Grundrechte-Report 2016 -  - E-Book

Grundrechte-Report 2016 E-Book

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Beschreibung

Der alternative Verfassungsschutz-Bericht Als wichtige Kontrollinstanz der Demokratie deckt der ›Grundrechte-Report 2016‹ im 20. Erscheinungsjahr schonungslos die Verletzungen der Menschenrechte und Grundrechte des vergangenen Jahres in Deutschland auf. Experten analysieren in über 40 Sachtexten Verstöße in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die in der medialen Berichterstattung oftmals vernachlässigt wurden. Der ›Grundrechte-Report 2016‹ thematisiert nicht nur die globale Massenüberwachung durch Geheimdienste, den umfassenden Datenmissbrauch und die strukturelle Verharmlosung rechter Gewalt. Das jährlich erscheinende Handbuch zu Menschenrechts- und Grundrechts-Verletzungen in Deutschland berichtet unter anderem von der Abschottung gegenüber Flüchtlingen durch Grenzschließungen, den unzähligen Abschiebungen von Asylsuchenden sowie von der Inkaufnahme des tausendfachen Todes von Flüchtlingen im Mittelmeer. Ein wichtiges Buch – herausgegeben von renommierten Bürgerrechtsorganisationen, darunter die Humanistische Union, die Neue Richtervereinigung und PRO ASYL.

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Grundrechte-Report 2016

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Till Müller-Heidelberg / Elke Steven / Marei Pelzer / Martin Heiming / Heiner Fechner / Rolf Gössner / Holger Niehaus und Kathrin Mittel (Hg.)

FISCHER E-Books

Ein Projekt der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von PRO ASYL, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung

