Grüne Zeiten - Walter Klier - E-Book

Grüne Zeiten E-Book

Walter Klier

4,9

Beschreibung

Walter Klier erzählt in Grüne Zeiten die turbulente Geschichte des Erwachsenwerdens einer Generation. Die Wohngemeinschaft um Martin Rauch bildet die Kulisse zum studentischen Lebensgefühl der beginnenden achtziger Jahre: Man denkt grün, liebt sich und streitet - über Politik und Zukunft, über Mülltrennung und die Pieselfrage: Darf man als emanzipierter Zeitgenosse im Stehen pinkeln? Ein humorvoller und feinsinniger Roman über die Verführungskraft idealistischen Denkens und die Loslösung von der Schönheit der Illusion.

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Walter Klier

Grüne Zeiten

Roman

Was für eine Zeit! Die Finsternis der Jugend hatte sich gelichtet. Wir lebten in einer großen Wohnung in einem schönen alten Haus. Wir tranken schlechten Wein und aßen ziemlich unregelmäßig. Der Fortschritt war fast schon besiegt, und es war unser Werk. Wir waren Teil einer Bewegung. Wir waren der neue Mensch. Wir gingen spät schlafen und kamen am Morgen nicht aus dem Bett. Wir dachten nicht und fühlten richtig, sagt Betty, wenn wir über damals reden.

Jeb Lawson,A Time in Waiting

1

Wenn er nur still hielt, erledigte manches sich von selber. Das war schon mit sieben so gewesen, als Martin Rauch zur ersten heiligen Beichte viel zu spät kam, so dass alle anderen, auch der Pfarrer, längst gegangen waren. Die Kirche war nachmittäglich leer und dunkel, und eine Zeitlang stand er hinten und überlegte, was hier zu tun wäre. Schließlich machte er sich einfach aus dem Staub, hinaus auf die weite, sonnenwarme Straße, wo ihm gleich viel wohler war. Als die Mutter ihn fragte, wie es gewesen sei, sagte er: «Gar nicht so schlimm.» Je näher der Tag der Erstkommunion rückte, desto mehr beunruhigte ihn die Angelegenheit. Er würde das Sakrament ja nun im Stand der Sünde empfangen; er fand allerdings keinen Weg, dem Missstand abzuhelfen. Dann war es so weit, und er stand in blauem Blazer und neuer grauer Hose mit den anderen in Zweierreihe vor der Kirche, in einer separaten Zweierreihe daneben, überirdisch weiß, die Mädchen. Er schob den Moment, an dem er aus der Reihe treten und den bereits im Ornat befindlichen und unaufhaltsam an der Feierlichkeitsschraube drehenden Stellvertreter Gottes oder wenigstens den nicht ganz so furchteinflößenden Kooperator ansprechen würde, immer weiter hinaus. Schließlich begann die Messe, und damit war die Lage ausweglos geworden. Auf die Gefahr hin, eine beträchtliche himmlische Strafe aufgebrummt zu bekommen, nahm er die Hostie, einfach so wie alle anderen, in seinen unverändert mit der Erbsünde behafteten Leib auf und versuchte sich nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott möglichst unauffällig zu verhalten. Er würde das irgendwie ins Lot bringen. Doch bei der nächsten, für ihn ersten Beichte konnte er sich nicht überwinden, mit der eminenten Verfehlung herauszurücken, und begnügte sich mit dem Geständnis, die Fastengebote übertreten, die Eltern beschwindelt und den Namen des Herrn unnötigerweise in den Mund genommen zu haben.

Mit zwölf verlor er das Interesse an der Religion und begann stattdessen Briefmarken zu sammeln. Das ging ungefähr bis fünfzehn gut. Da begann, was auf dem Rücken eines von der Großmutter übriggebliebenen Romans aus alter Zeit so treffend Die Jagd nach Liebe hieß, die sich bei ihm anscheinend ungewöhnlich in die Länge zog. In der Woche, als er die mündliche Reifeprüfung bestand, wurden im Spiegel die neuesten Daten über Jugendsexualität veröffentlicht. Er studierte sie genau. Es waren anschauliche Kurven, die klarmachten, in wie rarer Gesellschaft er sich befand, wenn er mit achtzehn noch nicht das Vergnügen gehabt hatte.

Nach der Matura kam das Militär, und dann kam die Freiheit. Die Universität erleichterte den Kontakt zum anderen Geschlecht, im Vergleich zum Knabengymnasium, doch erheblich. Zumindest in so unmännlichen Fächern wie Deutsch und Englisch, dem Stufenbarren unter den Geisteswissenschaften, war die Frau zahlenmäßig gleichgestellt. Mit den Kolleginnen ins Gespräch zu kommen, die ihrerseits dasselbe Problem hatten, bedurfte es keiner besonderen Listen, und es ergab sich zwanglos, dass man nach der Vorlesung mitsammen ins Café Thaler ging. Auf den kleinen runden Tischen breiteten sie ihre konfusen Mitschriften aus. Vielleicht würde man den Rätseln der hochdeutschen Lautverschiebung hier auf die Spur kommen. Die festverschraubten stumpfbraunen LederimitatBänke im Stil der sechziger Jahre hatten in regelmäßigen Abständen blankgewetzte Dellen. Die waren im Gegensatz zum Rest glänzend rot und gaben an, wo genau man sich zu setzen hatte. Die Zigarettenasche landete – man war noch ungeübt – nie im Aschenbecher, sondern wanderte vom Schreibblock auf die gelbe Resopaloberfläche und mischte sich dort mit den Coca-Cola-Ringen und Kaffeeresten zu einem Klebstoff, der mit den Ellenbogen großzügig verteilt wurde.

Im ersten Jahr machte Martin Rauch die Bekanntschaft einer Anzahl kleiner, dünner, streberhafter Vorarlbergerinnen und ebensolcher, doch an ihrem Studienfach auffallend desinteressierter Südtirolerinnen, die sich nicht nur nicht für die Literatur jenseits der Leselisten, sondern auch nicht fürs Kino oder den Jazz begeistern konnten. Und wenn, dann war diese Begeisterung durchsichtig, oberflächlich, es fehlte das banalste Grundlagenwissen.

