Grundlos vergnügt - Julia Onken - E-Book

Grundlos vergnügt E-Book

Julia Onken

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Beschreibung

In diesem sehr persönlichen Buch nimmt uns Julia Onken mit auf eine Reise durch ihr gelebtes Leben – gegliedert in zwölf Jahrsiebte. Es ist ein Rückblick, der nicht nur berührt, sondern auch zum Nachdenken anregt: über gesellschaftliche Erwartungen, über unsere Prägungen, über das, was uns antreibt – und das, was uns ausbremst. Mit entwaffnender Offenheit schildert Onken ihre eigenen Erfahrungen: das Erleben von Enge in der Kindheit, das Aufbegehren gegen Konventionen, die Suche nach beruflicher Erfüllung und die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. Dabei gelingt es ihr, biografische Reflexion mit existenziellen Fragen zu verbinden – stets getragen von einer leichten, lebendigen Sprache. Ein Buch voller Leben, das zeigt: Jeder Lebensabschnitt hat seine eigene Kraft – und seine eigene Schönheit.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Was geschieht, wenn das Leben langsam zur Ruhe kommt und dennoch so viel in Bewegung bleibt?

Julia Onken blickt zurück auf zwölf Jahrsiebte ihres Lebens. Mit klarem Blick, feinem Humor und berührender Ehrlichkeit erzählt sie von Kindheit und Rebellion, vom Lieben und Loslassen, von Mutproben und dem langsamen Aufräumen im Innen und Außen.

Ein Buch über das Altern ohne Bitterkeit, das Reifen mit Würde und das grundlose Vergnügen, sich selbst treu zu sein.

Eine inspirierende Lektüre für alle, die das Leben verstehen wollen, bevor es zu Ende geht.

In diesem sehr persönlichen Buch nimmt uns Julia Onken mit auf eine Reise durch ihr gelebtes Leben – gegliedert in zwölf Jahrsiebte. Es ist ein Rückblick, der nicht nur berührt, sondern auch zum Nachdenken anregt: über gesellschaftliche Erwartungen, über unsere Prägungen, über das, was uns antreibt – und das, was uns ausbremst.

Mit entwaffnender Offenheit schildert Onken ihre eigenen Erfahrungen: das Erleben von Enge in der Kindheit, das Aufbegehren gegen Konventionen, die Suche nach beruflicher Erfüllung und die Auseinandersetzung mit dem Älterwerden.

Dabei gelingt es ihr, biografische Reflexion mit existenziellen Fragen zu verbinden – stets getragen von einer leichten, lebendigen Sprache.

Ein Buch voller Leben, das zeigt: Jeder Lebensabschnitt hat seine eigene Kraft – und seine eigene Schönheit.

Julia Onken, geboren 1942 in Münsterlingen TG, ist Psychologin, Autorin und eine der profiliertesten Stimmen für weibliche Selbstfindung und emotionale Selbstbestimmung im deutschsprachigen Raum. Sie wurde einem breiten Publikum durch ihre Bestseller «Feuerzeichenfrau» und «im Garten der neuen Freiheiten» bekannt – Bücher, die sich hunderttausendfach verkauft und in viele Sprachen ihren Weg gefunden haben. Insgesamt hat Julia Onken über 20 Bücher veröffentlicht, in denen sie psychologische Themen lebensnah, verständlich und zugleich tiefgründig aufbereitet.

Mit dem von ihr gegründeten Frauenseminar Bodensee hat sie eine einzigartige Bildungs- und Entwicklungsstätte geschaffen, die seit über drei Jahrzehnten Frauen in herausfordernden Lebensphasen begleitet, stärkt und ermutigt.

