Gras unter meinen Füßen - Kimberly Brubaker Bradley - E-Book + Hörbuch

Gras unter meinen Füßen Hörbuch

Kimberly Brubaker Bradley

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Beschreibung

»Ein traurig-schönes, wundervolles, ermutigendes Buch.« Volker Weidermann, DIE ZEIT Humor, Herzschmerz und der hartnäckige Wille zu überleben Die neunjährige Ada hat die Wohnung noch nie verlassen. Ihre Mutter hat sie weggesperrt und behauptet, Ada sei geistig behindert. Als ihr kleiner Bruder Jamie 1939 aus London aufs Land evakuiert werden soll, um der Bombardierung zu entgehen, entscheidet Ada, dass sie gemeinsam gehen werden. So beginnt ein großes Abenteuer für die Kinder wie auch für Susan Smith, die Frau, die gezwungen ist, die beiden bei sich aufzunehmen. Während Ada sich das Ponyreiten beibringt und lesen lernt, beginnt sie Susan zu vertrauen – und Susan beginnt, Ada und Jamie zu lieben. Aber wird ihre Bindung ausreichen, um sie gemeinsam durch die Kriegszeit zu bringen? Oder werden Ada und ihr Bruder wieder in die Hände ihrer grausamen Mutter fallen? - Eine außergewöhnlich bewegende Geschichte über ein Mädchen, dem der Krieg das Leben rettet - Über die Kraft von Zuneigung, Liebe und geschwisterlichen Zusammenhalts - Für Kinder, die sich für historische Themen interessieren - Mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. Newbery Honor Book und Kirkus, Publishers Weekly, und Wall Street Journal Best Book of the Year»An diesem Buch gibt es viel zu lieben: Adas einnehmende Stimme, das lebendige Setting, den Humor, den Herzschmerz, aber vor allem den hartnäckigen Willen zu überleben.« School Library Journal

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Zeit:7 Std. 47 min

Sprecher:Birte Schnöink

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Über das Buch

Über den Triumph eines Mädchens im Kampf ums Überleben

Die neunjährige Ada hat die Wohnung noch nie verlassen. Ihrer Mutter ist Adas verdrehter Fuß zu peinlich und zu hässlich, um sie nach draußen zu lassen. Als ihr kleiner Bruder Jamie aufs Land geschickt wird, um den Bombardierungen Londons zu entkommen, nutzt Ada die Gelegenheit und schließt sich ihm heimlich an.

So beginnt ein Abenteuer für Ada und für Susan Smith, die Frau, die gezwungen ist, die beiden Kinder bei sich aufzunehmen. Während Ada sich das Ponyreiten beibringt und Lesen lernt, beginnt sie sogar, Susan zu vertrauen. Und Susan beginnt, Ada und Jamie zu lieben. Aber das zarte Glück, das die drei Menschen miteinander erleben, ist in Gefahr. Werden Ada und ihr Bruder wieder in die grausamen Hände ihrer Mutter fallen? Ein großes Abenteuer und eine bewegende Geschichte über das, was Familie bedeutet, über Identität und Hingabe.

 

»Schmerzlich schön ... die Leser werden bei Adas Stolpern zusammenzucken und sich unter Tränen über ihre Siege freuen.«

THE WALL STREET JOURNAL

Kimberly Brubaker Bradley

Gras unter meinen Füßen

Das Jahr, als ich leben lernte

Roman

Aus dem Englischen von Beate Schäfer

 

 

 

 

Für Kathleen Magliochetti,

die mich mit England bekannt gemacht hat

1

»Ada! Weg da vom Fenster!« Mams Stimme, ihr Schreien. Ihre Hand, die meinen Arm packte und mich wegriss. So energisch, dass ich vom Stuhl kippte und auf den Boden knallte.

»Ich hab doch bloß Stephen White Hallo gesagt.« Widerworte führten zu nichts Gutem, das wusste ich, aber mein Mundwerk war manchmal schneller als mein Hirn. Ich hatte Kämpfen gelernt in diesem Sommer.

Mam schlug zu. Richtig fest. Mein Kopf donnerte gegen das Stuhlbein, kurz blitzten Sterne vor meinen Augen. »Du redst hier mit gar keinem!«, sagte Mam. »Ist rein meine Nettigkeit, dass ich dich überhaupt rausgucken lass, aber wenn du noch mal die Nase rausstreckst, nagel ich Bretter vors Fenster. Und mit irgendwem reden tust du gleich gar nicht.«

»Jamie ist draußen«, murmelte ich.

»Na und?«, sagte Mam. »Der ist ja kein Krüppel. Du schon.«

Ich kniff die Lippen zusammen, damit mir nicht noch was rausrutschte, und schüttelte den Kopf, um den Nebel darin zu verscheuchen. Da sah ich die blutverschmierte Stelle auf dem Boden. Oh Himmel. Ich hatte nicht alles weggewischt. Wenn Mam den Fleck entdeckte, würde sie eins und eins zusammenzählen und wüsste Bescheid. Dann säße ich erst recht in der Patsche. Ich rutschte ein Stück vor, bis mein Hintern über dem Fleck war, und verbarg meinen schlimmen Fuß unter mir.

»Jetzt mach mir schon endlich meinen Tee«, sagte Mam. Sie hockte am Bettrand und schälte sich aus ihren Strümpfen, ihre zwei guten Füße baumelten direkt vor meinem Gesicht. »Ich muss gleich los zur Arbeit.«

»Ja, Mam.« Ich schubste meinen Fensterstuhl ein Stück zur Seite, damit sie das Blut darunter nicht sehen konnte. Dann krabbelte ich über den Boden, und zwar immer so, dass ihr Blick nicht auf meinen schlimmen Fuß mit der Kruste fiel. Dann zog ich mich auf unseren anderen Stuhl hoch, machte den Gaskocher an und setzte Wasser auf.

»Schneid Brot für mich ab, mit ordentlich Fett drauf«, sagte Mam. »Für deinen Bruder auch.« Sie lachte. »Und wenn was übrig bleibt, kannst du’s ja aus dem Fenster schmeißen. Für Stephen White, vielleicht will der auch was ab. Das würd dir doch gefallen, oder?«

Statt zu antworten, schnitt ich zwei dicke Scheiben Brot ab und schob den Rest hinter die Waschschüssel. Jamie würde erst nach Hause kommen, wenn Mam weg war, und er teilte sowieso immer alles Essen mit mir.