Es gab eine Ausnahme, Elisabeth Berghofer, von Freunden Betty gerufen. Sie stammte nicht aus den genannten Ländern, sondern aus Oberösterreich, und trug als einziger Mensch ihrer Zeit keine grüne Parka, sondern eine braune, etwas abgeschabte Lederjacke. Das verlieh ihr, zusammen mit den randlosen Brillen, dem gescheitelten, halblangen, straff nach hinten gebundenen Haar und ihrer tadellosen linken Gesinnung etwas Strenges, um nicht zu sagen Politkommissarhaftes: ein Eindruck, der gleich verflog, wenn die Rede auf ihre Lieblingsautoren kam, George Eliot oder Jane Austen, von denen sich Rauch umso lieber erzählen ließ, als er sie selber nicht gelesen hatte. Er versuchte mit Flaubert und Marcel Proust zu punkten, doch bei letzterem wurde es Elisabeth zu bürgerlich-dekadent.

In jedem Fall war sie außer Reichweite, nämlich in einer festen Beziehung. Er sah sie manchmal mit diesem Menschen Arm in Arm auf der Straße gehen, den er nicht leiden konnte, obwohl er ihn gar nicht kannte. Dabei hätte er ihm dankbar sein müssen und war es insgeheim auch. Bettys Freund, politisch noch strikter als sie, bewahrte ihn vor der Zumutung, eine Annäherung im Ernst zu unternehmen. Sie nahm ihm auch dann den Mut, wenn sie, zwischendurch unstreng, in ihr raumfüllendes Lachen ausbrach, das sie größer wirken ließ, als sie war, nämlich fast so groß wie er und eindeutig größer als die vielen fleißigen Kolleginnen, die sich ohne Zweifel innerhalb der Mindeststudiendauer (welch ein Wort) zu hundertprozentig systemerhaltenden Gymnasiallehrerinnen fortentwickeln würden.

Im dritten Semester absolvierte Rauch das erste Seminar. Es handelte von den Methoden der deutschen Literaturwissenschaft, und man war angehalten, sich Gedanken über das Handwerkszeug der Wissenschaft und dessen richtigen Gebrauch zu machen. Für die vierköpfige Referatsgruppe, in der er sich befand, war das Endergebnis dieser Reflexion ein Mordsstreit mit den damals noch intellektuell regen und stets wachsamen Marxisten. Deren geistliches Oberhaupt, Morak, ein höheres Semester mit langem Haar, Bart und Krankenkassenbrillen, der die Parka auch in gutbeheizten Räumen nie ablegte, um bereit zu sein, sollte die Revolution überraschend losbrechen, war fassungslos, zu welch erzreaktionären Ansichten sie da in ihrer heiligen Einfalt gelangt waren. Die Literaturwissenschaft habe die Aufgabe, zu einer allgemeinen Bedeutung des jeweiligen Textes zu gelangen, etwas, das sie «umfassende Interpretation» nannten. Der Begriff stammte von Rauch, und er war sehr stolz darauf gewesen. Dieser Stolz verlor sich ohne Rückstände in dem Gebrüll und Gezeter, das den Hörsaal füllte. Der Dozent verlor die Kontrolle über das Geschehen, und Rauch, Mumelter, Mair und Niedermeyer kamen über die einleitenden Bemerkungen nie hinaus. Der Professor, dem sie später die schriftliche Fassung des Referats vorlegten, dachte glücklicherweise gleich altmodisch wie sie.

Betty Berghofer lachte schallend, als er von dem Eklat erzählte, und sagte, ihn müsse man tatsächlich ins Museum für spätbürgerliche Ausnahmeerscheinungen stellen. Sie hatte inzwischen von der Germanistik zur Geschichte gewechselt. So sahen sie sich seltener, da er seinerseits die Anglistik wegen schwer erträglicher Langweiligkeit boykottierte; doch wann immer sie sich trafen, mussten sie auf ein Stündchen ins Café Thaler oder, als dieses zugesperrt wurde, notgedrungen gegenüber ins biedere Murauer.

Bettys feste Beziehung hatte sich mittlerweile wegen Differenzen über die führende Rolle der kommunistischen Partei (die sie nicht akzeptierte) in eine unfeste verwandelt. Allerdings war von ihr selber dazu nichts zu vernehmen. Sie legte in den Schwung, mit dem sie sich das Haar aus dem Gesicht fegte, zwar alle Verachtung der Welt für konventionelle Tugenden und Vorschriften, doch folgte für sie daraus nicht, dass das eigene Intimleben vor anderen Leuten ausgebreitet zu werden hatte. Im äußersten Fall sagte sie: «Das soll jeder halten, wie er will.» Folgte der bekannte Haarschwung, manchmal mit Hilfe der rechten Hand ausgeführt, manchmal ohne, und der dünne weiße Strich des Mittelscheitels glänzte streng.

Das Methodenseminar verhalf Martin Rauch nicht nur zu einem Schein, wie die Bestätigung für den positiven Abschluss einer Lehrveranstaltung in der Verwaltungssprache hieß, sondern auch zur langersehnten Frau fürs Leben, zumindest zu deren Bekanntschaft. Sie hieß Viktoria, und er belagerte sie in diesem Winter beharrlich. Da sie Kaffeehäuser verabscheute, musste er sich alles Mögliche ausdenken, damit er sie daheim besuchen konnte. Sie wohnte in einem winzigen Zimmer am anderen Innufer, in der Gilmgasse, wo es immer zu kühl war und drunten die Autos vorbeibrausten, dass die Scheiben klirrten. Aus dem Kassettenrecorder tönten Georges Brassens und Jacques Brel, mit deren Leben und Werk er sich nun vertraut machte, obwohl er sonst ausschließlich für Jazz zu haben war. Von der so unbestimmten wie umfassenden Traurigkeit der Studienanfänger erfüllt saßen sie beisammen und tranken Tee und redeten. Wie man den kleinen Schritt vom Reden zum Tun bewerkstelligen sollte, blieb ihm weiterhin ein Rätsel.

Noch im Februar versuchte sie sich während eines endlosen nächtlichen Heimwegs von einem Fest mit einem «Bleiben wir einfach Freunde» aus der Affäre zu ziehen. Aber Martin nahm nach Wochen dumpfer Resignation die Belagerung unverdrossen wieder auf. Aus Gründen, die ihm selber nicht klar wurden, durfte es nur sie und keine andere sein. Nicht dass eine andere irgendwo in Sicht gewesen wäre.

Erst im milden Monat Mai kriegte er sie herum. Da gingen sie an lauen Abenden am Inn entlang, die jahreszeitlich bedingt leichtere Kleidung wird ein Übriges getan haben, die jugendliche Verstiegenheit zu überwinden, und Mitte Juni war es so weit. Er blieb eine Nacht über bei ihr, und wenn es dabei auch in sorgfältiger Aufrechterhaltung letzter Schamgrenzen nicht zum Äußersten kam, so konnte er doch mit einigem Recht davon ausgehen, dass der Großteil des Rückstands auf die Altersgenossen mithin aufgeholt war.

