Grundrechte-Report 2021 -  - E-Book

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Beschreibung

In dem seit 1997 jährlich erscheinenden Report ziehen zehn Bürgerrechtsorganisationen eine Bilanz zum Umgang mit den Bürger- und Menschenrechten in Deutschland. Einen Schwerpunkt des aktuellen Grundrechte-Reports bilden die zahlreichen Grundrechtsbeschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie. Weitere Beispiele für die Einschränkung von Grundrechten im Jahr 2020 betreffen unter anderem rassistische Polizeigewalt, die von Regenbogenfamilien, staatliche Überwachung, den ausbleibenden Klimaschutz, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und die Verschärfung von sozialer Ungleichheit. »Die Verteidigung und der Ausbau der Grund- und Bürgerrechte und die darauf aufbauende Gestaltung einer solidarischen Gemeinschaft müssen oberste Priorität von uns allen sein.« Igor Levit bei der Präsentation des Grundrechte-Reports 2020

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Seitenzahl: 285

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Grundrechte-Report 2021

Benjamin Derin | Jochen Goerdeler | Rolf Gössner | Wiebke Judith | Hans-Jörg Kreowski | Sarah Lincoln | Paul Nachtwey | Britta Rabe | Lea Welsch | Rosemarie Will

FISCHER E-Books

Inhalt

Ungleiche Freiheiten und Rechte in der KriseZu Unrecht in einen Topf geworfenExistenzminimum mit AbschlagSozialgerichte: Kein »Wirtschaften aus einem Topf«Ein politischer TaschenspielertrickPauschaler Ausschluss vom menschenwürdigen ExistenzminimumAusschließlich zur Arbeitssuche?Wer die Schule besucht»Wirtschaftlich aktiv« oder unwürdig?§ 217 Strafgesetzbuch (StGB) ist wegDie Grundrechte als Maßstab für Verbote der SterbehilfeNach dem Urteil ist vor dem neuen GesetzKein neues Strafrecht, sondern den Schutz der Selbstbestimmung beim Sterben stärkenSelbstbestimmung unter VorbehaltKein sicherer Anspruch auf häusliche IntensivpflegeEine fremdbestimmte SelbstbestimmungBeatmungsentwöhnung plötzlich alternativlos?Staatstrojaner: Unternehmen sollen Geheimdiensten beim Hacken helfenGefährliche Pseudo-Sicherheitspolitik mit StaatstrojanernUnternehmen als ErfüllungsgehilfenUnangemessen und unverhältnismäßigPrävention statt WettrüstenRegistermodernisierungsgesetzWas will die Bundesregierung mit der IDNr?Ist die IDNr ein verfassungswidriges PKZ?Bestandsdatenauskunft – schon wieder vor dem BVerfG durchgefallenDie Wirklichkeit sieht anders ausZum ersten UrteilZum zweiten UrteilLet’s fix it – nächster VersuchEinem Rechtsstaat nicht angemessen»Und täglich grüßt das Murmeltier«Jahrelanges zähes RingenHeute schon die Speicherpflicht gefordert?Der gläserne FlüchtlingHandydaten – was sagen sie eigentlich über Herkunft und Identität aus?Handydatenauswertungen stellen Geflüchteten ein gutes Zeugnis ausVerfassungsgemäß? Jetzt muss sich das BAMF vor Gericht verantwortenEine App gegen die Pandemie?Funktionsweise der Corona-Warn-AppBeeinträchtigungen der GrundrechteDatenschutz ist GrundrechtsschutzDeath in CustodyStaatsversagen mit TodesfolgenDimensionen von Tod in GewahrsamKein Ende in SichtKein Schlussstrich nach dem Halle-Prozess!Was der Prozess offenbart hatDer verfassungsrechtliche Schutz jüdischer GemeindenZeit, dass sich etwas ändertApplaus, und sonst?Auf dem Rücken der BeschäftigtenArbeitsschutz ohne Not gelockertGesundheitsgefährdung durch lange SchichtenAus den Fehlern lernenMenschenunwürdige Zustände in deutschen FleischfabrikenRechtswidrige ZuständeStaatlicher Schutzauftrag und VollzugsdefizitKein Schutz vor Corona – »Durchseuchung« im LagerWarum müssen geflüchtete Menschen in Lagern leben?Infektionsschutz nur durch KlageKollektivquarantäne als rassistische MaßnahmeRückschlag für Frauen auf dem Weg in die ParlamenteGesetzgeberische Ansätze für Parität in ParlamentenUrteile der Landesverfassungsgerichte von Thüringen und BrandenburgAusblickCumEx – Steuerhinterziehung als grundrechtliches ProblemStruktur der CumEx-GeschäfteVersagen von Politik, Wissenschaft und StaatPräzedenzfall: Steuergerechtigkeit ist Ausfluss des GleichheitssatzesDas Konzept »Clankriminalität«Nachdreh zur Gangsterserie »4 Blocks« auf Staatskosten»Clankriminalität« als Sarrazin‘sches Konzept des Racial ProfilingSpektakel mit mauem ErgebnisMissbrauch von Gewerbekontrollen für ErmittlungsarbeitOffensive Verteidigung rassistischer WeltbilderIllegale Datenerhebung und erweiterte »gefährliche Orte«Kontinuität rassistischer Polizeipraxis bis zum Attentat in Hanau»Stammbaumforschung« in StuttgartErmittlungen in Standesämtern – eine polizeiliche Standardmaßnahme?Fehlende Zuständigkeit der PolizeiDie Wiedereinführung der »Ausländereigenschaft«»Rasse« und GrundgesetzAbwehrreflexe gegen den Rassismusvorwurf?Historischer Kontext und Dynamik der GleichheitsideeRechtsschutz gegen die Diskriminierung als »Ossi«?Sind Ostdeutsche eine Ethnie?Ostdeutsch als Stigma und struktureller NachteilArtikel 3 Grundgesetz als Ausweg?Für eine Erweiterung bestehender DiskriminierungskategorienAnstalten im rechtsfreien RaumAnstaltsstrukturen der