Grenzbereiche - Barbara Kreuß - E-Book

Grenzbereiche E-Book

Barbara Kreuß

0,0

Beschreibung

Griminalrad. So nennen Hauptkommissar Langer und Kommissar Staudinger aus Freyung spontan ihren neuen Chef. Sie werden mit ihm nicht nur innerbayerische Sprachgrenzen austesten. Ermittlungen jenseits von Einbruchsdiebstählen, Verkehrsunfällen und Schmuggel aller Art nehmen rasant an Fahrt auf. Sie führen vom Bayerischen Wald bis an die Ostsee. Über ganz persönliche Grenzbereiche hinaus.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 290

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



edition Lichtland

© Barbara Kreuß

edition Lichtland

Stadtplatz 6, 94078 Freyung

Deutschland

Umschlagfoto: Fotostudio Eder, Christel Eder

Umschlaggestaltung und Satz:Edith Döringer, Melanie Lehner

Illustrationen:omnimoney/Shutterstock.com

2. Auflage 2023

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978-3-947171-64-4

ISBN der gebundenen Ausgabe: 978-3-947171-50-7

www.lichtland.eu

Barbara Kreuß

GRENZBEREICHE

Schatten der Vergangenheit

Inhalt

Prolog

Januar

Februar

März

April

Mai

Juni

Juli

Dies ist ein Roman.

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Prolog

Das Licht zwängte sich durch die Lamellen der Verdunklung und zeichnete schwarze Schattenstreifen auf seine Bettdecke. Sie wanderten allmählich dem tiefen Zimmerschatten entgegen.

Es waren 37 schräge Balken. Das ergab 10, Prüfziffer 1.

Ist das Licht noch dasselbe, wenn es so zerschnitten wird?

Er hing dem Gedanken nach.

Und wie ist das mit der Luft, die durch ein Fliegengitter in den Raum kommt?

Wird sie gesiebt?

Hat sie noch alle ihre Bestandteile?

Er war zu solch müßigen Gedanken verurteilt, denn sonst blieb ihm nichts.

Weil er mit dicken Ledergurten festgeschnallt war, konnte er sich auch nicht bewegen.

Nichts tun.

Januar

Der Wind strich über die Fichtengipfel. Aus dicken dunkelgrauen Wolken fiel zeitlos Schnee.

In der Pension am Wald brannte Licht.

Gesine Langer saß am Schreibtisch und erledigte die Post.

Heute war sie nicht ganz bei der Sache.

Immer wieder blickte sie hinaus in den tiefverschneiten Garten. Es fielen dicke weiße Flocken aus dem schmutziggrauen Januarhimmel.

Spät war der Schnee in diesem Winter gekommen. Die Gäste hatten schon bei der Buchung ungeduldig gefragt, wieviel denn nun liege. Aber die weiße Pracht hatte sich bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag Zeit gelassen. Dann kam sie allerdings mit Macht. Schon nach zwei Tagen begannen sich die Leute zu beklagen. Ja, nicht einmal das Wetter konnte es allen Leuten recht machen.

Gesine senkte den Kopf wieder und ordnete die Dezemberbelege für die Buchhaltung. Eigentlich konnte sie zufrieden sein. Das Haus war ausgebucht bis Mitte März, dann würde es ruhiger werden. Die Restaurantgäste kamen regelmäßig und unabhängig von der Witterung. Familienfeste und Betriebsfeiern hatten sie sowieso das ganze Jahr über.

Der dichte Flockenfall und das typisch gelbliche Schneelicht wirkten einschläfernd. Nicht nur das. Gestern war es wieder spät geworden.

Geburtstagsfeiern zogen sich hin.

Gesine dehnte sich ein wenig und stand auf.

Sie holte einen Ordner aus dem Regal und kehrte zum Schreibtisch zurück.

Seltsam, der Blick aufs neue Jahr erfüllte sie mit tiefem Unbehagen. Das ging schon eine ganze Weile so.

Auch vergangene Nacht hatte sie wieder diesen bedrückenden Traum gehabt, der sie schon die ganze letzte Zeit verfolgte. Sie saß in einer kleinen Kammer auf einem unbequemen Stuhl, als hätte man sie weggesperrt. Und dann rückten Wände und Decke immer näher auf sie zu und drohten sie zu zerquetschen. Es war beklemmend und verstörend. Und dann war es plötzlich so weit. Wände und Decke berührten sie. Sie war so eingeengt, dass sie fast keine Luft mehr bekam und hilflos, wie ein Fisch auf dem Trockenen, nach Luft schnappte. Da wachte sie endlich schweißgebadet auf. So nahe waren ihr die Wände noch nie gekommen.

Klaus, neben ihr, atmete ruhig und tief.

Er sagte immer, er träume selten und meist erinnere er sich auch nicht daran.

In diesen Alpträumen hatte Gesine oft das Gefühl, nicht sie selbst zu sein. War es dann Klaus, der auf dem Stuhl saß?

Fühlte sie für – mit ihm?

Die Beklemmung war ebenso groß.

Der Traum war so eindringlich, so real, als ob sich eine Bedrohung näherte. Wem sie nun genau galt, wusste sie nicht.

Wenn sie allerdings an den Beruf ihres Mannes dachte, tendierte sie dazu, dass er der Betroffene sein könnte und sie, quasi eingesperrt, ihm nicht helfen konnte.

Unwillig strich sie ihr Haar zurück.

Genug mit dem Blödsinn!

Gesine gehörte nicht zu den Leuten, die sich so schnell von Träumen beeinflussen ließen.

Dazu war sie zu sehr Realistin. Wahrscheinlich war es der Stress, der ihr auf diese Weise zusetzte. Deshalb hatte sie auch Klaus noch nichts davon erzählt. Klaus Langer war Kriminalbeamter und hatte beruflich genug um die Ohren.