Das Semester ging zu Ende, ein Tag war heißer und sommerlicher als der andere, und er konnte weitere drei Nächte in ihrem Bett verbuchen. Am Morgen ging es im Galopp nach Hause, mit einer Mischung aus Stolz und Peinlichkeit an allfällig anwesenden Familienmitgliedern vorbei, das Bergzeug herausgeholt und allein, frei und jubilierend hinaus in die Natur, hinauf ins Gebirg und im Alleingang haarsträubende Touren wie denGipfelstürmerwegauf die Kleine Ochsenwand begangen. Schlafen konnte man in höherem Alter.

Er verlegte sich dann mehr auf die Sprachwissenschaft, die ihm seriöser vorkam als die Literaturwissenschaft, mit oder ohne Marx und Morak. Auf dem kleinen, schläfrigen Institut mit den staubigen, grauen Leuten fand er eine Geborgenheit, die in dem massenuniversitären Durchhaus der Germanistik oder der Anglistik kaum denkbar war. Da saß man zu zweit in der Vorlesung Indogermanische Sprachen in unvollständiger oder relikthafter Bezeugung, und Professor Meidlinger sprach nur für sie zweieinhalb Stunden nonstop, in den Kunstpausen pfauchend und schnaufend und mit leicht aufgeblasenen Backen wie ein gutgelaunter Kater. Er sprach frei und fixierte ohne Ausnahme eine der Zimmerecken, schaute seine zwei Hörer nur zu Beginn und Ende der Veranstaltung einmal kurz an, und dazwischen malten sie beflissen Reihen von Wörtern ab, die es womöglich nie gegeben hatte, Rauch und der hagere, abenteuerlich stotternde Francesco Böhm, der alle gängigen Theorien über die Entstehung der menschlichen Sprache für Humbug hielt. Seine eigene Theorie dazu würde er in absehbarer Zeit präsentieren. Vorderhand wollte er davon offenbar nichts verraten.

Dann fuhr Martin Rauch für elf Monate ins Ausland. Die Zeit in Dundee, der Industriestadt an der schottischen Ostküste, verdankte er Viktoria. Die Liebe war groß und schwer zwischen ihnen am Gedeihen und am Schwanken; trotz alledem verlangte sie von ihm, sich für das Assistentenjahr zu bewerben, das ihnen als Fremdsprachenstudenten offenstand. Für sie, so sagte sie, war das der Beginn ihres eigentlichen Lebens gewesen. So riss er sich unter grässlichen Trennungsschmerzen los und lebte elf Monate dort im Norden mit einem fahrigen Franzosen und einem cholerischen und kälteempfindlichen Spanier in einer Wohnung, die mindestens so unwirtlich war wie die Viktorias in der Gilmgasse, versuchte sich als pädagogische Hilfskraft und trank eindeutig zu viel.

Ohne sie war es kaum auszuhalten, von den Mühen des Lebens in der Fremde ganz abgesehen, aber sie hatte recht: Man wurde so erst ein richtiger Mensch.

Im Frühjahr fuhr er mit befreundeten deutschen und französischen Assistenten zusammen nach Torness, einem Ort bei Edinburgh, wo sie mit tausenden anderen drei Tage lang gegen den geplanten Bau eines Atomkraftwerks demonstrierten. Am erstaunlichsten war, dass die Polizei, anstatt die Demonstranten zu verprügeln, den vom Stocken bedrohten Verkehr regelte und mit dem Besitzer des Feldes verhandelte, damit sie dort kampieren durften. Sie aßen pampigen Naturreis von Plastiktellern, gingen von einem Stand zum anderen, wo zwischen Baghwans und Punks, zwischen Radikalfeministinnen und Trotzkisten der Supermarkt der kommenden und gehenden Ideen gut bestückt war. Am Abend saßen sie am Lagerfeuer nicht weit vom Meer und leerten die mitgebrachten Bierdosen und Whiskyflaschen. Dieser besonderen Art von freudiger Erregung, dem Aufgehobensein in einem größeren, guten Ganzen war Martin Rauch zum ersten Mal zwei Jahre zuvor begegnet.

Er hatte eine Reportage über die linken Anthroposophen gelesen, deren Zentrum sich in Achberg bei Lindau befand. Zu dritt fuhren sie dorthin und ließen sich die «Projekte» zeigen und erklären; verzaubert von dem Vorhaben, den Geist von Achtundsechzig mit der Geheim- und sonstigen Wissenschaft des Doktor Rudolf Steiner zu vermählen, dort auf dem Land, in den grünen Hügeln hinter dem Bodensee, saßen sie in der Teestube und lauschten dem weißhaarig-löwenmähnigen Peter Schilinski, wie er verkündete: «Die letzte freie Universität ist die Kneipe; da werden bloß die Scheißhäuser und die Gläser kontrolliert.»

Beim Abschied waren sie überrascht, wie viel die Erneuerer der Menschheit für das dreimalige Zelten auf der Wiese hinterm Haus verlangten. Doch irgendwo musste das Geld herkommen, für die Arbeit des Vernetzens, die Bücher, Zeitschriften, Kongresse. Viel wichtiger aber war die menschliche Ausstrahlung dieser Leute, deren Begeisterung, zumindest für eine Zeitlang, auf Martin und seine Freunde übergriff. So fiel er dem Buchhändler Stefan mit der Forderung auf die Nerven, Rudolf Steiners gesammelte Werke ins Sortiment zu nehmen und dazu die Schriftenreihe der Achberger, insbesondere die Sachen über den «Dritten Weg» (zwischen Kapitalismus und Kommunismus). Stefan hatte die Buchhandlung Pegasus gerade eröffnet, in einem winzigen Geschäftslokal draußen in der Amraser Straße, und er lachte bei Rauchs sozusagen mit glühenden Wangen vorgetragenen Ausführungen. Er sagte, «Das darfst nicht so verbissen sehen», und dann hielt er Rauch eine kurze Vorlesung über Habermas und die Theorie des kommunikativen Handelns, worüber er gerade im Begriff war seine Dissertation zu schreiben.