Julia Onken

Grundlos vergnügt

vom Ankommen und Loslassen -ein Leben in 12 Kapiteln

CAMEO

1. Auflage 2025

Copyright 2025 Cameo Verlag GmbH, Bern

Alle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamt für Kultur

für die Jahre 2021–2025 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, Duisburg

Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, Bern

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-03951-053-5

ISBN gedrucktes Buch: 978-3-03951-050-4

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Hausputz

Vorgeburtliche Impressionen

Turbulenzen

Vorerst sonnig

Wetterumschwung

Abflugrampe

Unsanfte Landung

Halbzeit in Sicht

Vollwertnahrung statt Büchsenkost

Fehlentscheide und Korrekturen

Bekenntnisjahre

Am Ball bleiben

Erntezeit

Angezählt

Es wird Zeit, die Koffer zu packen

Anmerkungen

HAUSPUTZ

Der Sommer ist vorbei. Jedes Jahr von neuem. Abräumen, aufräumen, umräumen, ordnen, winterfest machen. Gartenstühle ineinander stapeln und im kleinen Holzverschlag hinter der Hecke verstauen, Steintischplatte und Gartenbank unter dunkelbrauner Plane sturmfest verzurren. Im Frühjahr dann hervorholen und später mit den ersten herbstlichen Anzeichen wieder wegräumen, in geübten Tanzschrittchen, zwei vor, zwei zurück. Schön getaktet. Irgendwann wird die Musik stoppen – und dann ist Schluss.

In meinem Fall geht es endgültig dem Finale entgegen, ich bin schliesslich im neunten Jahrzehnt angekommen. Zum Ende hin ist zwar alles ungewiss und offen. Doch so viel: Irgendwann ist es so weit, und dann wird es keine Wiederholung geben. Jetzt aber ist noch viel zu tun, zu ordnen; das eigene Leben soll einen Rahmen bekommen. Schliesslich möchte ich ein einigermassen gesäubertes Feld zurücklassen.

Kürzlich habe ich versucht, meinen beiden Töchtern etwas von dem über Jahrzehnte gesammelten Modeschmuck anzudrehen. Ohne Erfolg: «Aber Mami, das ist doch völlig veraltet.» Bei meinen Enkelinnen hingegen stiess ich auf höfliches Interesse: «Ach Omi, wie niedlich…» Aber ich mache mir da nichts vor. Schliesslich war ich auch nicht begeistert von einem in filigranem Silber gearbeiteten Collier, das mir meine Mutter hinterlassen hatte. Ich wäre nie der Idee verfallen, es zu tragen, sondern verstaute es in der hintersten Ecke der Unterwäscheschublade. Es wird wahrscheinlich das einzige Stück sein, das von meinen Nachkommen gerne übernommen wird.

An den Rest möchte ich schon gar nicht denken. Die vielen Bücher. Die meisten gelesen und mit Unterstreichungen und Anmerkungen versehen, was die Weitergabe an Dritte oder ein Antiquariat erschwert. Wer will denn schon ein Buch lesen, das nicht nur die Gedanken der Autorenschaft wiedergibt, sondern die zahlreichen Gedankenblitze der einstigen Lesenden störend mit eigenem Geschwurbel mitführt. Ich habe gerade kürzlich mit einer 90-jährigen Freundin bei ihrem Umzug in eine Seniorenresidenz mit Entsetzen erlebt, wie ihre über zehntausend Bücher umfassende Bibliothek, samt den kunstvoll geschnitzten antiken Buchenholzregalen, auf dem Müll zu landen drohte. In letzter Minute erbarmte sich ein netter Mensch, der antiquarische Bücher vertreibt. Nur weil sämtliche Titel akribisch in einem Verzeichnis aufgeführt waren, transportierte er die ganze Bagage eigenhändig in sein Verkaufsdomizil. Die Freundin trennte sich mutig davon: «Ach was, in der 22 Quadratmeter kleinen Wartestation gibt es für Hirnfutter keinen Platz. Zudem ist die trockene Makuladegeneration inzwischen so weit fortgeschritten, dass ich froh sein kann, wenn ich einst Gevatter Tod zu erkennen vermag und ihn nicht für einen freundlichen Pfleger halte, der mir ein köstliches Dessert serviert.»

