LiveRillen No. 6 - Paul Bartsch - E-Book

LiveRillen No. 6 E-Book

Paul Bartsch

0,0

Beschreibung

Seit dem Frühjahr 2018 gestaltet der in Halle (Saale) lebende Literaturwissenschaftler, Autor und Musiker Paul Bartsch die monatliche Sendung LiveRillen auf Radio Corax, in der er ausgewählte Ausschnitte aus Konzert-LPs und Live-Alben direkt vom Plattenteller serviert und kommentiert. So entsteht eine livehaftige Geschichte der populären Musik, erzählt aus der Perspektive der Bühne. Die mit viel Liebe zum Detail ausgearbeiteten Sendemanuskripte bilden die Grundlage für diese originelle Publikationsreihe, deren fünfter Band nunmehr vorliegt. Ein unterhaltsames Lesevergnügen für alle, die Freude an guter Musik haben und mehr über deren Hintergründe und Protagonisten erfahren wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 292

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Hinweise in eigener Sache:

Aufgrund der Vielzahl und des Alters der im Text erwähnten Schallplatten ist es schier unmöglich, die jeweiligen Bild- und Urheberrechte für die Cover bei den größtenteils nicht mehr existierenden Labels zu klären. Ich habe die Cover hier in durchaus werbender Absicht in den Text eingefügt. Als Quelle sind die konkreten Plattenausgaben mit Label und Erscheinungsjahr angegeben. Sollte(n) sich der oder die Inhaber der jeweiligen Rechte dennoch benachteiligt fühlen, bitte ich um entsprechende Information – sicher finden wir gemeinsam eine probate Lösung.

Falls Sie Interesse haben, die eine oder andere LiveRillen-Sendung komplett nachzuhören, stelle ich Ihnen diese gern zur Verfügung. Die mp3-Datei wird Ihnen per WeTransfer übertragen und ist ausschließlich für den privaten Gebrauch gedacht!

Anfragen richten Sie bitte per Mail an:         [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Noch ’ne Rille vorneweg

No. 63:   Ein ganz besonderer Sound – die Hammond-Orgel (I)

No. 64:   Ein ganz besonderer Sound – die Hammond-Orgel (II)

No. 65:   Brothers On Stage (I)

No. 66:   Brothers On Stage (II)

No. 67:   Fremde Federn – Songs der 1960er Jahre in originellen Coverversionen

No. 68:   Congratulations: Randy Newman / Joni Mitchell / John Mayall

No. 69:   R.I.P. – Die Verluste des Jahres

No. 70:   60 Jahre British Invasion

No. 71:   Der Erfinder des Rockpalasts – eine Würdigung | Gary Clark jr. wird 40

No. 72:   Rock auf gut Deutsch – Perspektive West

No. 73:   Rock auf gut Deutsch – Perspektive Ost

No. 74:   Rock auf gut Deutsch – Österreich

Index der Bands, Musiker und Stichworte

Nachsatz

LiveRillen live – eine musikalische Lesung

Liedermacher und Musiker

Im Schatten großer Brüder – eine musikalische Lesung

Noch ‘ne Rille vorneweg

Heutzutage wird ja viel über das Alter philosophiert, und der euphemistische Begriff der Best Ager soll uns wohl mit dem Älterwerden versöhnen. Nun ja. Wie steht es da um die Fünfundsiebzigjährigen? Was bleibt ihnen noch – außer der wehmütigen Rückschau auf die verflossene Zeit als mehr oder weniger zufriedenstellende Bilanz – an Hoffnung, an Zukunft, an Perspektive?

Nein, nein, Freunde, keine Sorge, ihr habt weder das falsche Buch gegriffen noch schweife ich vom Thema ab: Es geht hier mal nicht um uns Menschen, sondern um die Schallplatte. Und die ist – wie einige von euch sicher konstatiert haben – im Sommer 2023 stolze fünfundsiebzig Jahre alt geworden. Und das, nachdem sie – gerade mal halb so alt – bereits für todkrank und damit zum Aussterben verurteilt erklärt worden war! Totgesagte leben bekanntlich länger…

Dabei gibt es Schallplatten, also Tonträger, die akustische Signale auf analoge Weise auf physischem Material speichern, schon länger: Thomas Edison und Emil Berliner, das Kratzen einer Stahlnadel in eine auf eine Glasplatte aufgetragene dicke Rußschicht, die Phonographenwalze, die Versuche mit Wachszylindern und wachsbeschichteten Zink- oder Kupferplatten über vulkanisiertes Hartgummi schließlich zur Schellack-Platte, gefertigt aus den Exkrementen der Lackschildlaus… – alles bekannt und gut aufbereitet nachzulesen.

Aber der Quantensprung in Sachen Qualität, der erfolgt zum Sommeranfang des Jahres 1948. Ort des Geschehens: das Hotel Waldorf-Astoria in New York. Eingeladen hat der Firmenchef von Columbia Records, Edward Wallerstein, und er hatte nicht weniger als eine „Weltsensation“ versprochen. „Vor den versammelten Journalisten legt er eine Schallplatte auf. Schallplatten gibt es seit Jahrzehnten. Doch diese ist anders. Der Klang haut alle vom Hocker: Felix Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert in e-Moll, Opus 64, erklingt klar und deutlich wie nie. Columbia nennt die Platte aus dem noch relativ jungen Kunststoff Polyvinylchlorid „Long-playing microgroove record“ - kurz: LP. Bereits kurze Zeit später ist sie Branchenstandard.“1 So berichtete die ARD-Tagesschau über den denkwürdigen Augenblick, ohne den es weder dieses Buch noch die ihm zugrunde liegende Radiosendung noch gar das diese wiederum überhaupt erst ermöglichende akustische Ausgangsmaterial gäbe. Schon verrückt, oder?!