Inhalt

20 Jahre Grundrechte-ReportWer schützt die Verfassung?Grundrechte gegen die Arroganz der Macht – ein Rückblick auf 20 kämpferische JahreAmputation eines Grundrechts mit hunderttausendfachen FolgenVom singulären Lauschangriff zur elektronischen MassenüberwachungNichts hören, nichts sehen, nichts sagen?Macht vor Recht?Ausspähen unter Freunden – geht doch!Im Visier von NSA und BNDDemokratische Kontrolle, unabhängige Untersuchung? Fehlanzeige!Geheimdienste und Demokratie – unvereinbar20 Jahre versäumte Chancen für eine demokratische Atommüllpolitik – Rückblick und AusblickDas Problem: AtommüllDie »Endlagerkommission«: ein FehlstartLegalität, Legitimation, Akzeptanz, Befriedung?Demokratische Atommüllpolitik sieht anders ausMit Gorleben in der »Auswahl« wird es keinen Frieden gebenIst die Würde des Menschen antastbar?Mediziner kritisieren altersdiagnostische UntersuchungenMenschenrechtswidrige GesetzgebungWas ist zu tun?Die Verfassungswidrigkeit von Sanktionen nach dem SGB IIDer FallDas Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen ExistenzminimumsDie Bedarfsunabhängigkeit der Sanktionen als VerfassungsverstoßZahlreiche weitere VerfassungsverstößeDas Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe, eine verfassungswidrige GrundrechtseinschränkungSterbehilfe als Problem der Grundrechtsverwirklichung und des GrundrechtsschutzesDie Wirkungen des Verbotes der geschäftsmäßigen SuizidbeihilfeVerfassungswidrigkeit des in § 217 StGB geregelten VerbotesNun also doch wieder GeneralverdachtVorratsdatenspeicherung unter neuem NamenDie Neuregelung im ÜberblickErfolgsaussichten einer neuen VerfassungsbeschwerdeVorratsdaten auch für Geheimdienste?Die BodyCam am RoboCopHessen voranGewalt in/an StatistikenAufrüstung zu mehr DistanzDatenübermittlung ins Ausland – Rechtsschutz geht vorDer rechtliche und faktische RahmenDas UrteilBedeutung des UrteilsEine Bio- und Datenbank ohne informationelle SelbstbestimmungDie Illusion der EinwilligungDie Illusion der AnonymisierungGesetzloser ZwangPsychiatrische ZwangsbehandlungUnzulängliche Gutachten – Hilfe erst vom BundesgerichtshofRichter nehmen ihren Auftrag nicht ernstAbu Ghraib in Niedersachsen? – Polizeigewalt in HannoverMissbräuchliche Anwendung von Gewalt durch die deutsche PolizeiMangelhafte Kontrolle der PolizeiStruktureller RassismusFazitDie Diskriminierung des Europäischen DiskriminierungsverbotsRassistische Gewaltakte in DeutschlandDas 12. Zusatzprotokoll zur EMRK …… gilt in Deutschland nichtAngst vor dem EGMR?Die Bundeswehr rekrutiert MinderjährigeVerletzung der UN-Kinderrechtskonvention durch die BundeswehrKinderrekrutierung und Kriegswerbung verhindern!Streit um ein Stück Stoff in der SchuleDer ethische Standard des GrundgesetzesDas zweite KopftuchurteilZwiespältiger EindruckVersammlungen stehen unter dem Schutz des GrundgesetzesStrafrechtliche AufarbeitungVerwaltungsrechtliche Aufarbeitung»#dankepolizei« – Polizeiliche ÖffentlichkeitsarbeitGetwitterte »Informationen«Neutralität ist Pflicht der PolizeiPolizeiliche Maßnahmen per Twitter?»Unglaublich – aber wahr!Atomkraftgegner rechtswidrig als »Linksextremisten« gespeichertGewerkschafter und Atomkraftgegner im Visier des Verfassungsschutzes …… und der PolizeiEinschränkung eines Notwehrrechts mit Verfassungsrang – Das TarifeinheitsgesetzBriefüberwachung im StrafvollzugBriefüberwachung nach dem StrafvollzugsgesetzSonderfall GerichtspostBriefüberwachung in der LandesgesetzgebungFazitBriefgeheimnis und MeinungsfreiheitVerwaltungs- versus StrafgerichtsbarkeitDer Staat gegen Kritiker der MilitärpolitikLanger Atem bleibt notwendig!Ach, diese Richter …Verfassungswidrige Durchsuchungsbeschlüsse am FließbandRichter als RechtsbrecherEinhaltung von EU-Asylrecht nicht mehr zeitgemäß?Missachtungen europäischer VerpflichtungenBehandlung von Traumatisierten und FolteropfernZeitnahe Registrierung von AsylanträgenGarantien für unbegleitete MinderjährigeBetroffenen bleibt nur der Klageweg»Schlepperbekämpfung« im zentralen Mittelmeer: Fluchtverhinderung mit KriegsschiffenMilitäreinsatz nimmt »Verlust von Menschenleben« als Kollateralschäden in Kauf»Schlepperbekämpfung« statt Seenotrettung»Anhalten, durchsuchen, beschlagnahmen und umleiten«PR-Strategie gegen ReputationsverlustAbschottungspolitik mit humanitärem AnstrichDann geh doch zum Arzt …Notversorgung nach dem AsylbewerberleistungsgesetzEinführung der elektronischen GesundheitskarteNeue Koalition des HassesPolizeiversagen und fehlende StrafverfolgungRassistische Stimmungsmache und Entgrenzung der GewaltZivilgesellschaftlicher SchutzAuch der rechtswidrige Spitzeleinsatz ist geschütztKonzentrierter Spitzeleinsatz gegen Berliner SozialforumVerwaltungsgericht Berlin urteilt für den BetroffenenOberverwaltungsgericht dreht den Prüfungsmaßstab umQuellenschutz geht über RechtsschutzBeamtete Straftäter – Täter vom DienstGesetzlicher Rahmen für V-Leute?Legalisierte StraftäterKann das ein Rechtsstaat dulden, ohne sich aufzugeben?V-LeuteDuldung von StraftatenVerfassungsbeschädigung durch den sogenannten VerfassungsschutzProvokante TatprovokationMitgegangen. Mitgefangen. Mitgehangen.EGMR: Verfahrenseinstellung nach menschenrechtswidriger TatprovokationBremer Terroralarm: Sicherheits- oder Angstpolitik?Fragwürdige Antiterrormaßnahmen …… und geheime »Aufarbeitung« der HintergründeVerfassungsschutz in flagranti erwischt!Bundesverwaltungsgericht deckt auf: Verfassungsschutz täuscht VerwaltungsgerichtErfreuliche Klarstellungen des BundesverwaltungsgerichtsDie ÜberraschungLegalize it!Die Justiz verweigert sich rationalen ArgumentenGefährlichkeit des Cannabis-Konsums als Legitimation?Kriminalisierung der Konsumenten, Förderung der organisierten Kriminalität, Vergeudung von Ressourcen der JustizHat der Staat das Recht, den Umgang mit Cannabis zu bestrafen?FazitDie Wiederauferstehung der »Verbannung« als Verwaltungssanktion gegen angebliche GefährderWas für eine Verurteilung nicht reicht, reicht für Maßnahmen der »Gefahrenabwehr«»Verbannung« als VerdachtsstrafeWer gefährlich ist, bestimmt immer noch die RegierungEins zu eins ist jetzt vorbeiGefahrengebiet = Hausarrest?Grundrechtswidrige Gefahrengebiete verfassungsgerecht gestaltet?Beweisverwertung – Der Zweck heiligt die Mittel?Kunstgriff I: Die AbwägungslehreKunstgriff II: Die ungeklärte RechtslageDie Geister, die sie riefen …Polizeikomplott gescheitertGeschlagen und gedemütigt – eine lange Nacht im Polizeigewahrsam in WeimarPolizeizeugen unter DruckKonfetti und der AufklärungsgrundsatzDie Operation KonfettiDas Rätsel um V-Mann TarifDie staatliche VerstrickungGU für UmF?»Kriminelle UmF«?Geschlossene Unterbringung als sozialpädagogischer OffenbarungseidUmF ohne Urteil im Gefängnis?Ein diskriminierender IrrwegAuch weiterhin: Nichts Neues aus der AnstaltGegenwärtiger RechtszustandAus der Praxis des § 63 StGBVerweigerte GesetzesreformAusblickKurzporträts der herausgebenden OrganisationenAutorinnen und AutorenAbkürzungenSachregister

Vorwort der Herausgeber

20 Jahre Grundrechte-Report

Zum Verfassungstag des Grundgesetzes am 23. Mai wurde 1997 an seinem Geburtsort im Museum Koenig in Bonn der erste Grundrechte-Report der Öffentlichkeit vorgestellt, verantwortet von den vier Bürgerrechtsorganisationen Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen. Seit 2002 hat sich der Herausgeberkreis erweitert um die Bürger- und Menschenrechtsorganisationen Pro Asyl, Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein, Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, Internationale Liga für Menschenrechte und Neue Richtervereinigung.

Das Vorwort des ersten Grundrechte-Reports, welches die Idee und Leitlinie dieser Publikation aufzeigt, wird in diesem Band wieder abgedruckt.