Sicher hätte er sie nicht ausgelacht, nur gegrinst, auf seine jungenhafte Art, die sie so mochte.

Wenn sie jemandem etwas sagen würde, dann am ehesten Marlene, ihrer langjährigen Schulfreundin. Marlene würde allerdings daraus gleich eine reale Sache konstruieren. Sofort würde sie ergründen wollen, wer vielleicht da Böses plane. Sie würde Gesine mit Fragen löchern um der Sache auf den Grund zu gehen. Das war ihre Art mit Träumen umzugehen.

Aus der Küche drang gedämpft der geschäftige Lärm der Küchenbelegschaft. Die Mannschaft war jung und immer zu dummen Späßen aufgelegt. Erst gestern hatte jemand die Kochmütze des jüngsten Lehrlings innen dick mit Senf beschmiert. Es galt immer noch: Wer lernt, muss leiden! Sie dachte lächelnd an die rohen Eier, die man ihr damals in die Schürze praktiziert und gezielt zerdrückt hatte …

Kommissar Staudinger hatte an diesem Morgen die allergrößten Schwierigkeiten aus dem Bett zu kommen. Sein Kopf schmerzte heftig, als hätte er gestern schwer einen über den Durst getrunken. Das war aber überhaupt nicht der Fall gewesen.

Als er schließlich aufstand, musste er sich die Wand entlang tasten, weil er so schwindlig war.

Wie ein Häufchen Elend stand er schließlich im Bad und betrachtete den Fremden, der ihm da aus dem Spiegel entgegen sah. Der Bleiche, Bärtige vor ihm, hatte über Nacht ausgeprägte Hamsterbacken bekommen. Sogar die Ohrläppchen standen ab. Aber Staudinger konnte sich nicht dazu durchringen, das alles mit den Händen zu überprüfen.

Als seine Frau ins Bad kam, meinte sie nur, „Oh, oh, jetzt haben dich die Kinder angesteckt!“

„Womit angesteckt?“

„Der Freund vom Franzl hat vor drei Tagen auch so ausgeschaut. Der liegt nämlich mit Mumps im Bett. Am besten legst du dich auch gleich wieder nieder, damit ist nicht zu spaßen!“

Staudinger tappte gehorsam zurück in sein warmes Bett.

Dass von ihm absolut kein Widerspruch kam, zeigte allein schon den Ernst der Lage.

Hilde Staudinger rief in der Dienststelle an und entschuldigte ihn.

Hauptkommissar Langer stand im Stau auf der B 12 in Höhe von Heldengut. Hier unten schien die Sonne. Die graue Sturmhaube des Kammes hatte er schon am Wettertor unter Herzogsreut verlassen. Er konnte das lange, gerade Straßenstück im offenen Gelände nicht überblicken. Starke Windböen wirbelten Schnee auf und verfrachteten ihn auf die Fahrbahn. Die lockere Pulverschneedecke, etwa 30 cm, bot jede Menge Nachschub. Einen Augenblick lang hielt der steife Ostwind inne. Er konnte plötzlich erkennen, dass sich die Fahrzeugkolonne an einem schräg stehenden Lkw staute, dessen Anhänger auf den abfallenden Straßendamm geraten war.

Das wird dauern.

Dabei sollte Langer heute pünktlich sein, eine tschechische Delegation war angemeldet. Geplant war „der Austausch von Beamten, zur weiteren Verbesserung und Intensivierung der Zusammenarbeit über die Staatsgrenze hinweg“.

Ungeduldig klopfte Langer auf seinem Steuerrad herum.

Als hinter ihm gehupt wurde, drehte er sich unwillig um. Da öffnete sich die Beifahrertüre des nachfolgenden Wagens. Jemand stieg aus und kam zu ihm nach vorne.

Seine Autotür wurde geöffnet.

„Guten Morgen, Herr Kommissar! Darf ich?“

Und schon schob sich ein junger Mann herein und setzte sich neben ihn.

„Ja der Pavel!“

Langer lachte.

„Sag bloß, du gehörst zur tschechischen Delegation!“

„Ja, eigentlich bin ich die Delegation, abkommandiert zum Dienst in Bayern.“

„Mensch, das freut mich aber!“

Sie drückten sich die Hand.

„Dann werden wir wieder einmal zusammenarbeiten!“, lachte Pavel.

„Das können wir gut, wir haben es schon bewiesen.“

“Kann ich mit Ihnen fahren?“

„Na klar.“

„Dann hole ich nur schnell mein Gepäck.“

Langer nickte.

Pavel wuchtete eine große und eine kleine Reisetasche auf den Rücksitz. Der tschechische Wagen hinter ihnen scherte aus der Kolonne aus und kehrte um.

Pavel Studinka war Sonderermittler der tschechischen Polizei. Er arbeitete oft auch mit den Grenzbehörden zusammen. Dabei hatten sie sich längst kennengelernt.

„Hast du eine Ahnung, wer von unseren Leuten zu euch hinüber kommt?“

„Ja, jemand aus der Oberpfalz mit phantastischen Kenntnissen in Tschechisch.“

Die tschechische Sprache war nach wie vor eine große Barriere zwischen den beiden Ländern.

Vorne kam Bewegung in den Fahrzeugknäuel.

Ein eifrig winkender Polizist dirigierte Autos zurück, um mehr Platz zu schaffen. Der Lkw wendete und räumte die Fahrbahn. Der Anhänger hing wie ein gestrandeter, großer Käfer am Straßenrand.

Wie durch ein Wunder, war der ganze Unfall glimpflich abgelaufen. Der nachfolgende Wagen hatte wegen des Wachelwetters größeren Abstand gehalten. Langer ebenso. Deshalb konnte er auch rechtzeitig anhalten, als der Lkw wegen der plötzlich auftauchenden Schneewechte in Schwierigkeiten geriet. Nur weiter hinten gab es ein paar Blechbeulen.