Geburtstagskinder werden zu ihren Jubiläen üblicherweise gefeiert, mitunter auch etwas übertrieben oder unkritisch. Um dieser Gefahr zu entgehen, hat die Tagesschau gleich mal gegengesteuert: Seit Geschäftsleute versuchten, auf dem Hype der letzten Jahre ein reines Geschäft aufzuziehen, gehe es wieder abwärts. Und auch „das gesteigerte Umweltbewusstsein der Menschen … könnte die Branche in den kommenden Jahren verstärkt treffen. […] Denn PVC, der Grundstoff für die Schallplatte, besteht hauptsächlich aus Erdöl. Zudem ist die Produktion energieaufwendig und CO2-intensiv.“2 Zudem sei die Entsorgung von Schallplatten problematisch, auch wenn inzwischen sogar versucht werde, Schallplatten aus recyceltem PVC herzustellen – aus alt mach neu sozusagen. Zwar werde Vinyl nie sterben, aber sie werde wieder mehr zur Nische werden, prognostizieren befragte Experten der Branche, wobei die Schallplatte nun nicht mehr (wie bei der ersten Krise nach 1990) durch die Compact Disc bedroht werde, sondern durch den boomenden Streaming-Markt.

Doch wie ich schon sagte: Totgesagte leben bekanntlich länger. 2022 wurden allein in Deutschland 4,3 Millionen LPs verkauft (andere Quellen 3 sprechen gar von 4,5 Millionen!), und selbst Papst Franziskus wurde beobachtet, wie er in einen Plattenladen huschte. 4 Na, wenn das nicht Hoffnung macht, dann weiß ich auch nicht! Und es gibt eben in allen Generationen erfreulich viele Zeitgenossen, die Schallplatten im Kopf, im Ohr und im Herzen tragen. Im Valle Gran Rey, dem soziokulturellen Hauptort der kleinen Kanareninsel La Gomera, habe ich dieses wundersame Graffito entdeckt, das diese Begeisterung – wie ich finde – sehr schön ins Bild setzt. Da ist die Historie offensichtlich unterwegs auf der Reise in die Zukunft, stets eine Handbreit Hoffnung unterm Kiel…

Wie ich das selbst so sehe? Nun – ich bin ja ziemlich genau fünf Jahre jünger als die zeitlos moderne Vinylscheibe und habe mithin gar keinen Anlass, mich bereits zur Ruhe zu setzen. Also werden die LiveRillen auf Radio Corax auch künftig zu hören sein, jeweils am ersten Freitag des Monats von 16 bis 18 Uhr sowie als Wiederholung am dritten Sonntag desselben Monats von 12 bis 14 Uhr auf UKW 95.9 (Raum Halle/Leipzig/ Magdeburg) und weltweit im Netz unter https://radiocorax.de/ > Livestream. Hört mal rein!

Und nun – viel Freude und gute Unterhaltung bei der Lektüre des sechsten Bandes der LiveRillen…

1      https://www.tagesschau.de/wirtschaft/75-jahre-vinyl-100.html.

2      Ebenda.

3      Vgl. https://www.planet-wissen.de/kultur/musik/geschichte_der_tontraeger/vinyl-schallplatten-sind-wieder-gefragt-100.html.

4      Siehe: https://www.konradsblatt.de/aktuell-2/detail/nachricht-seite/id/183910-die-vinyl-schallplatte-feiert-geburtstag/.

No. 63:     Ein ganz besonderer Sound – die Hammond-Orgel

Teil 1: Niederlande / England

Juni 2023

Dieser Sound ist unverkennbar: Es geht in dieser LiveRillen-Ausgabe um die Hammond-Orgel. Jede und jeder, die oder der sich für populäre Musik interessiert, kennt diesen typischen Klang, und die Kundigen unter euch haben dazu sicher auch ein Bild vor Augen: Ein wuchtiges, zweimanualiges Möbelstück mit zahlreichen Hebeln und Knöpfen, gute hundert Kilogramm schwer, oft ergänzt durch eine Pedalklaviatur für die Bässe, wie man das von Kirchenorgeln kennt.

Tauchen wir also ein wenig ein in den Kosmos dieses faszinierenden Instruments und begegnen zunächst seinem Erfinder: Laurens Hammond, 1895 in Illinois geboren, der es im Laufe seines 78jährigen Lebens auf über einhundert Patente gebracht hat. Kindheit und Jugend verlebte er übrigens in Europa, darunter mehrere Jahre in Dresden, und sprach deshalb neben seiner Muttersprache fließend Deutsch und Französisch. Musikalisch war der studierte Maschinenbauingenieur eigentlich nicht; er hatte es eher mit Motoren. Und tatsächlich stecken die auch in der von ihm 1934 zum Patent angemeldeten Orgel, die in den Kirchen der USA die aufwändigen Pfeifenorgeln ersetzen sollte.

Gewellte Metallräder, die vor elektromagnetischen Tonabnehmern rotieren, erzeugen eine Wechselspannung, die durch Filter geleitet und entsprechend verstärkt wird, um einen Lautsprecher damit anzusteuern. Herz des Ganzen ist ein von Hammond entwickelter Synchronmotor, der den Generator und damit die Zahnräder antreibt. Damit aber erstmal genug von akustischer Physik… Jedenfalls gehörten der Komponist George Gershwin und der Jazzpianist und Bandleader Count Basie zu den ersten Abnehmern der Hammond-Orgel, deren Siegeszug maßgeblich durch eine Erfindung des US-Amerikaners Donald Leslie befördert wurde: Er entwickelte in den 1940er Jahren eine Tonwiedergabebox mit einem rotierenden Lautsprechersystem, die dem Orgelsound den typischen schwebenden Charakter verlieh, zumal die Rotationsgeschwindigkeit während des Spielens beliebig verändert werden konnte. Laurens Hammond selbst mochte diesen Sound übrigens nicht – ihm schwebte eher der klare Ton einer Kirchenorgel vor, doch die Musikgeschichte wollte es anders.

Insbesondere das zwischen 1955 und 1973 gebaute Hammond-Modell B3 mit seinen gedrechselten Holzbeinen hat sich zunächst im Jazz, später dann in Rock und Blues durchgesetzt – und das trotz seines enormen Gewichts auch auf der Bühne!