EingliederungshilfeFolgen für die LeistungsberechtigtenDas Bundesteilhabegesetz – eine halbherzige ReaktionEingliederungshilfe im rechtsfreien RaumWeiterhin keine Lehrerinnen mit Kopftuch in BerlinStreit um das Neutralitätsgesetz in BerlinKeine Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch auf der Richter*innenbankFreie Religionsausübung für alle Staatsbediensteten!Bundesverwaltungsgericht fordert GesetzesänderungenHandlungsbedarf zum KopftuchStreit um BDSFalsche EindeutigkeitenHoheitlicher MeinungsdruckAgieren in Widersprüchen: Differenzierung statt AbfertigungHausverbot für die PressefreiheitÖffentliches Interesse an KohleprotestenDer Zweck heiligt ausnahmsweise die MittelWenn Journalismus zum Existenzrisiko wirdMutter – Mutter – KindAlltagsrelevanz für RegenbogenfamilienRechtliche AusgangssituationDiskriminierung aufgrund des GeschlechtsAlle Familienformen rechtlich absichernVerschärfte Bildungsungleichheit in der Corona-KriseBildungsungleichheit und soziale HerkunftStudierende in der KriseChancengleichheit muss in der Krise gewährleistet werdenProtest in Zeiten von CoronaOhne Versammlungsfreiheit gibt es keine demokratische WillensbildungVerbote und Zurückhaltung der GerichteVerfassungswidrige Argumente und fehlende EinzelfallabwägungPauschale Verbote sind auch in Corona-Zeiten verfassungswidrigAuflagen statt Verbote: Versammlungsfreiheit wieder gestärktCorona-Kontaktnachverfolgung und VersammlungsfreiheitVersuch einer Balance zwischen Rückverfolgung und AnonymitätAlternative: Bürokratie und Eigenverantwortung in der PandemieDas Urteil des BVerfG zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BNDZentrale Aussagen des BVerfGDer Entwurf der Bundesregierung zur Novellierung des BNDGFestung Europa: Grenzschutz liquidiert Asylrecht und AsylsuchendeKein Recht ohne Recht auf Zugang zum RechtMit dem Grundgesetz im EinsatzOriginäre deutsche Zuständigkeit für Flüchtende#WirhabenPlatzDie humanitäre Situation in Griechenland – eine absehbare KatastropheLandesaufnahme als legaler Ausweg?Konzept der ExternalisierungRelativierung der MenschenrechteSyrien ist für niemanden sicherPolitisches Signal statt menschenrechtsbasierter EntscheidungAbschiebungen nach Syrien wären menschenrechtswidrigAussetzung der Dublin-Fristen wegen CoronaDublin-Verordnung: Zuständigkeit für Asylanträge in der EUCorona-Pandemie legt Dublin-System lahmCorona-Aussetzung vor GerichtStaatliche Gefährdung von AsylsuchendenVerhaftung eines türkischen Kooperationsanwalts der Deutschen BotschaftZwielichtige Nachforschungen in HerkunftsstaatenVerfolgerstaat erhält Einblick in hochsensible AsyldatenDer Zweck und die MittelEffektiver Grundrechtsschutz wegen Pandemie aufgehobenNachvollziehbare Maßstäbe und keine SupergrundrechteDie Selbstentmachtung von Bundestag und Bundesrat im InfektionsschutzrechtWesentlichkeits- und Bestimmtheitsgrundsatz als GrenzeBei epidemischen Lagen von nationaler TragweiteWurde die Selbstentmachtung beseitigt?Rechter Terror in NeuköllnSicherheitsbehörden: Mehr Bedrohung als HilfeAuffällige Zurückhaltung bei der Verfolgung rechter GewaltRechtsstaatswidrige Tatprovokation als Verstoß gegen das Recht auf ein faires VerfahrenZum Drogengeschäft verleitetBestrafen, aber milder?Systematisch unfair?Rechtsstaatswidrige KontinuitätenJede:r hat das Recht auf LebenGrundrecht auf Klimaschutz?Die Betroffenen im In- und AuslandEingeschränkter staatlicher GestaltungsspielraumBisherige Klimaschutzziele sind unzureichendVon wegen KohleausstiegGarzweiler – eine (un)endliche Geschichte?Folgen für Klima und Grundrechte bleiben bislang unbeachtet»System change – not climate change«Das PSPP-Urteil des BundesverfassungsgerichtsVerletzung des Rechts auf Demokratie durch die Geldpolitik der EZB?Der Mythos unpolitischen GeldesPSPP als Impuls für eine Demokratisierung von Geld und GeldpolitikDie Selbstverwaltung der Justiz muss kommen – auch eine Erfahrung »aus Corona«Die deutsche Justizverwaltung – wie zu Kaisers und Führers Zeiten?Erfahrungen der Justiz im »Corona-Jahr«Eine konkrete UtopieAnhangKurzporträts der herausgebenden OrganisationenAutorinnen, Autoren und RedaktionsmitgliederAbkürzungenSachregister

Vorwort der Herausgeber*innen

Ungleiche Freiheiten und Rechte in der Krise

Das beherrschende Thema des vergangenen Jahres war ohne Zweifel die Corona-Pandemie. Auch aus der Perspektive des Grundrechte-Reports ergaben sich daraus drängende Fragen. Die ungewohnte Situation verleitete dabei zunächst zu einer Fokussierung auf die unmittelbaren staatlichen Maßnahmen. Denn die staatlichen Reaktionen auf die sich ab dem Frühjahr auch in Deutschland ausbreitende Infektionskrankheit COVID-19 gingen mit teilweise erheblichen Grundrechtseingriffen einher und bewegten sich oftmals im Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Gesundheit einerseits und den Freiheitsrechten andererseits. Die mitunter fundamentalen Einschränkungen, die zuvor kaum vorstellbar gewesen wären, stellten die Gesellschaft vor ethische, soziale, juristische und politische Herausforderungen.