Als der Tee fertig war, kam Mam zu mir und nahm ihren Becher. »Pass bloß auf, Mädchen. Ich seh doch, wie du guckst«, sagte sie. »Glaub ja nicht, du kannst mich austricksen. Sei lieber froh, dass ich dich so nehm, wie du bist. Du hast ja keine Ahnung, wie viel schlimmer alles sein könnte für dich.«

Ich hatte mir auch Tee eingeschenkt und trank jetzt einen großen Schluck, der mir brühheiß durch die Kehle bis in den Magen lief. Mam sagte das alles nicht bloß so, sie meinte es ernst. Aber ich meinte es auch ernst.

 

Es gibt alle möglichen Arten von Krieg.

Die Geschichte, die ich erzählen will, hat vor vier Jahren angefangen, im Frühsommer 1939. England war da kurz vor dem nächsten großen Krieg, dem Krieg, der jetzt immer noch tobt. Die meisten Leute hatten Angst. Ich war zehn (auch wenn ich das damals noch nicht wusste), und obwohl ich von Hitler gehört hatte – von der Gasse wehte immer mal wieder was hoch in den zweiten Stock, kleine Bemerkungen und Flüche –, kümmerte mich der Mann nicht weiter. Überhaupt waren mir Kriege zwischen Ländern egal. Was ich bisher erzählt habe, klingt wahrscheinlich so, als hätte ich damals mit meiner Mutter im Krieg gelegen, aber der erste Krieg, den ich überhaupt geführt habe – eben der in diesem Juni –, war der Krieg zwischen meinem Bruder und mir.

Jamie hatte einen wilden braunen Haarschopf, Augen wie ein Engel und war ein ziemlicher Schelm. Mam sagte, er wäre sechs Jahre alt, darum sollte er im Herbst in die Schule. Anders als ich hatte er kräftige Beine mit zwei gesunden Füßen dran. Und mit denen lief er von mir weg.

Ich hatte Angst vorm Alleinsein.

Wir wohnten in einem Zimmer über dem Pub, in dem Mam jeden Abend arbeitete, was meistens bis tief in die Nacht ging. Morgens schlief sie dann aus, also musste ich Jamie Essen geben und aufpassen, dass er stillhielt, bis sie zum Aufwachen bereit war. Später ging sie normalerweise raus, um irgendwas einzukaufen oder mit den Frauen in der Gasse zu reden; manchmal nahm sie Jamie mit, meistens nicht. Abends, wenn Mam bei der Arbeit war, machte ich Essen für Jamie, sang ihm was vor und brachte ihn ins Bett. So war das immer gewesen, solange ich zurückdenken kann, von der Zeit an, als Jamie noch Windeln anhatte und zu klein war, um auf den Topf zu gehen.

Wir spielten Spiele, sangen Lieder und sahen der Welt vor unserem Fenster zu – dem Eismann mit seinem Wagen, dem Lumpensammler mit seinem struppigen Pony, den Männern, die abends von den Docks heimkamen, den Frauen, die Wäsche aufhängten und schwatzend in den Hauseingängen standen. Und auch den Kindern in unserer Gasse, die Seilspringen und Fangen spielten.

Schon da hätte ich es die Treppe runter geschafft. Ich hätte kriechen oder auf dem Hintern rutschen können. Hilflos war ich nicht. Aber als ich mich ein einziges Mal wirklich nach draußen gewagt hatte, hatte Mam das gemerkt und mir den Rücken blutig geprügelt. »Du bist ’ne Schande, eine einzige Schande!«, brüllte sie. »Ein Monster, mit dem ekligen Fuß da. Soll denn die ganze Welt sehen, wie ich mich schämen muss?« Sie drohte mir, wenn ich noch mal nach unten ginge, würde sie das Fenster zunageln. Das war schon immer ihre schlimmste Drohung.

Mein rechter Fuß war klein und so verdreht, dass die Sohle zum Himmel zeigte und die Zehen hoch in die Luft standen, und das, was oben am Fuß hätte sein sollen, berührte den Boden. Das Gelenk funktionierte auch nicht richtig, und wenn ich den Fuß mit meinem Gewicht belastete, tat das wirklich weh, also hatte ich es fast mein ganzes Leben lang bleiben lassen. Dafür konnte ich gut kriechen. Solange Jamie und ich zusammen in unserem Zimmer waren, wehrte ich mich auch nicht weiter gegen das Drinbleiben. Aber als Jamie älter wurde, wollte er nach unten zu den anderen Kindern, wollte mitmachen bei den Spielen auf der Straße. »Wieso auch nicht?«, meinte Mam. »Er ist ja normal.« Jamie erklärte sie: »Du bist nicht wie Ada. Du kannst hin, wo du willst.«

»Kann er nicht«, sagte ich. »Er muss in der Nähe bleiben, wo ich ihn sehen kann.«

Zuerst machte Jamie das auch, aber dann freundete er sich mit einer Bande Jungs an und rannte den ganzen Tag mit ihnen in der Gegend herum, weit weg von mir und meinem Fenster. Wenn er zurückkam, brachte er Geschichten mit über die Docks an der Themse, wo die großen Schiffe entladen wurden, deren Fracht aus aller Welt kam. Er erzählte von Zügen und Lagerhallen, die größer waren als unser ganzer Straßenblock. Auch St. Mary hatte er gesehen, die Kirche, deren Glockenschläge mir sagten, wie viel Uhr es war. Und je länger die Sommertage wurden, desto später kam er nach Hause, bis er irgendwann erst zurückkehrte, nachdem Mam schon stundenlang gegangen war. Er war fast immer weg, und Mam war das egal.

Für mich wurde das Zimmer zu einem Gefängnis. Ich konnte die Hitze, die Stille, die Leere kaum noch ertragen.

Mit allen Mitteln versuchte ich Jamie dazu zu bringen, dass er bei mir blieb. Ich verbarrikadierte die Tür, aber er war schon damals stärker als ich. Ich bettelte Mam an. Ich drohte ihm. Und dann, an einem besonders heißen Tag, fesselte ich seine Hände und Füße, während er schlief. Ich würde ihn zwingen, bei mir zu bleiben.

Jamie wachte auf. Er schrie und schimpfte nicst. Er schlug ein Mal um sich, dann lag er hilflos da und schaute mich an.

Tränen rollten ihm übers Gesicht.

