oben würde nicht kommen. Freilich durfte sie derlei Gedanken nicht laut äußern.

»Dann warte ich am Eingang des Kurgartens auf dich. Nach dem Elf-Uhr-Läuten«, sagte Michael. Aus seinem Grinsen war ein schüchternes Lächeln geworden, und er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken, das fast schon einer Verbeugung glich.

Sobald er gegangen war, räumte Anne mit zitternden Händen ihre Sachen zusammen. Plötzlich war sie aufgeregt. Noch nie zuvor hatte sie jemand einfach angesprochen und um ein Treffen gebeten. Hätte sie ablehnen müssen? Oder sich wenigstens zieren und nicht sofort zustimmen? Andererseits schien sich dieser Michael sein Vorhaben reichlich überlegt zu haben, so ausgiebig, wie er sie gemustert hatte. Und er hatte höflich gefragt. Da verdiente er eine ebensolche Antwort. Dass sie ihn gerne wiedersehen wollte, stand für Anna fest. Sein wildes Aussehen und der intensive Blick, mit dem er sie bedacht hatte, faszinierten sie. Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis ihm klar werden würde, was für eine schlechte Partie sie war. Als Tochter armer Häuslerleute würde weder ein Bauernsohn noch ein Salinenmitarbeiter sich jemals ernsthaft um sie bemühen. Ihre Familie besaß nichts außer dem Häuschen, und sie würde keine Mitgift in eine Ehe einbringen. Lediglich mit der Arbeitskraft ihrer Hände konnte sie aufwarten, das war nicht einmal gut genug für einen Salzsieder. Mit Neugier sah sie dem Treffen mit dem hübschen jungen Mann entgegen, machte sich aber keinerlei Hoffnungen, dass dies zu etwas führen könnte.

»Was werden die Leute denken, wenn du mit einem fremden Burschen zwischen all den hochwohlgeborenen Herrschaften durch den Kurpark flanierst?« Johann Gmeiner schüttelte den Kopf.

»Das ist mir egal.«

»Wozu soll so eine Verabredung gut sein?«

Anna seufzte. »Zu nichts, Vater. Ich kenne meinen Platz und weiß, wo ich hingehöre. Trotzdem möchte ich gerne hingehen.«

Langsam ließ Johann die Mistgabel sinken, mit der er gerade das alte Stroh aus dem Stall auf einen Schubkarren lud, und stützte sich auf das Ende des Holzgriffs. Es war Sonntag Morgen, und erst jetzt hatte ihm Anna von ihrer Begegnung mit Michael erzählt. Gleich würde ihr Vater ins Haus gehen und sich für die Kirche umkleiden, es war die letzte Gelegenheit, sein Einverständnis einzuholen.

»Ist er ein ordentlicher Bursche?«, fragte er.

»Soweit ich das beurteilen kann, schon.«

»Und du willst ihn wirklich wiedersehen?«

Anna schlug die Augen nieder. »Ja«, antwortete sie leise.

Als sie wieder aufsah, begegnete sie seinem warmen Lächeln.

»Du bist kein Kind mehr, das vergesse ich manchmal. Die Zeit vergeht so schnell, und die Menschen, die wir lieben, verlassen uns viel zu früh. Ich wünsche dir, dass du in deinem Leben Freude findest. Ich weiß, dass du mir keine Schande machst, also geh, und hab einen schönen Tag.«

Erleichtert atmete sie auf. »Danke, Vater. Ich erledige das hier, du kannst dich für die Kirche umkleiden.«

Er gab ihr die Mistgabel und ging hinüber ins Haus.

Nachdem sie im Stall fertig war, sah Anna nach den frisch geschlüpften Küken. Die waren zusammen mit der Henne in einem Käfig unter der hölzernen Eckbank in der Stube untergebracht, weil es draußen nachts noch zu kalt für die Kleinen war. Sie gab ihnen zu trinken und legte etwas Futter hin. Dann schöpfte sie am Hofbrunnen Wasser und wusch den Stallgeruch von sich ab. Ihr Sonntagskleid würde sie heute nicht in die Kirche, sondern in den Kurgarten ausführen.

