Grillwetter - Hans-Henner Hess - E-Book
SONDERANGEBOT

Grillwetter E-Book

Hans-Henner Hess

0,0
8,99 €
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Anwalt Fickel zwischen Liebe, Mord und Rostbratwurst Anwalt Fickel würde seine Geschäfte als Terminhure am Amtsgericht zu gern ein wenig ruhen lassen, um sich endlich gebührend seinem Privatleben zu widmen, genauer gesagt: seiner neuen Fernfreundin Astrid Kemmerzehl. Doch Bad Bocklet ist weit, und ausgerechnet jetzt geht es zu Hause um die Wurst. Das Traditionsunternehmen Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten hat Insolvenz angemeldet, Massenentlassungen stehen bevor, und das Schlimmste ist: Ein Produktionsstopp scheint unvermeidlich. – Die Folgen für Südwestthüringen und seine Bevölkerung wären verheerend: kalter Bratwurstentzug und Tofuschock, verwaiste Grillgitter und Löschbierschwemme. Eine ganze Region droht abzudriften. Zu allem Überfluss ist der Insolvenzverwalter spurlos verschwunden. Ist er mit einem Geldkoffer durchgebrannt, wie es Geschäftsführer Jürgen Krautwurst befürchtet, oder wurde er von Schlachter Menschner mit dem Schweinespalter erschlagen? Eine total verfahrene Situation – wer, wenn nicht Anwalt Fickel sollte den Karren aus dem Dreck ziehen? Dabei muss er sich allerdings zwischen zwei Leidenschaften entscheiden: Liebe oder Rostbratwurst. Anwalt-Fickel-Reihe: Band 1: Herrentag Band 2: Der Bobmörder Band 3: Das Schlossgespinst Band 4: Grillwetter

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Anwalt Fickel würde seine Geschäfte als Terminhure am Amtsgericht zu gern ein wenig ruhen lassen, um sich endlich gebührend seinem Privatleben zu widmen, genauer gesagt: seiner neuen Fernfreundin Astrid Kemmerzehl. Doch Bad Bocklet ist weit, und ausgerechnet jetzt geht es zu Hause um die Wurst.

Das Traditionsunternehmen Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten hat Insolvenz angemeldet, Massenentlassungen stehen bevor, und das Schlimmste ist: Ein Produktionsstopp scheint unvermeidlich. – Die Folgen für Südwestthüringen und seine Bevölkerung wären verheerend: kalter Bratwurstentzug und Tofuschock, verwaiste Grillgitter und Löschbierschwemme. Eine ganze Region droht abzudriften. Zu allem Überfluss ist der Insolvenzverwalter spurlos verschwunden. Ist er mit einem Geldkoffer durchgebrannt, wie es Geschäftsführer Jürgen Krautwurst befürchtet, oder wurde er von Schlachter Menschner mit dem Schweinespalter erschlagen? Eine total verfahrene Situation – wer, wenn nicht Anwalt Fickel sollte den Karren aus dem Dreck ziehen? Dabei muss er sich allerdings zwischen zwei Leidenschaften entscheiden: Liebe oder Rostbratwurst.

© Jordis Antonia Schlösser/Ostkreuz

Hans-Henner Hess verbrachte seine Jugend im Schatten der Berliner Mauer mit Tagträumen, Nachtwandeln sowie dem Züchten von winterharten Zierkakteen. Als nach Einführung des Westgelds wichtige Absatzmärkte wegbrachen, sah er sich gezwungen, einen ehrlichen Beruf zu erlernen, und entschied sich irrtümlich für die Juristerei. Seine Erfahrungen im Justizalltag sowie eine angeborene Affinität zu Thüringer Klößen verarbeitet er in der bei DuMont erscheinenden Krimireihe um den relaxten Meininger Anwalt Fickel. Bislang erschienen ›Herrentag‹ (2013), ›Der Bobmörder‹ (2014) und ›Das Schlossgespinst‹ (2016).

Hans-Henner Hess

Grillwetter

Anwalt Fickel ermittelt

eBook 2017 Originalausgabe DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten © 2017 DuMont Buchverlag, Köln Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © plainpicture/Heidi Mayer Satz: Fagott, Ffm eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, LeckISBN eBook 978-3-8321-8970-9

www.dumont-buchverlag.de

Wurst ist eine Götterspeise.

Denn nur Gott weiß, was drin ist.

Jean Paul, 1763–1825 (davon 2

§1

Schlachter Menschner (noch zu haben)

Wenn man als Anwalt eines bestimmt nicht tun sollte, dann des Nachts angesäuselt mit dem Auto über eine Landstraße fahren. Da nützen im Falle des Falles die besten Beziehungen nichts. Aber erstens hatte der Fickel im Bergstübchen auf der Hohen Geba gerade einmal zwei kleine Dingslebener1 getrunken, und zweitens knatterte er in seinem beige-braunen Wartburg 353Tourist mit siebzig Stundenkilometern zuzüglich Toleranz vorschriftsmäßig die menschenleeren Serpentinen vom Hochplateau hinab; Nebenstrecke, versteht sich. Im Radio leierte eine Kassette The Best of Paolo Conte, dem singenden Anwalt aus Italien, die ihm seine Fernfreundin Astrid Kemmerzehl sicher nicht ohne Hintergedanken geschenkt hatte. Und obwohl der Fickel weder Italienisch konnte noch singen, knödelte er mit dem schnauzbärtigen Kollegen im Duett: »Ta-da-ti – ta-dat-yeah …«

Im Bergstübchen hatte der Fickel einer Informationsveranstaltung des Meininger Anwaltsvereins beigewohnt, Thema des Abends: »Das Insolvenzrecht im Lichte der neuesten höchstrichterlichen Rechtsprechung«. Oder so ähnlich. Nicht, dass ihn der Vortrag wirklich interessiert hätte, aber traditionell waren warmes Essen und Getränke bei solch exklusiven Veranstaltungen frei. Eine gute Gelegenheit, seine teuren Beitragszahlungen in Naturalien umzumünzen und vor allem mal wieder den freien Ausblick über die Rhön zu genießen: das Land der offenen Fernen, die deutsche Toskana …

Fickels Laune konnte kaum besser sein. In einer, spätestens anderthalb Stunden würde er in Bad Bocklet ankommen. Ein langes Wochenende lag vor ihm. Freitags war im Meininger Amtsgericht gewöhnlich nicht viel los. Da konnte man auch mal den Herrgott einen guten Mann sein lassen und sich stattdessen an Astrid Kemmerzehls Kochkünsten erfreuen, die die besten Rouladen der Welt zu schmoren verstand, zumindest im deutschsprachigen Raum. Nur schade, dass am Samstag in Meiningen das Dampflokfest stattfand, nach dem Herrentag der zweite absolute Höhepunkt des Kalenderjahres. Das ist das Problem an einer Fernbeziehung: Man kann sich nicht zerteilen. Aber mit Mitte vierzig war es irgendwo an der Zeit, Prioritäten zu setzen, erwachsen zu werden und Verantwortung zu übernehmen.

»Dab-n-di-dam-dam, dam-di-dam-da-da-dam.«

Anwalt Fickel wurde aus seinen tiefschürfenden Gedanken gerissen, als ihm aus dem Rückspiegel plötzlich zwei Scheinwerfer entgegenblickten: die Augen eines Raubtiers, eines sehr schnellen Raubtiers, ausgestattet mit einer Lichthupe. »So ein Dunselmann«, fluchte der Fickel leise. Oder war das womöglich die Polizei? Er begann zu schwitzen, schaltete das Radio aus und fuhr noch vorsichtiger – so weit dies überhaupt möglich war. Jetzt durfte man bloß keinen Fehler machen. Zum Beispiel ein Pfefferminzbonbon lutschen. Denn wenn die Beamten Pfefferminz rochen, wussten sie sofort Bescheid. Da konnte man praktisch gleich einen Alkoholtest fordern. Nur bei Anwälten waren sie manchmal vorsichtiger … Wo befand sich aktuell der Mitgliedsausweis der Rechtsanwaltskammer? Im Schreibtisch, zweite Schublade von oben. Wozu verfügte man über ein fotografisches Gedächtnis, wenn man ständig vergaß, es zu benutzen? – Der Fickel beschloss, nicht grundlos in Panik zu verfallen. Mehr als 0,5Promille hatte er keinesfalls intus. Nur: Das Blutabnehmen wollte er sich trotzdem gern ersparen, allein schon wegen der erblich bedingten Schlupfvenen.

Entschlossen wandte er seinen Blick wieder nach vorn und schaltete das Fernlicht ein; keinen Moment zu früh, denn um ein Haar hätte er die nächste Kurve verpasst. Wie sein Fahrlehrer immer zu sagen pflegte: »Leichtsinn ist das Elixier des Sensenmannes.« Der Fickel bremste, schaltete den Gang runter, und am Scheitelpunkt beschleunigte er sanft aus der Kurve heraus, so wie er es einst gelernt hatte – damals, als es noch keine intelligenten Autos gab, sondern nur Zwei- und Viertakter.