Martin Rauch war unter den Gründern des Lesekreises «Die Dreigliederung des sozialen Organismus», dem er selber nach dem dritten Abend fernblieb, Viktoria schon nach dem ersten. Doch die Drachensaat sollte, mit einiger Verspätung, prächtig aufgehen. Viktoria, die sein Engagement mit distanziertem Hochmut verfolgt hatte, begann sich, während er in Schottland war, für die Anthroposophie zu interessieren. Damit war es auf längere Sicht nicht nur um ihren Agnostizismus, sondern auch um die Liebe zwischen ihnen geschehen. Sie zog nach Stuttgart, um die Lehrerausbildung für Waldorfschulen zu machen. Da hatte sie sich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass sie beide trotz aller Differenzen in den kleinen, mittleren und auch großen Dingen des Lebens letztlich für einander geschaffen seien, während er nach schwerem innerem Kampf von eben dieser Meinung wiederum abgekommen war, die er gehegt hatte, seit sie einander im Rahmen der Methoden der deutschen Literaturwissenschaft über den Weg gelaufen waren.

Zudem lernte er, von der fernen Viktoria unbemerkt, in jenem Herbst Charlotte kennen und rasch als «erste normale Frau» in seinem Leben schätzen und, weniger rasch und schließlich, wie immer, sich ihrer Initiative überlassend, lieben. Charlotte büßte er allerdings ziemlich bald wieder ein. Sie desertierte zu einem ehemaligen Jugend-Staatsmeister im Kunstturnen, Spezialgebiet Seitpferd, der im Zivilberuf eine Sparkassenabteilung leitete. Im Weiteren verzettelte sich das Rauchsche Liebesleben in seltene, so unübersichtliche wie unbefriedigende Beziehungs-Kurzgeschichten, deren letzte, eher eine Anekdote von Kleistscher Knappheit, jene mit einer gewissen Franziska war, die aus einem Abend, einer Nacht und einem Morgen bestand und wovon wegen der für beide Seiten eminenten Peinlichkeit, ja Unerfreulichkeit des Ereignisses, oder soll man Zwischenfall sagen, hier nicht weiter die Rede sein soll.

2

Martin Rauch zog nicht im Streit von daheim aus. Er blieb in der Stadt zurück, als die Eltern, bei nahender Pensionierung, sich ihren Lebenstraum erfüllten. Sie kauften sich ein Haus am Stadtrand, thujenumwachsen und schuldenfrei. Das Zimmer, das sie Martin dort einrichteten und für ihn freihielten, bezog er nie.

Er traf nämlich um diese Zeit wieder einmal Betty Berghofer, seine Sonne trüber Montagvormittage zwischen Altenglisch und der Hauptvorlesung, im Café Murauer. Sie hatte noch die restlichen vier aus der Vormittagsration Flirt Filter zu rauchen, und nachdem sie und Martin einiges über die Stumpfsinnigkeit der gesamten Kollegen- sowie Professorenschaft zu Protokoll gegeben hatten, berichtete sie von einer neu zu begründenden WG, die noch ein – wegen der Geschlechterparität – männliches Mitglied suchte, eine Formulierung, die im Sinne der Glieder- und Geschlechterbewusstheit der Epoche schon als pleonastisch zu bezeichnen war.

«Ich kann dich vorschlagen», sagte sie. «Du musst dich dann mit uns treffen, damit wir sehen, ob wir alle zueinanderpassen.»

Das klang gruselig, und an Schauergeschichten vom Leben in den Wohngemeinschaften herrschte kein Mangel. In 15 William Street, Dundee, hatte er selber einige zu Herzen gehende Erfahrungen machen können. Betty schien ihm dafür zu garantieren, dass es dort, wo sie mit von der Partie war, nicht gar zu schlimm würde. In jedem Fall schauderte ihn bei der Vorstellung, im gepflegten elterlichen Heim sozusagen alt zu werden, mehr als alles andere. In Egerdach bestand akute Gefahr, den Geist der Zeit aus den Augen zu verlieren.

Alle vier Großeltern Rauch stammten aus dem Dreieck zwischen Wien, Prag und Brünn und hatten, als letzte Erben der habsburgischen Monarchie, von dort eine relativ städtische Kultur mitgebracht, den selbstgewissen Besitz einer halbverschütteten klassischen Bildung, die keiner Ergänzung mehr bedurfte. Diese urbane Kultur hatte sich, nach Martins und seiner Schwester Magdalena übereinstimmender Ansicht, unter den Händen der Elterngeneration während der Jahrzehnte hier im Gebirge in eine relativ ländliche verwandelt in dem Maß, wie sie sich Sitten, Gebräuche und vor allem die Sprache des zweitwestlichsten Bundeslandes aneigneten, ja in sich aufsaugten. Das Bergsteigen, das die Eltern gemäßigt betrieben, der Sohn exzessiv, fiel hierbei unter «Sitten und Gebräuche».

Magdalena ging nach der Matura nach Wien und schickte sich an, die inneralpine Verländlichung rückgängig zu machen, was sie aber nicht nur dem Bruder, sondern auch, auf andere Weise, den Eltern entfremdete. Sie sahen grüne Haare und ultrakurze schwarze Lederröcke bei Frauen nicht als Signale wiedergewonnener Höhe, sondern als Absturz in die Barbarei, vielleicht sogar die Hölle der Drogenszene.

Dass Magdalena sich mit Elan der gebirglerisch harschen Reibelaute und Affrikaten entledigte und sich sprachlich an den neunzehnten Wiener Gemeindebezirk assimilierte, machte ihre modische Extravaganz nicht wett, sondern verschlimmerte das Ganze bloß. In jenen Jahren wurde sie in der Familien-Gesamtbilanz als verlorene Tochter geführt, was zusammen mit des Sohnes Weigerung oder Unfähigkeit, sich zügig zum Universitätsprofessor weiterzuentwickeln, zu einer gewissen Verdüsterung bei den älteren Rauchs führte, die durch die Freude am Eigenheim nur gerade eben wettgemacht wurde. Erst als sie sich einen Hund, eine Tiroler Bracke namens Wasti, anschafften, kamen sie dem seelischen Gleichgewicht wieder näher.

Martin Rauch bestand die Aufnahmeprüfung in die geplante WG, und bald darauf zog er in die Gilmgasse.