Die offiziellen Verfassungsschutzberichte der Inlandsgeheimdienste des Bundes und der Länder suggerieren jedes Jahr, sie stellten die Gefährdungen unseres demokratischen Rechtsstaats durch verfassungsfeindliche und extremistische Bestrebungen und Bürger dar. Jedoch weit gefehlt: Die wirklichen Gefährdungen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und damit der Grundrechte und des Rechtsstaats gehen vielmehr im Wesentlichen von staatlichen Institutionen aus, angebliche verfassungswidrige und extremistische Bestrebungen und Organisationen haben zu keinem Zeitpunkt ernsthaft unseren demokratischen Staat gefährden können, so wie auch zu keinem Zeitpunkt behördliche Verfassungsschützer wirklich die Verfassung schützen können. Dies können und müssen die für unsere Grund- und Freiheitsrechte engagierten Bürgerinnen und Bürger selbst tun.

Verräterisch ist auch, dass Innenpolitiker und Verfassungsschützer von der Bekämpfung des »Extremismus« sprechen, einem Begriff, den es weder in der Verfassung noch im Verfassungsschutzgesetz gibt. Dies ist kein juristisch fassbarer und schon gar kein verfassungsrechtlicher Begriff, sondern ein reiner politischer Kampfbegriff, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2010 ausgeführt hat (Az. 1 BvR 1106/08): Dem Begriff des Extremismus »fehlt es an bestimmbaren Konturen. Ob eine Position als rechtsextremistisch – möglicherweise in Abgrenzung zu ›rechtsradikal‹ oder ›rechtsreaktionär‹ – einzustufen ist, ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ihre Beantwortung steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen.« Politische, gesellschaftliche, subjektive Auffassungen zu bekämpfen darf aber nicht Aufgabe des Staates und der Sicherheitsbehörden sein. Die Auseinandersetzung mit solchen Auffassungen ist Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger, der Gesellschaft, der Parteien.

Die Einschränkungen und Gefährdungen der Grund- und Freiheitsrechte unserer Verfassung werden – wie jedes Jahr – auch in diesem 20. Grundrechte-Report an Beispielsfällen dargestellt. Martin Kutscha beleuchtet übergreifend die Entwicklung einiger Grundrechte in den letzten zehn Jahren, Ulrike Donat schildert in einer Langzeitperspektive die Entwicklung oder besser das Auf-der-Stelle-Treten der demokratischen Bürgerbeteiligung. In den einzelnen Beiträgen geht es wie seit 20 Jahren um Verletzungen des Demonstrations- und Versammlungsrechts, um die überhandnehmende Überwachung und damit die Verletzung der Persönlichkeitsrechte, namentlich des Grundrechtes auf informationelle Selbstbestimmung, um Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit, um die Trennung von Staat und Kirche, um die Gefährdung des Sozialstaats und – wie könnte es im Jahre 2015, über das dieser Grundrechte-Report berichtet, anders sein – um die Übergriffe und Gefährdungen durch die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste und um die Verletzung der Menschenrechte von Flüchtlingen. Gegen das schon rechtlich bis zur Unkenntlichkeit ausgehebelte Grundrecht auf Asyl wird alltäglich verstoßen.

Typisch auch für die deutsche Politik ist ein Zitat des britischen Premierministers, David Cameron, vom vergangenen Jahr: »Wollen wir in unserem Land Kommunikationsmittel zwischen Menschen erlauben, die wir (als Staat) nicht lesen können? Meine Antwort auf diese Frage ist: Nein, wir dürfen das auf keinen Fall erlauben.« Deutlicher kann man den Befund, dass es der Staat ist, der die Grund- und Freiheitsrechte gefährdet, kaum formulieren und belegen, haben doch auch Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat trotz der Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung durch das Bundesverfassungsgericht und durch den Europäischen Gerichtshof erneut ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verabschiedet, über welches Fredrik Roggan kritisch in diesem Report berichtet. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist ein anderes: Menschenwürde und das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gewährleisten dem Einzelnen das Recht, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, solange er nicht durch sein Verhalten Anlass zum Einschreiten gibt (BVerfGE27, 1, 7); er darf nicht ohne konkreten Anlass beschattet, überwacht und ausgeforscht werden.

Wurde der Grundrechte-Report in den vergangenen 20 Jahren häufig als alternativer Verfassungsschutzbericht bezeichnet, so muss es inzwischen richtig heißen: Der Grundrechte-Report ist der wahre Verfassungsschutzbericht. Und die Aussage im Vorwort zum ersten Grundrechte-Report gilt heute wie damals: Ausgangspunkt für die staatlichen Verfassungsschutzberichte sind angebliche Sicherheitsbedürfnisse; Ausgangspunkt für den Grundrechte-Report sind Menschenwürde, Grundrechte und demokratischer Rechtsstaat. Denn: »Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren« (Benjamin Franklin, Verfassungsvater der USA).

Vorwort des 1. Grundrechte-Reports 1997

Till Müller-Heidelberg

Wer schützt die Verfassung?

Jahr für Jahr legen der Bundesinnenminister und seine Länderkollegen ihre Verfassungsschutzberichte vor. In ihnen wird der Öffentlichkeit dargelegt, welche »Erkenntnisse« die deutschen Verfassungsschutzbehörden über verfassungsfeindliche oder -widrige Bestrebungen von Bürgerinnen und Bürgern oder Organisationen gewonnen haben. Dieser Informationen bedürfe es – so Bundesinnenminister Kanther im letzten Verfassungsschutzbericht vom August 1996 –, »weil die Gegner unserer Verfassung nicht selten ihre wahren Ziele verschleiern, Scheinbekenntnisse zum Grundgesetz ablegen oder durch Umwertung von Verfassungsnormen, politischen und juristischen Begriffen vermeintlich als Verfechter demokratischer Prinzipien auftreten«. Die Botschaft ist eindeutig: Verfassungsfeindlich gesinnte Bürgerinnen oder Bürger gefährden unsere freiheitlich demokratische Grundordnung, deren Kernbestand sich aus den Grundrechten unserer Verfassung ergibt, und die zuständigen Behörden des Bundes und der Länder müssen die so bedrohte Verfassung schützen. Der Bürger als Sicherheitsrisiko, Vater Staat als Beschützer.