Langer konnte endlich weiterfahren.

„Hast du schon ein Quartier?“

„Nein, ich dachte ich könnte vielleicht bei Ihrer Frau, in der Pension am Wald, unterkommen.“

„Das geht natürlich. Aber da werden bald die Handwerker kommen. Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Du kennst doch meine Junggesellenwohnung in Freyung, da könntest du bleiben.“

„Keine schlechte Idee. Warum haben Sie die immer noch?“

„Ach, das ist eigentlich ganz praktisch. Meine Frau baut fast jedes Jahr irgendetwas um. Da kann ich dann die Flucht ergreifen.“

„Heißt das, wir wohnen beide da?“

„Aber nein, da kannst du ganz beruhigt sein“, lachte Langer.

„Wie ist Ihr neuer Chef?“, wollte Pavel wissen.

„Na ja, ein Franke.“

„Was heißt das?“

„Weißt du, wir haben da manchmal Mentalitätsprobleme. Wir Niederbayern sind etwas zurückhaltender und manche Franken drängen uns dann gerne in die dumme Ecke.“

„Verstehe. Das Verhältnis ist nicht allzu herzlich.“

„Ja, so könnte man sagen. Das wäre alles nicht so schlimm, wenn er nicht so extrem wäre. Er mischt sich immer und überall ein. Stell dir vor, er fährt am liebsten mit hinaus zu den Tatorten und bringt dort alles durcheinander. Ich frage mich nur, wie haben wir je einen Fall lösen können, ohne ihn?

„Oh je, da hat einer die falsche Laufbahn gewählt.“

Nachdem sie sich durch Freyungs neue Mitte gezwängt hatten, erreichten sie endlich die Dienststelle.

Kriminalrat Meisl wartete schon ungeduldig in Langers Büro.

Er setzte schon zu einer Standpauke an, als er Pavel entdeckte.

Sein breites rundes Gesicht, mit den dicken Backen, zerfloss sofort in überschwänglicher Freundlichkeit.

„Sie sind sicher der erwartete Kollege aus Tschechien. Ich bin Kriminalrat Ignaz Meisl.“

Dabei ergriff er Pavels Hand und schüttelte sie so ausgiebig, als wolle er den ganzen Arm aus der Schulter rütteln.

„Freut mich, freut mich!“

Er verschwendete keinen Blick mehr an Langer und zog Pavel mit sich fort.

Der blickte sich noch hilflos um und verdrehte die Augen.

Langer grinste und öffnete erst einmal das Fenster, um Meisls aufdringlichen Rasierwasserduft etwas zu verdünnen.

Ein Zettel von der Wachstube lag auf seinem Schreibtisch.

„Kollege Staudinger krankgemeldet.“

Er öffnete die Tür.

„Guten Morgen. Wisst Ihr was Näheres vom Staudinger?“

Kopfschütteln.

„Keine Ahnung.“

Langer schloss das Fenster wieder. Draußen hatte es minus 5 Grad, obwohl die Sonne schien.

Meldungen von Einbrüchen lagen in einem Körbchen, sortiert nach Ortschaften.

Von der Bundespolizei gab es einen Monatsbericht über Waren- und Rauschgiftschmuggel.

Und da lag noch die Suchmeldung nach zwei vermissten älteren Leuten.

Wenn die bei der Kälte draußen irgendwo herumgeirrt sind …

Langer schob den Gedanken ans Älterwerden gern weit weg. Dabei hatte er nur noch ein paar Jahre zum Pensionsalter. Irgendwie würde sich das alles finden.

Er war froh, als das Telefon läutete und ihn aus seinen düsteren Gedanken holte.

Ein Einbruch war gemeldet worden.

Langer nahm den neuen Praktikanten mit. Er hieß Hans Albers und musste wegen seines Namens eine Menge Hänseleien einstecken.

Aber er nahm alles mit Humor.

Albers war ein sehr magerer, hoch aufgeschossener junger Mann.

Langer kam sich neben ihm immer uralt und zu dick vor.

„Willst du fahren?“

„Aber gerne. Kommt der Herr Griminalrad heute nicht mit?“

„Nein. Gottseidank hat er anderes zu tun“, grinste Langer.

Kriminalrat Meisl wurde intern nur der Griminalrad genannt, wegen seiner fränkisch weichen Aussprache.

„Wir müssen zum Seehaus.“

„Wo geht’s lang?“

Langer dirigierte ihn zur Zuppinger Straße und Richtung Kaserne Süd Tor. Davor bogen sie ab, hinunter zur Ohe. Die Straße führte ein kleines Stück am Bach entlang.

Langer sah sich erschrocken um.

Du meine Güte, wie sieht es denn hier aus?

Ein Riesenpfeiler der B 12 Brücke ragte plötzlich vor ihnen auf. Er war lange nicht mehr hier gewesen, aber so schlimm hatte er es sich nicht vorgestellt.

Gleich hinter dem Pfeiler lag eine Ausflugsgaststätte, direkt am Stausee. Seltsam düster stand das Anwesen vor ihnen im Schatten der Brücke. Kein Mensch war zu sehen.

Sie stiegen aus.

Langer blickte sich um, da brach der Schuss.

Er fiel um wie ein Baum.

Dadurch verfehlte ihn der zweite Schuss.

Nun nahm der Angreifer den Praktikanten ins Visier.

Der warf sich nieder und kroch so weit wie möglich unter den Wagen.

Garbe um Garbe krachte ins Auto, dann war plötzlich Ruhe.

In der eintretenden Stille hörte Albers, wie ein Motorrad angetreten wurde. Dann schoss es um die Hausecke direkt auf sie zu.

Albers schloss die Augen.

Steinchen flogen auf und die Maschine fuhr davon.

Albers kramte nach seinem Handy.