Ich band ihn so schnell los, wie ich nur konnte. Ich kam mir wie ein Monster vor. An seinen Handgelenken waren rote Striemen, weil ich die Schnur zu sehr festgezogen hatte.

»Das mach ich nie wieder«, sagte ich. »Versprochen. Ich werde das nie wieder tun.«

Er weinte trotzdem weiter. Das verstand ich gut. Ich hatte Jamie noch nie im Leben wehgetan. Ihn nie geschlagen, kein einziges Mal.

Jetzt war ich wie Mam geworden.

»Ich bleib drin«, flüsterte er.

»Nein«, widersprach ich. »Nein, das brauchst du nicht. Aber trink noch was, bevor du gehst.« Ich gab ihm einen Becher Tee und dazu ein Stück Brot. An diesem Morgen waren nur wir beide da, Mam war weg, ich weiß nicht, wo. Ich tätschelte Jamie den Kopf und küsste ihn, sang ein Lied für ihn und tat, was ich konnte, um ihn zum Lächeln zu bringen. »Bald kommst du sowieso in die Schule«, sagte ich und wunderte mich, dass ich das bis dahin nie so ganz begriffen hatte. »Dann bist du den ganzen Tag weg, aber ich komm schon zurecht. Mir fällt schon was ein, wie ich das hinkriegen kann.« Ich redete so lange auf ihn ein, bis er endlich raus zum Spielen ging, und winkte ihm vom Fenster aus zu.

Dann fing ich mit dem an, was ich schon längst hätte tun sollen. Ich brachte mir das Laufen bei.

 

Wenn ich laufen könnte, würde sich Mam vielleicht nicht so sehr für mich schämen. Vielleicht könnten wir meinen verkrüppelten Fuß irgendwie verstecken. Vielleicht dürfte ich dann das Zimmer verlassen und bei Jamie sein, oder wenigstens zu ihm hingehen, falls er mich brauchte.

So kam es dann auch, aber nicht auf die Art, wie ich mir das vorgestellt hatte. Am Ende war es eine Kombination von Dingen: Was mir meine Freiheit schenkte, war das Ende meines kleinen Kriegs mit Jamie und der Anfang von Hitlers großem Krieg.

2

Ich fing noch am selben Tag an. Ich zog mich an der Sitzfläche meines Stuhls hoch und stellte beide Füße auf den Boden. Meinen guten linken Fuß. Meinen schlimmen rechten Fuß. Ich klammerte mich an die Stuhllehne, drückte die Knie durch und stand aufrecht da.

Damit auch verständlich wird, was mein Problem war, will ich es näher erklären: Ich konnte stehen, natürlich konnte ich das. Ich konnte auch auf einem Fuß hüpfen, wenn ich wollte. Aber auf Händen und Knien war ich viel schneller, und unsere Wohnung war so klein, dass ich mir selten die Mühe machte, mich aufrecht hinzustellen. Die Muskeln in meinen Beinen, besonderes im rechten, waren nicht daran gewöhnt. Mein Rücken war schwach. Aber das war alles nicht so wichtig. Wenn es nur ums Stehen gegangen wäre, hätte ich keine großen Probleme gehabt. Aber zum Laufen musste ich meinen schlimmen Fuß auf den Boden stellen. Ich musste ihn mit meinem ganzen Gewicht belasten, den anderen Fuß hochheben und zugleich auch noch aufpassen, dass ich nicht gleich wieder hinfiel, wegen dem stechenden Schmerz in meinem Fuß oder weil ich das Gleichgewicht nicht halten konnte.

An diesem ersten Tag stand ich schwankend neben dem Stuhl. Langsam verlagerte ich einen Teil meines Gewichts vom linken Fuß auf den rechten. Ich keuchte.

Vielleicht wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn ich von Anfang an gelaufen wäre. Dann hätten sich die krummen kleinen Knochen in meinem Fuß vielleicht daran gewöhnt, und die dünne Haut, die sie bedeckte, wäre robuster geworden.

Vielleicht. Aber das würde ich nie erfahren, und so oder so brachte mich das bloße Herumstehen nicht näher zu Jamie. Ich ließ den Stuhl los. Ich streckte meinen schlimmen Fuß aus. Ich verlagerte mein Gewicht nach vorn. Der Schmerz stach in meinen Knöchel wie ein Messer. Ich fiel hin.

Aufstehen. Den Stuhl umklammern. Einen Schritt machen. Hinfallen. Aufstehen. Es noch mal versuchen. Diesmal mit dem guten Fuß zuerst. Ein Keuchen, dann den anderen Fuß vor und – rums.

Die Haut unten an meinem schlimmen Fuß riss auf. Blut verschmierte den Boden. Nach einer Weile konnte ich einfach nicht mehr. Zitternd sank ich auf die Knie, holte einen Lappen und wischte die Schweinerei weg.

So lief der erste Tag. Der zweite Tag war schlimmer. Am zweiten Tag taten mir auch der gute Fuß und das gute Bein weh. Ich konnte kaum die Beine strecken. Meine Knie waren voller blauer Flecke vom Hinfallen und die Wunden an meinem schlimmen Fuß noch offen. Am zweiten Tag tat ich nichts weiter, als zu stehen, mit einer Hand an der Stuhllehne. Ich stand da und schaute aus dem Fenster. Ich übte, das Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern. Dann legte ich mich aufs Bett und weinte vor Schmerz und Erschöpfung.

Natürlich blieb das mein Geheimnis. Mam sollte erst davon erfahren, wenn ich gut gehen konnte, und Jamie könnte es bestimmt nicht für sich behalten, falls ich es ihm erzählte. Wahrscheinlich hätte ich die Neuigkeit einfach runter auf die Straße rufen können, aber was hätte das gebracht? Ich beobachtete die Leute da unten jeden Tag durch mein Fenster und sagte auch manchmal etwas zu ihnen, aber auch wenn sie mir oft winkten oder sogar »Hallo, Ada!« riefen, versuchten sie so gut wie nie, wirklich mit mir zu sprechen.

 

Vielleicht würde Mam mich anlächeln. Vielleicht würde sie sagen: »Hui, du bist ja wirklich eine Schlaue, was?«

 

In Gedanken ging ich noch weiter. Nach einem harten Tag, als ich auf dem Bett lag, mein Bein hielt und zitterte vor lauter Anstrengung, nicht zu weinen, stellte ich mir vor, Mam würde mich an der Hand nehmen und mir die Treppen hinunterhelfen. Ich malte mir aus, wie sie mich nach draußen auf die Straße führte und allen sagte: »Das ist Ada. Das ist meine Tochter. Schaut her, sie ist überhaupt nicht so ein hoffnungsloser Fall, wie wir dachten.«

Sie war schließlich meine Mutter.