Das Gegenteil jedoch ist richtig. Keine der in den Verfassungsschutzberichten genannten Personen und Organisationen hat je ernsthaft unsere Verfassung bedroht. Und soweit sie tatsächlich eine potentielle Gefahr waren, ist sie nicht durch die Verfassungsschutzbehörden gebannt worden, sondern durch den Souverän der Verfassung selbst, das Volk. Die terroristischen Organisationen, zum Beispiel die RAF, wurden nicht etwa wirksam durch Verfassungsschutzbehörden bekämpft (schon gar nicht wurde irgendeine ihrer Aktionen durch die Verfassungsschutzbehörden verhindert), sondern sie fanden mit ihren Gewaltaktionen keinen Widerhall in der Bevölkerung und verloren dadurch an Bedeutung. Die scheinbaren Anfangserfolge von NPD, DVU und den Republikanern wurden nicht von Verfassungsschutzbeamten gestoppt, sondern von mündigen Wählerinnen und Wählern, die ihre mögliche Gefährlichkeit für die Demokratie und Rechtsstaat erkannten und ihnen mit dem Stimmzettel eine Abfuhr erteilten, die sie in die Bedeutungslosigkeit zurückfallen ließ. Und die stärkste Verfassungsschutzbehörde, die es je auf deutschem Boden gegeben hat, der Staatssicherheitsdienst der DDR mit über 100000 hauptamtlichen Mitarbeitern, hat es nicht fertiggebracht, »seine« Verfassung gegen das Volk zu schützen. Der Schutz der Verfassung und ihrer Grundrechte ist Aufgabe der demokratisch und rechtsstaatlich engagierten Bürgerinnen und Bürger selbst, wie es erstmals im Mai 1990 elf Bürgerrechtsorganisationen aus der damaligen DDR und BRD in einem gemeinsamen Aufruf erklärt haben (dokumentiert in Heft 17 der Schriftenreihe der Humanistischen Union: »Weg mit dem Verfassungsschutz, der (un)heimlichen Staatsgewalt«).

Während also keine Person und keine Organisation seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland jemals ernsthaft ihre freiheitlich demokratische Grundordnung hat gefährden können, gehen solche Gefährdungen, insbesondere für die Bürger- und Menschenrechte, permanent von staatlichen Organen aus. Dies ist nicht verwunderlich: Macht neigt dazu – wie wir seit Montesquieu wissen –, sich auszubreiten, ihre Grenzen zu sprengen. Die in unserer Verfassung verankerten Grundrechte sollen davor schützen, dass vorübergehende Nützlichkeitserwägungen oder wechselnde Mehrheiten in Parlament und Regierung je nach scheinbarer Opportunität in die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Während die Sicherheitsbehörden des Staates dazu neigen, in jedem Menschen ein Sicherheitsrisiko zu sehen, ist das Menschenbild des Grundgesetzes der sich frei entfaltende, selbständige und bis zum Beweis des Gegenteils verfassungstreue Bürger.

Vier deutsche Bürgerrechtsorganisationen – Humanistische Union, Gustav-Heinemann-Initiative, Komitee für Grundrechte und Demokratie sowie Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen – legen mit diesem Buch erstmals ein gemeinsames Projekt vor, in dem deutlich werden soll, dass die Grundrechte und die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht von Bürgern und ihren Organisationen gefährdet und vom Staat (den Verfassungsschutzbehörden) geschützt werden, sondern dass umgekehrt die Gefährdungen von öffentlichen Institutionen ausgehen und der Schutz der Verfassung durch die Bürger selbst geleistet werden muss! Da die Grundrechte konstitutiv für den demokratischen Rechtsstaat sind, lohnt es sich, sie zu verteidigen.

Die staatlichen Verfassungsschutzberichte beleuchten jeweils das vorausgegangene Jahr. So hält es auch dieser Grundrechte-Report aus alternativer Sicht. Nicht sämtliche Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte werden nachgezeichnet, sondern das Augenmerk richtet sich auf die letzten eineinhalb Jahre; auch hier kann der Grundrechte-Report keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die einzelnen Beiträge haben exemplarischen Charakter. Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Darstellungsebenen, sind mal fallorientierter, mal genereller. Das Grundgesetz schützt den Pluralismus der Wertvorstellungen – dies findet seinen Ausdruck in den unterschiedlichen kritischen Maßstäben der Autorinnen und Autoren.

Es geht nicht allein um zahlreiche Eingriffe in die Grundrechte durch öffentliche Institutionen; wir fragen auch nach dem aktuellen Stellenwert der »Staatsziele« des Grundgesetzes und stellen einige positive Entwicklungen zum Ausbau des demokratischen und freiheitlichen Rechtsstaats dar. Ist es symptomatisch, dass neben bürgerrechtlichen Aktionen (letzter Beitrag des Buches) in dieser Positivliste ausschließlich gerichtliche Entscheidungen, zum Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte des Europarates und des Gerichtshofes der Europäischen Union, zu verzeichnen sind? Wie ist es in diesem Zusammenhang zu bewerten, dass nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Kruzifix in Schulen und zum Tucholsky-Zitat von höchsten staatlichen Repräsentanten verfassungsfeindliche Kritik am obersten deutschen Gericht geübt und dazu aufgerufen wurde, seine Entscheidungen durch neue Gesetze in Bayern oder im Bund zu unterlaufen? Warum fehlt es an gesetzgeberischen Initiativen oder Verwaltungspraktiken, die den demokratischen Rechtsstaat ausbauen statt abbauen?