Und wie das dann klingt, demonstriert nun der jüngste der Organisten, die heute zu hören sein werden: Robin Piso vom 2007 gegründeten holländischen Power-Trio DeWolff, das gern als „dreiköpfiges Rock'n'Roll-Monster aus dem tiefen Süden der Niederlande“ bezeichnet wird; „eine alte Seele in einem jungen Körper“, etwa so, als träfe Leon Russell auf Deep Purple und die Allman Brothers.5 Außer Robin Piso, der neben der Musik 2008 an der Technischen Universität Eindhoven einen Bachelor in Medizintechnik erworben hat, komplettieren die Brüder Pablo van de Poel an der Gitarre und Luka van de Poel am Schlagzeug das Trio.

DeWolff liefern mit „Crumbling Heart“ die aktuelle Erkennungsmelodie der LiveRillen, und hier sind sie mit „Don’t You Go Up To The Sky“ von ihrem 2015 auf dem eigenen Label Electrosaurus Records erschienenen Doppelalbum „Live & Outta Sight“.

DeWolff: Don’t You Go Up To The Sky

2018 erzählte Robin Piso dem Netzmagazin The Rockpit in einem Interview, dass er familiär gar nicht unbedingt musikalisch vorbelastet sei – als Kind ein bisschen Blockflöte, später etwas Gitarrenunterricht, dann über einen Freund zum Keyboardspiel gekommen und nun vom Sound der Hammond-Orgel fasziniert: „Jetzt spiele ich eines der schwersten Instrumente überhaupt, das ich nicht einfach überall mitnehmen kann, aber ich muss es mitbringen. Es geht mit uns auf Tour und sitzt hinten im Van und es ist ziemlich schwer, aber es klingt so cool, dass es sich lohnt.“6 Wer wollte dem widersprechen?

Soeben ist mit „Love, Death & In Between“ das zehnte Studioalbum des fleißigen Trios erschienen, das sich auch live längst vom Geheimtipp zu einem der gefragtesten Acts gemausert hat – im November 2023 werden DeWolff auch wieder auf deutschen Konzertbühnen zu erleben sein. Und ich empfehle den Verantwortlichen der Hammond Hall of Fame7 dringend, sich Robin Piso mal anzuschauen und seinem Spiel zuzuhören – er wäre aus meiner Sicht ein würdiger Kandidat für die kleine, illustre Ruhmeshalle der innovativen Hammond-Organisten.

Ganze 25 Namen enthält die auf der offiziellen Hammond-Website geführte Liste bisher; einigen werden wir im Verlaufe dieser und der nächsten LiveRillen-Sendung begegnen. Die Kriterien für die Auswahl basieren auf dem Hammond-Slogan: „The Sound, The Soul, The One“8: Der Kandidat müsse einen sofort erkennbaren, einflussreichen Musikstil haben; zudem den Hammond-Sound auf einzigartige Weise in das von ihm vertretene Genre integrieren und die Hammond-Orgel als sein Hauptinstrument betrachten. Und wenn das alles auf Robin Piso nicht zutrifft, ja, dann weiß ich auch nicht…

Nun geht die Reise aber weit zurück in die Rockmusikgeschichte zu jenen Bands und Solisten, die den drei Holländern zweifellos die musikalische Inspiration für ihren hochmodernen Retro-Sound geliefert haben, was in diesem Falle kein Widerspruch in sich ist! Dabei sollen in dieser Sendung britische Hammond-Organisten im Mittelpunkt stehen – in einem Monat folgen dann die US-Szene sowie interessante Blicke auf Deutschland und nach Osteuropa – so exotisch das auch klingen mag.

Eine der großartigsten britischen Live-Bands der späten 1960er Jahre ist für mich Colosseum, 1968 in London vom Saxofonisten Dick Heckstall-Smith und dem Schlagzeuger John Hiseman gegründet. Zu den herausragenden Musikern des in Rock, Blues und Jazz gleichermaßen verorteten Ensembles gehörte auch der Keyboarder Dave Greenslade, der insbesondere auf der Hammond-Orgel brillierte. Ihr Album „Colosseum Live“, das einen Mitschnitt aus dem Jahre 1971 präsentiert, „gilt als eines der besten Live-Alben der Rockgeschichte und dokumentiert den wohl höchsten Entwicklungsstand der Gruppe“9, die sich leider noch im selben Jahr auflöste.

Greenslade, der im Januar seinen 80. Geburtstag feiern konnte, war nach dem Aus von Colosseum vor allem als Studio- und Sessionmusiker aktiv. Daneben betrieb er unter eigenem Namen ein Progressive-Rock-Bandprojekt, zu dem auch der Colosseum-Bassist Tony Reeves sowie zeitweise der King-Crimson-Drummer Andrew McCulloch gehörten, und er kreierte 1978 gemeinsam mit dem Fantasy-Künstler Patrick Woodroffe das spektakuläre Doppelalbum „The Pentateuch of the Cosmogony“, ein Gesamtkunstwerk über eine außerirdische Zivilisation, das Maßstäbe in der Fantasy- und Science-Fiction-Szene setzte.

Hier nun Colosseum live aus dem Jahr 1971 von einem Dreifach-Album, das Repertoire Records im Jahr 2020 veröffentlicht haben, mit Chris Farlowe am Mikrofon, Dave Greenslade an der soundprägenden Hammond-Orgel, hier vor allem im musikalischen Duell mit dem Saxofonisten Dick Heckstall-Smith beim Titel „Rope Ladder To The Moon“ – die Strickleiter zum Mond.

Colosseum: Rope Ladder To The Moon

Etwa zur selben Zeit hatten sich der ex-Spencer-Davis-Drummer Pete York nach der Auflösung der in den 60er Jahren populären britischen Band mit deren zweitem Keyboarder Eddie Hardin zusammengetan – Hardin & York firmierten gern als kleinste Bigband der Welt – so auch der Titel einer Live-LP, die 1970 erschienen ist. Kurz zuvor waren sie in der Silvestersendung des Bremer Beat-Clubs zu sehen – übrigens die erste Folge, die in Farbe ausgestrahlt wurde.