„Mayday, Mayday!“, rief er atemlos hinein.

„Wir wurden beschossen. Kommissar Langer wurde getroffen. Bitte schickt schnell einen Krankenwagen und einen Notarzt. Wir sind unter der B 12 Brücke, beim Seehaus!

Mayday, Mayday! Habt ihr gehört?“

Nach einem Augenblick der Stille rief der Kollege: „Bleib wo du bist, wir kommen sofort!“

Plötzlich begannen Albers‘ Zähne zu klappern.

Er konnte überhaupt nichts dagegen tun.

Er rappelte sich auf und lief zu Langer hinüber.

Dessen Kopf war blutüberströmt, aber er atmete.

Albers verband den Schwerverletzten notdürftig mit seinem großen weißen Taschentuch, das er frisch gebügelt, im Anorak gefunden hatte.

Es dauerte nicht lange, da hörte er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge.

Pavel Studinka sprang aus dem Polizeifahrzeug, gefahren war Polizeimeister Mundl.

Langer beschwichtigte sie.

„So schlimm ist es nicht, ich lebe ja noch!“

Der Notarzt scheuchte die beiden Polizisten zur Seite und kümmerte sich um ihn.

Kurz darauf nickte er ihnen beruhigend zu und Langer wurde ins Krankenhaus gebracht.

Hans Albers hatten sie in eine dicke Decke gehüllt. Ein wenig verloren stand er mitten unter den wuselnden Beamten der Spurensicherung.

Pavel Studinka sah, wie mitgenommen er war und setzte sich mit ihm in den warmen Streifenwagen.

„Jetzt erzähle mir der Reihe nach genau, was passiert ist.“

Albers schluckte.

„Es ging alles so schnell! Wir sind hergekommen und ausgestiegen und schon hat es gekracht.

Langer ist auf den ersten Schuss umgefallen. Dann hat es weiter gekracht und ich bin in Deckung gegangen und dann ist er mit dem Motorrad direkt auf uns zu und dann weg!“

„Kannst du das Motorrad beschreiben?“

Albers nickte.

„Es war eine große, sehr schwere Maschine. Sie war schwarz mit viel Chrom. Der Fahrer war auch ganz in Schwarz, Helm, Lederzeug und so.“

„Und das Zulassungsschild? Konntest du das lesen?“

„Nein, es ging zu schnell. Er bretterte vorbei Richtung Kaserne und dann die Straße zum Schwimmbad. Man konnte ihn gut hören, so laut war er.“

„Wohin ist er dann abgebogen?“

Albers dachte nach.

„Ich glaube nach rechts, er war auf einmal wieder lauter.“

„Das ist ja ganz wunderbar!“

Studinka klopfte ihm auf die Schultern.

Studinka sah sich hinter der Ausflugsgaststätte um. Eine Langwaffe lag auf dem Boden, inmitten leerer Patronenhülsen.

Er winkte den Kollegen.

Dann informierte er sie über den Abgang des Motorradfahrers.

„Wenn er nach Österreich möchte, wohin müsste er nun fahren?“

Polizeimeister Mundl wusste es ganz genau.

„Da gibt’s in Kumreut eine Querverbindung zur WOS 1. Die mündet in Karlsbachmühle. Von dort weiter nach Waldkirchen und die Umgehung Richtung Neureichenau und Landesgrenze.“

„Postieren Sie einen Wagen in Waldkirchen, vielleicht erwischen wir ihn noch!“

Mundl nickte und setzte sich mit den Kollegen vor Ort in Verbindung. Denen war bereits ein Motorradrowdy auf der WOS 1 gemeldet worden.

Als er knatternd die Umgehung Richtung Jandelsbrunn passierte, waren sie schon drei Wagen hinter ihm. Vorerst ohne Blaulicht.

Die österreichischen Kollegen wurden verständigt.

Die bayerischen Beamten hörten im Polizeifunk mit.

Da entdeckte der Rowdy, weit voraus, den entgegenkommenden österreichischen Polizeiwagen.

Sofort verließ er den Autobahnzubringer und fuhr steil bergauf Richtung Jägerbild/Wegscheid. Der Waldkirchner Polizeiwagen fuhr sofort hinterher, mit Blaulicht und Martinshorn.

Bis die Österreicher gewendet hatten, waren die beiden Fahrzeuge in irgendeiner Forststraße verschwunden.

„So ein Sch …!“

„Geh‘ ruf‘ die Kollegen am Rannasee an. Vielleicht will er da hin!“

Die wilde Jagd hinter dem Motorradfahrer her endete abrupt. Plötzlich stand auf der Forststraße ein Holztransporter, der gerade mit Stammholz beladen wurde. Er blockierte die ganze Straßenbreite.

Der Motorradfahrer schlüpfte vorbei und weg war er.

Die Österreicher konnten ihn im Wegscheider Raum auch nicht wieder ausfindig machen.

Pavel Studinka fuhr mit Albers ins Krankenhaus. Es war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut.

Hoffentlich ist er nicht schwerer verletzt, wie auf den ersten Augenschein des Notarztes!

Sie fanden einen etwas bleichen und müde wirkenden Langer.

„Ich habe Glück gehabt, glatter Streifschuss. Aber die wollen mich doch allen Ernstes noch hierbehalten!“, klagte er.

„Nur die Ruhe! Oder wollen Sie in Zukunft ständig Kopfweh haben?“

Pavel siezte Langer noch immer. Der hatte ihm längst das „Du“ angeboten, aber für Pavel war das „Sie“ ein Zeichen seiner Verehrung für den bayerischen Beamten.

„Ich sehe schon, ich bin anscheinend genau im richtigen Moment nach Bayern gekommen.“

Langer sah ihn erst erstaunt an, nickte dann aber vorsichtig.

Dann fiel sein Blick auf den bleichen Hans Albers.