Ausgangspunkt für die staatlichen Verfassungsschutzberichte sind angebliche Sicherheitsbedürfnisse; Ausgangspunkt für den Grundrechte-Report sind Menschenwürde, Grundrechte und Rechtsstaat. Denn: »Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzugeben, um Sicherheit zu gewinnen, wird beides verlieren« (Benjamin Franklin, »Verfassungsvater« der USA). Dieses alljährlich als Kontrapunkt zu den offiziellen Verfassungsschutzberichten deutlich zu machen ist Aufgabe des Grundrechte-Reports. Themenvorschläge für die nächste Ausgabe sind den Herausgebern willkommen.

Martin Kutscha

Grundrechte gegen die Arroganz der Macht – ein Rückblick auf 20 kämpferische Jahre

Als im Jahre 1997 der erste Grundrechte-Report erschien, lag der schwerste Eingriff in den Grundrechtskatalog unserer Verfassung gerade vier Jahre zurück: Mit dem verfassungsändernden Gesetz vom 28. Juni 1993 war das Grundrecht auf Asyl bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden. Die Gewährleistung dieses individuellen Rechts in dem neuen Artikel 16a Absatz 1GG wurde durch die folgenden Absätze per Deklaration aller anderen EU-Länder sowie weiterer Staaten zu »sicheren Drittstaaten« weitgehend zur Bedeutungslosigkeit verurteilt (Kai Weber, GRR1997, S. 148). Darüber hinaus ermöglicht Artikel 16a Absatz 3 dem Gesetzgeber, nach Belieben weitere Staaten zu »sicheren Herkunftsstaaten« zu erklären. Diese »Regelvermutung« kann der Flüchtling nur entkräften, indem er im Asylverfahren »Tatsachen« vorträgt, die eine eigene politische Verfolgung trotz der Regelvermutung glaubhaft machen. In Anbetracht der den Betroffenen häufig fehlenden Beweismittel ist dies in den meisten Fällen äußerst schwierig.

Amputation eines Grundrechts mit hunderttausendfachen Folgen

Es ist diese Grundrechtsamputation, die von der jetzigen Bundesregierung als Hauptinstrument benutzt wird, um den aktuellen Flüchtlingsstrom nach Deutschland entsprechend ihren Vorstellungen eindämmen zu können. Im Oktober 2015 wurden per Gesetz weitere Balkanstaaten, nämlich Albanien, Kosovo und Montenegro, zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt – obwohl dort ethnische Minderheiten wie z.B. die Roma nach wie vor von rassistisch motivierter Verfolgung betroffen sind (vgl. Thomas Hohlfeld, Grundrechte-Report 2015, S. 104). Selbst ein autoritär regierter Staat wie die Türkei könnte demnächst durch die Aufnahme auf diese Liste geadelt werden, wenn es nach den Plänen einiger deutscher Politiker geht. Auf der anderen Seite trägt Deutschland durch Waffenexporte und durch die Beteiligung an Militärinterventionen zur Destabilisierung von Krisenregionen bei. Die Fluchtursachen werden dadurch gerade nicht beseitigt – im Gegenteil.

Für alle, die es über die Grenzen nach Deutschland geschafft haben, muss ein weiteres Grundrecht seine Geltungskraft beweisen, nämlich die Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1GG). Sie umfasst nicht nur das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung, sondern auch die Gewährleistung des Existenzminimums für alle, die sich im Geltungsbereich unserer Verfassung aufhalten. Auch »migrationspolitische« Erwägungen, so mahnte das BVerfG in seinem Urteil vom 18.7.2012, könnten kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Forderung von Marei Pelzer (vgl. GRR2013, S. 29), angesichts dieser wichtigen Leitentscheidung zum Umgang des Staates mit Flüchtlingen alle asyl- und aufenthaltsrechtlichen Instrumente auf den Prüfstand zu stellen, ist angesichts der heutigen Situation aktueller denn je.

Schon der Wortlaut der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1GG zeigt, dass die Grundrechte nicht allein auf die Abwehr ungerechtfertigter staatlicher Eingriffe zielen, sondern auch Schutzpflichten des Staates begründen. Wir müssen mit dem Paradoxon umgehen lernen, dass der Staat nicht nur als Verletzer der Freiheitsrechte in Erscheinung tritt, sondern auch als deren Förderer und Beschützer in die Pflicht genommen werden muss. »Freiheitsrechte wären«, daran erinnerte der ehemalige Verfassungsrichter Helmut Simon schon im ersten Grundrechte-Report unter Berufung auf das erste Numerus-Clausus-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, »wertlos ohne die tatsächlichen Voraussetzungen, sie in Anspruch nehmen zu können.« (Grundrechte-Report 1997, S. 19). Insoweit sind auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte wichtige Freiheitsrechte, selbst wenn sie sich im Grundgesetz nur spärlich finden, aber in internationalen Menschenrechtspakten wie z.B. dem UN-Sozialpakt verankert sind (vgl. Ulrich Finckh, Grundrechte-Report 2008, S. 20). Mit gutem Grund werden deshalb im Grundrechte-Report auch die Missachtungen der sozialen Grundrechte angeprangert (vgl. Vorwort zum Grundrechte-Report 2015, S. 14).