Ein weiteres, ziemlich schwieriges Unterfangen wird die Abteilung Bekleidung und Schuhwerk sein. Mein Gott, was sich alles im Laufe der Zeit zusammengeläppert hat! Da hängt noch der geblümte Hippie-Gipsy-Rock in weit ausschwingender Fasson, der damals ein Gefühl unbeschreiblicher Leichtigkeit und Lebensheiterkeit zu verleihen vermochte. Welcher Teufel muss mich aber denn da geritten haben, dass ich diesen Fummel noch immer in meinem Kleiderschrank aufbewahre! Zudem mindestens drei Nummern zu klein, und selbst wenn er noch passend wäre: so oder so undenkbar, ihn zu tragen. Dann noch zwei Teile aus der gemässigten Zeit danach, getarnter Hausback-Look im von meiner Mutter kunstvoll gefertigten Lochstrickmuster, wohl stets mit der Hoffnung verbunden, aus der Tochter werde doch noch eine einigermassen passable Hausfrau. Später dann Totalrevision. Auf der untersten Stufe der Karriereleiter im schnörkellosen dunkelblauen, eselgrauen oder schokobraunen Hosenanzug startklar. Nach dem Erklimmen der ersten Sprossen im unteren Drittel mit zahlreichen Foulards aus Seide oder fliessender Viskose «ton-sur-ton» kreativ aufgehübscht. Halstücher, die nun zusammengefaltet in einem mehrstöckigen Hängekorb in der untersten Etage vor sich hingammeln. Obwohl dem allen längst entwachsen, hängen oder liegen diese Zeugen aus vergangener Zeit in vergessenen Ecken. Die Abteilung Schuhe erwähne ich nicht im Einzelnen. Nur so viel: zu gross die Scham! Wie konnte es nur so weit kommen. Wenn mir aus dem im Entrée eingebauten Wandschrank ineinander gestapelte Sandaletten, Sling- und andere Pumps, Ballerinas, Sneakers sowie High Heels, die entweder nie oder nur kurz zum Einsatz kamen, entgegen grinsen, schütze ich mich vor einem Totalabsturz in die Abteilung vernichtender Selbstvorwürfe und werfe die Türe unverzüglich zu, als ob ich einen Insektenschwarm aussperren möchte.

Nur die Abteilung «persönliche Notizen» ist gut geordnet. Die vielen Tagebücher – schliesslich habe ich im Alter von 15 Jahren mit Schreiben begonnen: «… Dir will ich alles erzählen…» Da ist einiges zusammengekommen. In bunt gemusterte Stoffe eingebundene Erstlingstagebücher, später kommen dann solche in faux oder echtem Leder, und seit einigen Jahren sind die wunderschönen Paperblanks mit eingravierten Ornamenten im Einsatz, Fadenheftung 120g/m2 mit Lesebändchen, Faltinnentasche mit Elastikverschluss oder Metallschliesse zum Einsatz. Die vollgeschriebenen Bücher liegen zusammengebunden in einem grossen rehbraunen Holzkasten. Ich hatte bereits mit meinen Enkelkindern darüber gesprochen: Sie werden es nach meinem Tod in ihren Besitz nehmen und dann entscheiden: lesen oder verbrennen. An einer Vorkehrung meiner geschäftlichen Aktivitäten führt ebenfalls kein Weg vorbei.

Es gibt aber noch anderes zu regeln, was mir viel wichtiger und für mich um ein Vielfaches anspruchsvoller ist. Die grösste Herausforderung liegt in einer ganz anderen Etage: Es handelt sich um das gesamte Konvolut gelebten Lebens. Denn wie es im Materiellen so manches zu ordnen gibt, so verhält es sich auch im seelischen Bereich, und mir scheint, dass diese Aufräumaktion sehr viel aufwendiger sein und mir einiges abfordern wird.

Für diese Auseinandersetzung bleiben mir nicht mehr viele Jahre, ich bin quasi schon aufgrund meines Alters angezählt. Es ist also Zeit, sich an die Arbeit zu machen, um «einst gesammelt im Absprung zu sein, denn bleiben ist nirgends».1 Ja, ich möchte wie wohl alle Menschen einen würdigen Abschluss finden. Übrigens entspricht das Bild des Absprungs, so sehr es mir auch gefällt, nicht meiner Vorstellung. Mir liegt eine maritime Metapher näher. Das Leben als Reise auf einem Segelschiff, das sich bereits in Sichtweite des Heimathafens befindet. Es kreuzt noch ein wenig herum, um bei günstigen Windverhältnissen die letzten Seemeilen zu bewältigen. Dann soll es lautlos an den Pfeilern der Hafeneinfahrt vorbeigleiten, möglichst nicht gegen die Hafenmauer stossen, um dann behutsam an den vorgesehenen Bootsplatz gelenkt zu werden. Dann werden die Taue festgemacht, und abschliessend wird die Persenning darüber gezogen.