Und doch erscheinen nicht nur die viel diskutierten Maßnahmen wie »Shutdowns«, Ausgangssperren und Maskenpflicht als Einfallstor für empfindliche Eingriffe in verschiedene Grundrechte. Dass sich angesichts dieser Krise gerade prekäre Lebensverhältnisse zuspitzten, dass die Lage marginalisierter Menschen und Gruppen dadurch fort- und weiter festgeschrieben wurde, darf nicht übersehen werden. Denn gerade in Zeiten von Krisen und grundsätzlichem gesellschaftlichen Wandel werden bestehende gesamtgesellschaftliche Risse zutage gefördert. Und dabei sind es oftmals sozial Benachteiligte und unzureichend Repräsentierte, die sich im politischen Interessenkonflikt innerhalb tradierter Institutionen nicht oder nur schwerlich durchsetzen können.

Wenn die vorliegende Ausgabe des Grundrechte-Reports (dessen Berichtszeitraum im Dezember 2020 endete) deshalb wie jedes Jahr die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland bewertet, liegt der Schwerpunkt dieses Mal auf den ungleichen (Un-)Freiheiten, die diese Krise mit sich gebracht hat – oder die durch sie noch akuter geworden sind. So ist es auch in Zeiten, in denen Solidarität nicht nur im Sinne ökonomischer Kategorien gedacht wird, nicht weit zum Ressentiment. Und sowohl unter den Bedingungen der Pandemie als auch abseits von Corona erwiesen sich staatliche Institutionen allzu oft nicht als Garantinnen dieser Rechte, sondern trugen zu ihrer Aushöhlung bei.

Besorgniserregende Angriffe auf die Grundrechte erfolgten dabei einmal mehr im Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts. Hierzu gehörten unter anderem die Blockade der Bundesregierung bei der Aufnahme von Geflüchteten, die Auseinandersetzung um die Höhe von und den Zugang zu Sozialleistungen, die gesundheitsgefährdende Unterbringung in den Unterkünften, der Zugriff auf die Daten von Asylsuchenden, die Verzögerung des Zugangs zu Schutz durch die europarechtswidrige Unterbrechung der Dublin-Frist und die deutsche Verantwortung bei der in tödlichen Schüssen gipfelnden Grenzschließung zwischen Griechenland und der Türkei.

Der Blick auf den Umgang mit der konkreten gesundheitlichen Dimension der Pandemie offenbart, welchen Preis die marktwirtschaftliche Profitorientierung hat und zu wessen Lasten eine solche Wirtschaftsordnung geht. So wurden die Beschäftigten im Gesundheitssektor zwar kurzzeitig beklatscht, letztlich aber mit den hohen Risiken weitgehend allein gelassen. Es erging außerdem eine umstrittene Gesetzesnovelle für die häusliche Intensivpflege, und die Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsschutz waren auch für viele andere Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen angesichts einer Pandemie inadäquat (etwa in der Fleischindustrie). Wie ungleich die Krise sich auswirkte, war auch im Bildungsbereich zu spüren, wo sie ärmere Schüler*innen und Studierende besonders hart traf.

Im Rahmen der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erfolgten erhebliche Eingriffe in die Versammlungsfreiheit, sogenannte Tracing-Apps warfen grundrechtliche Fragen auf, die vermutlich auf längere Zeit relevant bleiben werden, und die umstrittene Änderung des Infektionsschutzgesetzes gab Anlass zur kritischen Bewertung der Reichweite exekutiver Befugnisse in Krisenzeiten und ihres Verhältnisses zur parlamentarischen Gewalt.

Erneut wurde deutlich, wie sehr Rassismus und rechtes Gedankengut gerade auch durch staatliche Institutionen und Praktiken vermittelt werden. Die Grundrechtsrelevanz zeigte sich dabei an vielen Punkten. Wieder starben People of Color in Polizeigewahrsam unter bis heute nicht hinreichend aufgearbeiteten Umständen. Polizei und Politik luden Ereignisse wie die medial präsente »Stuttgarter Krawallnacht« rassistisch auf und bedienten sich andernorts vermehrt des Konstrukts der »Clankriminalität« zur Rechtfertigung rassistischer Kriminalisierung und damit einhergehender weitreichender Grundrechtseingriffe. Gleichzeitig versagten die Behörden, wenn es darum ging, die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ausreichend zu schützen. Das machten das Attentat von Hanau, der Abschluss des Prozesses gegen den Attentäter von Halle oder die Vorwürfe gegen Polizei und Staatsanwaltschaft im Umgang mit der rechten Anschlagsserie in Berlin-Neukölln deutlich.

Daneben wirft der diesjährige Report Schlaglichter auf bereits häufig betroffene Grundrechte. So nimmt etwa die Bedeutung von Daten in der digitalisierten Welt stetig zu, und parallel dazu wächst auch das Interesse staatlicher Stellen daran. Grenzen gesetzt wurden in diesem Jahr dem erneut ausgeweiteten behördlichen Zugriff auf persönliche Daten bei der Vorratsdatenspeicherung, der Bestandsdatenauskunft und der strategischen Fernmeldeaufklärung des BND im Ausland – wie nachhaltig diese sind, wird sich jedoch erst noch zeigen müssen. Zugleich wurde ein Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, das wiederum die Befugnisse der Nachrichtendienste beim Einsatz von Staatstrojanern ausweitet.

Umkämpft waren die Grundrechte auch bei der Durchsetzung des Klimaschutzes, der mit mehreren Verfassungsbeschwerden eingefordert wurde. Das Kohleausstiegsgesetz wurde verabschiedet, bleibt verfassungsrechtlich aber mit vielen Fragezeichen versehen. Staatliche wie private Akteur*innen versuchten zudem, die Berichterstattung von den Kohleprotesten einzuschränken, und griffen dabei auch in die Pressefreiheit ein.