Überhaupt war das Duo auf dem europäischen Festland erfolgreicher als auf der heimischen Insel – warum auch immer.

Pete York selbst, den heute noch immer aktiven Schlagzeuger und Erfinder der „Superdrumming“-Fernsehsendungen der ARD, habe ich ja erst vor zwei Monaten in den LiveRillen ausführlich gewürdigt.

Eddie Hardin, der 1967 als gerade mal 18Jähriger Steve Winwood an den Tasten der Spencer Davis Group beerbt hatte, wurde vor allem für die komplexe Fußarbeit auf dem Pedalwerk seiner Hammond-Orgel gerühmt, die gerade in der Duoarbeit mit Pete York eine derartige Klangfülle garantierte, dass die Abwesenheit eines Basses nicht zu bemerken war. Eine intensive Freundschaft verband Eddie Hardin mit Deep Purple und dort natürlich besonders mit Jon Lord, zu dem wir noch kommen werden. Daneben arbeitete er mit zahlreichen bekannten Rockmusikern zusammen, so etwa dem Keyboarder Tony Ashton, den Gitarristen Ray Fenwick und Bernie Marsden oder dem Taste-Bassisten Richard McCracken. Und oft genug war auch Pete York bei diesen qualitativ stets hochwertigen Unternehmungen mit von der Partie.

Eines der bekanntesten Werke der Hardin & York-Ära – das „Northern Medley“ – ist übrigens den Beatles zu verdanken – hier kommt es live und direkt vom Vinyl der LP „The World’s Smallest Big Band“.

Hardin & York: The Northern Medley (Lady Madonna / Norwegian Wood)

Das war ganz sicher nicht schwierig zu erkennen: „Lady Madonna“ und „Norwegian Wood“ haben beim „Northern Medley“ von Hardin & York hörbar Pate gestanden. Dazu noch eine Anekdote am Rande: 1970 war eine Liveaufnahme des „Northern Medley“ nach einem getürkten Filmtermin als erster in Deutschland gepresster Raubmitschnitt auf Vinyl erschienen. Erwerben konnte man das illegale Bootleg nur „in einem Hamburger Spartacus-Buchladen; die Ware gab es vorsichtshalber – fertig eingetütet – nebenan beim Schlachter“10, wie das Musikmagazin GoodTimes berichtete. Immerhin seien von der Raubpressung europaweit rund 25tausend Exemplare verkauft worden sein…

Eddie Hardin und Pete York werden wir im Verlaufe dieser Sendung übrigens noch einmal begegnen.

Einer, der den Hammond-Sound auch schon Mitte der 1960er Jahre in der Beatmusik etablieren half, ist Alan Price, Keyboarder der schon 1962 in Newcastle gegründeten Animals, zu deren stark von Soul und Blues beeinflussten Titeln der raue Orgelsound hervorragend passte – zum Stimmorgan des Sängers Eric Burdon sowieso. Und auch wenn der 1942 geborene Alan Price die Band schon 1965 wieder verließ, weil er seine Flugangst nicht dauerhaft überwinden konnte, hatte er doch zu diesem Zeitpunkt den Animals ihren größten Erfolg schon gesichert: Sein Arrangement des Traditionals „House Of The Rising Sun“ bescherte den Briten einen weltweiten Nummer-Eins-Hit. In den Folgejahren entdeckte Alan Price auch sein schauspielerisches Talent, das ihm sowohl auf der Theaterbühne als auch im Film Erfolg brachte. So komponierte er 1973 nicht nur die Musik für Lindsay Andersons Film „Oh Lucky Man“, sondern spielte in dem surrealistisch angehauchten Drama um einen jungen, von Malcolm McDowell verkörperten Kaffeeverkäufer auch selbst mit. Musikalisch blieb der heute 81Jährige bis etwa 2010 mit sporadischen Tonträgerveröffentlichungen und Konzerten aktiv – seitdem ist es ruhig geworden um den Briten. 1983 gab es eine glücklose Wiedervereinigung der einstigen Animals (neben Alan Price und Eric Burdon mit Chas Chandler am Bass, John Steel am Schlagzeug und dem Gitarristen Hilton Valentine); immerhin erbrachte die Reunion die im Folgejahr erschienene, absolut hörenswerte LP „Greatest Hits Live“. Daraus jetzt „House Of The Rising Sun“ und „Lucky Man“ – an der Hammond-Orgel Alan Price.

Animals (Alan Price): House Of The Rising Sun / Lucky Man

In meinem Plattenregal steht übrigens mit „A Rock’n’Roll Night At The Royal Court“ auch eine Live-LP von Alan Price, auf der er mit großer Band und Background-Sängerinnen diverse Rock’n’Roll-Standards interpretiert – allerdings leider ohne Hammond-Orgel und damit nicht in Frage kommend für diese LiveRillen, die ganz diesem markanten Sound verpflichtet sind.

Der allerdings gehört zum folgenden Musiker so, als sei er ihm quasi angeboren: der Keyboarder Jon Lord, als studierter Musiker 1968 gemeinsam mit dem Gitarristen Ritchie Blackmore Gründer der Hardrock-Pioniere von Deep Purple, deren Stellenwert als „einer der erfolgreichsten britischen Rockbands“ nach Auffassung von Siegfried Schmidt-Joos nicht zuletzt „aus einem ununterbrochenen Konflikt zwischen diesen beiden Musikern“11resultierte. Die musikalischen Duelle zwischen Leadgitarre und Hammond-Orgel sind legendär, arteten aber leider auch in unschöne persönliche Fehden aus, die schließlich zum Bruch zwischen den beiden Alpha-Tieren führten – 1975 stieg Blackmore bei Deep Purple aus, um zunächst die Hardrock-Combo Rainbow zu gründen, die er Jahre später bekanntlich aufgab, um mit seiner Muse und Lebensgefährtin Candice Night das Mittelalter-Folkrock-Unternehmen Blackmore’s Night zu gründen, mit dem er noch heute aktiv ist.