4

Michael stand am Eingang zum Kurpark in der Sonne und hielt seinen Hut in den Händen. Dabei inspizierte er seine Fingernägel, die er zu Hause eben noch sorgfältig gesäubert hatte. Die Haut seiner Hände war trocken und schwielig von der harten Arbeit in der heißen, salzigen Luft an den Siedebecken, daran konnte er nichts ändern.

Noch immer war er verwundert darüber, mit welcher Gelassenheit Anna seine Einladung angenommen hatte. Keinerlei Koketterie hatte in ihrem Verhalten gelegen, nur ehrliche Zustimmung. Vom ersten Moment an, als er sie auf dem Markt entdeckte, hatte er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Zu der Freude in Annas Blick, mit der sie ihre Umwelt betrachtete, als wäre es etwas Wundervolles, mit einem Korb Eier am Rand des Marktgeschehens zu stehen. Für jeden Kunden hatte sie ein warmes Lächeln übrig. Nicht wie die Marktweiber hinter ihren Ständen, die derart übellaunig ihren Geschäften nachgingen, dass man hätte meinen können, es wäre eine Beleidigung, ihnen Ware abzukaufen.

Seit seiner Ankunft in Bad Reichenhall verbrachte Michael seine Zeit entweder mit schwerer Arbeit oder damit, die Leute zu studieren. Es gab reiche Bürger, noch reichere Kurgäste, und Dünkel regierte die Stadt. Ein jeder bildete sich mächtig viel ein. Eben hielt eine Kutsche neben ihm, und ein vornehmes Fräulein stieg aus. Ihr Kleid hatte sicherlich mehr gekostet, als Michael in einem halben Jahr verdiente. Ein elegant gekleideter Herr kam auf sie zu und begrüßte sie galant mit Handkuss. Er bot ihr seinen Arm an, und die beiden spazierten in den Park hinein, ohne den jungen Mann eines Blickes zu würdigen.

Eines Tages würde auch er maßgeschneiderte Anzüge und gutes Schuhwerk tragen, beschloss Michael nicht zum ersten Mal. Und die Leute würden ihn wahrnehmen.

Als er Anna erblickte, beschleunigte sich sein Puls. Augenblicklich vergaß er die hochfliegenden Pläne und konzentrierte sich voll und ganz auf das schöne Mädchen. In ihrem dunklen Wollkleid wirkte sie reifer als tags zuvor auf dem Markt. Der zu kurze Saum und das straff sitzende Mieder ließen erkennen, dass sie dem Sonntagskleid entwachsen war. Mit ihren blauen Augen und dem dunkelblond glänzenden Haar würde sie in einem hellen Farbton überwältigend aussehen. Michael stellte sich Anna im Kleid des vornehmen Fräuleins vor und ließ seinen Blick über ihre Gestalt gleiten, ohne dabei ungebührlich lange auf ihrem Busen zu verharren. Auch wenn er den gerne näher betrachtet hätte.

Heute streckte sie ihm die Hand zum Gruß hin, er schüttelte sie und hakte sie sodann bei sich unter. »Gehen wir ein Stück?«

Sie nickte stumm, und gemeinsam bogen sie in den Park. Ein wenig befangen wirkte sie an seiner Seite, und er wünschte sich, die Fremdheit möge baldmöglichst einer innigen Vertrautheit weichen. Dieses Bedürfnis traf ihn unvorbereitet, war er doch ein Mann, der die meiste Zeit seines bisherigen Lebens allein verbracht hatte und damit zufrieden gewesen war. Aber mit Anna schien alles anders zu sein.

»Wie alt bist du?«, fragte er.

»Im Februar siebzehn geworden. Und du?«

»Neunzehn.«

»Was ist mit deiner Familie, woher kommst du?«

Michael dachte an die vergangenen Monate. »Ich stamme aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Bozen«, begann er. »Ich hab früh meine Eltern verloren und musste mich allein durchschlagen. Letztes Jahr bin ich nach Bayern gekommen, und bis vor ein paar Wochen habe ich noch in Berchtesgaden gearbeitet. Als ich gehört habe, dass sie hier in Bad Reichenhall Salzsieder einstellen, habe ich mein Glück versucht.«

Die Blumenrabatten zu beiden Seiten des Kieswegs quollen über vor Krokussen, Schneeglöckchen und den ersten Narzissen. Ein Meer aus Gelb, Weiß und Lila feierte den Sieg des Frühlings über den Winter, der in diesem Jahr besonders hart gewesen war. Es tat gut, fröhliche Farben zu sehen, und auch die Sonne fühlte sich angenehm wärmend auf der Haut an.