Aber so weit ist es noch nicht. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte im Rückblick birgt zudem einige Schwierigkeiten. Ein Leben kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und entsprechend bewertet werden. Je nachdem, welchem Selbstbild wir uns verpflichtet fühlen, desto grösser ist die Gefahr, diesem auch entsprechen zu wollen. So ist es durchaus denkbar, dass eine Biografie je nach Optik entweder über ein gelungenes Leben viel Beglückendes vorzuweisen hat, aus einer anderen Perspektive gesehen aber das Gegenteil beschreibt. Unser Erleben wird durch einen persönlichen Filter betrachtet und durch den Verzerrungswinkel der subjektiven Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle abgespeichert. Deshalb kann die eigene Sichtweise nie dem Anspruch von Objektivität genügen.

Selbst Sigmund Freud räumte in einem Brief an Arnold Zweig freimütig ein: «Wer Biograph wird, verpflichtet sich zur Lüge, zur Verheimlichung, Heuchelei, Schönfärberei und selbst zur Verhehlung seines Unverständnisses, denn die biographische Wahrheit ist nicht zu haben, und wenn man sie hätte, wäre sie nicht zu gebrauchen.»2 Hier stellt sich die Frage, mit welcher Absicht die eigene Biografie unter die Lupe genommen wird. Bei Sigmund Freud und auch bei vielen anderen lässt sich die Absicht leicht erkennen, einen möglichst guten Eindruck bei der Nachwelt zu hinterlassen. Freud z. B. legte grössten Wert darauf, als genialer Erfinder der Psychoanalyse zu gelten, und sorgte dafür, dass sämtliche Hinweise auf andere Quellen und Personen getilgt wurden.3

Wenn ich mich nun auf die Reiserückschau begebe, werde ich auch meinen Unzulänglichkeiten begegnen. Denn ich kenne mich nun lange genug und weiss um meine Schwächen. Ja, ich bin leicht verführbar. Es genügt eine Zeile, ein Wort, das mich besonders begeistert, und schon fange ich an, damit wie ein Kind mit einem Ball zu spielen an, werfe ihn in die Höhe, fange ihn wieder auf, ziele mit ihm auf die Wand, von wo er zu meiner Freude zurückhüpft. Besonders problematisch sind die zahlreichen Gedichte, die ich seit meiner Jugend auswendig gelernt habe und die in einem grossen Archiv lagern. Sie warten ständig auf eine passende Gelegenheit, sich zu präsentieren, und stehen sprungbereit, um Gedanken lyrisch zu kommentieren. In diesem zum Teil vergnüglichen Zusammenspiel von fremden und eigenen Gedanken kann es leicht geschehen, dass ich auf Abwege gerate, ausgerüstet mit Textstellen, die punktgenau und in grossartigen Bildern meine eigenen Überlegungen und Befindlichkeiten spiegeln, aber es zugleich äusserst schwierig machen, den übernommenen Text von eigenen Denkerzeugnissen zu unterscheiden und das Individuelle herauszuarbeiten. Das macht die Sache etwas komplizierter. Denn gelegentlich gerate ich dadurch in eine ziemliche Verwirrung. Auf der einen Seite steht das immense Vergnügen, mich an Lyrischem zu erfreuen, auf der anderen die Befürchtung, in der Berauschung und Begeisterung das sonst meist vorhandene Bemühen um intellektuelle Redlichkeit zu verlieren. Um mich aber nicht in den zurückliegenden Jahrzehnten wie in einem Dschungel zu verirren und im eigenen Erzähllabyrinth den Faden zu verlieren, bediene ich mich einer von Rudolf Steiner und anderen Autorinnen und Autoren4 bereits verwendeten ordnenden Methode, Lebensabschnitte in Sieben-Jahres-Zyklen zu bearbeiten, die zielsicher durch die Lebensphasen navigieren. Zudem zeichnen sich zu erwartende Themen ab, die es zu bearbeiten oder auch zu bestehen gilt. Obwohl die Themenfelder abgesteckt sind, sollten sie lediglich als Impuls und nicht etwa als zwingende Einteilung verstanden werden. Selbst wenn sich in den zu bewältigenden Aufgaben bei vielen Menschen Übereinstimmungen abzeichnen, ist dennoch jeder Lebenslauf einmalig und sollte den individuellen Prägungen folgen.

