Große Brüder werfen lange Schatten - Paul Bartsch - E-Book

Große Brüder werfen lange Schatten E-Book

Paul Bartsch

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Beschreibung

DDR, im Frühjahr 1970. An der Erweiterten Oberschule einer Kleinstadt im Vorharz liefert der Deutsche Soldatensender die Begleitmusik des freien deutschen Jugendlebens. Man diskutiert gelangweilt die Schlagzeilen des Neuen Deutschland, begeistert sich für grüne Gurken im Februar und erwartet die Trapo-Streife im Zug wie ein ungeschriebenes Gesetz. Da bringt das Gerücht, die englische Beatgruppe The Hollies werde demnächst in Ostberlin gastieren, Thomas Mertin und seinen Freund Maikel auf die Idee, selbst eine Combo zu gründen. Zunächst scheint alles ganz einfach: Mitstreiter sind schnell gefunden, aus Ideen entstehen eigene Titel, und Frauke, der Schwarm der ganzen Schule, wird sie singen. Auch mit der FDJ kann man sich arrangieren, wie es scheint. Doch dann versetzt ein Zufall den Apparat in Wallung, und was die Jugendlichen anfangs eher amüsiert, verstrickt sich rasch zu einem gefährlichen Netz, in dem nicht mehr klar ist, wer da an welchen Fäden zieht. Am Ende der Woche, die die Handlung umfasst, werden die jungen Helden der mit viel Zeitkolorit und einem Soundtrack voller Erinnerungen ausgestatteten Novelle um einige Illusionen ärmer, aber um wichtige Erfahrungen reicher sein. Paul D. Bartsch, Jahrgang 1954, legt mit dieser Erzählung einen Prosatext vor, der ein stimmiges Zeitbild als pointierte Unterhaltung vermittelt.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel VIX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Im zeitigen Frühjahr des Jahres 1970 erreichte ein Gerücht unsere ostdeutsche Provinz, wonach eine der seinerzeit erfolgreichsten englischen Beatgruppen – die Hollies – eine Einladung zu Konzerten in der DDR, zumindest aber für ein Testgastspiel in unserer Hauptstadt Berlin angenommen hätte. Seither stellt sich mir immer wieder die Frage, ob die Ereignisse der folgenden Tage dadurch ausgelöst wurden oder lediglich zufällige Begleiterscheinungen gewesen sind. In jedem Fall hebt sich dieses Zusammentreffen noch immer deutlich vom Hintergrund beliebig verschwimmender Erinnerungen ab. Also schreibe ich, um zu erfahren.

I

Zunächst deutete nichts auf eine spektakuläre Neuigkeit hin, als wir Fahrschüler und die Hiesigen nach den Winterferien wieder vor der Oberschule der Kreisstadt eintrafen. Wir standen im schmutzigen Schnee vor dem noch verschlossenen, dunklen Schulgebäude, dort die Mädchen, hier die Jungen, zudem nach Schuljahrgängen getrennt, und es gab in unserer Gruppe zunächst die üblichen prüfenden Blicke, ob in den zurückliegenden zwei Wochen die Haare der anderen deutlicher gewachsen waren als die eigenen. Die beherrschenden Themen unserer Jungmännergespräche waren die gerade in der Hohen Tatra zu Ende gegangene Skiweltmeisterschaft mit dem überragenden sowjetischen Schanzenpiloten Gari Napalkow, jene zusätzliche Million, die im Lotto „6 aus 49“ zu gewinnen gewesen war, und nicht zuletzt die Frage, ob im neuen DEFA-Film „Zeit der Störche“ die blonde Schauspielerin Heidemarie Wenzel nun nackt zu sehen sein würde oder nicht. Da zu dieser Zeit – ich besuchte die zehnte Klasse – zumindest die öffentlichen Gespräche unter uns Schülern in doch deutlicher Trennung der Geschlechter stattfanden, war es umso verwunderlicher für mich, dass dieses uns Jungen in der Folge so stark beschäftigende Gerücht von einem Mädchen ausgegeben wurde: Frauke aus einer der Parallelklassen – nur den Chemiekurs hatten wir seit einem halben Jahr gemeinsam – hatte es gestreut wie Pfeffer auf den Schwanz des zu fangenden Hasen. Zielgerichtet also, wohl wissend, dass unser Echo auf diese Mitteilung größer sein würde als das ihrer Freundinnen, die eher auf Roy Black standen und Michael Holm oder – und mein Mitschüler Jan-Uwe Klein-Schmitt als Sohn eines in der Stadt ziemlich bekannten Psychiaters nannte es schon damals ein Zeichen verdrängter Vaterkomplexe – tatsächlich für Freddy Quinn schwärmten. Es gab ja bereits diese albernen Musikfilme, und obwohl das Westfernsehen offiziell geächtet war, machte sich doch um 1970 herum niemand mehr die Mühe, die Ausrichtung der Fernsehantennen gradgenau nachzumessen, ob sie nun dem Sendemast auf dem Brocken galt oder dem des bei klarem Wetter ebenso gut sichtbaren Torfhauses. Nur die Zwillinge Marianne und Waltraud Fehling konnten da gar nicht mitreden, weil sie noch nicht mal Michael Hansen kannten oder Thomas Lück. Sie hatten kein Fernsehgerät zu Hause, lasen weder Junge Welt noch Neues Leben, und es hieß, ihre Eltern seien Zeugen Jehovas. Keiner meiner Freunde – Maikel mal ausgenommen – konnte genau sagen, was das bedeutete. Es interessierte uns auch nicht weiter, denn die Zwillinge waren dürr, hatten geflochtene Zöpfe, trugen dickglasige Brillen und waren vorn noch flach wie ein Brett. Nach der zehnten Klasse würden sie ohnehin von der Schule abgehen, hatten sie zu Beginn dieses Schuljahres still und einträchtig mitgeteilt.