Der andere Wagen war, praktisch ohne abzubremsen, durch die Kurve gerast und klemmte nun an der hinteren Stoßstange des Wartburgs. Das war auf keinen Fall die Polizei, sondern Nötigung im Straßenverkehr. Doch der Fickel ließ sich nicht hetzen und fuhr stur sein Tempo. Wie einst Jan Ullrich in den Pyrenäen. Der Hintermann blendete erneut auf und hupte. Als ihm das Schauspiel zu bunt wurde, zog Anwalt Fickel nach rechts und ging vom Gas – die ultimative Unterwerfungsgeste des untermotorisierten Automobilisten. Kurz darauf huschte ein schwarzer Schatten mit dezentem Brausen mühelos aus dem verqualmten Windschatten des Wartburgs. Für einen Moment sah der Fickel den von Xenon-Scheinwerfern taghell erleuchteten Wald vor sich. Dann war der Schlitten auch schon vorbei und gewann Meter für Meter an Vorsprung. Die roten Rücklichter entfernten sich rasch. Der fuhr mindestens hundert Sachen, und das auf einer Siebziger-Strecke. Dem Benehmen nach konnte es sich nur um einen Kollegen handeln. Wo steckt eigentlich die Polizei, wenn man sie mal braucht?

Die Landstraße lag wieder schwarz und einsam im schummrigen Kegel der Wartburgscheinwerfer. Mit geübtem Handgriff schaltete der Fickel das Autoradio ein. Beim Klang von Paolo Contes sonorer Stimme und der Aussicht auf das bevorstehende Wiedersehen mit Astrid Kemmerzehl beruhigte sich Fickes Puls langsam wieder.

»Avrà più di quarant’anni e certi applausi ormai son dovuti per amore …«

Wie aufs Stichwort meldete sich Fickels Handy – eine Nachricht aus Bad Bocklet. »Essen ist fertig, bis gleich. A.« Das Gute an einer Fernbeziehung war, dass man sich irgendwo ständig zueinander hingezogen fühlte. Der Fickel steckte das Handy weg. Nicht auszuschließen, dass er dabei eine Hundertstel Sekunde nicht richtig aufgepasst hatte. Denn als er wieder nach vorne spähte, war im Grunde schon alles zu spät. Schließlich blickte er direkt in ein gleißend helles Licht, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war und sich rasend schnell näherte: vielleicht noch fünfzig Meter entfernt, oder vierzig, nein, höchstens dreißig … Der Fickel glaubte im ersten Moment an eine optische Täuschung beziehungsweise eine Begegnung der dritten Art, aber dann sah er, dass das Licht eigentlich aus zwei Scheinwerfern bestand, die zu einem riesigen Fahrzeug gehörten, genauer gesagt zu einem Kleintransporter. Hinter dem Steuer erkannte er den Umriss des bulligen Fahrers, der, weit mehr als die Hälfte der Straße für sich beanspruchend, auf den Wartburg zuhielt. Was war heute bloß los? Fand hier etwa eine Rallye statt?

Als besonnener Verkehrsteilnehmer ließ es der Fickel nicht etwa auf eine Kraftprobe ankommen, sondern lenkte seinen Wagen so weit nach rechts, bis er fast zur Hälfte über dem Straßengraben hing, zum Ausgleich warf er selbst sein ganzes Gewicht nach links. Noch weiter auszuweichen war ein glattes Ding der Unmöglichkeit. Gerade als der Fickel eine Lücke erspäht hatte, die vielleicht die Chance bot, um mit dem Wagen hindurchzuschlüpfen, machte der Kleintransporter erneut einen unvorhergesehenen Schlenker und schoss direkt auf die weiche Flanke des Wartburgs zu. Dem Fickel blieb nicht einmal genug Zeit, um einen Schreck zu bekommen, zu hupen oder gar zu bremsen. Er konnte nur hilflos zusehen, wie sein Sicherheitsabstand dahinschmolz: noch fünf Meter, noch zwei, dann anderthalb … Der Fickel glaubte, durch die Frontscheibe, von den Armaturen rötlich illuminiert, eine höhnisch grinsende Fratze zu erkennen: der Teufel höchstpersönlich. Wenn der Kleintransporter frontal in das dünne Wartburgblech (null Sterne im Euro-Crashtest) knallte, waren Schlupfvenen sicherlich Fickels kleinstes Problem.

Nach glücklich überstandenen Nahtoderlebnissen berichten Menschen häufig von mysteriösen Lichtern oder von einem sich im Geiste abspulenden Spielfilm des eigenen Lebens, wobei je nach Vorliebe Vorwärts- und Rückwärtsversionen vorkommen. Oder dass längst verstorbene Personen plötzlich an der Schwelle des Todes auftauchen, die einem die Hand reichen und einen ins Jenseits führen, wo Nektar und Ambrosia bereits aufgetischt werden. Das Reservoir an spirituell erhebenden Erfahrungen auf dem Scheideweg zwischen Sein und Nichtsein scheint im Grunde unerschöpflich.

Aber das Erstaunliche war: Während der Fickel seinem Ende entgegenraste, geschah vor seinem inneren Auge: nichts. Kein Film, weder vor- noch rückwärts, nicht einmal das zarteste Aufflackern eines Lebensfunkens – oder wenigstens ein Testbild … Die Mattscheibe blieb einfach komplett schwarz.

Vielleicht lag der Sendeausfall daran, dass der Fickel insgeheim gar nicht vorhatte, auf dieser schlecht ausgebauten Straße an der Hohen Geba das Zeitliche zu segnen. Just in dem Moment, als es Spitz auf Knopf stand, zeigte sich für ihn selbst überraschend, was der Fickel an den Lenkseilen des Bobs in Oberhof gelernt – oder treffender ausgedrückt: verinnerlicht – hatte: Wenn die Gedanken nämlich in solch einem Moment, in dem es auf tausendstel Sekundenbruchteile ankommt, erst den Umweg über den Kopf, sprich das Gehirn mit all seinen Windungen und Synapsen, nehmen müssen, um dort datentechnisch verarbeitet zu werden, dann kommen die Anweisungen aus dem Tower definitiv zu spät bei den ausführenden Stellen an; und wenn man dann endlich anfängt zu lenken, ist man bereits tot. Aber beim Fickel kam die Reaktion, respektive der Befehl an die Extremitäten, zu handeln, wie hundertfach in den Kurven der Oberhofer Rodelbahn trainiert, direkt aus dem benachbarten Rückenmark. Und mit dieser Abkürzung der Signalwege in seinem Körper gelang es ihm, den beige-braunen Wartburg 353Tourist steil, praktisch in einer Neunzig-Grad-Kurve, nach links zu ziehen, wobei es nicht ausblieb, dass das Heck leicht ins Schleudern geriet und die schmalen Pneumant-Reifen fast so lustig auf dem Asphalt quietschten wie bei einer Verfolgungsjagd im Parkhaus.

Der Kleintransporter, der ihn bei ungehindertem Geschehensablauf mit Sicherheit frontal aufgeraucht hätte, schoss aufgrund des waghalsigen Manövers nun hauchdünn an Fickels Beifahrerseite vorbei, sodass die Scheiben in ihren altersschwachen Dichtungsgummis vibrierten. Doch bevor der Fickel triumphieren konnte, setzte der Wartburg hart auf dem Waldboden auf und vollführte einen Bocksprung ins Unterholz. Äste und Zweige peitschten gegen die Windschutzscheibe und schrappten an den Flanken entlang. Die Stoßdämpfer erklärten die Kapitulation. Mit einem explosionsartigen Knall riss der Außenrückspiegel aus der Verankerung. Hui, das war knapp! Was stand diese dämliche Fichte auch mitten im Wald herum?

Mit einem finalen Ruck kam der Wagen endlich zum Stehen. Doch die plötzliche Ruhe wirkte auf die Nerven fast beunruhigend. Der Fickel brauchte einige Sekunden zur inneren Einkehr. Ein kurzes Abtasten sämtlicher Gliedmaßen – Fazit: alles noch dran. Paolo Conte sang mit mediterraner Gelassenheit weiter. Vecchia pista da elefanti … Fickel versuchte, das Radio auszuschalten. Aber wieso tat er sich dabei nur so schwer? Es konnte etwas damit zu tun haben, dass die Hand so ungewohnt zitterte. – Wahrscheinlich handelte es sich nur um einen harmlosen Schock. In der Zeitung las man häufig: Der Fahrer des verunfallten Pkw wurde wegen eines Schocks ins Krankenhaus eingeliefert (und verstarb dort aus bislang ungeklärter Ursache).