Jon Lord, der als Wegbereiter der Kombination von Rock und Klassik gilt, stellte seinen hohen künstlerischen Anspruch über den schnellen Hitparadenerfolg und schuf mit dem 1970 uraufgeführten „Concerto for Group and Orchestra“ und der „Gemini-Suite“ rocksinfonische Meilensteine.

Neben seiner diversen Personalwechseln unterworfenen Stammband war er in den 1970er Jahren noch bei Whitesnake aktiv, die ex-Purple-Sänger David Coverdale gegründet hatte. 1984 gab es eine kurze Wiedervereinigung der ursprünglichen Deep-Purple-Besetzung; in der Folge war oft nicht ganz klar, welches Personal man zu erwarten hatte, wenn neue Platten oder Konzerte von Deep Purple angekündigt waren. Stets unverkennbar aber in allen Phasen der Band blieb der grandiose Hammond-Sound, mit dem Jon Lord sowohl Musikpassagen flächig grundieren als auch rasante Soli und schwindelerregende Tastenläufe ins begeisterte Publikum peitschen konnte.

Sein letztes Konzert mit Deep Purple fand im Herbst 2002 statt; danach war Jon Lord mal als Solist, mal in Bluesprojekten oder auch als klassisch ausgerichteter Komponist tätig, bis ihn 2012 ein tückischer Bauchspeicheldrüsenkrebs aus dem Leben riss. Sein durch die Mitgliedschaft in der Hammond Hall of Fame angemessen gewürdigtes Wirken im Studio und auf der Konzertbühne wird für immer mit diesem Sound verbunden bleiben – das zeigen auch die folgenden beiden Aufnahmen, die seinem Andenken gewidmet sind: „Child In Time“ vom wohl besten Deep-Purple-Konzertalbum „Live In Japan“, und danach „Walking In The Shadow Of The Blues“ vom 1980 erschienenen Whitesnake-Doppelalbum „Live In The Heart Of The City“.

Deep Purple (Jon Lord): Child In Time Whitesnake (Jon Lord): Walking In The Shadow Of The Blues

Die aus der Anfangszeit von Deep Purple verbliebenen Recken Ian Gillan, Ian Paice und Roger Glover haben nach Lords Ausstieg in Don Airey, der zuvor bei Colosseum II die Tasten bedient hat, ja einen durchaus würdigen Nachfolger gefunden. So konnten die rasanten Dialoge von Leadgitarre und Hammond-Orgel auch mit den Blackmore-Erben Tommy Bolin, Joe Satriani, Steve Morse und aktuell dem Nordiren Simon McBride auf hohem Niveau fortgeführt werden; sie gehören bis heute zum Markenzeichen der Hardrock-Veteranen, die sich erfreulicherweise keineswegs nur auf ihren alten Lorbeeren ausruhen, sondern immer mal wieder mit Neuproduktionen aufhorchen lassen.

Eine britische Band, die in ihrer großen Zeit von Hardrock-Fans durchaus in einem Atemzug mit Deep Purple genannt wurde und die – genau wie jene – noch immer auf den Konzertbühnen weltweit anzutreffen ist, trägt den Namen einer Romanfigur von Charles Dickens: Uriah Heep.

1970 in London gegründet, prägte insbesondere Ken Hensley als Komponist, Keyboarder und Sänger für ein Jahrzehnt den Sound der Band; 1980 stieg er bei Uriah Heep aus, betrieb ein Studio in St. Louis und diverse Soloprojekte, die aber nie auch nur annähernd den einstigen Stellenwert erreichten. Im Jahr 2020 ist Ken Hensley 75jährig verstorben. Zuletzt war er in Spanien zuhause und hatte dort gerade an einer neuen LP und seiner zweiten Autobiografie gearbeitet.

Glücklicherweise dokumentiert eines der großartigsten Livealben der 1970er Jahre seinen Stellenwert in überzeugender Weise: „Uriah Heep Live“ wurde während einer Großbritannien-Tour im Januar 1973 mitgeschnitten und bietet mit Klappcover, achtseitigem Booklet, tollen Fotos, umfangreichen Linernotes und bedruckten Plattenhüllen auch optisch und haptisch alle Vorzüge, die das Vinylzeitalter dem digitalen Streaming von Musikdateien voraushat! Und damals wie heute sind es vor allem die Hensley-Kompositionen „Look At Yourself“, „Easy Livin‘“, „Tears In My Eyes“, „Lady In Black“, „Free Me“ oder „July Morning“, die – neben dem vom Gitarristen Mick Box geschriebenen „Gypsy“ – die Konzertbesucher zum lautstarken Chor mit begleitender Luftgitarren-Akrobatik vereinen.

Ich habe für diese LiveRillen den elfeinhalb-Minüter „July Morning“ ausgewählt, bei dem Ken Hensley alle Register seiner Hammond-Orgel zieht, um ihr das ganze Klangspektrum von schneidender Schärfe bis zur sanften Berührung, von tiefem Blubbern und Wabern bis zum kathedralen Orkan abzugewinnen.

Uriah Heep (Ken Hensley): July Morning

Seit 1986 bedient Phil Lanzon die Tasteninstrumente bei der noch immer aktiven Band, und er macht das gar nicht schlecht.

Ein weiterer britischer Keyboarder, dessen Wirken im Kontext von Rock, Soul und Blues ganz intensiv mit dem virtuosen Spiel auf der Hammond-Orgel verbunden ist, war Tony Ashton, 1946 in Blackburn geboren und 2001 verstorben. Schon als Kind erhielt Ashton Klavierunterricht, spielte in Schulbands und galt bereits im Alter von 15 Jahren als versierter Pianist. Zu Beginn der 1960er Jahre musizierte er in einem Jazz-Trio, bevor er Organist und Sänger der Liverpooler Gruppe The Remo Four wurde, die längere Zeit im Hamburger Star Club gastierte und später sogar die Beatles auf einer US-Tour begleitete. 1968 war Tony Ashton an George Harrisons Soloplatte “Wonderwall Music” beteiligt.