Was das Gerücht so glaubwürdig machte, war die Tatsache, dass Frauke es eigentlich nicht nötig hatte, durch derart spektakuläre Mitteilungen Aufmerksamkeit zu erregen. Sie war der erklärte Schwarm bis hinauf zum Abiturjahrgang, hatte den noch immer anhaltenden und nicht eben milden Winter im kürzesten Mini der Schule durchgestanden, und Thalmann, der grauputzige Chemiepauker, holte sie immer als erste an die Tafel, weil sie dann ganz oben anschreiben musste. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Anblick ihres straffen Pos neben dem Periodensystem der Elemente nicht nur meine pubertären Phantasien bis hierhin stark geprägt hatte.

Frauke war also, noch bevor das Schultor geöffnet wurde, auf unsere Jungengruppe zugegangen. Eigentlich ein ziemlich unerhörter, wenn nicht provokanter Vorgang. Unser Gespräch hatte sich, nachdem der Totalausfall unserer Skispringer um den enttäuschenden Horst Queck nichts mehr hergab, wohl gerade um den Sperber gedreht, ein neues vom VEB SIMSON Suhl produziertes Halbmotorrad. Keiner von uns hatte es bisher in Natura gesehen, doch Franzheinrich, der Sohn des LPG-Vorsitzenden aus meinem Nachbardorf, teilte stolz mit, dass sein Vater bereits eine Kaufoption (er benutzte tatsächlich dieses Wort, das einige Rückschlüsse auf den häuslichen Umgangston zuließ) besäße, die zu seinem anstehenden 16. Geburtstag fällig werde und ihn, den kraft seiner privilegierten Geburt bereits mit allen erdenklichen Fahrkünsten vom Lanz-Bulldog über den Universal-Geräteträger RS-09 bis hin zum Trabant-Kübelwagen Vertrauten, in den Stand versetzen würde, den täglichen Schulweg motorisiert zu absolvieren. Nach dieser Eröffnung war neidvolles Schweigen eingetreten, das nicht nur der künftige Besitz schlechthin verursacht hatte, sondern auch die wirklich beneidenswerte Tatsache, dass Franzheinrich dadurch morgens eine halbe Stunde länger als die meisten anderen Fahrschüler würde schlafen können. Und außerdem – so kam es mir wie von ungefähr in den Sinn, als ich zwischen den Pilzfrisuren meiner Mitschüler hindurch Frauke auf uns zukommen sah – außerdem sollte dieser Sperber ein ziemlich ausgewachsener Zweisitzer sein!