Ich stellte mir vor, ihr beim Einkaufen zu helfen. Ich stellte mir vor, in die Schule zu gehen.

»Erzähl mir alles«, sagte ich spät am Abend zu Jamie. Wir saßen am offenen Fenster, er auf meinem Schoß. »Was hast du heute gesehen? Was hast du gelernt?«

»Ich war in so einem Laden, wie du wolltest«, sagte Jamie. »Einem Obstladen. Überall Obst. Berge von Obst auf Tischen und so.«

»Was für Sorten?«

»Ach – Äpfel. Und noch so was wie Äpfel, aber nicht ganz gleich. Und so runde Dinger, die orange sind und glänzen, und dann noch andere, grüne …«

»Du musst die Namen lernen«, erklärte ich ihm.

»Geht nicht«, sagte Jamie. »Der Mann da hat mich gleich verjagt, kaum dass ich drin war. Er wollte keine dreckigen Bettler in seinem Laden, hat er gesagt, die ihm seine Sachen klauen. Dann hat er mich mit einem Besen verscheucht.«

»Oh, Jamie! Du bist kein dreckiger Bettler.« Manchmal, wenn Mam fand, dass wir streng rochen, nahmen wir ein Bad. »Und du würdest doch nichts stehlen.«

»Würde ich wohl«, widersprach Jamie. Er griff in sein Hemd und zog eine dieser apfelähnlichen Früchte heraus, knubbelig und gelb und weich. Es war eine Birne, aber damals wussten wir das nicht. Als wir hineinbissen, lief uns der Saft übers Kinn.

Noch nie vorher hatte ich etwas so Köstliches geschmeckt.

Am nächsten Tag mopste Jamie eine Tomate, aber am Tag darauf wurde er erwischt, als er bei einem Metzger ein Kotelett mitgehen lassen wollte. Der Metzger verprügelte ihn gleich auf der Straße, dann schleppte er ihn nach Hause zu Mam und beschimpfte sie. Mam packte Jamie am Genick und vermöbelte ihn gleich noch mal. »Du Idiot! Mal was Süßes klauen ist eins! Aber was wolltest du denn mit einem Kotelett?«

»Ada hat Hunger«, schluchzte Jamie.

Das stimmte. Laufen lernen war so viel Arbeit. Ich hatte jetzt immer Hunger. Trotzdem hätte er das besser nicht gesagt, das merkte Jamie gleich selbst. Seine Augen wurden groß vor Angst.

»Ada! Hätt ich’s mir doch denken können!« Mam schoss auf mich zu. »Deinen Bruder für dich stehlen lassen, was? Du nutzlose Missgeburt!« Sie holte aus, wollte mir mit dem Handrücken ins Gesicht schlagen. Ich sprang, ohne nachzudenken, von meinem Stuhl auf, um dem Schlag auszuweichen.

Jetzt steckte ich fest. Wenn ich auch nur einen einzigen Schritt tat, kam mein Geheimnis ans Licht. Aber Mam funkelte mich wütend an. »Denkst wohl, du wärst was Besseres, was?«, sagte sie. »Runter auf die Knie und ab ins Kabuff.«

»Nein, Mam«, sagte ich und ließ mich auf den Boden sinken. »Nein. Bitte.«

Das Kabuff war ein Hohlraum unter der Spüle. Weil das Rohr manchmal tropfte, war es da unten immer feucht und roch eklig. Aber schlimmer waren die Schaben. Solange ich die Biester sehen konnte, fand ich sie halb so schlimm. Dann konnte ich sie mit einem Stück Papier zerdrücken und die Überreste aus dem Fenster werfen. Doch im Dunkeln unter der Spüle ging das nicht. Sie krabbelten in Scharen auf mir herum. Einmal war sogar eine in mein Ohr gekrochen.

»Rein mit dir«, sagte Mam lächelnd.

»Ich geh rein«, sagte Jamie. »Ich hab das Kotelett geklaut.«

»Ada geht rein.« Mam drehte sich jetzt zu ihm, und ihr Grinsen wurde breiter. »Ab jetzt muss Ada jedes Mal ins Kabuff, wenn ich dich beim Stehlen erwische, und zwar die ganze Nacht.«

»Nicht die ganze Nacht«, flüsterte ich, aber natürlich kam es so.

 

Wenn alles richtig schlimm wurde, konnte ich mich in meinen Kopf zurückziehen. Ich wusste schon immer, wie das geht. Egal, wo ich war, auf meinem Stuhl oder im Kabuff, ich sah nichts und ich hörte nichts, ich spürte nicht mal etwas. Ich war einfach weg.

Das war gut so, aber es passierte nicht schnell genug. Die ersten Minuten im Kabuff waren am schlimmsten. Und dann, nach einer Weile, tat mir alles weh, weil es unter der Spüle so eng war. Ich war inzwischen gewachsen.

Als Mam mich am nächsten Morgen wieder rausließ, war mir schwindlig und übel. Als ich versuchte, mich auszustrecken, tat das fürchterlich weh, ich hatte Krämpfe, und meine Arme und Beine kribbelten. Ich lag auf dem Boden, und Mam betrachtete mich von oben. »Das lass dir eine Lehre sein«, sagte sie. »Brauchst nicht zu denken, du wärst was Besseres, Mädel.«

Mir war klar, dass Mam mindestens einen Teil meines Geheimnisses erraten hatte: Ich wurde stärker. Das gefiel ihr nicht. Sobald sie aus dem Haus war, stellte ich mich hin und zwang mich dazu, quer durchs Zimmer zu laufen, den ganzen Weg.

 

Es war schon spät im August und nicht mehr lange hin, bis Jamie in die Schule kommen würde, das wusste ich. Auch wenn ich inzwischen nicht mehr so viel Angst hatte, wenn Jamie wegging, graute mir doch davor, mehr Zeit allein mit Mam zu verbringen. Aber an einem Tag kam Jamie früher nach Hause als sonst und wirkte ganz verstört. »Billy White sagt, alle Kinder gehen weg«, verkündete er.

Billy White war der kleine Bruder von Stephen White und Jamies bester Freund.