Nach der Trennung der Remo Four gründete Ashton mit dem Remo-Schlagzeuger Roy Dyke und der Bassistin Kim Gardner das Trio Ashton, Gardner & Dyke, das mit seiner Mischung aus R&B und Jazz durchaus erfolgreich war – die Single „Resurrection Shuffle“ aus der Feder von Tony Ashton erreichte 1971 Platz drei der britischen Single-Charts. Nach der Auflösung des Trios im Jahr 1973 spielte Ashton kurzzeitig bei Roger Chapmans Family, hatte aber auch Sessions mit Jerry Lee Lewis, George Harrison, Eric Clapton oder Paul McCartney und arbeitete mit Jon Lord zusammen, der ihm ein enger Freund wurde. Im Sommer 1974 nahmen Ashton und Lord ihr gemeinsames Album „First Of The Big Bands“ auf, das Rhythm and Blues, Boogie Piano und Hammond-Orgel mit einer echten Big Band zusammenführte. Zwei Jahre später gab es nach einem Split von Deep Purple sogar eine gemeinsame Band, der neben Tony Ashton, Jon Lord und Purple-Drummer Ian Paice auch der spätere Whitesnake-Gitarrist Bernie Marsden und Bassist Paul Martinez angehörten. Leider musste eine England-Tour wegen großer finanzieller Verluste abgebrochen werden, und Tony Ashton stieg zeitweise bei dem Bluesrock-Gitarristen Stan Webb in dessen Band Chicken Shack ein.

Daneben begann Ashton eine erfolgreiche zweite Karriere als bildender Künstler und Buchautor, und Mitte der 90er Jahre spielte er auch wieder Konzerte in Deutschland, Norwegen und Großbritannien, teilweise gemeinsam mit Bernie Marsden.

Als Tony Ashton im Jahr 2000 schwer erkrankte, wurde in den Abbey Road Studios von EMI ein Benefizkonzert für ihn veranstaltet, an dem unter anderem Jon Lord, Ian Paice, Micky Moody, Bernie Marsden, Chris Barber, John Entwistle, Zak Starkey, Pete York, Mike Figgis und Ewan McGregor teilnahmen. Trotz dieser prominenten Unterstützung erlag Tony Ashton im Mai 2001 dem Krebs – er wurde nur 55 Jahre alt.

Ich habe einen Take von der 1981 erschienenen LP „Roadies Concerto“ ausgewählt, die Stan Webb’s Chicken Shack in bester Spiellaune präsentiert: „Shake Your Money Maker“, ein Blues-Traditional von Elmore James, bei dem die von Tony Ashton gespielte Hammond B3 bestens zur Geltung kommt.

Unmittelbar angehängt der Dave-Mason-Song „Shouldn’t Have You Took More Than You Gave”, 1971 aufgenommen bei einem Konzert einer leider nur kurzlebigen Supergroup des Rock: Traffic.

„Welcome To The Canteen“ ist der Titel der Liveplatte – an der Hammond-Orgel kein geringerer als der bereits erwähnte Steve Winwood, zu dem im Anschluss dann noch einiges zu sagen ist.

Chicken Shack (Tony Ashton): Shake Your Money Maker Traffic (Steve Winwood): Shouldn’t Have You Took More Than You Gave

Steve Winwood, der einst als Teenager bei der Spencer Davis Group und später bei Traffic auf unvergessliche Weise die Hammond B3 traktiert hat und dafür zu Recht in die Ruhmeshalle der Hammond-Organisten 12 aufgenommen wurde. In der Begründung heißt es dort, er habe für „Gimme Some Lovin‘“ einen der bekanntesten Riffs im Rock auf der Hammond-Orgel geschaffen und im Unterschied zu den meisten Singer-Songwritern, die Akustikgitarre oder Klavier verwendeten, stets die Orgel bevorzugt. Dass er auch als Sänger absolut zu überzeugen weiß, zeigt die Tatsache, dass der Rolling Stone ihn auf Platz 33 der hundert besten Gesangssolisten aller Zeiten führt.

Kurzzeitig stellte er sein Können auch in den Dienst von Blind Faith und der Ginger Baker’s Air Force; als Studio- oder Sessionmusiker hat er im Laufe der Jahre unter anderem mit Eric Clapton, Phil Collins, David Gilmour oder Tina Turner zusammengearbeitet.

Mit seiner zweiten Frau Eugenia Crafton, einer aus Nashville stammenden US-Amerikanerin, bewohnt Steve Winwood ein altes Herrenhaus im Südwesten Englands; das seit 1987 verheiratete Paar hat vier Töchter, von denen sich einige auch gesanglich präsentieren. Und noch heute ist der inzwischen 75jährige Winwood musikalisch aktiv; vor gut einem Jahrzehnt war er längere Zeit mit Eric Clapton auf Tour; 2009 erschien ihr gemeinsames Konzertalbum „Live from Madison Square Garden“. Die jüngsten Schlagzeilen kreierte Winwood, als er beim Coronation Concert anlässlich der Krönung von König Charles III. mit zahlreichen anderen Stars auf Schloss Windsor auftrat und dort verkündete, er könne sich noch an die Krönung von Königin Elizabeth II. erinnern und sei „genauso wie Millionen und Abermillionen von Menschen … ein lebenslanger Monarchist.“13 Nun gut… Leider habe ich keine vinylige Liveaufnahme von „Gimme Some Lovin‘“, auf der Winwood selbst die Hammond spielt. Doch den eindrucksvollen Riff will ich euch dennoch nicht vorenthalten, zumal er vom bereits gehörten Eddie Hardin als legitimem Nachfolger Winwoods in der Spencer Davis Group absolut ebenbürtig gespielt wird. Die Liveaufnahme entstand allerdings erst 1990 im Rahmen der vom einstigen Spencer-Davis-Schlagzeuger Pete York kreierten und moderierten Superdrumming-Sessions, die seinerzeit in der ARD ausgestrahlt wurden – leider ohne Publikum, aber das wissen die treuen LiveRillen-Hörer ja bereits aus der Aprilsendung, die Pete York gewidmet war (siehe LiveRillen, Band 5).