Wir standen also stumm, und jeder machte sich so seine Gedanken. Frauke sah zuerst meinen Freund Michael Lohmann-Kirszenstein an, der schon bei den SATURNS mitspielen durfte, obwohl er mit 15 offiziell noch gar keine Spielerlaubnis bekam. Sein Bruder Markus, Kapellenleiter und Organist der SATURNS und über zwanzig, hatte aber beim Kreiskabinett für Kulturarbeit eine Ausnahmegenehmigung erwirkt, die allerdings nur für das örtliche „Haus der Jugend“ galt und nur bis 22 Uhr. Trotzdem war Maikel – die frühe Gelegenheitskarriere als Beatmusiker hatte längst für die Anglisierung seines Namens gesorgt – der wohl bekannteste Zehntklässler unserer Penne, und irgendwie war zu erwarten gewesen, dass Frauke ihn zuerst anschauen würde. Mist, sagte mir ein neuer Gedankenblitz, du hast weder 'n Sperber noch die SATURNS in Aussicht.

Noch immer war Schweigen, und dann geschah das völlig Unerwartete: Frauke spitzte ihren Mund – meine Gedankenblitze funkten nun endgültig Kurzschluss! – und pfiff eine Melodie. Es war noch kühl an diesem Februarmorgen, und im diffusen Dämmerlicht war es ein unwirklicher Anblick, wie sich die kondensierte Spur ihres Atems punktgenau dem Gesicht Maikels näherte. Jetzt weiß ich, ja: Es machte den Eindruck, als hätten die zarten, für ein Mädchen wirklich erstaunlich rein gepfiffenen Töne plötzlich materielle Gestalt angenommen als die federleichte, wolkige Spur eines Amorpfeils.

Frauke brach ab, der Luftstrom erstarb zwischen ihren Lippen, die sie Maikel noch immer wie zum Kuss entgegenhielt, und dieser öffnete seinen Mund und sagte leise vier Worte: „The road is long ...“

Ah, Gott sei Dank, die ersten Verbindungen in meinem Hirn waren wieder hergestellt. Synapsen, fiel mir völlig überflüssigerweise in diesem Moment dafür ein. Den meisten von uns schien sich das Puzzle noch nicht zu fügen, doch ich hatte plötzlich das Bindeglied zwischen der zarten Melodie und diesen vier Worten gefunden: „Ahhh ... die Hollies“, brachte ich heraus, und es klang merkwürdig gekrächzt, passte also gar nicht zu deren Musik und ihrem Überflieger-Hit des letzten Winters, dieser wohl vier Minuten und damit ungeheuer langen Ballade der zwischenmenschlichen Solidarität. He ain’t heavy, he’s my brother.

„Kannst du das nachspielen?“, fragte Frauke und nahm damit immerhin Bezug auf meine Äußerung. Äußerlich blieb sie allerdings auf den angehenden Stargitarristen fixiert.

„G-Dur“, sagte Maikel leichthin, „Ich spiel’s aber in D-Dur, sonst ist es zum Singen zu hoch. Dann A, G und emoll, ein verminderter Septakkord und so weiter. Brauchst du die Klavierstimme?“

„Wäre nett, Michael“ – Frauke sprach den Namen hochdeutsch aus, was mich irgendwie freute. Vielleicht war sie doch noch nicht ganz verloren an den kommenden Star. „Ich kann dir dafür den Text geben.“

„Hab ich mir schon vom Tonband runtergeschrieben“, blockte Maikel zu viel Hingabe geschickt ab. Frauke verzog die Mundwinkel nur ganz leicht.

„Den sollte Mrs. Heintze vielleicht nicht unbedingt korrigieren dürfen“, meinte sie in deutlicher Anspielung auf die mangelnde Korrektheit der SATURNS-Texte, die den Besten des Englischkurses von Frau Heintze wohl hin und wieder körperliche Schmerzen zufügten bei den Tanztee-Veranstaltungen unserer Schule. Die fanden im zweiwöchigen Abstand donnerstags in der Aula statt, und natürlich standen die SATURNS regelmäßig auf der ansonsten dem gemischten Chor vorbehaltenen dunklen und ölig gedielten Bühne.

„Ich hab ihn aus der BRAVO“, setzte Frauke hinzu und genoss die elektrisierende Wirkung des Zauberwortes.