Der Fickel versuchte, seine Gedanken zu ordnen: Wer oder was war das eben? Ein Kleintransporter. Aber wer saß am Steuer? Sicher nicht der Teufel, der hatte gewiss Besseres zu tun. Vielleicht ein Förster. Oder ein Verrückter. Oder ein verrückter Förster. Zumindest gemeingefährlich. Der Fickel würgte fluchend den Rückwärtsgang rein. Das Getriebe heulte angesichts der ungewohnten Fahrtrichtung wie eine Flugzeugturbine. Aber die Reifen griffen ins Leere. War er etwa auf einem Baumstumpf gelandet? Nein, mit etwas mehr Kupplung ging es munter rücklings durch den Farn. Der Wartburg, ein Wagen für jede Lebenssituation, Crashtest hin oder her.

Wenige Sekunden später fühlte der Fickel wieder Asphalt unter den Rädern. Er stoppte und stieg mit wackligen Knien aus. Willkommen in Dunkeldeutschland2. Man konnte buchstäblich die eigene Hand vor Augen nicht sehen. Zum Glück gab es heutzutage die modernen Kommunikationsmittel. Ein Blick aufs Hightechhandy aus einer vergangenen Epoche verschaffte Gewissheit: kein Empfang. Aber eben hatte es doch noch funktioniert, zum Kuckuck! Ein Mal falsch abgebogen, und schon war man durchs Netz gefallen. Der Fickel schüttelte das Handy, hielt es in die Luft. Nichts. Wer hier telefonieren will, ist selber schuld. Die Rhön ist trotz ihrer zentralen Lage eines der am dünnsten besiedelten Gebiete Mitteleuropas. Im Mittelalter gab es hier wenigstens noch Hexen.

Der Fickel glaubte, in einiger Entfernung, circa achtzig Meter den Abhang hinunter, etwas Weißes im Wald zu erkennen: vermutlich der havarierte Kleintransporter. Was da vorne aus dem Kühler kam, war das etwa Rauch? Wahrscheinlich handelte es sich nur um verdampfende Kühlflüssigkeit. Allerdings kam aus dem Inneren der Fahrkabine kein Lebenszeichen. Na und, was ging es den Fickel im Grunde an? Immerhin hatte der Kerl ihm die Vorfahrt genommen. Er tat gut daran, einfach weiterzufahren, bis er wieder Empfang hatte, und dann die Rettungskräfte zu informieren. – Andererseits: bis die hier vor Ort waren … Wenn man sich mal in die Lage des Fahrers versetzte, nachts auf einer einsamen Landstraße, eingezwängt in ein brennendes Autowrack, womöglich schwer verletzt. Was drängte sich da auf? Menschliches Mitgefühl, oder andersherum ausgedrückt: §323 c StGB: Unterlassene Hilfeleistung. Davon mal ganz abgesehen: Hatte sich der Fickel je im Leben vor Verantwortung gedrückt? Jawohl, wo immer es möglich war. Aber da hing meistens auch kein Menschenleben dran, höchstens das eigene, also Peanuts.

Der Fickel zögerte dennoch. Was, wenn das eine Falle war und dieser Lebensmüde auf ihn losging? Man hatte ja schon so allerhand gelesen. Zur Sicherheit holte er den Wagenheber aus dem Fonds. Der hatte ihm schon gute Dienste geleistet. Das Display seines Handys als Taschenlampe nutzend, tastete sich der Fickel abwärts durch den Wald. Es roch nach heißem Gummi, Öl und Benzin. Nicht unbedingt ein gutes Zeichen. Aber gegen den Geruch an sich konnte man nichts sagen. Wie in der Werkstatt. Und dann lag da noch etwas in der Luft, was nicht ganz zu dem ganzen Szenario passte. Ein Geruch, oder vielmehr ein Duft …

»Hallo?«, rief der Fickel in den Wald hinein.

Warum antwortete der Kerl nicht? Der Fickel tastete sich vorsichtig von Baum zu Baum zu dem Wrack herunter. Der Kleintransporter war auf der rechten Seite gegen einen Baum geprallt und auf die Fahrerseite gestürzt; zum Glück, musste man nüchtern konstatieren, denn ein paar Meter weiter ging es steil bergab. Die Beifahrerseite war stark eingedrückt, die Frontscheibe hing geborsten und verbogen in der Fassung. Hoffentlich hatte da keiner gesessen. Der Aufschlag musste mörderisch gewesen sein, fünfzig Stundenkilometer, mindestens.

Als er sich dem Heck des Wracks näherte, fühlte der Fickel unter seinen Füßen etwas Matschiges. Was zum Teufel war das? Es hatte seit Tagen nicht geregnet. Der Fickel bückte sich. Es fühlte sich vertraut und weich an, wie … nun ja, wie Hackfleisch? Im Licht des Handydisplays war die rosig glänzende Masse klar zu erkennen, die unter dem umgestürzten Kleintransporter hervorzuquellen schien. Hatte der Wagen ein Wildschwein erfasst, und hatte der Fahrer deshalb die Kontrolle verloren? Oder hatte doch ein Beifahrer drinnen gesessen und war bei dem Aufprall hinausgeschleudert worden … Der Kleintransporter wog mindestens drei Tonnen, oder mehr – Fleischpresse nix dagegen. Der Fickel spürte, wie etwas im Hals nach oben drängte: die beiden kleinen Dings im Verein mit Rollbraten, Rosenkohl und Semmelknödeln. Nicht zu vergessen, die Salzstangen von der Tischdeko, Nachbartische eingeschlossen.

Der Fickel schluckte alle Befürchtungen runter und beleuchtete mit dem Handy den Waldboden um sich herum. Doch er musste zwei Mal hingucken, um zu begreifen, was er dort sah. Kassler, Steak, aber auch größere Fleischstücke, Schinken und Braten lagen zwischen Laub und Moos verstreut im Unterholz. Ein Teppich aus Wurst. Gott sei Dank handelte es sich dabei offenbar nicht um die Überreste des Beifahrers. Anscheinend hatte sich lediglich die Heckklappe des Kleintransporters bei dem Aufprall geöffnet und einen Teil der Ladung freigegeben. Dennoch vorsichtig und auf alles gefasst schlich der Fickel um den Wagen herum und spähte durch die gesprungene Windschutzscheibe ins Fahrerhäuschen, den Wagenheber in der feuchten Hand, jederzeit bereit …

In dem Fahrerhäuschen war nichts zu erkennen. Zu neblig. Oh nein, das war der Rauch. Aber durch die Schwaden hindurch erkannte der Fickel zweifelsfrei die Konturen eines zwischen Airbags eingeklemmten Körpers. Wenn sich da drinnen noch jemand aufhielt, dann sicher nicht freiwillig.

Was also tun? Die Scheibe einschlagen? Zu gefährlich. Also, nichts wie Tür auf und raus mit dem Mann an die frische Luft. Der Fickel kletterte auf die oben liegende Beifahrerseite. Sag bloß. Auf der Seite des Kleintransporters prangte das wohlbekannte Logo von »Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten«: zwei unter einem grinsenden Schweinkopf wie Schwerter gekreuzte Bratwürste, Jack Sparrow lässt grüßen.

Jetzt ging dem Fickel mitten in der Finsternis ein Licht auf, zumindest was die seltsame Ladung des Transporters anging. Krautwursts Unternehmen war eine, wenn nicht die Südthüringer Institution. Die traditionsreiche, über viele Generationen hinweg ihrem Handwerk treu gebliebene Metzgerfamilie hatte Anfang der Neunzigerjahre unter Inkaufnahme eines größtmöglichen wirtschaftlichen Risikos das bis dato volkseigene Fleischverarbeitungskombinat von der Treuhandanstalt übernommen und auf Erfolg getrimmt. Nach einigen mageren folgten viele, viele fette Jahre, in denen es mit der Meininger Wurst steil bergauf ging. Vor allem seitdem Jürgen Krautwurst junior den Laden übernommen und bundesweit expandiert hatte, brummten die Geschäfte. Auch wenn die Produktionsanlagen zwischenzeitlich wegen der Geruchsemissionen3 ins malerische Rhöndörfchen Rippershausen verlagert worden waren, Krautwursts Original Thüringer waren ein Markenzeichen, ein Gütesiegel, kurz: die Benchmark in Sachen Rostbratwurst schlechthin, selbst wenn ein paar Leute in Ost-, Nord-, West- oder Zentralthüringen gerne mal anderes behaupteten.

Der Fickel zog und ruckelte mit aller Macht an der Tür des Kleintransporters. Doch anscheinend hatte sich der Rahmen – sprich: die ganze Karosserie – des Kleintransporters beim Aufprall gründlich verzogen. Die Tür war blockiert. Aber der Fickel hatte ja noch den Wagenheber dabei. Mit drei wuchtigen Schlägen schlug er die Scheibe ein. Die Scherben prasselten auf den unbeweglich am Steuer eingeklemmten Mann wie Hagelkörner. Zum Glück war der Ärmste schon ohnmächtig. Dichter Qualm schlug dem Fickel aus dem Inneren entgegen. Sicher auch nicht gesund, dem Reizhusten nach zu urteilen. Wie hielt der das da drinnen überhaupt aus? Immerhin gelang es dem Fickel unter Aufbietung sämtlicher zur Verfügung stehender Körperkräfte, seinen Wagenheber zwischen Tür und Gehäuse zu zwängen. Wie war das? Gib mir einen festen Punkt, und ich hebe die Welt aus den Angeln. Zumindest sinngemäß. Aber Archimedes kannte die heutigen Kleintransporter nicht.