Mam machte sich gerade für die Arbeit fertig. Sie hatte sich vornübergebeugt, um ihre Schuhe zu binden, und kam mit einem Ächzen wieder hoch. »Sagt man so, ja.«

»Wie, die gehen weg?«, fragte ich.

»Weg aus London«, sagte Mam, »wegen diesem Hitler und seinen Bomben.« Sie sah nicht mich an, sondern Jamie. »Angeblich wird die Stadt bald bombardiert, also sollen die Kinder raus aufs Land, wo keine Gefahr ist. Hab noch nicht entschieden, ob ich dich auch schicken soll. Vielleicht schon. Ein Maul weniger zum Durchfüttern, das spart Geld.«

»Was für Bomben?«, fragte ich. »Welches Land?«

Mam beachtete mich nicht.

Jamie sank auf einen Stuhl und stieß mit den Füßen gegen die Sprossen. Er wirkte sehr klein. »Billy sagt, Freitag geht’s los.« Das war in zwei Tagen. »Seine Mam kauft ihm lauter neue Kleider.«

Mam sagte: »Hab ich kein Geld für.«

»Was ist mit mir?« Meine Stimme klang dünner, als ich wollte. »Geh ich auch? Was ist mit mir?«

Mam sah mich immer noch nicht an. »Nein, ist doch klar. Die schicken die Kinder an nette Leute. Und wer will schon dich? Niemand, gar niemand. Mag doch keiner so einen Fuß angucken, die Netten schon gar nicht.«

»Ich kann ja auch bei gemeinen Leuten bleiben«, sagte ich. »Wäre kein Unterschied zu hier.«

Ich sah den Schlag kommen, duckte mich aber nicht schnell genug weg. »Sei nicht so frech«, sagte sie. Ihr Mund verzog sich zu diesem Grinsen, bei dem sich in mir immer alles zusammenzog. »Du kommst hier nicht weg. Wirst du nie. Du steckst fest in diesem Zimmer, Bomben hin oder her.«

Jamie wurde blass. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ich schüttelte wie wild den Kopf, also klappte er ihn wieder zu. Nachdem Mam zur Tür raus war, warf er sich mir in die Arme. »Keine Sorge«, sagte ich und wiegte ihn. Ich hatte keine Angst. Ich war nur froh, den Sommer so verbracht zu haben, wie ich das getan hatte. »Find raus, wo wir hinmüssen und wann wir da sein sollen«, sagte ich. »Du und ich, wir gehen zusammen von hier weg.«

3

In den frühen Morgenstunden am Freitag stahl ich Mams Schuhe.

Das ging nicht anders. Es waren die einzigen Schuhe in der Wohnung, abgesehen von Jamies Leinenschuhen, die sogar für meinen schlimmen Fuß zu klein gewesen wären. Die von Mam waren mir zu groß, aber ich stopfte vorne Papier hinein und band mir einen Lappen um den schlimmen Fuß. Dann zog ich die Schnürsenkel zu. Schuhe zu tragen fühlte sich seltsam an, aber immerhin hatte ich das Gefühl, sie würden nicht abfallen.

Jamie schaute mich fassungslos an. »Ich muss sie nehmen«, flüsterte ich. »Sonst sehen die Leute doch meinen Fuß.«

Er sagte: »Du stehst. Du läufst.«

Mein großer Moment war da, aber im Augenblick bedeutete er mir gar nicht so viel. Was vor mir lag, war wichtiger. »Ja«, antwortete ich. »Das tue ich.« Ich warf einen kurzen Blick auf Mam, die schnarchend im Bett lag, mit dem Rücken zu uns. Wäre sie stolz auf mich? Es war verdammt schwer, mir das auch nur vorzustellen.

Auf dem Hintern rutschte ich die Stufen runter. Am Ende der Treppe half mir Jamie beim Aufstehen, und zusammen machten wir uns auf den Weg, liefen am frühen Morgen durch die Straßen. Ein Schritt, sagte ich mir. Immer nur ein Schritt nach dem anderen.

 

Unten auf dem Gehweg zu sein, war interessant. Das rosa getönte Morgenlicht und der leicht bläuliche Dunst über den Häusern ließ alles schöner wirken als später am Tag. Eine Katze flitzte um eine Ecke, wohl auf der Jagd nach irgendwas, einer Ratte vielleicht. Sonst war die Straße leer.

Mit der rechten Hand hielt ich mich an Jamie fest, er war meine Stütze. In der linken Hand trug ich eine Papiertüte mit Sachen fürs Frühstück. Jamie meinte, wir sollten um neun Uhr früh an seiner Schule sein. Bis dahin dauerte es noch Stunden, aber je früher wir wegkamen, desto besser, fand ich. Schließlich wusste ich nicht, wie lange ich bis zur Schule brauchen würde. Und ich wollte auch nicht angestarrt werden.

Die Straße war bucklig und uneben, was mir vom Fenster aus nicht klar gewesen war. Das Laufen fiel mir schwerer als in unserer Wohnung. Der Schuh half zwar, aber schon als wir am Ende der Gasse ankamen, tat mein Fuß so weh, dass ich das Gefühl hatte, keinen einzigen Schritt mehr machen zu können. Trotzdem ging ich weiter, einen Schritt und noch einen.

»Hier müssen wir abbiegen«, flüsterte Jamie. »Ist nicht mehr weit.«

Noch ein Schritt mehr und mein schlimmer Fuß knickte um. Keuchend fiel ich hin. Jamie kniete sich neben mich. »Kriech doch einfach«, sagte er. »Guckt ja keiner.«

»Wie weit noch?«, fragte ich.

»Noch drei Blocks«, sagte er und fügte hinzu: »Blocks sind die Häuser zwischen den Straßen. Wir müssen noch über drei Straßen.«

Ich versuchte die Entfernung mit den Augen abzuschätzen. Drei Straßen. Es hätten auch drei Meilen sein können. Oder dreihundert. »Na ja, dann krieche ich wohl mal ein bisschen.«

Aber auf der Straße war das viel schwerer als in der Wohnung. Ich hatte natürlich Hornhaut auf den Knien, aber die Steine taten trotzdem weh, außerdem gab es überall Abfall und Schlamm. Nachdem ich es bis zur nächsten Straße geschafft hatte, nahm ich Jamies Hand und zog mich hoch, bis ich stand.

»Wenn du laufen kannst, wieso machst du’s sonst nie?«, fragte Jamie.