Mit Blick auf den »CumEx«-Steuerskandal verharrten staatliche Institutionen nach wie vor in Passivität und scheuten sich davor, die rechtswidrig erlangten Steuerausgleiche zurückzufordern. Dass das zugrundeliegende Vorgehen strafbar ist, stellte ein Strafgericht im Frühjahr 2020 fest. Dass damit auch die Steuergleichheit und das Rechtsstaatsprinzip als Verfassungsgüter tangiert sind, musste erst noch herausgearbeitet werden.

Hinsichtlich der Geschlechtergerechtigkeit haben die Urteile zu den Paritätsgesetzen in Thüringen und Brandenburg der Durchsetzung der Repräsentation von Frauen in Parlamenten bedauerlicherweise eine Absage erteilt.

Weitere Themen kehrten als alte Bekannte des Reports zurück, darunter die Diskussion um das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, die Frage nach der Legalität aktiver Sterbehilfe, die (De-)Thematisierung der Diskriminierung Ostdeutscher oder die Folgen rechtsstaatswidriger Tatprovokation durch V-Personen der Repressionsbehörden.

Apropos alte Bekannte: Besonders zu nennen ist hier, dass nach 15 Jahren Verfahrensdauer endlich höchstrichterlich festgestellt wurde, dass die jahrzehntelange Überwachung des dem Grundrechte-Report seit langer Zeit verbundenen Publizisten und Bürgerrechtlers Rolf Gössner durch den Verfassungsschutz rechtswidrig war. Diese Nachricht erfreut, macht Mut, verweist aber auch darauf, dass sich die Einhaltung und Verteidigung der Grundrechte nicht dem Staat überantworten lassen. Im Gegenteil: Es gilt, diese Rechte aktiv einzufordern und zu verteidigen –, umso mehr in Krisenzeiten, in denen sie stets besonders unter Druck geraten und die Bereitschaft, sie auch dort zu achten und durchzusetzen, wo es inopportun erscheint, rasch schwindet. Dabei ist ihr Wert gerade daran zu messen, wie sie unter solchen Umständen eingehalten werden.

Die Grundrechte aktiv einzufordern und zu verteidigen – genau deswegen gab es vor jetzt 25 Jahren die Idee zu diesem Report. Ein Gründungsvater war der beliebte und geschätzte Bürgerrechtler und Politologe Wolf-Dieter Narr. Er starb im Oktober 2019. Wir wollen hier an ihn erinnern und dankbar sein, dass es mit seiner Hilfe gelungen ist, das Projekt Grundrechte-Report ins Leben zu rufen, und wir uns nun schon 25 Jahre für die Grundrechte aufreiben dürfen müssen.

Was Wolf-Dieter Narr im Blick hatte, wo er Reibung herstellen und sichtbare Funken sprühen lassen wollte, formulierte er zum Auftakt 1997 folgendermaßen: »Gerade die bürger- und menschenrechtlichen Normen setzen dazu instand, alle möglichen mehr oder minder sublimen Herrschafts- und Ausbeutungstricks aufzudecken und ihnen entgegenzuarbeiten.«

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Sarah Lincoln/David Werdermann

Zu Unrecht in einen Topf geworfen

Sozialgerichte äußern Zweifel an Leistungskürzung in Sammelunterkünften nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Weil der Staat Sozialausgaben sparen will, sollen Geflüchtete in Sammelunterkünften wie Ehepaare gemeinsam »aus einem Topf« wirtschaften, also zusammen einkaufen und kochen, Sport- und Spielgeräte, Bücher und Filme teilen. Dies ging schon ohne Corona völlig an der Realität in den Unterkünften vorbei. Seit der Corona-Pandemie und den zahlreichen Ausbrüchen in den Unterkünften ist ein gemeinsames Wirtschaften vollends ausgeschlossen. Eine nachvollziehbare und sachlich differenzierte Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums, wie sie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) fordert, sieht anders aus. Wenig überraschend haben im Jahr 2020 zahlreiche Sozialgerichte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Leistungskürzung geäußert und den Betroffenen im Eilverfahren höhere Leistungen zugesprochen.

Existenzminimum mit Abschlag

Jeder hilfebedürftige Mensch hat Anspruch auf Leistungen zur Existenzsicherung. Das BVerfG hat 2010 aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Das Grundgesetz gibt die Höhe der Leistungen nicht vor, dennoch ist der Gesetzgeber in der Ausgestaltung nicht völlig frei. Die Anforderung, für eine menschenwürdige Existenz tatsächlich Sorge zu tragen, darf im Ergebnis nicht verfehlt werden. Zudem muss der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig und realitätsgerecht in einem transparenten und sachgerechten Verfahren ermitteln. 2012 hat das BVerfG dies mit Blick auf das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) konkretisiert. Niedrigere Leistungen für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe wie Geflüchtete sind nur dann verfassungskonform, wenn sich ein geringerer Bedarf plausibel begründen lässt.

Diese Vorgaben sehen nun etliche Sozialgerichte in Bezug auf die Sozialleistungen in Sammelunterkünften als verletzt an. Alleinstehende, die in Sammelunterkünften leben, erhalten seit September 2019 Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2. Das sind 10 Prozent weniger Sozialleistungen als vorher und etwa 12 Prozent weniger, als Hartz-IV-Empfänger*innen bekommen. Im Jahr 2020 standen ihnen monatlich 316 Euro zur Verfügung; 2021 sind es 323 Euro. Die Regelbedarfsstufe 2 kam zuvor nur bei Paarhaushalten zur Anwendung. Dort ergaben Studien Einspareffekte in Höhe von etwa 10 Prozent, die sich aus gemeinsamen Anschaffungen, geteilten Internetverträgen etc. ergeben. Dies hat die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD kurzerhand auf Geflüchtete in Sammelunterkünften übertragen. Die Betroffenen würden sich schließlich in »derselben Lebenssituation befinden« und »der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft« bilden (vgl. BT-Drs. 19/10052, S. 24).