„Hast du ihn aus der BRAVO oder hast du die ganze BRAVO“, fragte ich mit trockenem Hals. Vielleicht wurde ich ein bisschen rot, denn was ich über Petting, Selbstbefriedigung und Orgasmus wusste, hatte ich zuallererst Dr. Sommer zu verdanken, genauer gesagt den wenigen zerfledderten Elaboraten des Jugendberaters, die nach zähem Handel in meinen Besitz gelangt waren, um nach intensiver Lektüre noch der nebensächlichsten Seitenzahl an andere weitergetauscht zu werden.

„Ich hab die ganze BRAVO“, sagte Frauke, und den ohnehin schon deutlichen Unterton in ihrer Stimme begleitete ein mich durchschauender Blick. Also, jetzt war ich rot, auf alle Fälle. Zum Glück wurde eben das Schultor geöffnet. Es quietschte kriminell nach der vierzehntägigen Ruhe, als wollte es sich über diesen Willkürakt des Hausmeisters Alwin Berg beschweren. Ich war Berg dankbar, ich mochte ihn wohl nur dieses einzige Mal während meines Schülerlebens. Ansonsten verpfiff der mürrische Kerl unsereinen ständig beim Aufsichtslehrer: unerlaubtes Verlassen des Schulhofes, Rauchen auf der Toilette, Behinderung der Mädchen beim Passieren der Türen und so weiter, die übliche Palette willkürlicher Machtausübung kraft eines Amtes. Ich lächelte Berg heute sogar zu, als wir an ihm vorbeidrängten, und er guckte wirklich verdutzt. Vielleicht dachte er, meine Freude über den Wiederbeginn der Schule war so unbeherrschbar groß.

Irgendwie war Frauke beim Geschiebe an der Tür zwischen uns geraten, Maikel links, ich rechts, und so musste ich es einfach hören, dass Frauke zu Maikel sagte: „Sie spielen übrigens bald in Berlin. In Ost-Berlin“, setzte sie betont in dem Moment hinzu, da sich unsere Wege in die Klassen trennen mussten, und sie hatte sich dabei rasch und verschwörerisch umgesehen. Ich stolperte auf der Treppe gegen Maikel, und der guckte mich genauso verblüfft an wie ich ihn. Die Hollies in Ost-Berlin. Das war doch mal ein Schulhalbjahresauftakt nach Maß!

II

Die ersten beiden Stunden bis zur Hofpause tropften zäh. Zunächst summte ich in Physik nacheinander alle Hits der Hollies, die ich kannte, in mich hinein. Bei einer durchschnittlichen Titellänge von reichlich drei Minuten müsste es also nach einem guten Dutzend klingeln, sagte ich mir. Nach Bus Stop, On A Carousel, Carrie Anne und Jennifer Eccles hatte ich aber schon einen leichten Durchhänger. Außerdem musste ich ein paar Formeln von der Tafel übernehmen. Dann fiel mir das Bob-Dylan-Cover ein: Blohohohohowin’ in the Wind, mit diesem Schlagzeugwirbel kurz vor Schluss, den ich – innerlich angekommen an der betreffenden Stelle – mit zwei Stiften wohl etwas zu laut auf die Schulbank trommelte. Schmittchen schaute irritiert von seiner Versuchsanordnung auf und sagte scharf und unlogisch: „Hört mir hier bitte jemand nicht zu?!“

Listen to me, dachte ich dankbar, senkte unschuldig den Blick ins Heft und ließ es im Inneren weiter singen. Das Klingeln unterbrach mich mitten in Sorry Suzanne, und da fiel mir ein, dass Stop, Stop, Stop noch ausstand und ich nach der nur kurzen Pause damit zumindest die Staatsbürgerkundestunde beginnen konnte.

Die Grundlage für normale Beziehungen zu anderen Staaten kann nur die Anerkennung der vollen Souveränität unserer Deutschen Demokratischen Republik sein! schrieb unsere Klassenlehrerin Frau Schimmelpfennig bereits während der Pause an die Tafel unseres Klassenraumes. Bei den Worten nur und vollen brach ihr jeweils die Kreide ein Stück ab. Ich bekam Stop, Stop, Stop nicht aus dem Kopf und nickte erfreut, als Maikel mich fragte, ob wir in Stabü eine neue Liste aufstellen wollten.

„Nur aktuelles oder auch zurück?“ fragte Annette, die hinter uns saß.