Vom singulären Lauschangriff zur elektronischen Massenüberwachung

Begleitet von heftigen Protesten wurde im Jahre 1998 Artikel 13 GG erweitert und die Unverletzlichkeit der Wohnung durch die Zulassung des Großen Lauschangriffs erheblich entwertet (vgl. Ilse Bechthold, Grundrechte-Report 1998, S. 153). Aber nur wenige Kundige konnten damals voraussehen, dass dieses als Allheilmittel gegen die »Organisierte Kriminalität« gepriesene Instrument nur in wenigen Fällen eingesetzt wurde und die weit größere Gefahr für die Freiheitsrechte von einem anderen technischen Instrumentarium ausgeht. Das in Artikel 10 GG gewährleistete Fernmeldegeheimnis, schrieb der ehemalige Verfassungsrichter Jürgen Kühling schon lange vor den Enthüllungen Edward Snowdens, »darf man getrost als Totalverlust abschreiben, nachdem inzwischen buchstäblich jedes Telefonat abgehört wird, sei es – in geringerem Maße – durch legale Maßnahmen staatlicher Behörden, sei es – umfassend, durch fremde Geheimdienste« (Grundrechte-Report 2003, S. 15). – Was vielen damals als übertriebene »Spökenkiekerei« vorgekommen sein mag, hat sich mittlerweile bitter bewahrheitet: Internet und Telekommunikation haben inzwischen ein globales Panoptikum entstehen lassen, das alle Nutzer und Nutzerinnen dieser modernen Kommunikationsmittel für die Geheimdienste, aber auch für mächtige Internetfirmen wie Google und Facebook zu gläsernen Subjekten verwandelt hat. »Die digitale Durchleuchtung der Privatsphäre und ganzer Gesellschaften«, so Rolf Gössner, stellt »alle Betroffenen millionenfach unter Generalverdacht, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten, stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie in Frage« (Grundrechte-Report 2014, S. 17). Kann angesichts einer Überwachung solchen Ausmaßes wirklich noch von einer »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« gesprochen werden, wie sie das Grundgesetz als verpflichtendes Essential unserer Gesellschaft vorschreibt?

Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen?

Es sind keineswegs nur ausländische Geheimdienste wie die NSA, die sich eifrig der Methoden elektronischer Massenausforschung bedienen. So beteiligt sich auch der deutsche Bundesnachrichtendienst munter an der globalen Spitzelei und dem florierenden Ringtausch grundrechtlich geschützter Personendaten zwischen »befreundeten« Geheimdiensten. Auf der Liste der dabei benutzten sog. Selektoren, also der Zieldaten, befinden sich nicht nur Telefonnummern und E-Mail-Adressen von Privatpersonen, sondern auch solche deutscher Ministerien, Dienststellen der EU und anderer europäischer Regierungen. Dass es bei der Überwachung nur um das Aufspüren von Terroristen geht, hat sich damit endgültig als Legende entpuppt.

Die Aufklärung »geheimdienstliche(r) Tätigkeiten (…) für eine fremde Macht« ist eigentlich gesetzliche Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Bundesverfassungsschutzgesetz). Aber der Verfassungsschutz scheint sich wie die berühmten drei chinesischen Affen zu verhalten: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Dieser Eindruck täuscht allerdings: Auf der einen Seite wurden Persönlichkeiten aus dem linken Spektrum wie Rolf Gössner und Bodo Ramelow jahrzehntelang überwacht (vgl. Burkhard Hirsch, Grundrechte-Report 2011, S. 192). Auf der anderen Seite wurden kriminelle V-Leute in der Neonaziszene mit hohen Geldbeträgen alimentiert, die nicht zuletzt für Propagandamittel und zur organisatorischen Stärkung dieser Szene eingesetzt wurden. Und als die Polizei den Mitgliedern des NSU auf den Fersen war, hat der Verfassungsschutz in Thüringen die Ermittlungen torpediert. In welchem Maße die »Verfassungsschützer« und ihre V-Leute in Morde und andere Gewalttaten der Neonazis verstrickt sind, konnte selbst durch mehrere parlamentarische Untersuchungsausschüsse nicht aufgeklärt werden; etliches spricht indessen für eine systematische Vertuschung durch die Ämter (vgl. Heiner Busch, Grundrechte-Report 2013, S. 16). Angesichts dieses Befundes wäre aus demokratischer Sicht zu erwarten, dass deren verfassungsgefährdende Umtriebe empfindlich beschnitten und einer wirksamen und nicht nur platonischen Kontrolle unterworfen werden. Aber weit gefehlt: Im Jahre 2015 erhielt das Bundesamt (noch) mehr Befugnisse, mehr Personal und mehr Geld (siehe Till Müller-Heidelberg in diesem Band, S. 150 ff.).

Auch das Instrumentarium zur Überwachung der gesamten Telekommunikation durch »Sicherheitsbehörden« wurde im letzten Jahr ausgeweitet. Den Verdikten des Bundesverfassungsgerichts sowie des Europäischen Gerichtshofes zum Trotz wurde vom deutschen Gesetzgeber zum zweiten Mal die Speicherung sämtlicher Verkehrsdaten der Telekommunikation auf Vorrat (»Vorratsdatenspeicherung«) beschlossen. Die oben zitierte düstere Prognose von Jürgen Kühling, dass das Fernmeldegeheimnis als Totalverlust abgeschrieben werden könne, hat sich damit vollständig bewahrheitet. In Krisenzeiten, dieser Eindruck drängt sich jedenfalls auf, betrachten viele Politiker die Freiheitsrechte als nebensächlichen Rechtsklimbim, der nur für Sonntagsreden taugt.

Macht vor Recht?