»Das ist was Neues«, sagte ich. »Ich hab’s erst im Sommer gelernt, als du draußen warst.«

Er nickte. »Ich sag’s keinem.«

»Ist egal«, sagte ich. Die Welt kam mir schon jetzt riesig vor. Wenn ich hoch zu den Hausdächern schaute, wurde mir schwindlig. »Wir fahren aufs Land. Da kümmert es keinen, dass ich laufen kann.« Das war natürlich gelogen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hingingen. Ich kapierte nicht mal so richtig, was das Wort Land bedeuten sollte. Aber Jamie fasste meine Hand jetzt fester und lächelte.

 

Die Schule war ein Backsteingebäude mit einem eingezäunten leeren Hof. Wir gingen hinein, und ich ließ mich fallen. Wir aßen Brot, das wir in Zucker tauchten. Es schmeckte gut.

»Hast du Mams Zucker genommen?«, fragte Jamie mit großen Augen.

Ich nickte. »Allen, der da war«, sagte ich, und wir lachten laut. Jetzt, wo wir uns nicht mehr bewegten, war die Luft ziemlich frisch, und der Boden wirkte feucht. Der rasende Schmerz in meinem Fußgelenk wurde nach und nach zu einem tiefen Pochen. Ich schaute hoch und betrachtete die fremden Gebäude: die eleganten Backsteinmuster, die Verzierungen an den Fassaden, die Schindeln, die Fensterumrandungen und dazu die Vögel. Erst als Jamie mich anstieß, bemerkte ich die Frau, die über den Hof auf uns zukam.

Sie lächelte uns an. »Ihr seid früh«, sagte sie.

Das musste eine der Lehrerinnen sein. Ich nickte und lächelte strahlend zurück. »Unser Dad hat uns hergebracht, auf dem Weg zur Arbeit«, sagte ich. »Er hat gemeint, Sie würden gut auf uns aufpassen.«

Die Frau nickte. »Das werde ich auf jeden Fall«, sagte sie. »Möchtet ihr Tee?«

Als wir aufstanden, merkte sie natürlich, dass ich hinkte. Na ja, hinken ist nicht das richtige Wort, ich taumelte und musste froh sein, dass Jamie mich auffing. »Armes Ding«, sagte sie. »Was ist denn mit dir?«

»Ich hab mir wehgetan«, sagte ich. »Heute Morgen erst.« Was ja sogar stimmte.

»Darf ich mal sehen?«, fragte sie.

»Ach nein«, antwortete ich und zwang mich weiterzugehen. »Wird schon besser.«

 

Danach war alles leicht. Sicher war es das Unmöglichste, was ich jemals getan habe, aber zugleich war es eben doch leicht. Ich hielt mich an Jamie fest und ging einfach immer weiter. Der Hof füllte sich mit Kindern und Lehrerinnen, die Lehrerinnen ließen uns Reihen bilden. Ich hätte es nicht geschafft, die halbe Meile bis zum Bahnhof zu laufen – ich war inzwischen ziemlich am Ende –, aber auf einmal tauchte ein Gesicht vor mir auf, das ich wiedererkannte. »Bist du das, Ada?«, fragte Stephen White.

Er war das älteste der White-Kinder; zwischen Stephen und Billy gab es noch drei Mädchen. Alle fünf hatten sich um mich versammelt und starrten mich an. Sie hatten mich bis jetzt immer nur an meinem Fenster gesehen.

»Ja«, antwortete ich.

Stephen guckte überrascht. »Ich hab nicht gedacht, dass du mit uns mitkommst«, sagte er. »Ich meine, schon klar, du musst auch weg aus London. Aber unsere Mam hat gemeint, für solche wie dich gäb’s besondere Orte.«

Davon hatte meine Mam nie was gesagt. »Was meinst du mit ›solche wie mich‹?«, gab ich zurück.

Stephen schaute auf den Boden. Er war größer als ich und wahrscheinlich auch älter, aber nicht viel. »Ach, du weißt schon«, sagte er.

Und ob ich das wusste. »Krüppel«, sagte ich.

Erschrocken sah er mich an. »Nein«, gab er zurück. »Wie soll ich das ausdrücken? Zurückgeblieben, nicht ganz richtig im Kopf oder so. Das sagen alle über dich. Ich wusste nicht mal, dass du sprechen kannst.«

Ich dachte an die viele Zeit, die ich am Fenster gesessen hatte. »Aber ich spreche doch dauernd mit dir.«

»Ich weiß schon, dass du winkst und manchmal was brabbelst, aber« – man sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte – »wir können dich von unten nicht richtig hören. Wir verstehen nicht, was du sagst. Mir war nicht klar, dass du ganz normal reden kannst. Deine Mam sagt, du musst eingesperrt sein, damit du dir nichts tust.« Zum ersten Mal blickte er auf meine Füße. »Du bist also verkrüppelt?«

Ich nickte.

»Wie bist du hergekommen?«

»Gelaufen«, sagte ich. »Ich konnte Jamie nicht allein gehen lassen.«

»War das schwer?«, fragte er.

»Ja«, antwortete ich.

Etwas Seltsames glitt über sein Gesicht, eine Miene, die ich überhaupt nicht verstand. »Alle haben Mitleid mit deiner Mam«, erklärte er.

Darauf konnte ich nichts sagen.

Stephen fragte: »Weiß sie, dass du weg bist?«

Ich hätte ja gelogen, aber Jamie war schneller. »Nein«, sagte er. »Sie hat gemeint, Ada kriegt sie dann halt ab, die Bomben.«

Stephen nickte. »Mach dir keine Sorgen wegen dem Weg zum Bahnhof«, sagte er. »Ich nehm dich hoch.«

Ich wusste nicht, was er meinte, aber eine seiner kleinen Schwestern lächelte mich an. »Das macht er bei mir immer.«

Ich lächelte zurück. Sie erinnerte mich an Jamie. »Na, dann in Ordnung«, sagte ich.

Also trug mich Stephen White huckepack zum Bahnhof. Die Lehrerin, die uns den Tee gebracht hatte, dankte ihm für seine Hilfsbereitschaft. Wir bildeten eine lange Schlange, und die Lehrerinnen ließen uns There’ll Always Be an England singen. Als wir endlich am Bahnhof ankamen, war alles voller Kinder. Ich hätte nie gedacht, dass es auf der Welt überhaupt so viele Kinder gab.

»Kannst du allein in den Zug einsteigen?«, fragte Stephen und setzte mich ab.