Der Fickel stemmte sich mit aller Kraft und unter Einsatz seines Körpergewichts von nicht unerheblichen 95Kilo gegen den Wagenheber. Das Gehäuse gab ein leise knarzendes Geräusch von sich, oder waren es die Knie? Nein, diesmal nicht. Millimeter für Millimeter hob sich die widerspenstige Tür aus dem Rahmen. Ein letztes Quietschen. »Und sie bewegt sich doch.« Galileo Galilei, schon wieder ein Italiener, allerdings ohne Schnauzer.

Der Fickel zog die Tür so weit wie möglich auf, damit sie ihm bei der nachfolgenden Operation nicht ins Kreuz fiel, und wartete, bis sich der Rauch aus der Kabine verzogen hatte. Dann hängte er sich mit dem Oberkörper kopfüber in die Kabine hinein. Gerüche von versengendem Kunststoff und Benzin empfingen ihn – aber auch … Moment! Die Kräuternote kam dem Fickel sofort bekannt vor. Rhöntropfen. Dieser Dunselmann hatte tatsächlich alkoholisiert am Steuer gesessen. Fehlte nur noch, dass er am Handy rumgespielt hatte. Der Fickel spitzte die Ohren. Was war das eigentlich für ein seltsames Geräusch? Ein Wildschwein. Nein, das Grunzen rührte aus dem Rachen des Fahrers, der hinter dem Steuer anscheinend tief und fest eingeschlafen war und seelenruhig vor sich hin schnarchte. War es denn die Möglichkeit? Fuhr einen fast über den Haufen und hielt erstmal ein Nickerchen.

Der Fickel sah etwas genauer hin, soweit das bei dem weiter munter aus der Lüftung quellenden Rauch möglich war. Den Knaben hinterm Steuer kannte er doch: kräftiger Wuchs, Zinkennase, Heldenkinn, fliehende Stirn … – Wenn man ihn sich zwanzig Jahre jünger vorstellte, Bartstoppeln abzog und Haar hinzuaddierte, landete man automatisch bei Heiko Menschner, einem ehemaligen Sportskameraden vom ASK4 Oberhof. Von seiner Körperkraft, den Hebeln und der Schwungmasse her brachte der Menschner alles mit, was einen Weltklasse-Bob-Anschieber ausmacht, leider haperte es ein wenig an der Grundschnelligkeit: 14,8Sekunden auf hundert Meter – bergab. Da war selbst mit Doping nichts zu machen. So musste er schweren Herzens aus dem Sportinternat wieder aus- und auf dem Hof seiner gestrengen Mutter bei Kaltennordheim wieder einziehen.

Immerhin war der Menschner intelligent genug gewesen, aus seinen immensen Körperkräften anderweitig Kapital zu schlagen, und hatte sich nach einer Lehre zum Fleischergesellen als Hausschlachter in der gesamten östlichen Rhön einen Namen gemacht. Kaum ein Dorffest, bei dem Schweine-Menschner nicht als Erster vor Ort gewesen war, um Hand ans Spanferkel zu legen, und nach der Obstlerverkostung in tiefster Nacht als Letzter heimwärts trudelte. Manchmal blieb er sogar und schlief, genügsam wie kein Zweiter, in der Scheune oder im Schweinestall. Das Geld, das er verdiente, lieferte er stets brav bei seiner Mutti ab, die es für ihn verwaltete.

Denn das war der Stachel in Menschners Fleisch: Bei aller Geselligkeit und allem wirtschaftlichen Erfolg hatte er mit seinen gut vierzig Lenzen noch immer keine passende Frau für sich gefunden, nicht mal eine unpassende wie die meisten anderen. Und das, obwohl seine Ansprüche wahrlich nicht sehr hoch waren und er ein kleines Vermögen für seine legendären Heiratsanzeigen in der Wochenendbeilage des regionalen Boulevardmagazins ausgab, garniert mit einem Porträtfoto und der verheißungsvollen Überschrift: »Herz zu verschenken«. Vielleicht hatte diese Formulierung bei den Damen, die den Menschner von seiner Berufstätigkeit her kannten, einfach nicht die richtigen Assoziationen ausgelöst.

Der Fickel ächzte vor Anstrengung. Der Kerl wog mindestens hundert Kilo. Allein und ohne Flaschenzug würde er den Schlachter nie aus der Fahrerkabine bekommen. Äußerlich konnte man an dem Mann keinerlei Verletzungen erkennen. Zwar war Menschners Wams über und über mit Blut bedeckt, doch das war bereits getrocknet. Genau wie an den dunklen Stellen, die er überall auf Armen, Händen und sogar im Gesicht aufwies.

»Ach-tung, Auuuugen geeeeraaade-aus!«, rief der Fickel eine alte, jedem ostdeutschen Sportler in Fleisch und Blut übergegangene Losung und rüttelte den Menschner an der Schulter. Doch der gab erneut nur ein kräftiges Grunzen von sich, das sich irgendwie beunruhigend anhörte. Am Ende handelte es sich gar um ein Todesröcheln. Womöglich hatte er wegen zerfressener Gefäße infolge jahrelanger Fehlernährung hinter dem Steuer soeben einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten und deshalb die Kontrolle über den Transporter verloren?

Ja, das war die Erklärung. Und der Fickel war der Einzige, nicht Anwesende ausgeschlossen, der ihn jetzt noch retten konnte. Dabei hatte er einst sehr gute Gründe gehabt, warum er Anwalt geworden war und nicht etwa Arzt. Das Abstrakte lag ihm einfach mehr im Blut. Aber es half ja nichts. – Also: wie war das gleich gewesen beim Erste-Hilfe-Kurs anno 1987? Herzdruckmassage war in dieser Stellung quasi unmöglich. Mund zu Mund Beatmung auch, wenngleich aus anderen Gründen. Ein Blick auf den Menschner genügte: Knollennase, wulstige Lippen, Dreitagebart … Irgendwo gab es eine Schmerzgrenze.

Andererseits konnte man auch nicht einfach nur so herumhängen, irgendwas musste man angesichts des gesundheitsschädlichen Rauches tun. Der Fickel drückte mit aller Macht, so gut es in dieser Position eben ging, ein paar Mal kräftig auf den Brustkorb. Das Röcheln wurde immer ungleichmäßiger, dann setzte es unvermittelt aus. Atemstillstand. Das hatte der Fickel ja fein hingekriegt.

»Mensch, Heiko, jetzt hab dich nicht so!« Der Fickel rüttelte seinen einstigen Sportkameraden an der Schulter. Keine Reaktion. Nur Menschners Lippen glänzten feucht im Mondlicht.

Och nö, dachte Fickel, warum ausgerechnet ich?

Er haderte noch einige Sekunden mit seinem Schicksal, dann hielt er dem Leblosen die Nase zu und schloss seine Augen. So, wie er es beim Küssen gelernt hatte, damals nach dem Jugendtanz5 im Volkshaus, beim Nachhauseweg durch die Werra-Auen. Lang, lang war es her. Wie hieß das nette Mädchen mit der Zahnspange noch mal? Breitmaulfrosch. Schönheit ist nicht alles, die kann man sich notfalls dazudenken. Intelligenz eher nicht. Aber wenn jetzt anstelle vom Menschner zum Beispiel Isabelle Huppert seine Hilfe bräuchte, das würde sicher einiges erleichtern, oder Astrid Kemmerzehl oder … – Wieso fiel ihm ausgerechnet jetzt seine Exfrau ein, die Oberstaatsanwältin Gundelwein? Gut, küssen konnte sie. Das war das geringste Problem. Dabei konnte sie ja auch nicht sprechen. Ihre Lippen waren, wenn der Fickel ehrlich zu sich war, durchaus appetitlich; die vom Menschner hingegen … Bloß nicht dran denken. Lieber an etwas Motivierendes, zum Beispiel: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Menschheit. Rechtsanwalt Fickel überwand alle inneren Widerstände und pustete, so doll es seine Lungen hergaben, in den Schlund des anderen hinein. (Glücklicherweise war der anscheinend von Rhöntropfen hinreichend desinfiziert.)

Der Fickel zog sich zurück und holte tief Luft. Der Menschner machte keine Anstalten, sich wieder einzuloggen. Also, noch einmal das Ganze von vorn. Tief Luft holen und … – Plötzlich schlug der Menschner die Augen auf und blickte den Fickel, der mit geschürzten Lippen vor ihm hing wie eine Fledermaus, fragend an. Der Fickel war derart überrascht, dass er auch nicht wusste, was er in der konkreten Situation sagen sollte. Immerhin hatte man sich circa fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen.

»’n Abend Heiko. Wie geht’s dir denn?«

Der andere blinzelte verwirrt.