Die Geringschätzung unserer Grundrechte und der Verfassungsrechtsprechung hierzu zeigt sich auch im Umgang mit missliebigen Demonstrationen. Zur Erinnerung: In seinem wegweisenden Brokdorf-Beschluss vom 14. Mai 1985 verpflichtete das Bundesverfassungsgericht die staatlichen Behörden, »versammlungsfreundlich« zu verfahren und dem hohen Rang des Grundrechts der Versammlungsfreiheit angemessen Rechnung zu tragen. Bei der Fülle von Beschränkungen und Repressionsmaßnahmen gegen demonstrierende Bürger und Bürgerinnen, sei es bei den Gipfeltreffen in Heiligendamm und im bayerischen Elmau oder »Blockupy« in Frankfurt am Main (vgl. Elke Steven, Grundrechet-Report 2013, S. 105 und Grundrechte-Report 2014, S. 83), ist davon jedoch wenig zu spüren. So wird z.B. die stundenlange Einkesselung auch friedlicher DemonstrationsteilnehmerInnen mit der Gegenwart einzelner militanter »Vermummter« gerechtfertigt und damit eine Art Kollektivhaftung aller Teilnehmenden für mögliche Gesetzesverletzungen Einzelner statuiert (so z.B. das Verwaltungsgericht Frankfurt, Urteil v. 23.6.2014, 5 K 2334/13 F). Die friedliche Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit wird auf diese Weise mit einem unkalkulierbaren Risiko belastet. Die damit erzielte Abschreckungswirkung ist möglicherweise beabsichtigt, was den verfassungsrechtlichen Wertungen des Brokdorf-Beschlusses diametral entgegenläuft. Die Missachtung dieses Grundrechts durch die Staatsgewalt dürfte denn auch in Zukunft zu den »Dauerthemen« des Grundrechte-Reports gehören.

Auf der anderen Seite zeigt sich am Beispiel der Versammlungsfreiheit aber auch deutlich, dass Grundrechte am effektivsten durch ihre engagierte Wahrnehmung verteidigt werden, am wenigsten aber durch staatliche Behörden, die sich mit dem Prädikat »Verfassungsschutz« schmücken. »Der Schutz der Verfassung und ihrer Grundrechte ist Aufgabe der demokratisch und rechtsstaatlich engagierten Bürgerinnen und Bürger selbst«, schrieb Till Müller-Heidelberg schon im ersten Grundrechte-Report (Grundrechte-Report 1997, S. 12). Diese Erkenntnis hat auch zwei Jahrzehnte später nichts an Aktualität verloren. In diesem Sinne gilt es auch in den kommenden Jahren, den Schutz der Grundrechte entschlossen in die eigenen Hände zu nehmen.

Rolf Gössner

Ausspähen unter Freunden – geht doch!

NSA/BND-Affären: systematische Wirtschafts- und Regierungsspionage ohne Gesetz und Recht, ohne Grenzen und Kontrollen

Seit Edward Snowdens Enthüllungen 2013, die eine nahezu lückenlose verdachtsunabhängige Massenüberwachung der globalen Telekommunikation durch westliche Geheimdienste offenbarten, sind fast täglich neue Geheimdienstskandale zu vermelden. Der Grundrechte-Report versucht jährlich, die Verfassungsverstöße und Grundrechtsverletzungen herauszuarbeiten, die damit verbunden sind (vgl. Rolf Gössner, Grundrechte-Report 2014, S. 16ff; 2015, S. 144ff.; Dieter Deiseroth, Grundrechte-Report 2014, S. 28ff.; Bertold Huber, Grundrechte-Report 2015, S. 88ff.). Aus der Fülle der neueren Enthüllungen hier zwei Schwerpunkte:

Im Visier von NSA und BND

(1) Der Bundesnachrichtendienst (BND) hat im Rahmen seiner Auslandsüberwachung jahrelang auch gezielt Wirtschafts- und Regierungsspionage im großen Stil betrieben – und zwar im Dienst des US-Geheimdienstes NSA. Beide Geheimdienste arbeiten eng zusammen: Sie tauschen nicht nur massenhaft Informationen, sondern teilen auch Instrumente, gemeinsame Datenbanken, Spähprogramme sowie Infrastrukturen. So speiste die NSA sog. Selektoren in das BND-Überwachungssystem ein, also Suchkriterien wie Namen, Telefonnummern, Mobilfunkkennungen, Geo-Koordinaten, E-Mail- oder IP-Adressen. Zigtausende betrafen deutsche und europäische Firmen, EU-Institutionen und Politiker. Ihre Telekommunikationsinhalte und Metadaten sollte der BND aus Internetleitungen oder Satellitenverbindungen für die NSA abfangen – und zwar selbst von geschützten Zielen, die der BND nach deutschem Recht nicht ausforschen darf. Insoweit betätigte er sich offenbar als jener »Wurmfortsatz« der NSA, als den der Ex-NSA-Mitarbeiter Thomas Drake ihn charakterisierte.

Diese weitgehend illegale Massenspionage war dem Bundeskanzleramt, das den BND zu beaufsichtigen hat, bereits seit Jahren bekannt – ohne sie jedoch zu stoppen. Offenbar war die enge Kooperation wichtiger als die Einhaltung von Gesetzen. So mutierte der Geheimdienst- zum Regierungsskandal. Und die Begründung, dass es sich um Terrorismusbekämpfung zum Schutz der Bevölkerung handele, fiel in sich zusammen und erwies sich als Lüge.

(2) Kaum war dieser Skandal verdaut, kam der nächste Schlag: Der BND spionierte nicht nur im Dienst der NSA, sondern auch ganz eigenständig Regierungen, Politiker, Unternehmen und NGOs in EU-Staaten und den USA aus – 700 Zielpersonen, darunter selbst ein deutscher Diplomat sollen betroffen sein. Seit Ende der 1990er Jahre benutzte er entsprechende hauseigene Selektoren – insgesamt weit mehr als 3000 Suchkriterien, die größtenteils sowohl dem Auftragsprofil als auch dem BND- und G-10-Gesetz (Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses) widersprechen dürften. Betroffen von den Spionageaktivitäten waren »befreundete Ziele«, so u.a. Frankreichs Außenminister, das US-Außenministerium sowie zahlreiche Innenministerien, diplomatische Vertretungen, europäische Firmen, Hilfsorganisationen wie Oxfam oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Hinzu kommen Ziele in der Türkei, der Internationale Strafgerichtshof, UNICEF und die WHO (SZ, NDR, WDR; Spiegel Online 30.10.2015; taz v. 9.11.2015).