Obwohl meine analytische Denkfähigkeit im Moment noch intakt zu sein scheint und ich sie regelmässig auf Anzeichen nachlassender geistiger Schärfe überprüfe, bin ich mir bewusst, dass die seelische Aufräumaktion nur gelingen kann, wenn ich mir einen kreativen Freiraum zugestehe. Dabei verzichte ich letztlich auf Objektivität und erkenne an, dass es verschiedene Perspektiven gibt, die zu unterschiedlichen Beurteilungen einer Situation oder eines Erlebnisses führen. Es geht also darum, sein Haus zu bestellen, die inneren Erlebnisbilder und Erfahrungen zu regeln, sich nochmals alles selbst zu erzählen, um zu verstehen und einst in Ruhe und Zufriedenheit die letzte Seite des Buches in gelassener und aufgeräumter Stimmung zu schliessen.

Ich weiss aus meiner langjährigen psychotherapeutischen Tätigkeit, dass ich mit diesem Bestreben, sein ganzes Leben in eine kontinuierliche Abfolge einzugliedern, nicht alleine bin, sondern es mit vielen Menschen teile. Ich habe auch erfahren, dass es nicht allen gelingen will, selbst dann, wenn ein inniger Wunsch vorhanden ist, sich auf die eigene Lebensgeschichte einzulassen. Irgendwie ist da eine gewisse Scheu, vielleicht gibt es auch Befürchtungen, auf bisher vermiedene Erinnerungen zu stossen, diesen nochmals begegnen zu müssen, was alles andere als angenehm wäre. Ich respektiere diese Vorsicht, obwohl ich ganz andere Erfahrungen machen durfte, wenn sich Menschen auf die Rückschau ihres gelebten Lebens einlassen. Denn wenn wir uns selbst wohlwollend an die Hand nehmen, dann tun wir das im Wissen darum, dass uns alles geformt hat, was wir erlebt haben, und selbstverständlich auch das, was uns an Beschwerlichem zugestossen ist und was wir zu erleiden hatten. Denn wir wissen, dass uns dies alles zu dem werden liess, was wir heute sind.

Wenn ich hier über meine eigene Aufräumarbeit berichte, dann geschieht dies mit dem Gedanken, andere dazu anzuregen, es ebenfalls zu wagen, um Einblick in die eigene Lebensgeschichte zu gewinnen. Deshalb versuche ich, einzelne Stationen und Ereignisse möglichst bunt zu bebildern, und hoffe, dass sich dadurch eigene Erinnerungen melden und vielleicht längst vergessenes Bildmaterial aus der Versenkung aufsteigen lässt, um ein umfassenderes Verständnis für sich selbst entstehen zu lassen und vor allem eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie bin ich geworden, wer ich bin?

Alles Persönliche, das ich hier preisgebe, lässt sich in unterschiedlicher Ausprägung bei anderen Menschen ebenfalls finden. Ich enthülle also keine Geheimnisse, plaudere nichts Unschickliches aus, sondern ich berichte von ganz normalen Alltäglichkeiten, wie sie sich bei vielen abspielen. Deshalb kann ich hier problemlos über alles sprechen; es ist nichts Neues, sondern im menschlichen Archiv abrufbar.