»Kennst du mich noch?«

Der Menschner nickte. »Sind wir wieder zu hoch in den Kreisel reingefahren?«, erkundigte er sich besorgt. Der Kreisel war eine gefährliche Kurve in der Oberhofer Rodelbahn. Offenbar ging der Menschner davon aus, dass er mit dem Fickel in einem Bob saß, medizinisch ausgedrückt: weder zeitlich noch räumlich orientiert. Vielleicht eine Gehirnerschütterung.

Doch da begann der Menschner derart zu würgen, dass der Fickel schon glaubte, er würde ersticken. Plötzlich trat ein heißer Schwall aus seinem Mund und ergoss sich über die Armaturen und den immer noch prallen Airbag. Der saure Geruch von Magensäften und Kräuterschnaps breitete sich rasend schnell in der Kabine aus und vermischte sich mit den ätzenden Gasen, die aus dem Motorraum drangen.

Wie sollte ein Mensch das alles aushalten? Erst der Beinahe-Crash, dann das Hackfleisch auf dem Waldboden, die Knutscherei mit dem Menschner – und schließlich zur Krönung auch noch das. Vielleicht war es aber auch nur das Spiegelneuron, das seine Wirkung tat. Fickels Magen kapitulierte und gab nun ebenfalls seinen Inhalt preis: Rollbraten, Semmelknödel und Rosenkohl, nicht zu vergessen die zwei Dings – alles Retour. Schade um die Beiträge für den Anwaltsverein.

Der Menschner sah aufmerksam zu und kommentierte, als es vorüber war: »Tut gut, ge’?«

Aus den Augenwinkeln konnte der Fickel sehen, wie kleine Flammen aus dem Motorraum zündelten. Denn wo Rauch, da auch Feuer.

»Wir sollten langsam raus hier«, schlug er vor. Menscher nickte grummelnd und versuchte vergeblich, sich aus seiner seitlichen Position zu bewegen. Der Fickel löste den Anschnallgurt, und mit gemeinsamer Anstrengung evakuierten sie den Menschner durch die Beifahrertür ins Freie. Die Waldluft tat beiden gleichermaßen gut. Aber der Schlachter war immer noch voll wie ein Butterfass und musste sich noch geschlagene drei weitere Mal übergeben. Objektiv betrachtet schien er kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Wie er in diesem Zustand überhaupt mit dem Kleintransporter bis hierher gelangt war, war dem Fickel schleierhaft. So ein Schlachter hat eben eine ganz andere Konstitution als ein Normalsterblicher.

Der Fickel legte den starken Arm des Schlachters über seine Schulter, und gemeinsam stolperten sie, sich an Bäumen abstützend, bergauf in Richtung des Wartburgs. Kurz bevor sie die Straße erreichten, blieb der Menschner jedoch unvermittelt stehen wie der Ochs vor der Kuh, hob den Zeigefinger und sagte: »Mooo-ment.«

Hilflos musste der Fickel zusehen, wie sein Sportskamerad den ganzen Abhang wieder hinuntertorkelte und Anstalten machte, in das total verqualmte Führerhaus zu klettern. War der jetzt komplett durchgeknallt? Oder waren das nur die Folgen einer Gehirnprellung? Wozu hatte er ihn da unter Einsatz seines Lebens rausgeholt und wach geküsst?

Als der Fickel sich bereits innerlich darauf einstellte, dass die ganze Rettungsaktion womöglich umsonst gewesen war, kam der Menschner triumphierend mit einer Flasche in der Hand wieder zum Vorschein und kroch auf allen vieren den Berg hinauf. Kaum oben angekommen, hielt er dem Fickel die Flasche hin. Und das war das erste Mal, seit der Fickel denken konnte, dass er einen ihm angebotenen Schluck Rhöntropfen dankend ablehnte.

»So, dann fahren wir mal zur Polizei«, sagte er und hielt dem Menschner die Beifahrertür seines Wartburgs auf. Astrid Kemmerzehl würde sich noch etwas gedulden müssen.

Der Schweineschlachter sah den Fickel erschrocken, beinahe panisch an.

»Keine Bullen«, befahl er, und in dem Ton, in dem er das sagte, konnte man das durchaus als Drohung auffassen.

§2

Der blutige Schweinespalter

Kriminalrat Recknagel, langjähriger leitender Beamter des Dezernats 1, Abteilung 1 der Meininger Polizeidiensstelle – Delikte gegen das Leben und die Gesundheit –, hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie der weitere Abend verlaufen sollte. Schon den ganzen Tag lang freute er sich auf das gemeinsame Abendessen in den eigenen vier Wänden mit dem seinerzeit zweitschönsten Mädchen der Klasse 10b an der Polytechnischen Oberschule am Pulverrasen, Abschlussjahrgang anno dunnemals, mit dem er seit nunmehr drei Jahrzehnten glücklich verheiratet war. Vielleicht würde man sich später gemeinsam einen Krimi oder eine Talkshow im Fernsehen ansehen. Oder ein gutes Buch lesen. Und am späteren Abend würde das Ehepaar Recknagel vielleicht einen Cognac trinken, oder zumindest der Teil des Ehepaars, der Weinbrand mochte. Womöglich hatte seine Frau auch etwas auf dem Herzen. Oder wer weiß: Wenn Sie so aufwendig kochte, gab es manchmal auch etwas zu feiern. Was könnte das wohl sein?

Als Recknagels Handy, das er wie immer auf der Kommode abgelegt hatte, klingelte, war die Versuchung groß, es einfach zu ignorieren. Das Display zeigte die Nummer von Christoph, einem jungen Mitarbeiter seiner Abteilung. Er rief so gut wie nie jenseits der Arbeitszeit an. Vielleicht suchte er mal wieder den Schlüssel für den Dienstwagen? Nach kurzem, aussichtslosem Ringen gab der Kriminalrat seinem Pflichtgefühl nach, jedoch nicht, ohne sich gleichzeitig selbst dafür zu verdammen.

»Was gibt’s?«, sagte der Kriminalrat knapp.

»Hallo, Chef. Ich stehe hier gerade in der Wurstfabrik in Rippershausen. Sie wissen schon: Ob im Osten oder Westen, Krautwurst schmeckt am besten.«

Natürlich war der Kriminalrat sofort im Bilde. Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten waren in Meiningen eine Institution. Doch wie der Recknagel wusste, steckte die Firma seit einiger Zeit in ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

»Können Sie mal herkommen? Ich brauche dringend Ihren Rat«, bettelte Christoph. Seine Stimme klang nervös. Seit seiner Beförderung, die er ebenso überstürzt wie unverdient für die Aufklärung des Langguth-Falles erhalten hatte, durfte er eigenständig Ermittlungen leiten. Allerdings gehörte er zu den Kollegen, die sich mit steigender Verantwortung zunehmend nach allen Seiten absicherten, anstatt selbstbewusste Entscheidungen zu treffen. Kriminalrat Recknagel klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und säbelte mit der freien Hand eine hauchdünne Scheibe Fleisch von einem kolossalen, von der Ofenhitze noch dampfenden Braten, während seine Frau in der Küche letzte Hand an den Nachtisch legte.

»Wo liegt denn das Problem?«, erkundigte sich Recknagel zögernd, während er beobachtete, wie sich das Messer wie von selbst in das langsam mürbe gegarte Fleisch grub. Unter der knusprigen Fettkruste sickerte eine dunkle Fleischbrühe heraus und verströmte einen mild würzigen Geruch, der die winzigen, Zilien genannten Härchen an den Epitheln in der Nase des Kriminalrates in Schwingung versetzte und somit sein gesamtes olfaktorisches System auf das Angenehmste reizte.

»Vorhin, kurz vor achtzehn Uhr, hat sich Insolvenzverwalter Enzian beim Notruf gemeldet, dass ein Schlachter ihn tätlich angegriffen habe. Aber als die Kollegen circa zwanzig Minuten später vor Ort waren, haben sie keinen von beiden mehr angetroffen.«

»Hm«, machte der Recknagel. »Wieso haben die Kollegen denn so lange gebraucht?«

»Alle verfügbaren Kräfte waren durch die Massenkarambolage bei Grabfeld gebunden. Der Notruf schien dem Einsatzleiter nicht besonders dringlich.«

Recknagel seufzte. Das war mal wieder typisch: den Notruf eines Rechtsanwalts nicht als eilig anzusehen … Dabei hatte der Name Ludwig Enzian in Meiningen einen Klang wie Donnerhall. Der Volksmund hatte dem smarten Rechtsanwalt nicht umsonst den Ehrentitel »Plattmacher« verliehen, da er ganz Südthüringen seit der Wende praktisch im Alleingang deindustrialisiert hatte: ob Piko Elektrik6, Welton-Herrenwäsche oder leider, leider auch die allseits beliebte Schlosspils-Brauerei – unzählige Meininger Unternehmen hatte Insolvenzanwalt Enzian in den letzten Jahrzehnten erfolgreich abgewickelt beziehungsweise: gesundgeschrumpft. Seine bevorzugte Therapiemethode war hierbei die Rosskur. Denn viele tausend Mitarbeiter und Subunternehmer hatten im Laufe der Jahre ihre Arbeitsplätze und/oder Existenzen verloren, während Rechtsanwalt Enzian auf der Rangliste der wohlhabenden Meininger Stufe um Stufe emporgeklettert war. Jetzt hatte es also auch Krautwurst erwischt.