„Höchstens drei Jahre, drei Jahre zurück“, antwortete Maikel, der genau wie ich wusste, dass Annette auf alten Rock’n’Roll stand, Buddy Holly, Little Richard, Peter Kraus und Elvis Presley. Manches war ja nicht schlecht, Maikel hatte die Anfangsgitarre von Sweet Little Sixteen ganz gut drauf, aber insgesamt lehnten wir es ab, damit unsere Hitlisten zu belasten. Ich hatte inzwischen eine Doppelseite innen aus meinem Matheheft getrennt.

„Dreißig oder fünfzig?“

„Dreißig“, sagte Maikel bestimmt. „Dann bringen die Mädels nicht so viel Schmalz mit rein.“

Marlene, Annettes Nachbarin, kniff die Augen böse zusammen. „Wenn Andy Kim nicht draufsteht, mache ich nicht mit. Und Tommy Roe muss auch.“

„Sonst stimmt eure Wertung nicht“, flüsterte Annette eifrig. „Wenn die stimmen soll, braucht ihr hundert Prozent als Basis.“

„Wir machen doch hier keine Gruppenratswahl“, zischte Maikel in das Klingelzeichen hinein. „Uns reicht einfache Mehrheit, wie in der Demokratie ... Freundschaft!“

Er war gerade rechtzeitig zu Ende gekommen, um mit den Stimmen des Klassenverbandes Frau Schimmelpfennig auf ihren Gruß zu antworten. Wir grinsten beide beim Hinsetzen.

„Heute wollen wir über diese Aussage hier … diskutieren“, sagte Frau Schimmelpfennig mit einer bedeutsamen Pause vor dem letzten Wort, zugleich auf die Kreideschrift hinter ihr weisend. Sie legte Wert darauf, ständig mit uns Schülern zu diskutieren. Der Staatsbürgerkundeunterricht, konnte sie manchmal unvermittelt sagen, unterscheide sich dadurch von allen anderen Fächern, dass diskutiert werden könne. An zwei-mal-zwei-ist-vier sei schließlich nichts zu diskutieren, war ihr Standardargument. Und auch nicht darüber, dass Pawel Kortschagin nun mal ein leuchtendes Vorbild sei. Aber hier!

„Versetzt euch in die Lage, jemandem, der fremd ist, mit dem Leben in unserem Land also nicht vertraut, die Schwerpunkte dieser Aussage benennen zu wollen, etwas hervorzuheben, zu unterstreichen – was würdet ihr tun?“

Frau Schimmelpfennig starrte etwas überrascht auf meinen erhobenen Finger. „Ja, Thomas?“

Ich erhob mich nur halb aus der Bank und sagte: „Eigentlich ist diese wichtige Grundaussage unserer sozialistischen Politik in sich fest gefügt. Sollte ich trotzdem etwas hervorheben, würde ich nur und vollen unterstreichen. Wir können uns doch nicht mit faulen Kompromissen zufriedengeben?!“

Frau Schimmelpfennigs hübsche weiße Bluse hob und senkte sich einmal, bevor sie: „Danke, Thomas“, sagte. „Und wie ist Ihre Meinung, Michael?“ „Ich bin derselben Meinung wie Tom“, sagte Maikel ruhig und blieb sitzen.

„Dann begründen Sie diese bitte auch, damit wir diskutieren können“, sagte Frau Schimmelpfennig spitz.

III

Die Klingel zur Hofpause beendete die Diskutierstunde, die im Ergebnis die vollständige Bestätigung der Tafelthese erbracht hatte. Dazu allerdings hatten wir geradezu exotische Umwege gebraucht, die bis Kambodscha führten, das vor einem Jahr als erster nichtsozialistischer Staat die DDR offiziell anerkannt hatte. Eine Erklärung Walter Ulbrichts vom Januar war von Frau Schimmelpfennig vollständig aus dem Neuen Deutschland vorgelesen worden. Der Artikel klang so, als hätte Walter den Satz, der an der Tafel stand, mit einer Teigrolle ausgewalzt. Gerichtet, so hatte Frau Schimmelpfennig zu bedenken gegeben, seien diese vielen klaren Worte unseres Staatsratsvorsitzenden nicht etwa nur an Willy Brandt, der im Jahr zuvor als erster SPD-Politiker Kanzler der westdeutschen Bundesrepublik geworden war, sondern zugleich an all jene – auch hierzulande, betonte sie –, die glaubten, durch Brandt wäre die BRD gleich ein bisschen weniger imperialistisch als zuvor.