Sozialgerichte: Kein »Wirtschaften aus einem Topf«

Diese Begründung ist der Koalitionsmehrheit im Bundestag nun in zahlreichen sozialgerichtlichen Entscheidungen um die Ohren geflogen. Die Sozialgerichte bringen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Kürzung vor und sprechen den Antragsteller*innen in Eilbeschlüssen die höheren Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1 zu.

Ihre Argumente sind überzeugend: Die Bewohner*innen einer Sammelunterkunft haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, mit anderen Personen zusammenzuleben, sondern sind dazu gesetzlich verpflichtet. Damit unterscheidet sich ihre Situation grundlegend von der eines Paarhaushaltes, bei dem das BVerfG das »Wirtschaften aus einem Topf« für plausibel hält. Die Fluktuation in den Einrichtungen ist riesig, hinzu kommen Sprachbarrieren und unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe. Ein Näheverhältnis, welches für eine gemeinsame Haushaltsführung erforderlich wäre, ist unter diesen Umständen kaum vorstellbar. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht alle Bewohner*innen die gleichen Leistungen beziehen. Wer bereits seit 18 Monaten in Deutschland lebt, erhält den etwas höheren Hartz-IV-Satz. Weitaus weniger Geld zur Verfügung haben Bewohner*innen, die nach § 1a AsylbLG sanktioniert wurden, zum Beispiel weil sie bestimmten Mitwirkungspflichten im Verfahren nicht nachkamen oder sich trotz Zuständigkeit eines anderen EU-Mitgliedsstaats in Deutschland aufhalten. Diese Menschen erhalten im Wesentlichen nur noch Geld für Ernährung. Ein gemeinsames Wirtschaften ist unter diesen Umständen kaum möglich.

Ein wichtiger Aspekt fehlt in der bisherigen Rechtsprechung: Selbst wenn sie wollten, könnten Bewohner*innen von Sammelunterkünften nicht die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute. Das größte Einsparpotenzial liegt in größeren gemeinsamen Anschaffungen wie Inneneinrichtung und Hausrat. Diese Leistungen sind im Regelbedarf für Geflüchtete jedoch von vornherein nicht enthalten, weil sie gesondert erbracht werden. In der Regel werden sie als Sachleistung von der Unterkunft gestellt. Das Einsparpotenzial kann daher von vorneherein nicht herangezogen werden, um die Kürzung bei den Geldleistungen um 10 Prozent zu rechtfertigen.

Ein politischer Taschenspielertrick

40 Millionen jährlich spart der Staat durch die Kürzung. Das entspricht just der Summe, die der Bundesregierung dadurch entstanden ist, dass sie – ebenfalls im September 2019 – die Regelsätze für Asylbewerber*innen nach jahrelanger Untätigkeit an die gestiegenen Lebenshaltungskosten anpasste. Um dieses Nullsummenspiel zu rechtfertigen, war sich der Gesetzgeber nicht zu schade, mit an den Haaren herbeigezogenen Begründungen das Existenzminimum zu unterlaufen.

Und damit hat er zumindest vorübergehend auch Erfolg. Denn das Gesetz kippen können nur die Verfassungsrichter*innen in Karlsruhe. Selbst wenn ein Sozialgericht die Regelung dort zeitnah nach Artikel 100 Abs. 1 Satz 1GG zur Prüfung vorlegt, können bis zu einer Entscheidung noch Jahre vergehen. Bis dahin begnügen sich einige Sozialgerichte mit einer verfassungskonformen Auslegung. Das Sozialgericht Landshut liest die Regelung so, dass die Sozialbehörde in jedem Einzelfall nachweisen muss, dass die Bewohner*innen tatsächlich gemeinsam wirtschaften (SG Landshut, Urteil vom 14.10.2020, S 11AY39/20). Andere Gerichte haben die besonderen Umstände während der Corona-Pandemie zum Anlass genommen, den Leistungsberechtigten ausnahmsweise doch die höheren Leistungen nach der Bedarfsstufe 1 zuzusprechen (SG Berlin, Beschluss vom 19.5.2020, S 90AY57/20ER).

Damit ist jedoch nur denjenigen geholfen, die sich an die Gerichte wenden. Denn von alleine passen die Sozialämter die Leistungen nicht an. Um einen verfassungskonformen Zustand herzustellen, ist daher dringend eine Entscheidung des BVerfG erforderlich. Schon 2012 hat das BVerfG die viel zu niedrigen Leistungen nach dem AsylbLG für verfassungswidrig erklärt. Die Kernaussage aus der damaligen Entscheidung hat an Aktualität nicht verloren: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Literatur

Gerloff, Volker, ASR2/2020, 49 – Der neue Regelbedarfssatz für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften nach dem AsylbLG.

Gesellschaft für Freiheitsrechte: Muster für eine Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit der Grundleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz, https://freiheitsrechte.org/mustervorlage-asylblg/

Andrea Wierich/Georgi Ivanov

Pauschaler Ausschluss vom menschenwürdigen Existenzminimum

Deutsches Recht vor dem EuGH

Wenig beachtet von der deutschen Öffentlichkeit sprach der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 6. Oktober 2020 ein wichtiges Urteil zum Sozialleistungsausschluss für Unionsbürger*innen, das in der Sache durchaus zu begrüßen ist (Az. C-181/19). Vorangegangen war eine Klage eines polnischen Arbeitnehmers gegen das Jobcenter Krefeld, die vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde. Der Arbeitnehmer lebt seit 2013 mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland und übte 2015 und 2016 mehrere abhängige Beschäftigungen aus, bevor er arbeitslos wurde. Deshalb bezog die Familie von 2016 bis 2017 Arbeitslosengeld und Sozialgeld. Seit 2018 war der Familienvater wieder in Vollzeit erwerbstätig. Er beantragte für das zweite Halbjahr 2017 die Weiterbewilligung der Leistungen beim zuständigen Jobcenter. Dieses lehnte ab mit der Begründung, im fraglichen Zeitraum habe er sich allein zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland aufgehalten und falle somit unter den Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGBII).