»Haben Sie schon Nachforschungen über den Verbleib des Herrn Enzian angestellt?«, erkundigte sich der Kriminalrat und schob sich die hauchdünne, fast durchsichtige Scheibe des Bratens zwischen die Zähne. Das Fleisch zerfiel beinahe auf Recknagels Zunge und zündete dort ein wahres Feuerwerk der Aromen. Welcher Philosoph hatte gesagt, Essen sei die Erotik des Alters? Das hier war entschieden besser. Und so alt war der Recknagel noch gar nicht. Zwar war das Haar lichter und der Bauch fülliger als – sagen wir mal – mit Mitte vierzig, und auch sein Gesicht verhehlte nicht, dass er bereits einiges durchgemacht hatte, aber in Sachen Genuss fühlte er fast wie ein Adoleszent. Und das war schließlich das Entscheidende, dass man dem Alter etwas entgegenzusetzen hatte.

»Zu Hause geht niemand ran, und sein Handy ist tot. Außerdem haben wir hier in seinem Büro frische Blutspuren entdeckt«, erklärte Christoph. »Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen …«

Recknagel kaute langsam runter und blickte wehmütig auf das Stillleben, das sich vor ihm ausbreitete: Neben dem Bratenteller dampften in einer original Meißner Porzellanschüssel ein halbes Dutzend rohe Thüringer Klöße vor sich hin. Auch die mit gedünsteten Zwiebeln und gebratenem Speck veredelten Brechbohnen sahen einladend aus. Und die Soße erst. Dem Kriminalrat lag bereits das süß-saure Aroma mit Anklängen von geschmorter Birne, Sellerie und Wacholder auf der Zunge, das einzig und allein Frau Recknagel in dieser Finesse hinbekam.

»Also gut«, seufzte Recknagel pflichtbewusst. »Ich bin gleich bei Ihnen.«

Zehn Minuten später saß der Kriminalrat schlecht gelaunt und mit knurrendem Magen in seinem hochmodernen, übermotorisierten Dienstwagen und lenkte ihn in nördlicher Richtung aus dem Meininger Stadtgebiet hinaus Richtung Walldorf; dort bog er scharf nach links ab, kurz darauf wieder rechts, und schon befand er sich in den sanften Vorläufern der Rhön. Er schaltete das Fernlicht ein. Eine gottverlassene Gegend war das hier. Und gerade deshalb reizvoll. Wenn es nur nicht so finster wäre. Der Recknagel fluchte leise vor sich hin. Nach wenigen hundert Metern passierte er das Ortsschild von Rippershausen, ein pittoreskes Dorf in the middle of nowhere, berühmt für sein Schwimmbad, das auch als Löschteich diente, seine Landwirtschaft, bevorzugt Schweinezucht, sowie das Gasthaus »Zur Sonne«, das leider inzwischen geschlossen hatte, aber ein Mal im Jahr noch seine Pforten für den Kulturbiergarten öffnete, der den Ort für drei Tage in einen kulturellen Ausnahmezustand versetzte.

Was war das? Der Kriminalrat hatte einen Schatten registriert, der seinen Weg kreuzte. Der hochmoderne Dienstwagen bremste scharf ab. Im Scheinwerferkegel blickten dem Recknagel die grünen Augen einer schwarzen Katze vorwurfsvoll entgegen, als hätte sie noch nie ein Auto gesehen. Von rechts nach links, Glück bringt’s, memorierte der Kriminalrat und hupte, da das Tier keine Anstalten machte, den Weg freizugeben. Die Katze drehte sich seelenruhig um die eigene Achse und verließ die Straße gemessenen Schrittes nach rechts. Zum Glück war der Kriminalrat nicht abergläubisch. Er trat wieder aufs Gaspedal.

Etwas außerhalb des Dorfkerns erhob sich ein schmuckloser, quaderförmiger Zweckbau aus der Landschaft, der von einem mit Stacheldraht bewehrten Zaun umfasst war und von allen Seiten gleißend hell angestrahlt wurde. Dieser schmucklose Bunker bildete die Heimat des größten und bekanntesten Fleischartikelherstellers der Region: Krautwurst Thüringer Wurstspezialitäten – seines Zeichens Hersteller des wichtigsten Exportschlagers aus dem Freistaat seit dem Werther: der Original Thüringer Rostbratwurst.

Kriminalrat Recknagel stellte den Wagen ab, stieg aus und blähte die Nüstern. Reinste Landluft: feucht und erdig, veredelt mit Silage- und Güllenoten, und über dem ganzen Bukett schwebend ein dezent süßlicher Verwesungsgeruch, der direkt von der Wurstfabrik herüberwehte. Zu DDR-Zeiten stank das volkseigene Fleischverarbeitungskombinat noch zum Himmel, heute müffelte es hier streng nach EU-Emissionsschutzrichtlinie. Auf den Lampen und Geländern der Wurstfabrik hockten Heerscharen von Aaskrähen. Grau-schwarze Hyänen der Lüfte. Einige der Vögel kreisten über dem Gebäude und krächzten: Hitchcock at his best.

Recknagel hielt sich fröstelnd den Mantel zu und schloss den Wagen ab. An der beschrankten Einfahrt befand sich ein hell erleuchtetes Pförtnerhäuschen, in dem ein älterer, ausgesprochen hagerer Mann in einer Art Security-Uniform hockte, die eher an einen Schaffner der Deutschen Reichsbahn erinnerte. Der Pförtner schien jedoch keine Augen für seine Umgebung zu haben, sondern stierte intensiv auf einen alten Laptop. Im Profil erinnerte er ein wenig an Clint Eastwood in einem seiner späteren Filme. Wie der Recknagel sehen konnte, spielte er durchaus gekonnt eine Partie Tetris. Der Kriminalrat klopfte energisch ans Fenster und zeigte seinen Dienstausweis vor.

»Kripo Meiningen, Recknagel mein Name – wie der Skispringer«, sagte der Kriminalrat seinen Spruch auf. »Und Sie sind?«

»Sittig«, erwiderte der andere ungerührt, »ich bin hier Hausmeister, Werkschutz und Mädchen für alles.« Offenbar hielt er es nicht für nötig, von seinem Laptop aufzusehen. »Geh’n Sie einfach durch. Zweite Tür, Eingang zwo.«

»Spielen Sie immer am Computer bei der Arbeit?«

»Ich warte schon seit zwei Monaten auf mein Gehalt«, erwiderte das grauhaarige »Mädchen für alles«. »Da möchte ich mal Ihre Arbeitsmoral erleben, wenn Sie an meiner Stelle wären.«

Der Kriminalrat ließ sich vom Ton des anderen nicht provozieren und bat den Pförtner höflich um eine Liste, wer wann das Gelände betreten oder verlassen hatte.

»Muss das sein?«, fragte der Pförtner genervt und parkte auf dem Laptop ein Quadrat perfekt in eine Lücke ein.

»Nur, damit Ihnen zwischendurch nicht langweilig wird«, erwiderte der Kriminalrat ironisch und betrat das Betriebsgelände. An der Produktionshalle traf er auf seinen Mitarbeiter Christoph, der gerade eine Kameradrohne steuerte, um das Gelände bis ins kleinste Mauseloch abzufilmen. Das waren harte Zeiten für Mörder und andere Verbrecher, wenn man die heutigen Möglichkeiten mal mit denen von vor dreißig Jahren verglich. Recknagel konnte sich noch an den ersten Computer KC 85/27 erinnern, der monatelang vor sich hin gestaubt hatte, da in der gesamten Kripo niemand einen blassen Schimmer gehabt hatte, wozu man das Ding brauchte.

»’n Abend, Chef«, sagte Christoph, ohne den Blick von der Drohne abzuwenden. »Ich bin hier gleich fertig.«

Er trug Klamotten, die der Kriminalrat eher in der Altkleidersammlung vermutet hätte. Ausgefranste Jeans, Cowboystiefel und eine Jacke, die mit Buttons zugekleistert war wie die eines Formel-1-Rennfahrers. Wahrscheinlich wollte er später noch ausgehen. Recknagel beobachtete, wie Christoph die Drohne geschickt landete.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht bei irgendwas gestört«, sagte Christoph.