Während er erzählte, merkte Michael, dass Annas untergehakter Arm sich ein wenig entspannte. »Die Arbeit ist in Ordnung, aber nichts, was ich für immer machen werde.«

»Nicht?« Sie blickte ihn fragend von der Seite an. »Was möchtest du denn tun?«

Michael schluckte. Er blieb stehen und sah ihr in die Augen. Irgendetwas darin verriet ihm, dass sie ihn nicht auslachen würde. »Ich will mir etwas suchen, mit dem ich einen Haufen Geld verdienen kann.«

»Und was könnte das sein?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Aber ich bin davon überzeugt, es zu finden, sobald ich endlich aus der Enge dieser Berge heraus bin. Die Welt ist so groß, dass es für jeden etwas gibt, mit dem er sein Glück machen kann. Ich glaub nicht daran, dass man arm sterben muss, nur weil man arm geboren wurde.«

Sie gingen schweigend weiter.

»Ehrgeizige Pläne, Michael«, sagte Anna dann, die Stirn nachdenklich gerunzelt. »Aber du bist ein Mann, und wenn du es geschickt anstellst, wirst du sicher Erfolg haben. Was mich betrifft, da will ich dir gleich die Wahrheit sagen. Ich hab nur noch den Vater, und wir sind einfache Häuslerleute unten am Ufer der Saalach.« Sie verstummte, blickte ihn trotzig an, als erwarte sie eine abschätzige Erwiderung. Schließlich zog sie ihren Arm zurück und machte einen Schritt zur Seite.

Die plötzliche Distanz zwischen ihnen gefiel Michael nicht, und er sah Anna verständnislos an.

»Verstehst du?«, fragte sie ihn auch prompt.

Er schüttelte den Kopf.

»Du kommst aus Südtirol, hast viel gesehen und bist auf dem Weg hinaus in die Welt, um es zu etwas zu bringen. Meine Familie ist arm, ich kenne nur das Leben hier, und bei dem, wonach du suchst, würde ich dir nur im Weg sein.« Sie deutete auf die zahlreichen Paare, die durch den Garten spazierten. »Es ist wunderschön hier, und ich würde gerne so tun, als ob ich irgendetwas mit dieser Gesellschaft zu tun hätte. Aber …«, sie machte einen weiteren Schritt von ihm weg.

»Anna, das stimmt nicht«, sagte Michael leise. Er spürte, wie das Herz in seiner Brust raste, weil er nur zu gut wusste, was sie meinte. Leuten wie ihnen stand es nicht zu, sich einfach zu amüsieren und die Zeit mit Müßiggang zu vertreiben. Sie sollten in jeder Minute des Tages ihren kargen Lebensunterhalt verdienen und durften lediglich aus der Ferne einen kurzen Blick auf den Glanz der Wohlhabenden werfen. Gerade lange genug, um sich der eigenen Position bewusst zu werden. So war es immer schon gewesen. So würde es stets sein. Zumindest hatte die Welt um Michael herum versucht, ihm dies seit Kindertagen einzutrichtern, und Anna war es sicherlich nicht anders ergangen.