Ein paar Häuser oberhalb der Bruchbude, in der Viktoria gewohnt hatte und wo er in dem winzigen dunkelgrün gestrichenen Zimmer zur Straße im Getöse des Autoverkehrs eines lauen Junimorgens endlich seine Unschuld verloren hatte, gab es eine weitere Bruchbude. Die Nummer siebzehn war eine Villa auf halber Höhe der Gasse, ein quadratischer Bau mit großem, wild wucherndem Garten nach Westen und Norden, einer Mauer mit Torbogen gegen die Gasse und einem Türmchen auf der Spitze des pyramidenförmigen Daches. Das Haus war ein schönes Haus, vor fast zweihundert Jahren hatte es sich ein wohlhabender Arzt bauen lassen. Später war es einige Male verkauft und zuletzt unter verschiedene Erben aufgeteilt worden, die die Wohnungen vermieteten und sich selbst über kleine Reparaturen nie einigen konnten, geschweige denn über Renovierung oder Verkauf. Niemand fühlte sich für das Ganze verantwortlich, und so sah es auch aus: sehr romantisch, wie Besucher oft bestätigten. Auch die WG-Mitglieder selber fanden es romantisch, obgleich das Wohnen mit manchen Strapazen behaftet war, etwa der Unmöglichkeit, die Räume ordentlich zu beheizen.

Das Haus war kunsthistorisch wertvoll; die wichtigste Sehenswürdigkeit im ersten Stock stellte die Stuckdecke in Peters (vormals Annemaries, vormals Katrins) Zimmer dar. Eines Morgens um halb neun stand der für den Vormittag avisierte oberste städtische Denkmalschützer, Herr Hofrat Candolini, mit einer Gruppe Studenten bei Peter im Zimmer; dem war es noch gelungen, den Bademantel überzuwerfen, und während der Besuch die gut erhaltene Original-Stukkatur von 1799 oder 1805 (die Quellen widersprechen sich da) erklärt bekam und betrachtete und sich konfuse und später nicht mehr entzifferbare Notizen machte, wie es die Art der Studenten ist, suchte Peter zwischen ihren Füßen die verstreut liegenden Kleidungsstücke zusammen, um sich endlich ins Bad verdrücken zu können. In späteren Jahren wurde die Wohnungs-Heldensage weiter ausgeschmückt: mit überquellenden Aschenbechern, halbleerer Weinflasche neben dem Bett, nackter Freundin im Bett und was sonst geeignet wäre, Kunsthistorikerinnen im dritten Semester zu verstören.

Die Verwahrlosung des Hauses ging zu dieser Zeit bereits in Verfall über. Unter anderen Umständen wäre der ehemals elegante Bau einfach abgerissen worden. Das verhinderte der Herr Hofrat, der an dem Ensemble einen Narren gefressen hatte, und alles blieb, wie es war. Der Putz bröckelte und das Mauerwerk, das darunter zum Vorschein kam, ebenfalls, das Dach wurde manchmal notdürftig geflickt, und vor allem an der straßenseitigen Fassade wuchs die Schicht aus Ruß, Staub und Taubendreck immer dicker an.

Unten stand eine Wohnung leer; sie gehörte, wie es hieß, jemandem, der in Amerika lebte. In der anderen wohnte Frau Erna Schintlholzer, Hausbesorgerin, fortgeschrittenen Alters und mit wechselnden Lebensgefährten. Dem vorläufig letzten, der sich an einem Sommerabend hatte trollen müssen, war durch den Hausgang hinterhergeschallt: «Auf dein Grab geh ich nie!» Er hatte zurückgerufen: «Dafür geh ich auf deins!»

Der Art, wie Schintlholzer ihre Liebesgeschichten handhabte, galt die ungeteilte Bewunderung des weiblichen Teils der WG. Dass die alte Dame von ihrem emanzipierten Privatleben abgesehen eindeutig unter dem Stichwort Faschistin abzuheften war, trübte ihr Image nur geringfügig.

Im zweiten Stock, in der lauten Ostwohnung, wohnte das Ehepaar Kapinski. Beide etwas Mittleres beim Stadtmagistrat, hatten sie vier Jahrzehnte Berufsleben offenbar ganz unverbraucht überstanden und lebten nun pensioniert so ruhig und unauffällig wie zuvor. An Kindes statt besaßen sie drei Katzen, gleich alt, gleich groß und grau getigert, ehemals männlichen Geschlechts. Sie waren nur von Fachleuten mit einiger Sicherheit zu unterscheiden, hießen Kaspar, Melchior und Balthasar, was Schintlholzer für blasphemisch hielt, und bildeten den Kitt im Sozialgefüge des Hauses. Alle Parteien versuchten sich, mit wechselndem Erfolg, an ihrer Fütterung. Die drei wanderten, meistens allein, manchmal im Rudel, durchs Stiegenhaus und ließen sich bewundern, und wenn ihnen danach war, gingen sie in die Wohnung mit, und dann tat man gut daran, etwas für sie vorrätig zu haben, was ihnen auch schmeckte. Sonst hörten sie nicht mehr auf zu maunzen und fixierten ihr Opfer mit dem anklagenden Blick der getretenen Kreatur, dass diesem ganz schwummelig wurde und alle theoretischen Erörterungen, inwieweit solche Tiere eigentlich ein «natürliches Leben» führten, vergessen waren. Die tierliebende Birgit litt besonders unter der kätzischen Angewohnheit, in Garten oder Haus gefangene Vögel und Mäuse im Hausgang zu massakrieren. Die Opfer wurden entweder auf der Stelle verspeist, wobei von Mäusen einige Innereien und von Vögeln das Federkleid übrig blieben; oder aber Balthasar et al. legten den kleinen Leichnam auf dem Fußabstreifer ab und miauten herzzerreißend, bis jemand aufmachte oder vorbeikam; sie wollten für die schändliche Tat auch noch gelobt werden.

In der ruhigeren Westwohnung, gegen den Garten hin, lebte Dr. Benedikt Greul, Gymnasialprofessor um die vierzig, beleibt, bebrillt, alleinstehend, mit seiner Großmutter, die den Haushalt führte. Sie hieß Amalie, war im Gegensatz zu ihrem Enkel klein, mager und hielt sich gerade; sie hatte den vorletzten, also den letzten richtigen, Kaiser noch mit eigenen Augen gesehen.

Professor Greul war der einzige arbeitende Mensch im Haus. Wochentags hastete er zu nachtschlafender Zeit die knackende Holztreppe hinunter, hinaus auf die Gasse, hinunter in die Stadt und zu seiner Schule, knappe zwanzig Minuten Gehzeit. Damit hielt er sich in Form. Mittags traf man ihn manchmal, wie er zu Tode erschöpft von der Schule heimkam, von seinen Muppets, wie er sagte. Amalie bekochte ihn, dann musste er schlafen. Zu dieser Zeit befand sich Greul nach eigener Ansicht in einem biographischen Tief, und alles überanstrengte ihn.