„Erinnert euch an 61, als wir den antifaschistischen Schutzwall in Berlin errichten mussten“, gab sich Frau Schimmelpfennig den Anschein, als habe auch sie seinerzeit die Mörtelkelle geschwungen. Sie vergaß dabei wohl, dass wir damals grade sieben waren. „Erinnert euch – da hat dieser Brandt als Bürgermeister von Westberlin seine Haltung zur Deutschen Demokratischen Republik offenbart.“

„Also – Wachsamkeit, Genossen, nun kommt der Wolf im Schafspelz daher!“ Das hatte allerdings nicht Frau Schimmelpfennig gesagt, sondern Maikel zu mir, und zwar ganz leise.

„Bitte!“ sagte Frau Schimmelpfennig jetzt beschwörend, denn sie selbst hatte die Uhr aus dem Blick verloren; „bitte übertragt den Satz noch in eure Hefte. Er ist eine Bastion und wird für euer künftiges Leben entscheidend sein!“

Wenn sie uns allgemein ansprach, dann verfiel sie gern in ein unpersönliches Duzen. Direkt hielt sie sich natürlich an das Sie. Schließlich diskutierte sie mit uns den Wert der Persönlichkeit, die Rolle des einzelnen in der Gemeinschaft, die Achtung des Menschen vor dem Menschen. Dazu gehörte es, die Regeln zu beachten.

„Die unbesiegbare Inschrift“, flüsterte Maikel mir zu, während er die Worte ins Heft kritzelte. Es war eine Anspielung auf eine Erzählung, die wir vor längerem im Literaturunterricht durchgenommen hatten: Erst das Einreißen der Gefängnismauern, in die jemand einen heroischen Spruch geritzt hatte, konnte diesen aus der Welt schaffen. Und das Gefängnis dazu – tiefe Symbolik.

Auch in meinem Heft geriet der Satz unleserlich, doch wir hatten ihn ja alle durch die Diskussion verinnerlicht. Und selbst Frau Schimmelpfennig hätte das als Argument gelten lassen für die mangelhafte Einhaltung der Form.

Unsere Liste war natürlich nicht fertig geworden. Daran war nicht nur Frau Schimmelpfennigs Diskutierwut Schuld. So eine Liste wollte gut überlegt sein, gerade wenn man sich auf dreißig Titel beschränken musste. Immerhin, die Linien hatte ich gezogen, die Tabelle war vorbereitet mit dreißig Zeilen und etlichen Spalten, und quer über dem Blatt stand 30 Greatest Of The Last Three Years. Nun galt es, diese Titel in einer Vorauswahl zu bestimmen und ihnen je eine Zeile zuzuweisen. Dann konnten die Teilnehmer der Befragung den Titeln Punkte geben. Jeder, der mit machte, hatte 15 Punkte. Die Verteilung war seine Sache. Wenn zum Beispiel Peter Müller der Meinung war, Painter Man von den Creation sei der absolute Hammer, vor, nach und neben dem es sowieso nichts geben konnte, gab er Painter Man eben alle 15 Punkte. Peter hatte dem Titel bisher immer alle seine Punkte gegeben. Sein Vater war Malermeister in der städtischen PGH, und irgendwie fühlte sich Peter offenbar besonders angesprochen bei dem Who Could Be A Painter Man.