Hier nun also „Gimme Some Lovin‘“ mit nahtlosem Übergang zum ebenfalls von der Hammond-Orgel dominierten „I’m A Man“ – an den Tasten und am Mikrofon Eddie Hardin.

Superdrumming II / Eddie Hardin: Gimme Some Lovin’ / I’m A Man

Kommen wir nun bei unserer Reise durch das Hammond-Universum zu Vincent Crane, 1943 im britischen Reading geboren. Der musikalische Spätstarter erhielt erst mit 15 Jahren Klavierunterricht, offenbarte dabei aber ein derartiges Talent, dass er es an das renommierte Londoner Trinity College of Music schaffte, das er 1964 mit zwei Diplomen abschloss. Während des Studiums hatte er allerdings festgestellt, dass die Virtuosität eines Konzertpianisten für ihn wohl nicht mehr erreichbar war; dafür empfand er den wuchtigen Sound der Hammond-Orgel seinem Können angemessen. Nach einigen erfolglosen Versuchen, im Jazz Fuß zu fassen, gründete Crane 1966 gemeinsam mit dem Sänger und Meister der Selbstinszenierung Arthur Brown dessen Crazy World, die mit „Fire“ einen weltweiten Nummer-Eins-Hit landen konnte, auch wenn – oder vielleicht gerade weil? – dieser aufgrund seiner satanischen Anspielungen nicht unumstritten war und von einigen Radiostationen boykottiert wurde.

1969 stieg Vincent Crane nach mehreren erfolgreichen US-Touren der Crazy World of Arthur Brown aus und gründete gemeinsam mit dem erst 18jährigen, hochtalentierten Schlagzeuger Carl Palmer die Band Atomic Rooster, die Siegfried Schmidt-Joos in seinem Rocklexikon mit den Worten kommentierte: „hysterische Orgelausbrüche, beißende Gitarren-Riffs und Powerschläge der angeblich ‚größten Schlagzeugbatterie der Welt‘ (Crane) überstürzten sich zu einer Flutwelle an akustischen Überreizen“14.

Immerhin hatte die Band trotz häufiger personeller Wechsel zu Beginn der 1970er Jahre mit „Friday, the 13th“, „Devil’s Answer“ und „Tomorrow Night“ einige Hits, die sie im europäischen und US-amerikanischen Musikmarkt bekannt machte, zumal sie sich als kraftvolle Liveband jenseits filigraner Meisterschaft einen gewissen Ruf beim sich entwickelnden Hardrock-Publikum erspielt hatte.

Carl Palmer war da schon Mitglied des Trios Emerson, Lake & Palmer geworden, das gleich unsere heutige LiveRillen-Ausgabe abschließen wird. Für ihn saß nun Paul Hammond am Schlagzeug; der Drummer starb 1992 mit nur 40 Jahren an einer Überdosis. Zudem waren inzwischen der Gitarrist Steve Bolton, der später unter anderem als Sideman von The Who und von Paul Young arbeitete, und der ex-Colosseum-Sänger Chris Farlowe unter die Fittiche des Atomhähnchens geschlüpft – also eine durchaus illustre Besetzung, die vor allem live eine imposante Energie entfachen konnte, für die maßgeblich das wuchtige Orgelspiel von Vincent Crane verantwortlich war, der seine Hammond vornehmlich kreischen, brüllen, sägen und brausen ließ.

Als Beweis lege ich nun zur Abwechslung mal weißes Vinyl auf den Plattenteller: 2018 wurden bei Repertoire Records mehrere Radio- und TV-Konzerte veröffentlicht, die Atomic Rooster 1972 gespielt hatten. Aus einem BBC-Konzert vom 27. Juli 72 hören wir „Devil’s Answer“, einen der größten Atomic-Rooster-Hits, hier mit einem witzigen Vokal-Einstieg, bei dem Sänger Chris Farlowe sich selbst zitiert: „Baby, you’re out of time…“.

Atomic Rooster (Vincent Crane): Devil’s Answer

Vincent Crane – um das Atomic-Rooster-Kapitel abzuschließen – hat die Band mehrfach aufgelöst und wiederbelebt, ehe er 1989 an einer Überdosis Schmerzmittel verstorben ist – er wurde nur 45 Jahre alt. Erstaunlich, dass es seit wenigen Jahren wieder eine Band gleichen Namens gibt, die insbesondere bei kleineren Hardrock-Festivals auftaucht – Gitarrist Steve Bolton ist daran wohl maßgeblich beteiligt.

Den Schluss dieses ersten Teils der Würdigung eines wahrhaft königlichen Instruments übernimmt Keith Emerson, unbestritten einer der Tasten-Heroen der populären Musik im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts.

Anders als beim musikalischen Spätstarter Vincent Crane war die Kindheit des 1944 in Lancashire geborenen Keith Emerson strikt auf eine Karriere als Konzertpianist ausgerichtet; von klein auf erhielt er intensiven Klavierunterricht, entschied sich aber mit 15 Jahren für die populäre Musik und spielte zunächst in einer Band, die die Sängerin P. P. Arnold begleitete. Nachdem er 1967 mit Musikern, die er dort kennengelernt hatte, die Gruppe The Nice gegründet hatte, ernannte ihn ein Musikmagazin zum „Pianisten und Organisten des Jahres“, der auch schon mal als der „Jimi Hendrix der Tasteninstrumente“15 gefeiert wurde, zumal er als erster britischer Musiker den seinerzeit neuen Synthesizer auf der Konzertbühne etablierte.