Der Hausgang lief im Parterre in Nord-Süd-Richtung vom «Eingang» zum «Vordereingang» durch das ganze Gebäude. Kam man aus der Stadt, also von unten durch die Gasse herauf, betrat man das Grundstück am Südosteck durch das Türl, ein schönes, aber völlig verrostetes schmiedeeisernes Tor, und stand vor dem Vordereingang, für den man einen eigenen Schlüssel brauchte. Genau über dem Vordereingang leckte die Dachrinne, sodass man im Winter oft auf einem Eisbuckel stand beziehungsweise rutschte.

Die Nordseite mit dem «Eingang» erreichte man durch den Torbogen. Die Haustür wurde von Schintlholzer Schlag acht am Abend zu-, Schlag sieben am Morgen aufgesperrt. An gewissen Abenden, wenn sie Wichtigeres zu denken hatte, sperrte sie nicht ab, und von den restlichen Bewohnern mischte sich niemand in die Haustürverwaltung ein. Das Tor zur Gasse bestand aus zwei großen, schartigen, in den Angeln knirschenden Holzflügeln, in deren linkem eine Tür eingelassen war. Diese war nie versperrt; Besucher konnten also auch in der Nacht bis ans Haus vordringen und für den Fall, dass die Lampe über der Tür intakt war, auch wohl das Klingelbrett entziffern. Mit der Lampe war etwas nicht in Ordnung, «wahrscheinlich die Fassung», weswegen die Birne alle drei Wochen durchbrannte, jedoch erst gewechselt wurde, wenn Schintlholzer erstens bei Tageslicht daran dachte und zweitens in diesem Augenblick ein Hausbewohner vorbeikam, der jung und behende genug war, um auf die kleine Leiter zu steigen, die für solche Zwecke in ihrer Wohnung verwahrt war.

Die große Wohnung, die den ganzen ersten Stock des Hauses einnahm, war «immer schon», so Frau Schintlholzer, an Studenten vermietet gewesen, «aber einzeln». Nachdem dort ein Bad eingebaut und die Küche renoviert worden war, zogen fünf Neue ein. Neben Martin Rauch und Betty Berghofer waren das Sebastian Essl, Student der Architektur, einer der Rädelsführer des Streiks auf der Technischen Fakultät vom vergangenen Jahr, Birgit Hebenstreit und Sebastians Schwester Katrin, die beide Medizin studierten und die ihrerseits die Kritische Medizin, die zeitgenössische Protestbewegung in diesem Fach, mitbegründet hatten.

Sie kannten einander alle vom Sehen. Martin und Betty kannten sich etwas näher, aus den bereits erwähnten anglistischen Vorlesungen und dem Café Thaler; im Verlauf des vergangenen Sommersemesters waren sie dann und wann einen «Humpen» (Betty) trinken gegangen, immer häufiger ins Ravenna, manchmal ins Jörgele oder in den Bogen 13. Das Hefeweizen im Bogen reichte beinahe an das im Ravenna heran. Sie gingen jetzt kaum noch ins Gong, seit dort am Klo ein nach einer Überdosis Heroin plötzlich Verstorbener gefunden worden war, und seltener ins Treibhaus, dessen Reininghaus schmeckte wie Adambräu, das nicht nur die Papillen beleidigte, sondern am Tag danach auch deutlich mehr Kopfweh bereitete, als einem wegen der verrauchten Luft ohnehin gebührte. Über den sogenannten französischen Landwein, der dort ausgeschenkt wurde, schweigt der Chronist. Außer Exzentrikern wie dem Doderer-Mucki trank ihn sowieso nie jemand.

Birgit Hebenstreit war Katrins beste Freundin, und Katrin war mit Betty acht Jahre lang in dieselbe Klasse im Gymnasium gegangen, man war angesichts eines solchen Zeitraumes versucht zu sagen «hatten dieselbe Schulbank gedrückt». Das war allerdings das einzige, was sie verband.

Es war ein warmer sonniger Montagvormittag Anfang September, als sie in der Gilmgasse einzogen. Der Anfang war wirr und euphorisch. Sie irrten in der Wohnung umher, die so riesig war, dass man sich in ihr verlor. «Wahnsinn», sagten sie abwechselnd, «was für eine tolle Wohnung», und: «Was wir für ein Glück haben», und: «Ich hab noch nie mit einer Geschirrspülmaschine zusammengelebt», und: «Wer bekommt welches Zimmer?»

Alle halben Stunden rannte jemand aus dem Haus, um etwas zu kaufen, eine Dose Ata, ein Viertel Butter, ein paar Semmeln, Klopapier. Nie dachte man an alles zugleich.

Oben gegen das Ende der Gasse zu war ein kramerladenartiger Supermarkt, daneben der Metzger, den sie selten aufsuchten, an dem kleinen ehemaligen Dorfplatz gleich oberhalb bekam man Tabak und Zeitungen, Schreib- und Kurzwaren, einen Bäcker und die Obst- und Gemüsehandlung Müller. Mit einem Wort, die Nahversorgung war exzellent, fast so, wie sie es sich in ihren Visionen einer unmodernen, lebenswerten Welt ausmalten. Nach einem Jahr kam der «Wucherer» hinzu, wie sie den ersten Bio-Laden auf dieser Seite des Flusses bald tauften. Die Produkte, mit deren Hilfe manbesser lebenwürde, wie Herr Weber sein Geschäft nannte, hatten, noch vor dem biologisch-dynamischen Grundgedanken, eines gemeinsam: die exorbitanten Preise. Der Wucherer lag der Gilmgasse siebzehn von allen Läden am nächsten, und schon deshalb ließ es sich kaum vermeiden, ihn zu frequentieren, wenn sich um zwei Minuten vor sechs ein eklatanter Mangel an Milch oder Mandarinen bemerkbar machte, die dann, im Fall der Milch, in brauner Glasflasche mit erheblichem Pfand zu kaufen war; die Mandarinen waren halbvertrocknet, was bald zum Synonym für «biologisch» wurde.