„Danke, das hast du gut gemacht, Mayday.“

Albers wurde rot bis unter die blonden Locken, aber seinen Spitznamen hatte er nun.

Da wurde die Tür aufgerissen und der Griminalrad stürzte herein.

„Wie stümperhaft haben Sie sich denn da wieder angestellt!“, rief er aufgebracht.

„Aber das musste ja so kommen, weil ich nicht dabei war!“

Er brüllte so laut, dass eine Krankenschwester kam und ihn vor die Türe setzte.

„Mäßigen Sie sich, der Mann ist schwer verletzt!“

Pavel schüttelte den Kopf über diesen Auftritt.

„Führt der sich immer so auf?“

Langer nickte vorsichtig.

„Vielleicht könnte man ja ihn ein paar Tage wegsperren!“, schlug er vor.

„Ich habe eine bessere Idee“, meinte Pavel und ging hinaus zum Telefonieren.

Pavel hatte gute Verbindungen, auch nach München.

„Also“, eröffnete er Langer kurz darauf, „man wird Sie mit dem Hubschrauber nach München bringen.“

„Aber so schlimm ist es doch gar nicht!“

„Das ist auch wunderbar, aber das wissen die anderen ja nicht. Sie sind dann auf alle Fälle aus der Schusslinie. Entschuldigen Sie den Vergleich.“

„Ich verstehe schon. Dann könnte ich in München gleich einmal Nachforschungen anstellen, ob nicht einer meiner früheren Klienten die Finger im Spiel hatte.“

„Genau.“

„Pavel, eine Bitte hätte ich. Ich darf hier nicht telefonieren. Könntest du meine Frau verständigen, sie denkt sonst Gott weiß was!“

„Na klar. Gerne.“

Februar

Kommissar Staudinger hatte hohes Fieber. Seine Frau machte ihm Wadenwickel.

Sie hatte ihm von Langers Unfall noch nichts erzählt. Sie kannte ihren Mann, der wäre im Bett nicht mehr zu halten gewesen, auch wenn es ihm noch so schlecht ginge.

Der Griminalrad hatte sich schon zweimal gemeldet, äußerst ungnädig. Er tat glatt so, als ob Staudinger simuliere und sich einfach ein paar freie Tage nähme.

Kotzbrocken, fränkischer.

Auch davon erzählte sie ihrem Mann nichts, er hätte sich nur unnötig aufgeregt.

Gesine war mit nach München geflogen.

Ihre Freundin Marlene würde sie in den nächsten Tagen in der Pension vertreten.

In der Presse war ein groß aufgemachter Bericht erschienen. Danach kämpfte der schwerverletzte Kommissar ums Überleben. Sogar ein Fernsehteam war bei der Polizei erschienen, aber der Griminalrad hatte es vorläufig abgewimmelt.

Studinka und Albers hatten im Seehaus nachgeforscht. Am Tag des Zwischenfalls war Ruhetag, es war niemand im Haus. Der Inhaber wohnte in Ort. Als sie ihn schließlich antrafen, war er sehr bestürzt über den Vorfall. Es war ihm in der letzten Zeit aber nichts aufgefallen.

Eines war klar, der Täter hatte gute Ortskenntnisse. Offensichtlich wusste er auch vom Ruhetag und dass er hier, an diesem abgelegenen Gasthaus, keine Störung zu erwarten hatte.

Aus der Alarmierung war nicht viel ersichtlich. Ein Mann hatte angerufen: „Bei mir hams eibrocha!“ Dann kam nur noch die Adresse. Einheimischer Dialekt, sonst nichts.

Wer konnte hinter der Tat stecken?

Der Griminalrad hielt sich auffallend zurück. Jeder dachte, dass er nun die Ermittlungen an sich reißen würde, aber das Gegenteil war der Fall. Er interessierte sich gar nicht sonderlich dafür. Seiner Meinung nach war Langer selbst schuld. Aus. Mit Meisls Beliebtheit war es nie weit her gewesen, aber dieses Desinteresse erschien den Kollegen schon als schnöder Verrat.

Pavel saß an Langers Schreibtisch und Albers saß ihm gegenüber.

„Wir sind ja ein lustiges Paar“, grinste Pavel.

„Du bist so neu hier, dass du dich noch nicht auskennst und ich bin wohl ein alter Hase, aber auf fremdem Gebiet. Und der Kollege Staudinger, der wüsste wie es hier läuft, der liegt mit Ziegenpeter im Bett.“

„Was machen wir nun?“, wollte Albers wissen.

„Wir müssen im Archiv kramen, alte Akten durchsehen. Bei welchen Fällen war Langer maßgeblich beteiligt, wer könnte Rachegefühle haben und wer von den Leuten ist in letzter Zeit freigekommen?“

„Das ist eine klare Ansage.“

Albers verschwand in der Wachstube. Hauptwachtmeister Mundl war ihm eine große Hilfe und schon kurze Zeit später schleppten sie Armvoll alte Akten aus dem Keller, die aus Personalmangel noch nicht elektronisch erfasst worden waren.

Nach 8 Tagen war Staudinger über dem Berg. Sein Appetit kehrte zurück und sein Gesicht hatte wieder seine normale rundliche Form angenommen. Er wollte absolut nicht mehr das Bett hüten und hatte im Wohnzimmer im Fernsehstuhl Platz genommen. Dann begann er eifrig den angefallenen Berg Tageszeitungen abzuarbeiten.

„Hilde!“

Als seine Frau nicht gleich erschien, rief er noch einmal: „Hilde!“

„Mein Gott, was is‘n los?“, fragte sie ganz ahnungslos und stellte den Wäschekorb auf den Boden.

„Ich frage dich, was ist da passiert und warum hast du mir das alles nicht gesagt?“, rief er erbost und wies auf den Pressebericht über den Anschlag auf Langer.