Ausschließlich zur Arbeitssuche?

Die sozialrechtlichen Ansprüche von Unionsbürger*innen sind seit Jahren Gegenstand einer juristischen und politischen Debatte, die medial oft durch rassistisch aufgeladene Warnungen vor angeblichem »Sozialtourismus« befeuert wird. Während der EuGH in den 2000er Jahren noch einer auf europäische Freizügigkeit und Solidarität ausgerichteten Rechtsauffassung folgte, ist besonders seit den Urteilen Dano (2014) und Alimanovic (2015) eine deutlich restriktivere Auslegung zu beobachten, die für Unionsbürger*innen existenzielle Konsequenzen hat. Auch Sozialgerichte hatten bis dahin häufig Leistungen bewilligt, die Jobcenter zunächst verweigert hatten.

Im Kern geht es um die Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger*innen auf Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums. Anders als Drittstaatsangehörige haben Unionsbürger*innen das Recht, sich zur Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedsstaat aufzuhalten. Ein weiteres Aufenthaltsrecht gibt etwa die eigene (Aus-)Bildung oder die der Kinder. Der Aufenthaltszweck ist entscheidend für den rechtlichen Status: Nur bei einem Aufenthaltsrecht »allein aus dem Zweck der Arbeitssuche« greift der sozialrechtliche Leistungsausschluss.

Die häufig rassistisch aufgeladenen, regelmäßig von Politiker*innen befeuerten Debatten ebenso wie die genannten EuGH-Urteile führten schließlich dazu, dass Leistungen immer seltener gewährt wurden bzw. erst auf dem Rechtsweg durchgesetzt werden konnten. Was jedoch nichts am rechtmäßigen Aufenthalt von Unionsbürger*innen änderte und deshalb vor allem dazu führte, dass eine ganze Gruppe von Menschen durch alle sozialrechtlichen Netze fiel, also zu verelenden drohte. Dies wurde in der Öffentlichkeit sichtbar etwa dadurch, dass Familien gezwungen waren, in Grünanlagen zu übernachten. Denn ohne SGB-II-Anspruch besteht faktisch oft auch kein Zugang zu Obdachlosenunterkünften oder zur Essensausgabe der Tafeln. Ende 2015 intervenierte deshalb das Bundessozialgericht (Urteil v. 3.12.2015, Az. B 4AS44/15 R): Wenn Unionsbürger*innen keine SGB-II-Leistungen bewilligt werden könnten, dann müsse das Existenzminimum eben über Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGBXII) gesichert werden.

Um diese letzte Möglichkeit auf Existenzsicherung auszuschließen, reagierte die Bundesregierung relativ zügig und legte Ende 2016 ein Gesetz vor, nach dem nicht nur alle Unionsbürger*innen, die sich ausschließlich zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, grundsätzlich für fünf Jahre von sämtlichen Leistungen ausgeschlossen sind, sondern auch ehemalige Arbeitnehmer*innen, deren Aufenthaltsrecht sich aus der Bildung ihrer Kinder ableitet. Denn das ist ein weiterer, sehr häufiger Aufenthaltszweck: Wenn die Kinder in Deutschland die Schule besuchen, gibt es durchaus die Möglichkeit, das als primären Aufenthaltszweck anzusehen. Ab Ende 2016 war nun aber auch diese Gruppe pauschal von Sozialleistungen ausgeschlossen (siehe dazu Janda, Grundrechte-Report 2017, S. 17ff.).

Wer die Schule besucht

Dies ist der Punkt, der nun vom EuGH als nicht europarechtskonform angesehen wurde: Frühere Arbeitnehmer*innen mit Kindern, die weiterhin zur Schule gehen, dürfen wegen ihres Aufenthaltsrechts nach Artikel 10 der Verordnung (EU) 492/2011 nicht pauschal von existenzsichernden Leistungen ausgeschlossen werden. Natürlich ist das für diese Gruppe eine Verbesserung und zu begrüßen.

Das Urteil betrifft indes nur eine von mehreren Personengruppen, die vom Leistungsausschluss betroffen sind. An der Situation von Arbeitssuchenden oder ehemaligen Arbeitnehmer*innen ohne schulpflichtige Kinder ändert sich nichts. Besonders im Fall von Kindern, die jünger als sechs Jahre sind, bleibt die Situation äußerst prekär. Vor allem kann der Leistungsanspruch, der durch dieses Urteil bekräftigt wird, in der Praxis durch die Rechtsprechung von Sozialgerichten oder schon durch Verwaltungshandeln insbesondere der Jobcenter konterkariert werden. In Berlin beispielsweise sind die allermeisten betroffenen Unionsbürger*innen in Notübernachtungen oder Pensionen untergebracht, deren Kosten vom Jobcenter getragen werden. Überweist das Jobcenter nicht oder nicht rechtzeitig, wird ihnen recht schnell damit gedroht, auf die Straße gesetzt zu werden – und vielfach geschieht das auch tatsächlich. Damit endet für die Kinder meist der Schulbesuch, der für obdachlose Menschen kaum zu organisieren ist. Ohne Schulbesuch jedoch entfällt der Aufenthaltszweck. Es entsteht so ein unzumutbarer Druck nicht nur auf die Eltern, sondern auch auf die Kinder.

»Wirtschaftlich aktiv« oder unwürdig?