»Nicht so wichtig«, log der Recknagel. »Bringen Sie mich mal auf Stand.«

»Wir haben alle anwesenden Leute befragt und das ganze Firmengelände systematisch abgesucht. Der Insolvenzverwalter ist wie vom Erdboden verschluckt. Nur sein Auto steht noch da …«

Er zeigte mit dem Kopf auf ein BMW Z3Cabriolet, das nicht weit entfernt an der Stirnseite der Produktionshalle parkte und gerade von zwei KTU-Leuten untersucht wurde. Ein elegantes Fahrzeug, edel und zugleich sportlich, mit zwei bis drei Jahresdurchschnittsgehältern gelistet – wie geschaffen dafür, sich damit bei der Belegschaft eines insolventen Betriebes beliebt zu machen. »Sein Auto lässt man doch nicht einfach stehen und haut ab«, behauptete Christoph.

»Es sei denn, es ist kaputt«, erwiderte der Recknagel trocken.

»Das ist doch kein Trabi«, konterte Christoph und winkte dem Kriminalrat, ihm zu folgen. »Ich zeig’ Ihnen mal was.« Recknagel folgte seinem Mitarbeiter in den vorderen Teil des Gebäudes, in dem anscheinend der Verwaltungstrakt untergebracht war sowie Spinde und Duschräume für die Angestellten. Im Flur hingen überall Hinweise auf die Hygienevorschriften, die allerdings ihrerseits überwiegend einen vergilbten, fettigen Eindruck machten. »Hier ist es«, sagte Christoph und öffnete eine Sperrholztür. Dahinter befand sich ein nüchtern eingerichteter, fensterloser Raum, in dem ein Schreibtisch und ein Regal mit Akten herumstanden. Zwei KTU-Beamte in weißer Arbeitskleidung suchten den Raum nach DNA-Spuren und Fingerabdrücken ab. Laserscanner und 3D-Kameras sorgten dafür, dass kein Detail undokumentiert blieb.

»Hier hat sich Herr Enzian anscheinend zuletzt aufgehalten«, erklärte Christoph.

An der Wand hing ein überdimensionierter Kalender, auf dem eine junge, mit Kurven gesegnete Frau aufreizend mit einer Bratwurst posierte. Dazu hatte jemand den Satz gedichtet: »Thüringer – nur original mit zwanzig Zentimetern.«

Recknagel kratzte sich an der Schläfe. Christoph grinste. »Witzig, ne? Der hier ist noch besser.« Er blätterte um. Wieder rekelte sich dasselbe Model leicht beschürzt in einer unnatürlichen Haltung. »Original Thüringer – was anderes kommt mir nicht ins Brötchen.«

»Danke, das genügt«, sagte der Kriminalrat. Er sah sich im Raum um. Ein Stuhl am Schreibtisch war umgefallen, der Computerbildschirm wies einen Sprung auf.

»Sehen Sie sich das mal an.« Christoph wies auf die Schreibtischplatte, auf der ein größerer Blutfleck zu sehen war, flankiert von mehreren kleinen, bereits angetrockneten Spritzern, insbesondere auf der Computertastatur, die mittels eines Lumiscene-Sprays und UV-Licht sichtbar gemacht worden war.

»Hier saß wahrscheinlich Rechtsanwalt Enzian«, spekulierte Christoph, ganz in seiner Rolle als Ermittler à la CSI: NY. »Der Täter kommt rein, Enzian steht auf und wird – zack – vom Täter mit einem Messer noch am Tisch niedergestreckt.«

»Oder er hatte einfach Nasenbluten«, entgegnete der Kriminalrat freundlich.

Christoph blickte seinen Chef vorwurfsvoll an. »Sie sagen doch immer, wir sollen bei potenziellen Straftaten erstmal vom schlimmsten anzunehmenden Fall ausgehen.«

»Da haben Sie absolut recht«, gab Recknagel ohne innere Überzeugung zu. »Haben Sie schon jemanden in Verdacht? Diesen Schlachter?«

Christoph nickte. »Ein gewisser Heiko Menschner. Angeblich hatte er noch Forderungen in Höhe von 10000Euro an die Firma Krautwurst und wollte sich mit dem Vergleichsangebot von Herrn Enzian nicht abspeisen lassen.«

»Wie lautete denn das Angebot?«

»Um die fünf Prozent.«

»Das heißt, er hätte 9500Euro Miese gemacht. Da kann man schon mal sauer werden«, konzedierte der Kriminalrat.

»Berichten zufolge ist Herr Menschner heute am frühen Abend im Betrieb aufgekreuzt, um sich zu beschweren. Zeugen haben beobachtet, wie er vor dem Eintreffen der Kollegen einen firmeneigenen Kleintransporter widerrechtlich mit Wurst- und Fleischwaren beladen hat und damit davongefahren ist. – Vermutlich, kurz nachdem er Herrn Enzian erschlagen hat.«

»Angenommen Sie haben recht. Was hat er mit der Leiche gemacht?«

Christoph zog seine Stirn in Falten. »Das ist das Übelste an der Geschichte. Ich zeig’s Ihnen.«

Er führte den Kriminalrat über den Flur in Richtung Produktionshalle. Der unverwechselbare Geruch nach rohem Fleisch wurde mit jedem Schritt intensiver. Christoph stoppte und wies auf eine doppelte metallische Tür. »Da geht’s rein.« Recknagel entzifferte die verwitterten Lettern über der Pforte: »Zerlegehalle – Unbefugte kein Zutritt!«.

»Nach Ihnen«, sagte Christoph und hielt dem Chef zuvorkommend die Tür auf. Ein Schwall kalter Luft kam ihnen entgegen. Recknagel trat ein und sah sich um: Boden und Wände des großen, rechteckigen Raumes waren komplett weiß gekachelt, im Zentrum befanden sich metallische Tische, Gerätschaften und Arbeitswannen, an den Wänden hingen Messer, Knochensägen und Schläuche bereit. Entfernt erinnerte das Interieur an einen Operationssaal, doch links und rechts, überall baumelten an Fleischerhaken Dutzende Schweinehälften von der eigens mit einer Tragevorrichtung versehenen Decke herab. Der Boden glänzte von Fett, Blut und undefinierbaren Geweberesten, die zusammen eine dünne Schmierschicht auf den einfachen Kacheln bildeten. Ein kleiner Ausrutscher, und schon wäre man mit dem Allerwertesten mitten in der Bescherung gelandet.

»Bitte.« Christoph reichte dem Kriminalrat zwei Plastiküberzieher für die Schuhe. Recknagel stöhnt leise in sich hinein, stülpte sich die Dinger über seine Wildledermokassins und glitt ein paar Meter ins Innere des Raums auf einen Hackklotz zu, neben dem eine junge Beamtin hockte und Proben aus einer beachtlichen Blutlache entnahm, die sich rings um den Hackklotz gebildet hatte und die vom Rand her langsam verkrustete. Es roch metallisch und süßlich, und der Recknagel hatte unwillkürlich einen Geschmack im Mund, als hätte er sich zu fest auf die Zunge gebissen.

»Was haben wir denn da?«, erkundigte sich der Recknagel. »Schweineblut?«

Christoph wiegte skeptisch den Kopf hin und her. »Wir nehmen ein paar Stichproben und lassen sie in der Rechtsmedizin untersuchen«, erklärte er. »Sicher ist sicher.«

»Sie halten es für menschlich?«, hakte der Kriminalrat ungläubig nach.

»Der Mantrailer8 hat uns direkt hierhergeführt, nachdem er im Büro die Spur von Herrn Enzian aufgenommen hat.«

Recknagel blickte sich um – Schweinehälften, wohin das Auge sah. Schinken, Haxen, Koteletts … Kein Wunder, dass es einen Hund hierherzog.

»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Christoph eifrig und zauberte aus der Asservatenbox, die neben der Beamtin auf dem Boden stand, ein gewaltiges, martialisch aussehendes Instrument, halb Messer, halb Beil hervor. Es war in eine durchsichtige Tüte verpackt.

»Das Teil haben die Kollegen draußen in der Mülltonne gefunden. Ein sogenannter Schweinespalter. Man benutzt es, um … Wie der Name schon sagt.«

Der Recknagel sah sich das Gerät genauer an. Es war ziemlich schwer, der Griff lag gut in der Hand wie bei einem überdimensionierten Küchenmesser. Die rechteckige Schneidefläche verjüngte sich keilartig zur Schneide hin. An der Klinge waren Blutspuren erkennbar, die allem Anschein nach recht oberflächlich abgewischt worden waren.

»Laut Schnelltest ist das Blut an dem Teil eindeutig menschlich«, sagte Christoph bedeutungsschwanger. »Und warum wirft jemand wohl ein intaktes Messer in den Müll und wischt es vorher noch sauber?«, fügte er rhetorisch hinzu.

»Verstehe ich Sie richtig?«, fragte der Kriminalrat ungläubig. »Sie denken, dieser Schlachter hat Rechtsanwalt Enzian umgebracht und seine Leiche hier zerstückelt?«

Christoph kratzte sich am Kopf. »Blut wäre dafür genug vorhanden … Und jemand, der jeden Tag Dutzende Schweine zerhackt, der tut sich vielleicht auch etwas leichter damit, zur Abwechslung mal einen Menschen zu zerlegen, oder?«

»Denken Sie lieber nach, bevor Sie einen ganzen Berufszweig unter Generalverdacht stellen«, mahnte Recknagel. »Ich glaube, Sie gucken zu viel Fernsehen.«

»Ich hab nur Netflix«, erwiderte Christoph treuherzig.