Vorgeburtliche Impressionen

Nein, es hat nichts mit esoterischer Vernebelung zu tun, sich über vorgeburtliche Einflüsse Gedanken zu machen. Die pränatale Bindung von Mutter und Kind wird auch aus wissenschaftlicher Forschung von Neurobiologen und -biologinnen5 sowie von der Pränatalforschung belegt. Demnach empfängt der Fötus die emotionale Befindlichkeit der Mutter während der Schwangerschaft, und das hinterlässt in ihm eine entsprechende Prägung. Immerhin gibt es eine breite emotionale Spanne in Bezug auf das Muttersein. Auf der einen Seite sind es paradiesische Lebensumstände mit einem fürsorglichen Kindsvater und einem herbeigesehnten Wunschkind in einem wohlgeordneten Umfeld. Auf der anderen Seite stehen problematische Situationen wie eine ungewollte Schwangerschaft oder eine existenzielle Notlage, in der die Frau ohne festen Partner ist und befürchtet, sich und das Kind nicht versorgen zu können. Zudem ist es noch nicht lange her, dass eine Schwangerschaft ausserhalb ehelicher Verhältnisse mit Scham, oder schlimmer noch, mit Schande verbunden war. Ein Blick zurück genügt, um anhand von literarischen Figuren das Elend zu erahnen; denken wir an Gretchen6 und Klara7, welche in der Selbsttötung den einzigen Ausweg sahen, einer öffentlichen Beschämung zu entgehen. Ein kritischer Blick auf patriarchale Kulturen, die in unserer Gesellschaft existieren, kann helfen zu erkennen, wie noch heute brachial und konsequent mit dem Konzept der sogenannten verlorenen Ehre umgegangen wird.

Der Fötus wird also vom pränatalen Umfeld durch die Verhältnisse, in der die werdende Mutter lebt, in Mitleidenschaft gezogen. Es ist zweifellos davon auszugehen, dass die Stimmungslage der werdenden Mutter seine Befindlichkeit beeinflusst. Schliesslich «bewohnt» er einen mütterlichen Körperbereich und wird indirekt alles, was sich im emotionalen Einflussgebiet abspielt, in irgendeiner Weise mitbekommen. Er fühlt mit, hört mit und nimmt alles auf, was sich im emotionalen mütterlichen Haushalt abspielt. Kürzlich erzählte mir meine Klavierlehrerin, wie überrascht sie war, dass ihre kleine Tochter bereits als Kind über beachtliches musiktheoretisches «Wissen» verfügte. Ein Wunderkind? Nein, keineswegs. Sie kuschelte eben während der Musikausbildung ihrer Mutter bereits im Bauch, war mit dabei und hörte mit.

Dennoch ist voreiligen Rückschlüssen Einhalt zu gebieten, denn die Eins-zu-eins-Gleichung entweder für eine Gewinn- oder Schädigungsbilanz für das spätere Erwachsenenalter ist zu kurz gegriffen. Schliesslich ist in die Beurteilung gleichermassen die konstitutionelle Grundausrüstung des werdenden Kindes einzubeziehen. Wir sind nicht nur körperlich, sondern auch seelisch mit unterschiedlicher Konstitution ausgerüstet, die letztlich über die Fähigkeit bestimmt, wie Schwierigkeiten zu meistern und das Leben zu gestalten sei. Zudem sollte die Deutungshoheit über die ganz persönliche Erfahrungsbewertung in jedem Fall den Betroffenen überlassen werden. Wenn ich hier von meinem eigenen Fall berichte, dann deshalb, weil das aufzeigt, wie leicht es zu falschen Deutungen kommen kann.

Bereits lange vor meiner Geburt, also schon mit Beginn der Schwangerschaft, stiess ich auf grosse Ablehnung in der Verwandtschaft. Meine Position war von Anfang an problematisch, ein unerwünschter Fremdkörper in der Familie, der sich nicht so richtig in dieses Gebilde einbinden liess. Eine ausserplanmässige Existenz also, denn sie passte nicht. Niemandem. Meiner Mutter nicht. Meinem Vater nicht. Und meinen zahlreichen Halbschwestern ebenfalls nicht. Meine Mutter erlebte die Zeit der Schwangerschaft mit mir als Albtraum und versuchte, in einer feindseligen Umgebung einigermassen über die Runden zu kommen. Sie war umzingelt von den erwachsenen Töchtern meines Vaters aus erster Ehe, die dazu auch noch älter als sie und ihr vom ersten Tag an spinnefeind waren. Es war wohl eine äusserst schwierige Zeit für sie und weiss Gott keine gemütliche Atmosphäre, um sich auf ein Kind zu freuen. Als meine um sieben Jahre ältere Schwester zur Welt kam, war zwar die Freude darüber ebenfalls gedämpft gewesen – schliesslich war es für die Töchter kein erbauliches Erlebnis, dass ihr alter Vater mit der neuen, jungen Frau an seiner Seite nochmals ein Kind gezeugt hatte. Nach der Geburt allerdings hatte sich das Blatt gewendet.