Ich klammerte mich an Jamies Schulter. »Klar kann ich das.«

Stephen nickte. Er begann Billy und seine Schwestern zu einem Grüppchen zusammenzutreiben, aber dann drehte er sich noch mal zu mir um. »Warum sperrt sie dich überhaupt ein, wenn mit deinem Kopf alles in Ordnung ist?«

»Wegen meinem Fuß«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Das ist verrückt.«

»Also wegen … wegen irgendwas Bösem, was ich gemacht habe, dass mein Fuß so ist …«

Wieder schüttelte er den Kopf. »Verrückt.«

Ich starrte ihn an. Verrückt?

In dem Moment begannen die Lehrer zu rufen, und wir stiegen alle ein. Noch vor dem Zwölf-Uhr-Läuten setzte sich der Zug in Bewegung.

Wir waren entkommen. Hitlers Bomben und meinem Gefängnis. Allem. Verrückt oder nicht, ich war frei.

4

Die Zugfahrt war furchtbar, das ist klar. Anders als ich waren die meisten Kinder kein bisschen froh, dass sie wegkamen. Manche weinten, und ein Kind übergab sich in einer Ecke des Abteils. Die Lehrerinnen in unserem Waggon hatten viel zu tun. Sie mussten Erbrochenes wegmachen, die Jungs daran hindern, sich zu prügeln, und zum dritten oder zehnten oder hundertsten Mal erklären, dass es hier im Waggon leider keine Klos gäbe, wir müssten es eben einhalten, und nein, sie wüssten auch nicht, wie lange wir noch unterwegs wären. Es wusste nicht mal jemand, wohin wir überhaupt fuhren, und schon gar nicht, wie lange es noch dauern würde.

Keine Klos, nichts zu trinken, und unser Brot hatten wir aufgegessen. Ich schüttete Jamie ein bisschen Zucker auf die Hand, und er leckte ihn auf wie ein Kätzchen. Die Welt vor den Fenstern bewegte sich, immer schneller und schneller. Wenn ich die Augen nicht scharf stellte, wirbelte alles an mir vorbei und war ganz verschwommen. Wenn ich aber eine Einzelheit fest in den Blick nahm, stand sie still, während ich meinen Kopf nach ihr umdrehte. Auf die Art wurde mir klar, dass es der Zug war, der sich bewegte, nicht die Welt.

Irgendwann hörten die Häuser auf, und auf einmal war alles grün. Grün, überall grün. Ein strahlendes, bebendes, verblüffendes Grün, das in der Luft schwamm und bis hoch zu einem blauen, blauen Himmel ging. Gebannt starrte ich nach draußen. »Was ist das?«

»Gras«, sagte Jamie.

»Gras?« Also kannte er dieses große Grün? In unserer Gasse gab es kein Gras, es gab gar nichts wie das hier. Die Farbe Grün kannte ich von Kleidern oder Kohl, nicht von Feldern.

Jamie nickte. »Das wächst im Boden. So ein spitziges Zeug, aber weich, jedenfalls sticht es nicht. Gras gibt’s auf dem Friedhof. Um die Grabsteine rum. Und Bäume auch, so wie der da drüben.« Er zeigte aus dem Fenster.

Bäume waren hoch und dünn, wie Lauchstangen, nur in riesig und mit ganz viel buscheligem Grün obendran. »Wann warst du auf einem Friedhof?«, fragte ich, dabei hätte ich eigentlich fragen müssen: Was ist ein Friedhof? Es gab so endlos viel, was ich nicht wusste.

Jamie zuckte mit den Achseln. »Bei St. Mary. Wir haben da Bockspringen gemacht über die Grabsteine. Der Pfarrer hat uns verjagt.«

Ich schaute das Grün so lange an, bis es verschwamm. Ich war die halbe Nacht über wach geblieben, damit wir bloß nicht verschliefen, und jetzt sackten meine Augenlider immer weiter nach unten, bis Jamie flüsterte: »Ada. Ada, guck mal da!«

Ein Mädchen auf einem Pony jagte neben dem Zug her. Sie saß richtig obendrauf auf dem Pony, auf seinem Rücken, ihre Beine hingen an beiden Seiten runter. In den Händen hielt sie ein paar Riemen oder so ähnlich, die am Kopf des Ponys festgemacht waren. Das Mädchen lachte, ihr Gesicht strahlte vor Freude, und sogar mir war klar, dass auf dem Pony zu sein genau das Richtige für sie war. Sie lenkte das Pony, sie sagte ihm, was es tun sollte. Das war Reiten, sie ritt das Pony. Und das Pony rannte schnell.

Ich kannte Ponys aus unserer Gasse, aber da hatten sie immer nur irgendwelche Karren gezogen. Ich hatte nicht gewusst, dass man auf ihnen auch reiten konnte. Ich hatte nicht gewusst, dass sie so schnell sein konnten.

Das Mädchen beugte sich vor zur Mähne des Ponys, die im Wind flatterte. Ihre Lippen bewegten sich, als würde sie ihm etwas zurufen. Sie drückte die Beine gegen seinen Körper, und das Pony machte einen Satz nach vorn, wurde schneller, seine braunen Beine flogen, seine Augen leuchteten. Die beiden jagten neben dem Zug her, während der in einem großen Bogen um das Feld fuhr.

Da tauchte eine halbhohe Mauer vor ihnen auf. Ich keuchte. Sie würden dagegenkrachen. Wieso hielt das Mädchen ihr Pony nicht an?

Die beiden sprangen drüber. Sie sprangen über die Mauer und jagten weiter, während die Schienen immer weiter von dem Feld wegführten.

Auf einmal spürte ich das alles in mir, das Rennen und das Springen. Die Geschmeidigkeit, das Fliegen – ich begriff es mit meinem ganzen Körper, als ob das etwas wäre, was ich schon hundert Mal getan hätte. Ich wollte es zu gern wirklich tun. Ich klopfte gegen die Fensterscheibe. »Das werde ich auch machen«, verkündete ich.

Jamie lachte.

»Warum denn nicht?«, fragte ich ihn.

»Du kannst jedenfalls ziemlich gut gehen«, sagte er.

Ich erzählte ihm nichts von meinem Fuß, der so entsetzlich wehtat, dass ich nicht sicher war, ob ich jemals wieder laufen könnte. »Ja«, sagte ich. »Das kann ich.«

5

Der Tag wurde schlimmer. Das musste er ja. Der Zug hielt an und fuhr weiter, hielt wieder an und fuhr wieder weiter. Die Sonne strömte heiß zu den Fenstern herein, bis die Luft im Waggon zu kochen schien. Die kleinen Kinder weinten. Die großen zankten sich.