»Was ist das denn?«

»Eine Internetseite. Da kann man Serien und Filme ansehen.«

»Also ein Sender?«

Christoph kratzte sich am Kopf. »So was Ähnliches. Kennen Sie zufällig ›True Detective‹? Da geht’s um zwei Ermittler, die so rituelle Frauenmorde aufklären.«

Recknagel schüttelte den Kopf, zum einen als Antwort auf die Frage, zum anderen ganz allgemein. Ohne Psychopathen, die ihre Opfer verstümmelten und/oder komplett zerlegten, ging heutzutage in der Unterhaltung anscheinend gar nichts mehr. Der Kriminalrat musste sich schon arg bemühen, darin keinen Verfall der Sitten zu sehen.

»Die Serie ist echt gut«, bestätigte die junge KTU-Beamtin, »zumindest die erste Staffel.«

»Was hat unser Täter Ihrer Meinung nach mit den Leichenteilen angestellt?«, grätschte Recknagel in das sich anbahnende Fachgespräch.

»Entweder hat er die im Transporter einfach mitgenommen, oder …« Christoph stockte angewidert.

»Oder …?«

»Das müssen Sie mit eigenen Augen sehen.«

Christoph führte den Kriminalrat durch eine Nebentür nach draußen auf das Gelände hinter der Halle. Recknagel prallte zurück. Ein Gestank biblischen Ausmaßes nach faulen Eiern und Schwefelgasen kam ihm entgegen – wie Leunawerke9 und Phlegräische Felder10 zusammengenommen. Der Kriminalrat hielt sich ein Taschentuch vors Gesicht. Christoph deutete auf einen riesigen Industriemüllcontainer, der bis zum Rand mit unterschiedlichen Teilen von Schweinen in allen möglichen Verwesungsgraden gefüllt war: Schwarten, Schädel, Knochen und Gekröse faulten, gärten und verwesten so vor sich hin, sehr zur Freude von mehreren Millionen Fliegen. Selbst die Aaskrähen hielten einen gehörigen Sicherheitsabstand. Christoph war ziemlich grün im Gesicht geworden. »Mann, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich vorhin den Burger nicht gegessen«, sagte er.

»Weshalb, um alles in der Welt, steht das hier einfach so in der Landschaft rum?«, fragte der Recknagel, als er wieder einigermaßen atmen konnte.

»Krautwurst produziert im Moment auf Halde – und die Entsorgung kostet Geld, deshalb lassen sie das Zeug hier einfach vor sich hin gammeln«, sagte Christoph achselzuckend. »Ich vermute, dass die Leiche, oder was von ihr übrig ist, sich irgendwo unter dem ganzen Kladderadatsch befindet. Ich hab angewiesen, dass jedes Fitzelchen einzeln untersucht wird.«

»Da wird sich Dr.Haselhoff sicher freuen«, konstatierte der Kriminalrat. »Ich hoffe, der Kühlraum in der Rechtsmedizin reicht dafür aus.«

»Ich muss weg hier, sonst muss ich kotzen«, sagte Christoph und eilte davon.

»Moment«, rief ihm der Kriminalrat hinterher. »Wo finde ich den Chef?«

Christoph hielt sich die Hand vor den Mund und deutete auf die Laderampe. »Dritte Tür rechts«, brachte er noch hervor. Recknagel kehrte durch das Fabriktor ins Innere der Halle zurück. Kurz darauf fand er sich in einer Art Großküche wieder, dem Herzstück der Wurstfertigung: In der Mitte standen ein Fleischwolf, eine große Waage sowie ein riesiges Rührgerät, ein sich horizontal drehender Ring von fast zwei Metern Durchmesser, in dem der zähe Wurstteig angemischt wurde.

Ein stämmiger, leicht untersetzt wirkender, vielleicht fünfzigjähriger Mann, der von Kopf bis Fuß in weiße Kleidung gehüllt war, stand an der Wurstpresse und füllte in atemberaubender Geschwindigkeit das aus einem Ventil schießende Brät in einen Schafdarm ab, der wie eine lange weiße Schnur auf eine Trommel gerollt war. Eine große schlanke Frau, gut zwanzig Jahre jünger und gut zwanzig Zentimeter größer als der Mann, stand daneben und warf Nachschub in die Wurstfüllmaschine. Ein paar Sekunden sah der Recknagel dem Schauspiel fasziniert zu, dann rief er vernehmlich: »Hallo?«

Der Mann blickte auf, dabei achtete er kurz nicht auf seine Hände, der Darm rutschte von der Wurstspritze – und das rosige Brät flog ihm ungebremst gegen den Bauch, von wo es sich in alle Richtungen verteilte.

»Stop, Sandy, mach aus!« Die Angesprochene drückte eilig den Notknopf.

»Verdammte Schweinerei«, schimpfte der Mann und klaubte sich das Brät vom Kittel. Dann wandte er sich zornig an den Recknagel: »Ziehen Sie sich gefälligst was über, oder haben Sie die Hygienevorschriften nicht gelesen?« Er zeigte auf einen Haken, an dem Kittel, Haarnetz und Schürze hingen. Recknagel entschuldigte sich eilfertig und kleidete sich vorschriftsmäßig ein, auch wenn das blaue Haarnetz beinahe vor Fett triefte.

»Wir haben schon genug Ärger mit den Behörden«, rief der Mann. »Wer ist denn auf die glorreiche Idee gekommen, den Hund in den Lagerraum zu lassen?«

Recknagel entschuldigte sich nochmals, diesmal für seinen unerfahrenen Mitarbeiter, und stellte sich vor.

»Krautwurst, Jürgen«, sagte der Mann nun etwas versöhnlicher. »Ich bin der Inhaber. Und das ist meine Frau Sandy.«

Die junge Frau lächelte den Kriminalrat freundlich, fast ein wenig kokett an. Sie verfügte über eine ausgeprägt weibliche Figur und ein hübsches Gesicht. Selbst mit den unter dem Haarnetz verborgenen Haaren und dem Astronauten-Look war sie in der Umgebung zweifelsfrei ein optischer Lichtblick. Sie kam dem Kriminalrat sofort bekannt vor.

»Ich hab Sie doch oben im Büro auf dem Kalender gesehen«, sagte der Recknagel, ein wenig peinlich berührt. Aber Sandy Krautwurst schien es nicht das Geringste auszumachen, dass man sie als Wurst-Playmate wiedererkannt hatte. »Der Kalender ist nicht aktuell«, erklärte sie, als sei das der springende Punkt.

»Meine Frau wurde vom Thüringer Fleischerei-Fachverband vor zwei Jahren zur Bratwurstprinzessin gewählt«, erklärte Jürgen Krautwurst stolz.

»Eigentlich bin ich gelernte Fleischereifachverkäuferin«, ergänzte Sandy mit schelmischem Lächeln und brachte ihren Busen in Stellung, dass der Kittel spannte. »Aber das Modeln ist meine Leidenschaft. – Hat Ihnen der Kalender gefallen?«

»Doch, doch«, antwortete der Recknagel ausweichend. »Ich muss Ihnen jetzt allerdings ein paar Fragen zu Ihrem Insolvenzverwalter stellen.«

»Vorläufiger Insolvenzverwalter«, berichtigte Krautwurst. »Im Moment läuft noch das Eröffnungsverfahren.«

»Aber wo der vorläufige … also Herr Enzian sich aufhält, wissen Sie nicht?«

Jürgen Krautwurst schüttelte den Kopf. »Ich war die ganze Zeit hier drin und habe nichts mitgekriegt.« Nebenbei ging er zu einem großen Sack und schüttete mit Hilfe einer Schöpfkelle ein grünliches Pulver in das Brät. Die hochgeheime Gewürzmischung, in der Majoran, Kümmel und auch Knoblauch eine nicht unwesentliche Rolle spielten. »Der taucht bestimmt wieder auf«, sagte Jürgen Krautwurst, kein Auge von der Wurstmasse lassend, die sich im Kutter wälzte.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, wandte Recknagel sich an Sandy Krautwurst.

»Als er gekommen ist, so gegen vier …«

»Haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Nein, er ist gleich ins Büro verschwunden.«

Sie kippte frische Fleischbrocken in den Wolf und drückte einen Knopf. Die Maschine begann dröhnend zu arbeiten.

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Recknagel Jürgen Krautwurst.

Krautwurst tippte seiner Frau auf die Schulter: »Ich geh mal mit dem Kommissar eine schmoken, ge’?«

Sandy nickte, und Jürgen Krautwurst lotste Recknagel nach draußen an die »frische« Luft. Dort zog er sofort eine braune Packung Cabinet11 heraus und hielt sie dem Kriminalrat einladend hin. Der lehnte dankend ab. Krautwurst zündete sich nervös eine Fluppe an.