Aber als es später nochmals zu einer Schwangerschaft kam – und der Vater wieder um einiges älter geworden war –, vergrösserte sich proportional zum Alter des Erzeugers der Schandfleck. Die Familie väterlicherseits wollte meine Mutter zur Abtreibung überreden. Doch sie widersetzte sich. «Das tue ich mir nicht noch einmal an!» Was bedeutete, dass man sie schon einmal zu einem Schwangerschaftsabbruch gedrängt hatte. Wie ich aus ihren zu diesem Thema hingeworfenen, beinahe bis zur Unkenntlichkeit verkürzten Bemerkungen entnehmen konnte, muss sich diese Aktion in einem Genfer Hinterhof abgespielt haben. Meine Mutter hegte zeit ihres langen Lebens eine grosse Abneigung gegen die französische Sprache. Vielleicht hing das mit diesem Erlebnis zusammen. Und als meine Schwester einen Franzosen heiratete, übertrug sich die Aversion prompt von der Sprache auf den Schwiegersohn.

Nun, die Tatsache, dass ich beinahe abgetrieben worden wäre, erfüllt mich weder mit Schrecken noch mit Abscheu. Es fühlt sich vielmehr an, als wäre ich gar nicht dabei gewesen und als hätte eine solche Absicht nichts mit mir zu tun gehabt. Und ich bin überzeugt, dass kein geheimnisvoller Verdrängungsmechanismus dahintersteckt. Selbst als mich Psychotherapeuten dazu aufforderten, nochmals genau zu überprüfen, ob da nicht eventuell doch eine verdrängte vorgeburtliche, äusserst bedrohliche Erfahrung gemacht wurde, konnte ich Derartiges nicht entdecken. Und weil ich immer wieder vor allem in therapeutischen Sitzungen darauf hingewiesen wurde, dass es unmöglich sein könne, die durchaus ernsthafte existenzielle Gefährdung nicht irgendwie unbewusst mitbekommen zu haben, blieb ich bei meiner Überzeugung. Erst als ich die Theorie von der Sukzessivbeseelung entdeckte – darin wird die Beseelung des Fötus erst auf die achte bis zwölfte Schwangerschaftswoche festgelegt –, konnte ich eine für mich plausible Antwort finden. Die Bedrohungslage muss in einem Zeitraum stattgefunden haben, während dem ich einfach noch nicht anwesend war. Jedenfalls wurde meine Seele von meiner Mutter vom ersten Moment an willkommen geheissen und fühlte sich wohlbehütet und beheimatet. Mehr noch: Ich hatte immer das Gefühl, dass mir nichts zustossen konnte. Meine Mutter würde auf mich aufpassen und mich, wenn nötig, wie eine Löwin verteidigen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass ich ihre schützende Hand über meinem Leben noch heute, viele Jahre nach ihrem Tod, in mir trage. Mit dieser Erklärung ist es durchaus verständlich, dass mich die ganze Angelegenheit, nur knapp einem Anschlag auf mein Leben entgangen zu sein, überhaupt nicht tangiert: Ich war ja nicht dabei. Meine Seele planschte wahrscheinlich noch ganz zufrieden im grossen Seerosenteich und wartete, bis für sie ein geeignetes Körperhaus zur Verfügung stand, in das sie gefahrlos einziehen konnte.

Ich war also von Anfang an ein Mutter-Kind: wenn auch vom Vater übersehen und von den Geschwistern ignoriert, so doch aufs Innigste von meiner Mutter geliebt.