Andere teilten ihre Punkte fein säuberlich auf: drei mal fünf, fünf mal drei, auch fünfzehnmal einen. Die Auswertung besorgten Maikel und ich dann durch einfache Addition, deren Summe nach Division durch die Teilnehmeranzahl der Umfrage einen Durchschnittswert je Titel ergab. Musikalische Arithmetik also. Das organisierten wir ziemlich regelmäßig, seit wir in der 9. Klasse der Oberschule nebeneinander zu sitzen kamen und bald befanden, dass wir in den Grundfragen unserer Weltanschauung ziemlich übereinstimmten. So etwa in der Frage, ob die Beatles besser seien oder die Rolling Stones. Für uns keine Frage: Natürlich, die Rolling Stones. Die Beatles trugen schon immer Krawatten und ließen sich mit königlichen Orden behängen. Mick Jagger, so behauptete Maikel zumindest, ohne die Quelle seines Wissens genau angeben zu können, lehne Krawatten mit der schlüssigen Begründung ab, sie würden ihm ständig in der Suppe rumhängen. Das gefiel uns, das hatte doch Stil! Und wann hatte man die Beatles das letzte Mal irgendwo auf einer Bühne gesehen? Gut, John Lennon, den ließen wir gelten. Der machte in letzter Zeit sowieso mehr seins. Aber sonst war da nicht mehr viel seit Hey, Jude, und das entscheidende Eigentor hatten sie sich in unseren Augen mit Ob-La-Di-Ob-La-Da geschossen. Das doofe Stück leierte sich durch unser erstes Jahr an der Penne. Zum Abgewöhnen. Glücklicherweise kam es nie auf Platz eins der Hitparade bei Radio Luxemburg. Und es gab da eben zur selben Zeit Jumpin’ Jack Flash, das dort zwar auch nie auf Platz eins gelangte, aber uns zeigte, was möglich war.

Unsere trotzige Verehrung für die Stones (wir waren in der Klasse damit eindeutig in der Minderheit) hatte sich dann geradezu rauschhaft übersteigert, als der Deutsche Soldatensender unmittelbar zu Beginn der letzten Sommerferien den Tod von Brian Jones verkünden musste. Ersoffen in seinem Swimming Pool, unfassbar. Eigentlich war er ja sowieso gefeuert bei den Stones, doch in solch einem Moment spielt das keine Rolle (am letzten Schultag hatte ich noch meinen Freunden verkündet, über die Ferien meine dünnen blonden Strähnen in eine Pony-Frisur nach dem Vorbild von Brian Jones hineinwachsen zu lassen!).

Mit einigen anderen aus der Klasse waren Maikel und ich am auf die Todesnachricht folgenden Abend nach Dornbeck zu Franzheinrich, der als einziger über ein Wasserbecken im Garten verfügte, gefahren, um Brian so nah wie möglich zu sein. Wir hatten die Fahrräder im Hof einfach fallengelassen, saßen am Pool, ein Feuer brannte, und da der Dorfkonsum irgendwie auch zur LPG und damit beinahe Franzheinrichs Vater gehörte, war es sogar möglich gewesen, am Gesetz zum Schutze der Jugend vorbei einen Kasten Bier zu organisieren. Franzheinrich hatte mehrere Verlängerungskabel bis zum Stallgebäude zusammengesteckt, so dass sein Tonbandgerät direkt neben uns stehen konnte, und wenn auch der im Plastegehäuse eingebaute Lautsprecher ziemlich schnarrte und die Qualität der zum Teil mehrfach überspielten Mittelwellenaufnahmen ohnehin nicht besonders hoch war, meinten wir doch jene Passagen herauszuhören, die Brian Jones gespielt hatte in The Last Time und Heart Of Stone, Street Fightin’ Man oder Mother’s Little Helper. Franzheinrich hatte zunächst auf leeren Bierflaschen, einem Topf und dessen Deckel den Takt mit geklopft und dann seine Gitarre aus dem Haus geholt, aber irgendwie hatte Maikel keine rechte Lust gehabt zum Mitspielen. Er schob es auf die schlechte Saitenlage des Instruments. Die Nacht war lau geblieben, irgendwann hatten wir uns in Decken gerollt rings um das runterbrennende Feuer, von dem sich hin und wieder einzelne Funken lösten und in den schwarzen Himmel flogen. Da sitzt jetzt Brian und zeigt den Englein, was ’ne Harfe ist, hatte Maikel unter der Decke neben mir gelallt. Ich musste mich nachts zweimal rauswickeln und erreichte den Misthaufen am Ende des Gartens mit Mühe. Da niemand das Tonbandgerät ausgeschaltet hatte, drehte die rechte Spule längst leer, und das Bandende klatschte leise und monoton gegen die Tonkopfverkleidung. Als wir am Morgen erwacht waren, taten Kopf und Rücken ziemlich weh. Der Bierkasten war im Übrigen noch beinah halb voll, und wir ahnten, dass auch der Tod seine guten Seiten hat. Seit damals glaube ich jedenfalls, er führt manchmal Menschen zusammen und macht sie irgendwie sanfter als gewöhnlich.