Angriffslustig stemmte sie die Arme in die Hüften.

„Jetzt frage ich dich. Was hättest denn machen können, mit deinem hohen Fieber? Halb tot bist im Bett gelegen. Wie ein Packerl Kunsthonig in der Mittagssonn‘!“

Staudinger riss den Mund noch einmal auf, sagte aber dann doch nichts. Sie hatte ja Recht.

„Aber weißt wenigstens wie‘s ihm geht?“

„Der Mundl hat mir unterm Siegel der Verschwiegenheit verraten, dass es schlimmer ausg‘schaut hat, als wie‘s war. Aber vorsorglich haben’s ihn nach München verlegt. Sie meinen, der Täter könnt‘ es noch einmal probier‘n!“

„Ahmhm. Und wer leitet die Ermittlungen?“

„Der Studinka und der Mayday.“

„Wer ist denn das?“

Sie erzählte ihm vom Hilferuf des Praktikanten und Staudinger lachte.

„Des passt. Und der Griminalrad?“

„Der, haben’s g‘sagt, der kümmert sich gar net. Der Langer wär selber schuld.“

“Der Frank, der preußische! Und morgen geh‘ ich ins Büro, dass du‘s weißt, und wenn du mich am Stuhl anbändest!“

Staudingers Frau nickte ergeben. Dann würde zu Hause alles wieder seinen geregelten Gang gehen. Ein krankes Mannsbild brachte doch allerhand durcheinander.

Der Februar hatte große Kälte und erneut Schnee gebracht. In den letzten Tagen war auch wieder der Böhmwind dazu gekommen. Durch diesen eisigen Ostwind fühlten sich die Temperaturen gleich noch niedriger an.

Kommissar Staudinger war an diesem Morgen von seiner Frau noch ordentlich eingepackt worden. Klaglos hatte er den dicken Schal und die Wollmütze übergezogen. Als er die Wachstube betrat, war das Hallo groß.

„Na, bist nimmer ansteckend?“, neckte ihn Hauptwachtmeister Mundl.

„Du hast ja schon Kinder, braucht dich also gar nimmer kümmern“, gab Staudinger heraus.

Alle lachten.

„Wie geht’s denn dem Langer, wisst Ihr was Neues?“

„Ja, soweit schon ganz gut. Sie müssen noch was richten, dass da wieder Haare wachsen, da wo ihn der Schuss gestreift hat. Aber aus dem Krankenhaus haben‘s ihn schon entlassen.“

„Na, des is ja scho prima!“

Schwungvoll öffnete er die Bürotür und fand seinen Schreibtisch besetzt.

„Äha! Kaum ist man ein paar Tage weg, schon ist man ersetzt“, stellte er ernüchtert fest.

Albers war erschrocken aufgesprungen, als Staudinger so plötzlich auftauchte.

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar, aber ich wusste nicht …“, stotterte er herum.

Studinka stand auf und begrüßte ihn.

„Na, alles gut überstanden? Sind Sie nicht mehr ansteckend, Herr Kommissar?“

„Wer weiß, wer weiß!“, grinste Staudinger.

Studinka sah ihn erschrocken an.

„Na, na, keine Angst! Übrigens, waren wir nicht schon per Du?“

„Ich war mir nicht mehr sicher, Josef.“

„Passt scho, Pavel.“

Dann drehte er sich um.

„Was machen wir jetzt mit dir, Mayday?“

Der färbte sich wieder rot bis unter die blonden Locken.

„Ich weiß schon. Komm.“

Kurze Zeit später schleppten sie einträchtig einen Arbeitstisch aus dem Archiv herauf und in der Wachstube fand sich auch noch ein freier Drehstuhl.

„Na also!“, stellte Staudinger befriedigt fest.

„Übrigens, ich hab‘ euch etwas mitgebracht.“

Dabei öffnete er seine Einkaufstasche und zog eine Bäckertüte heraus. Er legte jedem einen frischen Krapfen hin und meinte, „dass wir unseren Kaffee nicht gar so trocken runterwürgen müssen!“

Da öffnete sich die Tür und Kriminalrat Meisl erschien.

„Na, geben Sie uns auch wieder einmal die Ehre?“, begrüßte er Staudinger ungnädig.

„Darf ich Ihnen einen Krapfen anbieten, Herr Griminalrad?“

Dabei gingen ihm die „Gs“ so weich von der Zunge, wie einem geborenen Franken.

Meisl nahm gnädig einen Krapfen und biss gleich ab.

„Na ja, so gut wie die fränkischen sind sie nicht gerade.“

Als sich die Tür hinter ihm wieder geschlossen hatte, meinte Staudinger: „A so ein herziger Mensch und so liebenswürdig!“

Studinka und Albers prusteten los.

Mundl aus der Wachstube sah fragend herein.

„Wollt‘s ihr auch ein paar Krapfen?“

„Ist eh klar. Dafür bring‘ ich euch gleich einen frischen Kaffee!“

„Und ihr zwei erzählt‘s mir jetzt ganz genau, was ihr schon wisst!“

Albers schilderte noch einmal den Anschlag auf Langer und Pavel erzählte von den bisher erfolglosen Nachforschungen.

Die Untersuchung der aufgefundenen Langwaffe hatte auch nichts gebracht. Sie war vor 14 Tagen als gestohlen gemeldet worden. Der Besitzer hatte noch große Schwierigkeiten bekommen, weil er sie nicht in seinem Safe aufbewahrt hatte. Er war aus der Wegscheider Gegend.

„Wegscheid, das ist wieder Richtung österreichische Grenze!“, stellte Staudinger fest.

„Hattet Ihr mit der Gegend zu tun?“

„So richtig nur, mit den Morden von der Reemtsma-Bande, erinnerst Dich?“

Pavel nickte.