Die Wohnung war weit und hell und hatte eine langgesteckte, dunkle Achse, den Korridor, der genau wie der Gang im Erdgeschoß das Haus von Nord nach Süd in der Hälfte teilte. Und sie hatte ein finsteres Herz, das ganz im Inneren gelegene kombinierte Badezimmer und Klo, das kein natürliches Licht bekam. In diesem gilmgassischen Heart of Darkness fing bald ein Kurtz an zu residieren, nämlich Birgits Freund Erhard, der kein Bad und auch keine Dusche in seiner baufälligen Innstraßen-Wohnung hatte. Er war glücklicher als alle anderen über das Badezimmer, das ihm auf diese Weise sozusagen in den Schoß gefallen war. Für die rituellen Waschungen, die er darin abhielt, brauchte er so lang, wie er für alles brauchte, nämlich sehr lang. Doch wenn er nach Stunden des amphibischen Vergnügens dem Bad und der Dampfwolke, die gleichzeitig mit ihm aus der geöffneten Türe drang, entstieg, dann war er so faltig, weißlich aufgequollen und glückselig, wer hätte ihm da böse sein können. Erhards Badefreuden entwickelten sich schließlich zu einer der Dauerplagen, von denen keine Wohngemeinschaft frei ist und die in Summe die neue Lebensform zu einer der anspruchsvollsten und anstrengendsten machen, die der Mensch je ersonnen hat.

Daran dachte an jenem sattgrünen Spätsommernachmittag noch niemand. Die Stimmung war egalitär, von derart verallgemeinerter Menschenliebe durchdrungen, dass sie am liebsten in jedem Zimmer gemeinsam eingezogen wären. So saßen sie in den einzelnen abwechselnd beisammen, schauten aus den Fenstern nach Nord und Süd, nach Ost und West, saßen im Schatten und in der Sonne, rissen die Fenster auf, die Türen, die der Luftzug wieder zuwarf.

Betty sonderte sich als Erste ab und blieb im Südwestzimmer sitzen, allein, schaute aus dem Fenster, rauchte eine Flirt, und dann fing sie an, ihre Bücher aus den zwei großen Kartons zu packen.

Um vier braute Martin die erste Kanne Tee, und Betty fasste das heiße Eisen an und sagte: «Also ich würde am liebsten in Südwest wohnen, wenn niemand etwas dagegen hat.»

Alle hatten etwas dagegen, aber nichts Konkretes. Bloß dass die Zeit der vollständigen Harmonie nun schon wenige Stunden, nachdem sie die neue Bleibe bezogen hatten, zu Ende ging. Schließlich sagte Betty in das unkonstruktive Herumgerede hinein, «Dann verlosen wir eben die Zimmer.»

Sebastian Essl fand das undemokratisch, wusste aber auch keinen anderen Ausweg, und so losten sie.

Martin Rauch bekam das Südwestzimmer; mit Blick auf den Garten, die Dächer und grünspanbesetzten Türme und Kuppeln der Altstadt, die Reihe der Berge im Süden und Westen. Das Eck zierte ein Erker, in dessen Scheiben sich ab Februar die Strahlen der Morgensonne fingen, lang bevor das Zimmer selber Sonne bekam. Die Scheiben würden, wenn nichts geschah, bald mitsamt dem Erker oder dem ganzen Haus in Trümmer sinken, eines Morgens einfach zusammenfallen, zerbröseln wie eine Sandburg.

Er brachte zwei Töpfe mit Grünlilien in den WG-Bestand ein und das Auto, das er gern allen leihen wollte, wenn er es nicht gerade selber brauchte. Die anderen vier hatten Fahrräder, die sie im Gegenzug ihm zur Verfügung stellen wollten. Die Vorstufe zur autofreien Gesellschaft war das Gemeineigentum an Fahrzeugen zusammen mit dem Schwarzfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, was aber zu einer Zeit, als die Schaffner gerade noch nicht abgeschafft waren, in Innsbruck wenig Erfolg versprach und kaum geübt wurde.

Mit knapp zwei Laufmeter Jazzplatten (plus Brel und Brassens) stellte Martin das stärkste Kontingent der kollektiven Plattensammlung, die ihren Platz in der Küche fand, in einer kleinen Stellage, auf der oben drauf der von Birgit eingebrachte Plattenspieler plaziert wurde. Birgits Temperament wirkte unmittelbar auf das Musikleben ein, wenn sie etwa in die Küche kam und gerade eine Platte lief: Da hüpfte der Tonarm ebenso lustig über ein paar Rillen hinweg, wie sie bei der Tür hereingesprungen kam.

Birgit bekam West, ohne Zweifel das schönste Zimmer, akustisch und auch sonst am straßenfernsten; gelegentlich machte die unmittelbare räumliche Nähe zur Küche das wieder wett.

Die Pechvögel waren Katrin (Ost) und Sebastian (Nordost), den die Tatsache, dass er das schlechteste Zimmer ausgefasst hatte, darin bestärkte, dass das Verlosen keine gute Idee gewesen war. Nicht dass ihm inzwischen eine bessere gekommen wäre. Mit der Kraft seiner architektonischen Imagination begann er flugs mit der Um- und Neugestaltung. Er malte die weißen Wände dunkelgrün, die Decke schwarz, den Kasten, der von unbekannten Vorgängern im Zimmer stand, die ihn offensichtlich von einem Flohmarkt oder aus dem Sperrmüll hatten, kardinalrot, und er montierte eine Reihe von Lampen. «Spots», sagte er, «um dem Raum eine unverwechselbare Lichtregie zu geben.» Wenigstens bewohnte er mit seiner innig geliebten Schwester benachbarte Zimmer. Dadurch isolierten sich die zwei aber von allem Anfang an vom Rest.

Die anderen gestalteten weniger. Aus Böcken und darübergelegten Spanplatten wurden Schreibtische, und aus alten Weinkisten Bücherwände. Vom Plattenspieler abgesehen brachte Birgit ein einzelnes Fischbesteck aus Silber in den Küchenbestand ein, das allmählich schwarz anlief; das Fischmesser fand bei sporadischen Putzorgien Verwendung, um hinter dem Herd die ölig-schwarzen Krusten aus den Fugen zwischen den Fliesen zu kratzen.