Endlich hielten wir an, aber auf dem Bahnsteig stand eine herrische Frau, die uns nicht rauslassen wollte. Erst stritt sie sich mit der Schulleiterin, dann mit den anderen Lehrerinnen, am Ende sogar mit dem Mann, der den Zug fuhr. Die Lehrerinnen sagten, wir müssten jetzt unbedingt aussteigen dürfen, und sie sollte doch um Gottes willen Erbarmen mit uns haben, aber die Frau, deren Gesicht wie aus Eisen war und die eine Soldatenuniform trug, bloß mit einem Rock, klopfte mit der Hand auf ihr Klemmbrett und weigerte sich.

»Mir wurden siebzig Mütter mit Kleinkindern angekündigt«, erklärte sie. »Und nicht zweihundert Schüler und Schülerinnen. Genau so steht es hier.«

»Mir ist vollkommen egal, was da in Ihren Papieren steht«, schimpfte die Schulleiterin zurück.

Die Lehrerin, die für unseren Waggon zuständig war, schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. »Raus mit euch«, sagte sie zu uns. »Im Bahnhof sind Klos. Wir finden auch was zum Essen und Trinken für euch. Ab nach draußen.«

Und wir stürmten los, eine donnernde Herde. Die anderen Lehrerinnen machten es genauso, sie öffneten einfach die Waggontüren. Die Frau mit dem Eisengesicht guckte böse und brüllte Befehle, die niemand beachtete.

So viel Lärm und Gedränge hatte ich noch nie erlebt. Das war besser als jedes Feuerwerk.

Jamie half mir beim Aussteigen. Ich war ganz steif und musste wahnsinnig dringend. »Zeig mir, wie man ein Klo benutzt«, sagte ich zu Jamie. Das klingt komisch, aber es war mein erstes richtiges Klo. Zu Hause gab es zwar ein Gemeinschaftsklo für uns und die Wohnung nebenan, aber ich nahm immer einen Eimer, und Mam oder Jamie leerten ihn aus.

»Ich glaub, ich muss zu den Jungs«, sagte Jamie.

»Wie meinst du das?«

»Siehst du das?« Er zeigte auf zwei Türen. Tatsächlich gingen alle Jungen durch die eine Tür und alle Mädchen durch die andere. Nur dass jetzt gar niemand irgendwo hinging, sondern alle Schlange standen.

»Dann sag mir, was ich machen muss.«

»Du pinkelst rein und dann spülst du runter.«

»Was heißt spülen? Wie geht das?«

»Da ist so eine Art Griff, den drückst du runter.«

Ich wartete, bis ich dran war, dann ging ich rein und fand heraus, wie alles funktionierte, auch das Spülen. Es gab auch Waschbecken, und ich spritzte Wasser in mein heißes Gesicht. Vor mir stand ein Mädchen – das zerlumpteste und schäbigste Mädchen, das ich je gesehen hatte – und benutzte das Waschbecken direkt gegenüber, was mir irgendwie komisch vorkam. Ich guckte sie stirnrunzelnd an, und sie guckte stirnrunzelnd zurück.

Auf einmal wurde mir klar, dass ich in einen Spiegel schaute.

Mam hatte einen Spiegel. Aber der hing hoch oben an der Wand, und ich hatte mich nicht weiter um ihn gekümmert. Jetzt starrte ich in den hier, voller Entsetzen. Ich hatte gedacht, ich sähe genauso aus wie die anderen Mädchen. Aber meine Haare waren nicht glatt wie ihre, sondern verknotet und wirr. Meine Haut war viel blasser, fast weiß wie Milch, bloß dass sie zugleich grau wirkte, besonders am Hals. Die schmutzige Hornhaut an meinen Knien stach unter dem abgetragenen Rock hervor, der mir auf einmal schmuddelig vorkam und viel zu klein für mich war.

Aber was konnte ich schon tun? Ich atmete tief durch und stakste nach draußen, wo Jamie auf mich wartete. Ich musterte ihn mit einem neuen, kritischen Blick. Auch er war schmutziger als die anderen Jungen. Sein Hemd war so verblichen, dass man nicht hätte sagen können, welche Farbe es hatte, und seine Fingernägel hatten schwarze Ränder.

»Wir hätten baden sollen«, sagte ich.

Jamie zuckte mit den Achseln. »Ist doch egal.«

Aber das war es nicht.

 

Wenn ich zu Hause aus meinem Fenster auf die gegenüberliegende Seite der Gasse schaute, gab es drei Häuser weiter links an der Ecke einen Fischladen. Jeden Morgen wurde dort Fisch angeliefert und zum Verkaufen auf einem dicken, kühlen Steinblock ausgelegt. In der Sommerhitze wurde Fisch schnell schlecht, darum wählten die Frauen sorgfältig aus, welchen sie haben wollten, und nahmen nur den frischesten und besten.

Mit uns Kindern war es das Gleiche: Wir waren Fische auf einer Steinplatte. Die Lehrerinnen scheuchten uns die Straße entlang in ein großes Gebäude, wo wir uns an der Wand aufstellen mussten. Männer und Frauen aus dem Dorf liefen einer nach dem anderen vorbei und begutachteten uns, ob wir süß und hübsch und gesund genug wären, um uns mit zu sich nach Hause zu nehmen.

Dass sie nicht viel hielten von dem Angebot, das sie da zu sehen bekamen, war deutlich an ihren Gesichtern zu erkennen und an dem, was sie redeten.

»Gütiger Gott«, sagte eine Frau, die an den Haaren eines kleinen Mädchens geschnüffelt und den Kopf schnell wieder weggezogen hatte. »Was sind die dreckig!«

»Sie werden sich waschen«, sagte die Frau mit dem Eisengesicht. Sie stand mit ihrem Klemmbrett mitten im Raum und bestimmte, was hier zu passieren hatte. »Wir müssen großzügig sein. So viele hatten wir nicht erwartet. Aber wir müssen unseren Teil beitragen.«

»Ist aber nicht mein Teil, mir so ’ne Bande Stadtratten ins Haus zu holen«, gab ein alter Mann zurück. »Was für ein schmutziger Haufen! Die sehen ja aus, als täten sie uns im Schlaf abmurksen.«