„Schaut doch einmal nach, wer da noch einsitzt.“

Kurz darauf fiel ihm siedend heiß ein: „Ja da wäre ja ich der Nächste, ich war ja bei den Ermittlungen auch dabei!“

Erschrocken griff sich Staudinger an den Kopf.

Kurze Zeit später konnten sie ihn beruhigen. Alle verurteilten Beteiligten waren noch weggesperrt.

Staudinger bekam auch seinen Packen Akten alter Fälle und so verging der Vormittag sehr schnell.

Draußen schneite es in dicken Flocken und kurze Zeit später schien die Sonne wieder ganz unschuldig von einem zartblauen Himmel.

Mittags gingen sie in den neuen „Veicht“, um eine Kleinigkeit zu essen.

„Und wenn es jemand aus Langers Münchner Zeit war?“, fragte Albers, als er noch schnell ein Eis als Nachtisch verzehrte.

Die anderen beiden nickten.

„Das wollte er vor Ort selbst in Angriff nehmen“, wusste Pavel.

„Die werden uns ihre Akten auch kaum runter schicken.“

„Na, dann fragen wir halt einmal nach!“, schlug Albers vor.

Pavel nickte.

Hauptkommissar Langer saß in seinem alten Münchner Büro und wälzte Akten. Die starken Schmerzmittel, die er noch nehmen musste, machten ihn benommen. So sehr, dass er auch nicht besonders rasch vorankam.

Er hatte tatsächlich in der unteren Schublade noch einen Packen Endloscomputerpapier gefunden. Wahrscheinlich stammte es sowieso noch von ihm.

In gewohnter Weise nahm er einen Stift und schrieb seine Bemerkungen hier fortlaufend nieder. Das machte er bei jedem Fall so. Jederzeit konnte er die Ziehharmonika zurückblättern und etwas nachsehen.

Die Kollegen lächelten auch heute noch darüber.

Er bekam jede Menge Besuch in seinem alten Büro und das förderte den Arbeitsfortschritt auch nicht besonders. Aber danach, konnte er sich wieder besser konzentrieren.

Der Winter in der Stadt war schmutzig und grau. Den nicht abreißenden Straßenverkehrslärm konnte er nicht mehr ausblenden. Er war ihn einfach nicht mehr gewöhnt.

Wie halten die Leute das bloß aus?

Als er kurz vor sechs das Fenster ein wenig öffnete um zu lüften, schloss er es schnell wieder.

Der Abgasgestank war kaum auszuhalten.

Er schob sich wieder auf seinen Stuhl und öffnete einen neuen Aktendeckel. Daneben lag die Liste der im Januar entlassenen Strafgefangenen.

Der Fall Edgar Diesel.

Diesel, Diesel, irgendwas war mit diesem Diesel.

Etwas klingelte in seinem Hinterkopf.

Auf alle Fälle stand Diesel auf der Liste, war also seit Jahresbeginn wieder auf freiem Fuß.

Diesel war wegen Totschlages verurteilt worden, hatte aber die Tat immer vehement bestritten. Zu weiteren Aussagen war er nicht zu bewegen gewesen. Schließlich wurde er verurteilt, weil die Faktenlage erdrückend war. Es fanden sich sogar Schmauchspuren an seiner Hand. Langer fand ein Foto von ihm.

Ja, ich erinnere mich an den Mann.

Er hätte ihm damals gerne geholfen, aber er hatte nicht geredet und dann war es zu spät gewesen.

Wollte er mich deswegen erschießen?

Nein, das glaubte er nicht.

Aber er notierte Diesels Namen und legte die Akte beiseite.

„Na, noch so fleißig?“

Unbemerkt hatte sich die Tür geöffnet und sein ehemaliger Vorgesetzter war hereingekommen.

„An meiner Stelle würden Sie auch fleißig suchen.“

„Ja, da haben Sie wohl Recht. Und, schon was gefunden?“

„Ich bin mir noch nicht sicher, aber eine Akte habe ich schon aussortiert.“

„Ach, die Sache mit Diesel. Aber der ist doch gar nicht der Mann für sowas.“

„Sehen Sie, so denke ich auch.“

„Wollen Sie nicht Schluss machen für heute. Ein paar von uns treffen sich noch gegenüber zu einem ordentlichen Abendessen. Kommen Sie doch mit!“

„Gern.“

Langer stülpte eine große Wollmütze über seinen Kopfverband, schlüpfte in seinen Mantel und folgte ihm.

Gesine war schon vor ein paar Tagen heimgefahren und so säße er jetzt nur allein im Hotelzimmer.

Sie war so schnell abgereist, weil die neuen Möbel früher als geplant kommen sollten. Die Möbelfirma hatte wegen des Russlandembargos freie Kapazitäten und so war Gesines Auftrag ein ganzes Stück weiter nach vorne gerückt. Wie sie das trotz der Gäste handhaben wollte, hatte sie ihm noch nicht verraten.

Der Stammtisch war bereits gut besetzt, als die beiden eintrafen. Langer hielt sich an alkoholfreies Bier und dazu passte ein schöner, knuspriger Schweinebraten mit Knödeln.

„Na, am Essen feit se nix mehr bei dir!“, lachte ein alter Kollege gutmütig. Sein „Betriebsunfall“ hatte längst die Runde gemacht. Und weil sie doch viele Jahre gut zusammengearbeitet hatten, wurde der Abend noch recht heiter. Alte Geschichten kamen aufs Tablett und längst vergangene, abenteuerliche Einsätze wurden aufgewärmt.

Zur Sperrstunde waren sie nur noch zu dritt.

Die beiden Kollegen begleiteten ihn noch zum Hotel, nicht dass ihm in München noch etwas passiere.