1970 löste er Nice auf und gründete gemeinsam mit dem Gitarristen und Sänger Greg Lake, der zuvor bei der Progressive-Rock-Band King Crimson gespielt hatte, und dem bereits erwähnten Arthur-Brown- und Atomic-Rooster-Drummer Carl Palmer jenes legendäre Trio, das ein Jahrzehnt lang Maßstäbe setzte in der Verbindung klassischer Elemente und sinfonischer Strukturen mit innovativen elektronischen Mitteln der Rockmusik: Emerson, Lake & Palmer. Ihre Konzerte wurden zu pompösen Ereignissen, bei denen sich Emerson der Herausforderung stellte, auf der Bühne zwei Hammond-Orgeln, dazu einen Flügel, ein E-Piano sowie ein Mellotron und den Moog-Synthesizer live zu bedienen! Das löste zunächst weltweit Begeisterung aus, doch „die Gigantomanie des Equipments und der Effekte drohten die Musikalität des Trios im Konzert manchmal zu überdecken“16, konstatiert Siegfried Schmidt-Joos. Immerhin gelten gerade die Klassik-Bearbeitungen des Trios – darunter Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ oder Béla Bartóks „Barbarian“ – als wegweisend für das Subgenre des Classic Rock.

2010 wurde Keith Emerson für seine Verdienste mit dem Frankfurter Musikpreis ausgezeichnet. Die Laudatio beschrieb ihn „als einen innovativen Künstler, der mit seiner Musik nicht nur die Grenzen des Genres überschritten, sondern durch sein Keyboardspiel auch die Technologie elektronischer Tasteninstrumente entscheidend beeinflusst hat“17. Fast überflüssig zu erwähnen, dass Keith Emerson auch zu jenen 25 Musikerinnen und Musikern gehört, die in der Ruhmeshalle der Hammond-Orgel-Virtuosen wohnen dürfen – 2014 wurde ihm diese Ehre zuteil. Zwei Jahre später schied Emerson durch Suizid aus dem Leben – ein Nervenleiden, das die Beweglichkeit seiner Finger immer mehr einschränkte, Alkohol und Depressionen waren wohl die Ursachen für sein tragisches Ende.

Zum Abschluss der heutigen LiveRillen lege ich die letzte der drei Platten auf, die 1973/74 auf der Welttournee von Emerson, Lake & Palmer mitgeschnitten und als Live-Set unter dem Titel „Welcome back, my friends, to the show that never ends“ 1974 auf dem bandeigenen Manticore-Label veröffentlicht wurde. Daraus die „1st Impression“ der dreiteiligen Komposition „Karn Evil 9“ von Keith Emerson.

Die nächste LiveRillen-Ausgabe wird im Juli das ergiebige Thema Hammond-Orgel fortsetzen – zu hören sein werden da Lee Michaels und Gregg Allman, Al Kooper und Greg Rolie, Jean-Jaques Kravetz, Cieslaw Niemen oder Marian Varga ebenso wie die einzige Deutsche in der illustren Runde der Hammond Hall of Fame.

Emerson, Lake & Palmer: Karn Evil 9 / 1st Impression

Quellen:

The Animals: Greatest Hits Live, LP, I.R.S./CBS, 1984

Atomic Rooster: Live At The BBC & Other Transmissions, Do.-LP, Repertoire Records, 2018

Colosseum: Live ’71, 3-LP-Set, Repertoire Records, 2020

Deep Purple: Made In Japan, Do.-LP, Electrola, 1972

DeWolff: Live & Outta Sight, Do.-LP, Electrosaurus Records, 2015

Emerson, Lake & Palmer: Welcome Back, 3-LP-Set, WEA/Ariola, 1974

Hardin & York: The World’s Smallest Bigband, LP, BELL/CBS, 1970

United Artists (Traffic): Welcome To The Canteen, LP, United Artists Records, 1971

Uriah Heep: Live January 1973, Do.-LP, Bronze/Ariola, 1973

Stan Webb’s Chicken Shack: Roadies Concerto, LP, RCA, 1981

Whitesnake: Live… In The Heart Of The City, Do.-LP, EMI/Electrola, 1980

Pete York Presents: Super Drumming, Volume II, LP, BMG Ariola, 1990

5      Vgl. https://suburban.nl/en/artists/dewolff/.

6      https://www.therockpit.net/2018/interview-dewolff-robin-piso/.

7      https://artists.hammondorganco.com/hall-of-fame.

8      Vgl. https://hammondorganco.com/.

9      https://de.wikipedia.org/wiki/Colosseum_(Band).

10    GoodTimes, 6/2006, S. 22.

11    RL, Band 1, S. 253.

12    Siehe https://artists.hammondorganco.com/hall-of-fame.

13    https://www.fr.de/kultur/musik/rocklegende-mit-soulstimme-steve-winwood-wird-75-zr92272453.html.

14    RL, Band 1, S. 70.

15    Vgl. RL, Band 1, S. 304.

16    RL, Band 1, S. 302.

17    https://de.wikipedia.org/wiki/Keith_Emerson.

No. 64:     Ein ganz besonderer Sound – die Hammond-Orgel

(Teil 2: USA / Osteuropa / Deutschland)

Juli 2023

Hier nun die Fortsetzung des im Vormonat begonnenen Streifzugs durch die Soundwelt der Hammond-Orgel. Und nachdem im Juni britische Keyboarder im Mittelpunkt standen wie Jon Lord, Eddie Hardin, Steve Winwood oder Vincent Crane, hören wir uns in dieser Sendung zunächst in den Vereinigten Staaten um, dem Geburtsland des Instruments, dessen Vater – den Techniker und passionierten Tüftler Laurence Hammond – ich ja bereits vorgestellt hatte. Danach springen wir zurück ins alte Europa und werden dabei staunend erfahren, dass das über zwei Zentner schwere Instrument sogar den Sprung über den Eisernen Vorhang geschafft hat. Doch alles zu seiner Zeit…

Ihr erinnert euch sicher aus der Juni-Sendung an das Duo Eddie Hardin und Pete York, das in der seltenen Kombination von Orgel und Schlagzeug um 1970 herum das Publikum vor allem in Europa zu begeistern wusste. Weniger bekannt ist, dass es jenseits des Großen Teiches zur selben Zeit ein ganz ähnlich klingendes Projekt gab, initiiert vom Keyboarder Lee Michaels.

Wer heute diesen Namen googelt, dem wird der 1945 als Michael Olsen in L.A. geborenen US-Amerikaner womöglich als Gründer und Betreiber der kalifornischen Restaurantkette Killer Shrimp