 

Erst im Oktober 2013 – also kurz nach den Enthüllungen Snowdens – ließ das Bundeskanzleramt diese Praxis stoppen, obwohl es über die Spionageangriffe bereits 2008 informiert gewesen sein soll. Eine im Oktober 2015 eingesetzte Task Force des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags hat die BND-Praxis und die verwendeten Selektoren untersucht und ist dabei auf zahlreiche Namen von betroffenen Personen und Institutionen gestoßen. Mitte November 2015 hat das Bundeskanzleramt die geheime Selektorenliste endlich zur Einsicht für Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestags freigegeben – allerdings nur unter strengen Geheimhaltungsbedingungen.

Übrigens: Die Entrüstung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach Bekanntwerden der US-Lauschangriffe auf ihr Handy – »Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht!« – stellt sich nun als ziemlich heuchlerisch dar. Ausspähen unter Freunden, das geht doch – entweder im Dienste der USA oder auch ganz auf eigene Faust.

Demokratische Kontrolle, unabhängige Untersuchung? Fehlanzeige!

Der seit April 2014 tagende NSA-Untersuchungsausschuss, dem die parlamentarische Aufarbeitung der Massenüberwachungsskandale obliegt, wollte auftragsgemäß die NSA- Selektoren, die dem BND von 2005 bis März 2015 übermittelt worden waren, einsehen und überprüfen. Unter den insgesamt etwa 14 Millionen Selektoren besonders auch jene ca. 40000, die der BND selbst als rechtswidrig oder gegen deutsche oder europäische Interessen gerichtet eingestuft und – früher oder später – aussortiert hatte. Doch die Bundesregierung verweigerte dem Ausschuss diese Belastungsbeweise – mit Rücksicht auf »völkerrechtliche Verpflichtungen« gegenüber der US-Regierung, die einer Herausgabe nicht zustimme. Im Übrigen sei zu befürchten, dass die NSA die Kooperation einschränke. Beide Argumente scheinen wenig tragfähig, denn das Weiße Haus hatte zwar »Bedenken« geäußert, allerdings die Entscheidung, die Liste den Kontrollausschüssen zur Einsicht vorzulegen, allein der Bundesregierung überlassen und auch nicht mit der Einschränkung geheimdienstlicher Kooperation gedroht (Zeit Online, 13.8.15). Die Regierung blieb dennoch bei ihrer Weigerung und beruft sich auf »Spielregeln zwischen Geheimdiensten«. So vertuscht sie mutmaßlich kriminelles, verfassungs- und völkerrechtwidriges Handeln und deckt die Verantwortlichen – genauso wie mit ihrer Weigerung, Edward Snowden als wichtigsten Belastungszeugen laden zu lassen.

Stattdessen engagierte die Regierungskoalition den früheren Bundesrichter Kurt Graulich als »unabhängige, sachverständige Vertrauensperson« zur Überprüfung der Selektorenlisten. Dieser solle später dem NSA-Ausschuss über seine Untersuchungsergebnisse berichten – allerdings, ohne Spionageziele und Namen nennen zu dürfen. So reichte es lediglich zu einer allgemeinen Auskunft, ob deutsche Interessen verletzt worden sind. Da die von der Regierung eingesetzte und honorierte »Vertrauensperson« nur dem Bundeskanzleramt verpflichtet ist, ist sie mit Maulkorb ausgestattet, also nicht unabhängig. Selbst ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags hält diese Prozedur für unzulässig (Spiegel 25/2015, S. 41).

Ende Oktober 2015 legte Graulich seinen Bericht in drei Versionen vor: eine öffentliche, eine »streng geheime« für Mitglieder des NSA-Ausschusses sowie eine speziell für das Bundeskanzleramt. Klar geworden ist so viel: Die NSA interessierte sich massenhaft für deutsche und europäische Firmen, Institutionen und Personen und instrumentalisierte dafür den BND – obwohl dessen Pflicht es eigentlich ist, ausländische Spionage gegen deutsche Ziele abzuwehren. Graulich schreibt, die NSA habe mit diesen Spionageversuchen das Vertrauen des Bündnispartners missbraucht und gegen (geheime) Abkommen verstoßen. Doch ist das alles?

Aus der öffentlichen Version des Berichts offenbart sich rasch, dass der Sonderermittler in vielen Punkten den rechtlichen Einschätzungen des BND (in einem vertraulichen Kurzgutachten) kritiklos folgt. So hängt er der sog. Weltraumtheorie des BND an, die unter Fachleuten längst als überholt gilt (SZ vom 5.11.2015): Danach stünden aus Satellitenkommunikation erhobene Daten nicht unter dem Schutz des Grundgesetzes und könnten bedenkenlos an die NSA weitergeleitet werden. Zudem stuft er Telekommunikationsverbindungsdaten als grundsätzlich nicht personenbezogen und damit uneingeschränkt verwendbar ein – eine Theorie, die bereits mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Vorratsdatenspeicherung widerlegt wurde.

Was der Regierungsgutachter in seinem Bericht geflissentlich übersieht, sind die Verstöße gegen Grundrechte – etwa der Kommunikationsfreiheit und informationellen Selbstbestimmung der Betroffenen. Denn der Bericht verschweigt, wen die NSA mithilfe des BND ausspähen wollte, wer tatsächlich ausspioniert wurde und wie lange und welche Ziele der BND