Hinzu kommt, dass es im Sommer 2019 gesetzliche Änderungen zum Kindergeldanspruch von Unionsbürger*innen gegeben hat. Sie haben diesen Anspruch inzwischen nur noch, wenn sie erwerbstätig sind. Dadurch sind viele vulnerable Personengruppen kategorisch ausgeschlossen, wie beispielsweise kranke Menschen oder Alleinerziehende, die aus verschiedenen Gründen keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben bzw. finden. Dies hat existenzielle Konsequenzen nicht nur für die Eltern, sondern vor allem für die Kinder – in einem Land mit ohnehin viel zu hoher Kinderarmut. Wenn beispielsweise EU-Bürger*innen als Paar mit Kindern hier leben und der Anspruch sowohl auf Kindergeld als auch auf SGB-II-Leistungen an die Erwerbstätigkeit des Mannes gekoppelt ist, weil die Frau nicht erwerbstätig war und ist, da sie sich um die Kinder kümmert, so steht sie im Fall einer Trennung gänzlich ohne Ansprüche da. Es ist schlimm genug, dass in solchen Fällen das Kindergeld die einzig verbleibende Unterstützung war, aber dass sie nun auch noch wegfällt, führt zu einer existenziellen Bedrohung. Man sollte sich deshalb bewusst machen, dass das EuGH-Urteil vom Oktober 2020 zwar zu begrüßen ist, die Gesamtlage aber äußerst prekär bleibt und sich in den letzten Jahren eher verschlechtert als verbessert hat.

Es ist wichtig, immer wieder an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 18. Juli 2012 zu erinnern (Az. 1 BvL 10/10): Es heißt dort, dass Asylbewerberleistungen offenbar so niedrig seien, um Menschen von der Migration nach Deutschland abzuschrecken, und dass eine solche Migrationspolitik mit Mitteln des Sozialrechts verfassungswidrig sei: Das menschenwürdige Existenzminimum »ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«. Dieser Grundsatz muss auch im Umgang mit Unionsbürger*innen gelten. Insofern ist das EuGH-Urteil zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber es gibt immer noch viel zu viele EU-Bürger*innen in Deutschland, die de facto wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden, solange sie nicht »wirtschaftlich aktiv« sind.

Literatur

Janda, Constanze: Die Autonomie der Freizügigkeitsverordnung und das »Gespenst des Sozialtourismus«, in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht  01/2021, S. 3ff.

5 Jahre Dokumentationsstelle Antiziganismus (DOSTA): Ein Rückblick, PDF zum Download auf www.amaroforo.de

Rosemarie Will

§ 217 Strafgesetzbuch (StGB) ist weg

Sterbehilfe, was nun?

Am 26. Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein stark beachtetes Urteil (Az. 2 BvR 2347/15; 2 BvR 651/16; 2 BvR 1261/16) zur Selbstbestimmung beim Sterben gesprochen. Danach schließt das Recht auf selbstbestimmtes Sterben aus Artikel 2 Absatz 1GG i.V.m. Artikel 1 Absatz 1GG die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Dazu gehöre auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Der 2015 verabschiedete § 217 StGB zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung wurde für verfassungswidrig erklärt und aufgehoben. Anders als juristische Laien annehmen, verbot § 217 StGB nicht nur, Geschäfte mit der Sterbehilfe zu machen, sondern jegliche Form organisierter oder professionalisierter Sterbehilfe, auch wenn sie uneigennützig erfolgte. Weder Sterbehilfe-Vereine noch Ärzte durften danach Suizidassistenz leisten (vgl. Rosemarie Will, Das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidhilfe, eine verfassungswidrige Grundrechtseinschränkung, Grundrechte-Report 2016, S. 48ff.).

Die Grundrechte als Maßstab für Verbote der Sterbehilfe

Es bedurfte vieler Jahre bürgerrechtlichen Engagements, bis der Gesetzgeber 2009 endlich einen ersten Anlauf zur gesetzlichen Regulierung der Sterbehilfe wagte und die gesetzliche Anerkennung von Patientenverfügungen, mit denen ausdrücklich auch das Recht auf Nicht-Behandlung (passive Sterbehilfe) sowie auf eine vorrangig schmerzlindernde Behandlung (u.U. indirekte Sterbehilfe) festgeschrieben wurde. Die Humanistische Union hatte seit 1973 als erste Bürgerrechtsorganisation die Patientenverfügung gefordert; bis zur gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung waren alle Sterbehilfeformen nur von der Rechtsprechung als Richterrecht anerkannt worden, weil mutige Menschen ihre Grundrechte vor den Gerichten auch beim Sterben eingefordert hatten. Jeder bleibt bis zuletzt Grundrechtsträger und muss selbst entscheiden dürfen, wie er sterben will, wie lange er behandelt werden will und wie lange er das Sterben aushält. Zur Pluralität unserer Lebensentwürfe gehört längst die Pluralität unserer Vorstellungen von einem würdevollen Tod. Das Urteil gegen § 217 StGB ist wichtig, weil es konsequent das Selbstbestimmungsrecht beim Sterben gegen den Strafgesetzgeber durchgesetzt hat. »Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird. […] Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht. […] Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum ureigensten Bereich der Personalität des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden. […] Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz …« (Rn. 210).

Die Kirchen hatten in ihrer Stellungnahme zum Verfahren vertreten, dass das Selbstbestimmungsrecht kein absolutes Verfügungsrecht über das eigene Leben umfasse. Sie haben deshalb das Urteil scharf kritisiert und unterstellt, dass die individuelle Entscheidung zu Krankheit und Tod nach eigenen Maßstäben das ethische Fundament unserer Gesellschaft untergrabe.