Zum Abschied sagte der Ältere von den beiden: „Ich hab g‘hört, euch haben‘s den Meisl auf‘s Auge gedrückt.“

„Ja, der ist uns zu unserm Glück gerade noch abgegangen.“

„Ein richtiger Kotzbrocken ist das. Ich darf das sagen, ich stamm‘ aus Nürnberg.“

„Hattest du mit ihm zu tun?“

„Ja, mehr als mir lieb war.“

„Gut‘ Nacht.“

„Gut‘ Nacht.“

Sie zogen ab.

Langer hatte genug für heute.

Er wählte Gesines Nummer und nach kurzem Läuten hob sie ab.

„Schön, dass du anrufst. Wie geht’s dir denn? Was macht dein Kopf?“

„Na ja, wird schon wieder.“

Und dann erzählte Sie von dem Kunststück, frei werdende Zimmer auszuräumen und ausmalen zu lassen. Wenn es mit den neuen Möbeln wirklich schnell klappte, könnte sie auch die Möblierung schon durchzuziehen und das bei laufender Belegung.

„Beschweren sich die Gäste nicht über die Handwerker?“

„Nein, wir haben im Anbau begonnen. Da können wir richtig loslegen und ist der fertig, kommen alle neuen Gäste dorthin und im Haupthaus geht’s weiter!“

Gesine war in voller Fahrt.

„Wir?“

„Ja, Tom und Marlene sind fleißig mit dabei.

Schau, mit dem ganzen Blödsinn hast du mit den Handwerkern diesmal gar nichts zu tun. Ist das nicht super?“

„Prima“, meinte er lahm.

„Und, hast du schon was rausgefunden?“

„Ich bin mir noch nicht sicher. Aber jetzt brummt mir der Schädel.“

„Ruh‘ dich aus. Schlaf ‘ gut, ich freu‘ mich schon, wenn du wiederkommst!“

„Ich auch, Servus!“

Trotz der Tabletten lag er noch lange wach. Draußen brandete unablässig der Verkehr und die Nacht wurde nicht finster, so wie er es gewohnt war.

In Gedanken war er zu Hause.

Ja, da ist sie wieder in ihrem Element. Was Neues anschieben, alles umkrempeln.

Gesine war ein Energiebündel und er war sehr stolz auf sie.

Sie hatte sich auch gut gehalten, als sie von seinem Unfall erfuhr. Schnell hatte sie eine Vertretung gefunden, hatte alles liegen und stehen lassen und war mit ihm nach München gekommen. Das hatte ihm sehr gut getan.

Den Schock nach dem Schuss hatte er schnell überwunden. Aber nachts kehrten die Gedanken immer wieder zurück zu dem Moment, als er wie von einer Riesenfaust getroffen, umfiel. Er war völlig überrumpelt worden. Der Angriff kam aus dem Nichts und er konnte ihm nichts entgegensetzen. Es war diese Machtlosigkeit, das Ausgeliefertsein, die ihm so zusetzten. Nach den beiden Sitzungen beim Polizeipsychologen war es besser geworden. Der Fachmann gab ihm einige Tipps die ihm halfen, mit der Erinnerung umzugehen. Er wusste, dass er daran noch einige Zeit zu knabbern haben würde. Aber die Suche nach dem Täter half ihm, nicht ständig über seine momentane Situation nachzugrübeln.

Am nächsten Tag hatte er einen Termin im Krankenhaus und kam deshalb eine gute Stunde später ins Büro.

Eine Nachricht lag auf seinem Schreibtisch: Edgar Diesel ist seinen Bewährungsauflagen nicht nachgekommen und deshalb zur Fahndung ausgeschrieben worden.

Na, da kommt Bewegung in die Sache.

Sinnend sah er aus dem Fenster. Der kleine Ausschnitt zeigte nur ein Stück der grauen Fassade gegenüber. Aus einem trüben Himmel fielen dicke Schneeflocken, auch sie wirkten grau und schmutzig.

Diesel ging ihm nicht aus dem Kopf.

Ist er der Mann?

Er nahm noch einmal die Akte zur Hand. Der Mann hatte vieles zugegeben. Aber den Schuss auf das Opfer hatte er vehement bestritten. Dabei hatte er immer irgendwie eingeschüchtert gewirkt.

Vielleicht hat das gar nichts mit seiner bevorstehenden Verurteilung zu tun gehabt?

Hatte ihn etwa jemand unter Druck gesetzt?

Warum habe ich damals nicht weiter darüber nachgedacht?

Den Vorwurf musste er sich machen.

Ein wenig halbherzig sah er noch die anderen Akten durch. Aber es fiel ihm nichts weiter auf und die Liste der Entlassenen brachte ihn auch nicht weiter.

Es klopfte.

„Herein.“

Es war der Leitende Staatsanwalt Müller, der ihn besuchen kam.

„Na, wie geht’s denn unserem Asylanten?“, polterte er mit kratziger Raucherstimme.

Mit der Karriere hatte der einst so schlanke junge Mann ordentlich an Umfang zugenommen.

Und von der einstigen Haarpracht hatten nur kümmerliche Reste überlebt.

Zu Langers Zeit in München hatte Müller gerade angefangen.

„Erinnern Sie sich an den Fall Diesel?“

„Nein.“

„Warten Sie, hier ist ein Foto.“

„Ja, das war doch der Verschreckte. Mir hat er irgendwie leidgetan. Ich habe ihm das alles gar nicht zugetraut. Aber ich war jung und unerfahren. Heute würde ich weiter nachforschen.“

Er gab das Foto zurück.

„Glauben Sie er war es?“

„Nein, eigentlich nicht. Aber bisher habe ich nichts anderes.“

„Dumme Geschichte, die Ihnen da passiert ist. Das hätte noch ganz anders ausgehen können.

Sie haben unheimliches Glück gehabt. Der Mann hatte Jagdmunition geladen. Wäre die Patrone direkt in den Schädel eingedrungen, hätte sie sich zerlegt und dann wären Sie heute nicht hier.“

Langer nickte.