Am übernächsten Tag berichtete der Deutsche Soldatensender, die Rolling Stones hätten mit ihrem neuen Gitarristen Mick Tayler im Londoner Hyde-Park ein kostenloses Konzert im Gedenken an Brian Jones gegeben. Mick Jagger habe dabei ein Gedicht von Shelley vorgelesen. Mir sagte Shelley wenig, und im „Guten Buch“ gab es nichts von ihm zu kaufen. Maikels Bruder Markus klärte uns dann auf, und wie: Shelley sei ein englischer Dichter, der vor hundertfünfzig Jahren in Italien ebenfalls ertrunken sei. Einer, der Revolution, Anarchie und Romantik in seinem Werk und seinem Leben verbunden habe. Die Zukunft der Menschheit, sagte Markus, liege bei Shelley in der Entfesselung des Prometheus. Überdies sei doch bemerkenswert, dass der jüdische Dichter Franz Kafka an eben jenem 3. Juli 1969, dem Todestag von Brian Jones, vierundachtzig Jahre alt geworden wäre. Oder?!

So war Markus. Er hatte sich nach seinem Abitur um einen Studienplatz für Philosophie bemüht. Das ging angeblich nicht ohne den Ehrendienst als Soldat auf Zeit bei der Nationalen Volksarmee. Danke, dann eben nicht, Theologie bleibt mir immer noch, habe Markus gesagt, so Maikel. Und seitdem spielte er die Orgel samstags abends bei den SATURNS und sonntags früh bei den Gottesdiensten seiner Mutter.

Was Markus über Shelley sagte, machte mir einigen Eindruck und war doch mit 15 schwer zu verstehen. Lauter Tote – merkwürdig. Ich kannte auch diesen Kafka nicht. Jonathan Hegenbarth fiel mir ein, unser Deutschlehrer. Doch andererseits hatten ja gerade die Sommerferien begonnen ...

Noch vor Frau Schimmelpfennig drängten wir also aus der Klasse, um auf den Schulhof zu gelangen. Doch mit jeder Treppenstufe abwärts sah ich Probleme auf uns zukommen.

„He, wir können doch nicht einfach so hingehen und sie fragen wegen der Hollies“, sagte ich in der Schultür und blinzelte in die blasse Februarsonne.

„Kannst du nicht was über Chemie erfinden?“, gab Maikel so rasch zurück, dass ich merkte, er hatte sich ebenfalls bereits mit der möglichen Annäherung an Frauke beschäftigt.

Na ja, besonders glücklich war ich nicht darüber. „Schließlich hat sie dich angesprochen vorhin“, meinte ich kleinlaut.

„Ich komm ja mit“, antwortete Maikel großmütig. „Gemeinsame Sache, Alter, wie immer. Es geht um die Hollies in Ost-Berlin!“

Manchmal ist dann alles viel einfacher als man denkt. Frauke schien auf uns gewartet zu haben und kam quer über den Schulhof geradewegs auf uns zu. Den knöchellangen Mantel mit Pelzsaum trug sie jetzt offen, und ihre Knie hüpften bei jedem Schritt unter dem karierten Minirock hervor. Dazu weiße Söckchen über der Feinstrumpfhose und rote Lackschuhe mit Schnalle, und das Ende Februar! Junge, Junge. Ich war den Hollies schon jetzt dankbar für ihre grandiose Idee.

Auch Maikel merkte, dass wir offenbar keinen Umweg über Chemie brauchten. Während ich noch einen vorsichtigen Rundblick riskierte, um zu sehen, wie viel Aufmerksamkeit dieses ungewöhnliche Treffen zwischen den Geschlechtern beim restlichen Schulvolk fand, steuerte er forsch aufs Ziel los. Da er mehrfach seine dunklen Locken mit der linken Hand durchfuhr und an ihnen noch beim Reden zog, wusste ich, dass natürlich auch er nervös war.

„Aus der BRAVO hast du’s?“, vergewisserte sich Maikel. „Wie alt ist die?“

Wir waren es gewöhnt, wenn überhaupt, dann Hefte mit mindestens vierwöchiger Verspätung kennenzulernen. Man war abhängig von Großeltern, die reisen konnten, oder von Westverwandten, die zu Besuch kamen. Beide Wege waren mit Unwägbarkeiten gespickt. Anträge