Nach dem Urteil ist vor dem neuen Gesetz

Mit der Aufhebung von § 217 StGB ist die Suizidassistenz nun wieder straflos. Dagegen ist die Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB wie bisher weiter strafbar. Versuche, die Freiverantwortlichkeit des Suizidenten einzuschränken oder zu beeinflussen, können wie bereits vor Einführung des § 217 StGB als Tötungsdelikte geahndet werden. Das Urteil hat klargestellt, dass die Freiheit der Selbsttötung und der Suizidassistenz nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Ausdrücklich verboten wird dem Gesetzgeber, die Zulässigkeit einer Hilfe zur Selbsttötung materiellen Kriterien zu unterwerfen; sie also etwa vom Vorliegen einer unheilbaren Krankheit abhängig zu machen (Rn. 340). Es beschränkt staatliche Interventionen auf den Schutz der Selbstbestimmung; diese kann durch medizinische und pharmakologische Qualitätssicherung und durch Missbrauchsschutz ergänzt und gesichert werden (Rn. 338). Weil das Urteil aber neue strafrechtliche Regelungen nicht ausschließt, wird nun erneut diskutiert, welche Formen von Suizidassistenz man strafrechtlich verbieten sollte.

Um nicht die Fehler von § 217 StGB zu wiederholen, sollte zunächst das Wirken der in Deutschland tätigen Sterbehilfe-Vereine »Sterbehilfe Deutschland« und »Dignitas Deutschland« analysiert und transparent gemacht werden. Nur wenn dies zum Ausgangspunkt gesetzgeberischer Überlegungen gemacht wird, kann ein Regelungskonzept entstehen, das von den tatsächlichen Erfahrungen und nicht von willkürlich angenommenen beim assistierten Suizid ausgeht. Letztlich sollte von neuen strafrechtlichen Regelungen abgesehen werden, weil das bereits vorhandene Strafrecht die Selbstbestimmung des Suizidwilligen ausreichend schützt.

Kein neues Strafrecht, sondern den Schutz der Selbstbestimmung beim Sterben stärken

Wer sich für einen assistierten Suizid entscheidet, braucht professionelle Beratung und Hilfe und auch ein geeignetes Medikament, das er oder sie legal erwerben kann.

Nach der Aufhebung von § 217 StGB steht dem immer noch entgegen, dass es Ärzt*innen berufsrechtlich verboten ist, beim Suizid zu assistieren, und dass der Bundesgesundheitsminister sich weigert, den legalen Erwerb eines Medikamentes zur Selbsttötung zu gestatten.

Zehn der 17 deutschen Landesärztekammern haben ein Verbot der Suizidassistenz in ihren Berufssatzungen geregelt; fünf Satzungen kennen kein Verbot, zwei Satzungen enthalten Vorgaben, dass Ärzt*innen nicht beim Suizid assistieren sollen. Ärzt*innen sind aber nicht nur wichtige und geeignete Ansprechpartner für Suizidwillige, sondern auch besonders geeignet, professionell zu beraten und beim Suizid zu assistieren. Die berufsrechtlichen Verbote verhindern dies. Dem Urteil zu § 217 StGB ist zu entnehmen, dass das BVerfG die in den Berufssatzungen verankerten Verbote zur ärztlichen Suizidassistenz für verfassungswidrig hält (Rn. 294). Deshalb müssen die Landesärztekammern nun ihre Verbote aufheben.

Auch die Zugänglichkeit geeigneter Medikamente ist ein großes Hindernis für die Suizidhilfe. Das Bundesverwaltungsgericht hatte 2017 in einem aufsehenerregenden Urteil (3 C 19.15) für eng begrenzte Ausnahmefälle die Zugriffsbeschränkung nach dem Betäubungsmittelgesetz außer Kraft gesetzt und den Erwerb eines tödlich wirkenden Medikaments (Natrium-Pentobarbital) für rechtens erklärt. Über dieses Urteil und die anhaltende Weigerung des Bundesgesundheitsministeriums, das Medikament an sterbewillige Menschen abzugeben, wurde im Grundrechte-Report 2018 berichtet (Rosemarie Will: Kein Ende des jahrzehntelangen Rechtstreites zum Erwerb eines Medikamentes zur Selbsttötung, S. 17ff.).

Die Streitfrage, ob der Staat den Zugang zu tödlichen Medikamenten ausnahmslos verbieten darf, wurde mit dem Urteil des BVerfG vom 26. Februar 2020 zwar nicht entschieden. Gleichwohl muss man nun davon ausgehen, dass ein absolutes staatliches Verbot der Abgabe tödlicher Medikamente verfassungswidrig ist, weil es den Weg eines medizinisch kontrollierten, schmerzfreien und menschenwürdigen Suizids verbaut und damit die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts faktisch verhindert. Der Staat kommt demnach nicht umhin, den Zugang zu dem Medikament (unter Auflagen) zu ermöglichen.

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit

Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Laura Mench

Selbstbestimmung unter Vorbehalt

Das Intensivpflegestärkungsgesetz gefährdet die Rechte von Menschen in häuslicher Intensivpflege

Am 23. Oktober 2020 wurde das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (kurz: GKV-IPReG) unterzeichnet. Damit trat ein Gesetz in Kraft, gegen das sich – soweit es die häusliche Intensivpflege betrifft – nicht nur betroffene Beatmungspatient*innen monatelang gewehrt hatten. Es schränkt sie massiv in ihrem Recht auf Selbstbestimmung ein.

Ein Blick zurück: Im Frühsommer 2018 wurden mehrere Fälle von Abrechnungsbetrug in der häuslichen Intensivpflege bekannt. Dabei sollen nicht ausreichend qualifizierte Pflegekräfte für die teils hochkomplexe Versorgung von Beatmungspatient*innen verantwortlich gewesen und als Fachkräfte für Intensivpflege abgerechnet worden sein. Abgesehen von dem Schaden für die gesetzlichen Krankenversicherungen, erschienen vor allem die Patient*innen durch die mangelnde Qualifizierung des Personals gefährdet, da ihre Versorgung nicht gesichert war. Prompt reagierte das Gesundheitsministerium und zimmerte unter dem Namen »Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz« (GKV-RISG