»Wir beide, du und ich, sind genauso viel wert wie die feinen Herrschaften in diesem Park. Wir dürfen hier flanieren wie sie, wir dürfen lachen, uns unterhalten und einen angenehmen Sonntag genießen.« Er trat nah an sie heran, griff entschlossen nach ihrer Hand, legte sie auf seinen Arm und sah ihr in die Augen. »Ob wir daheim auf Strohsäcken schlafen, ist völlig egal. Wir haben das Recht auf eine schöne Zeit, damit wir wenigstens eine Weile vergessen können, was später wieder an Arbeit auf uns wartet.« Behutsam hob er ihr Kinn mit einem Finger leicht an. Ihre Haut war weich und zart. »Und jetzt Kopf hoch, Schultern gestrafft und weiter geht‘s. Lass uns am Gradierhaus entlangspazieren.«

Sie schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Das ist aber nur für die Kurgäste.«

»Na und? Vielleicht sind wir auch welche. Wer will uns das Gegenteil beweisen?«

Ohne Widerstand ließ sie sich von ihm zu der überdachten Wandelbahn führen, die am ehemaligen Gradierwerk vorbeiführte. Das gelb und weiß gestrichene Holz des Anbaus wetteiferte farblich mit den Frühlingsblumen. Anna atmete tief durch, während sie um die lang gestreckte Anlage gingen, und Michael tat es ihr gleich. Die kühle, salzhaltige Luft erquickte seine Lungen, und die Atmosphäre neben den dunklen Reisigwänden, über die unablässig Solewasser lief, war eine besondere. Nach ein paar Minuten entspannte er sich. Er kam öfter hierher, aus ebendiesem Grund. Die langen Arbeitstage in der heißen Siederei waren sehr anstrengend, und wann immer es möglich war, gönnte er sich danach gern die Wohltat der frischen Soleluft.

»Wohin willst du, wenn du aus Bad Reichenhall fortgehst?«, fragte Anna unvermittelt.

»Das habe ich mir noch nicht überlegt. Zuerst muss ich hier ein bisschen Geld verdienen, damit ich mir eine Reise überhaupt leisten kann. Und dann brauch ich natürlich eine Idee, nicht nur, wo es hingehen soll, sondern auch, was ich dort anfangen möchte.«

»Es ist sicher aufregend, solche Pläne zu schmieden.«

»Wir können ja gemeinsam überlegen.«

Sie lächelte. »Das wäre schön. Ich werde zwar selbst kaum Gelegenheit haben, die Welt zu sehen, aber es würde mir Spaß machen, an deinen Gedanken teilzuhaben.«

Es war kurzweilig, mit Anna an seinem Arm inmitten der Kurgäste die köstliche Luft zu atmen und Zukunftspläne zu schmieden. Über ihrem angeregten Gespräch verging die Zeit wie im Flug, bis Anna sagte: »Ich glaube, ich sollte nach Hause gehen. Der Vater wartet sicher schon auf mich.«

»Darf ich dich heimbringen?«, fragte Michael hoffnungsvoll.

Anna schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«

»Dann versprich mir, dass wir uns wieder treffen. Nächsten Sonntag.«

Ihr nachdenklicher Blick schien sich bis in Michaels Herz zu bohren. Sie würde nein sagen.

»Es war schön mit dir. Ich bin mir sicher, du wirst deinen Weg gehen, deinen Platz in der Welt finden und ein Leben führen, auf das du stolz sein kannst, Michael Schwarzenberg. Aber ich möchte nicht Zeit mit jemandem verbringen, den ich am Ende gern haben könnte, und dann verlässt er mich, und ich sehe ihn nie wieder. Also lassen wir es am besten so, wie es ist.« Sie streckte ihm ihre Hand hin, und er ergriff sie. Schmal fühlte sie sich an, zart und trotzdem stark. Michael schnürte es die Kehle zu, er wusste nicht, was er sagen sollte, deshalb nickte er nur.

Anna hatte recht. Mit ihren siebzehn Jahren war sie reifer als er mit seinen hochfliegenden Plänen. Aus ihnen beiden konnte nichts werden. Für eine kurze Liebschaft war sie ihm zu schade, und mehr hatte er ihr nicht zu bieten. Also musste er sie ziehen lassen.

Sie bedachte ihn mit einem letzten Lächeln und ging davon. Sobald sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, bekam Michael das Gefühl, etwas von Grund auf verkehrt gemacht zu haben. Hätte er sie überreden müssen, sich weiter mit ihm zu treffen? Oder hätte er sie gar nicht erst um eine Verabredung bitten sollen? Dann wäre er nun nicht davon überzeugt, einen besonderen Menschen kennengelernt zu haben, den er nicht aus seinem Leben verschwinden lassen wollte.