Betty bekam Südost, was auch nicht übel war, wenn sie auch dem niemals endenden Gilmgassen-Autoterror am liebsten dadurch begegnet wäre, dass sie das nach Osten gehende Fenster zugemauert hätte. Sie studierte in diesem Frühjahr gerade noch Englisch, obwohl ihr die Mittelschulatmosphäre in den Composition-Übungen schon merklich auf die Nerven ging. Die Amerikanistik war nicht so schlimm; dort lernte man sogar fallweise etwas über Literatur, ernsthaft und nicht nur so schulmäßig, aber auch das ging nicht immer gut aus. Das Ende kam an einem Jännermorgen knapp vor Semesterende. Sie hatte schon seit Wochen nicht damit angefangen, ihre Seminararbeit über Emily Dickinson in Angriff zu nehmen. Ihr als der Fortschrittlichsten und Klügsten im Kurs hatte die Dozentin das ThemaZur Spezifik einer weiblichen Poetologie zwischen Sprechen und Verstummen, erläutert am Beispiel von Emily Dickinsons ‚The Past is such a curious Creature‘gegeben. «Ein ganzes Semester lang gehe ich schon damit schwanger», sagte sie zu Rauch, mit dem sie nun, da sie zusammen wohnten, ausführlicher über Literatur schwatzen konnte, «und lese dieses ganze Zeug, das über die Dickinson geschrieben wird, und schreibe ganze Hefte voller Notizen, und in dem Augenblick, wo ich mich hinsetze, um endlich mit dem Eigenen anzufangen: Tilt.» (Sie sprach das Wort, wie alle ihre Landsleute, etwa wieDüdaus, und verwendete es häufig als Adjektiv oder Adverb: Etwas oder jemand war düd.) «Ich weiß ganz schlicht und einfach nicht, was das Gedicht bedeutet: Hör es dir an. Also. Keine Überschrift. Es geht gleich los.» Sie fing an, ihm das Gedicht vorzulesen.

«The Past is such a curious Creature

To look her in the Face

A Transport may receipt us

Or a Disgrace –»

Sie schaute auf, über den Küchentisch weg, wo das Geschirr vom Frühstück noch stand, Teetassen, Kaffeehäferl, Brösel, Brösel, die Mitbewohner schon fort oder noch im Bett, sie schaute zu Rauch hinüber mit dem Ausdruck großer und immer noch wachsender Verzweiflung im Gesicht.

«Unarmed if any meet her

I charge him fly

Her faded Ammunition

Might yet reply.

Und?» sagte sie zu Rauch, «sag du: Was bedeutet das?»

Der zögerte, sagte nichts, dann etwas wie, «So auf die Geschwinde fällt mir dazu auch nichts ein», nahm das Blatt Papier mit dem Gedicht, studierte es, dann das Berghofersche Antlitz, das sich nun plötzlich rötete. Sie fing an zu lachen, konvulsivisch und unrettbar, wie man einst in der Schule hatte lachen müssen nach einem blöden Witz, sie warf sich auf der Sitzbank auf den Rücken, dass das Haar flog, schlug die Hände vors Gesicht, lachte, weinte, schüttelte sich und schrie. Es hörte gar nicht mehr auf.

«Ein hysterischer Anfall», sagte sie, als sie sich wieder erholt hatte. «Wer möchte das für möglich halten. Hysterische Anfälle gibt es doch nur in der Literatur, in der Geschichte –»

«Bei Emily Dickinson», sagte Martin, und schon wieder musste sie losprusten, hochrot, und die Tränen liefen ihr in hellen Bächlein übers Gesicht.

Das war das Ende der Anglistik.

Sie fing dann mit Geschichte und Geographie an, was eine Zeitlang gutging, bis ihr von interdisziplinärem Wahnsinn befallener Professor ihr eine Arbeit über dieFlurformen im Bezirk Landeck unter besonderer Berücksichtigung der keltischen, römischen und germanischen Siedlungsperiodenaufs Auge zu drücken versuchte, während sie, wenn es schon ein lokales Thema sein musste und nicht ein global-ökologisches, am liebsten über einige Thesen aus Werner BätzingsAlpen-Buch und deren Anwendung auf regionale Probleme ihrer neuen Heimat geschrieben hätte. Das zog sich hin.

Die WG, die den ganzen ersten Stock des Hauses besiedelte, tat, was man von den restlichen Bewohnern nur bedingt sagen konnte: Sie bewegte sich auf der Höhe des Zeitgeists, ja verstand sich in allem und jedem als dessen Avantgarde. Während Kapinskis die Volkspartei wählten, die alte Greul, katholisch, aber nicht gläubig, detto, der junge Greul sozialistisch, womit er sich mordsoppositionell vorkam, und die Schintlholzer, die gläubig, aber «gegen den Papst» war, freiheitlich, wählten die fünf vom ersten Stock geschlossen alternativ, seit die Bewegung sich dazu durchgerungen hatte, eine Partei zu werden und mit der Demokratie ins Bett zu steigen, der sie alle Schlechtigkeiten zutrauten, dort in jenem Bett. Dann wurden aus den Alternativen die Grünen; und sie wählten grün, mit gleichgebliebenem Bauchweh, das sich in endlosen Debatten Luft machte. – Doch sie taten mehr. Sie engagierten sich auf der Uni bei der Basisdemokratischen Liste und in der Stadtpolitik bei der Alternativen Liste und, soweit weiblich, in der Frauengruppe, die damals noch beiden (oder allen?) Denominationen offenstand; sie bevölkerten Kundgebungen jeglicher Art, die der guten Sache dienten, zum internationalen Frauentag, für Amnesty International (der 8. März und der 10. Dezember waren, demonstrationstechnisch, die zwei unbeweglichen Feste im Jahr), für den Frieden und gegen die Atomenergie, gegen den Transitverkehr und die Wiedereröffnung des Innsbrucker Flughafens und den Kauf von gebrauchten schwedischen Abfangjägern der Marke Draken für das Bundesheer; sie saßen in Sitzungen, bastelten nächtelang feurig und dilettantisch am Layout von Fachschaftszeitungen, verteilten Flugblätter, klebten Plakate, meistens illegal bei Nacht und Nebel, sie stritten mit ihren Eltern über den falschen Fortschritt und den richtigen, und untereinander sowieso. Sie kämpften für den Frieden und litten an der Schuld der Ersten Welt gegenüber der Dritten, die man noch ohne Anführungszeichen schrieb. Die Schuld der Väter war hingegen kein Thema; sie war erwiesen und bedurfte, zumindest bis mit der Waldheim-Geschichte alles wieder von vorn anfing, keiner gesonderten Erörterung. Sie waren jung, und sie blickten in eine Zukunft, die zwar gefährdet war, um nicht zu sagen verfinstert, aber dennoch ihnen gehörte. So manche und mancher unter ihnen war gar nicht mehr so jung, sondern sauste mit nur sie oder ihn selber überraschender Geschwindigkeit auf die dreißig zu oder hatte die Marke passiert.

So kämpften sie im Alltag, wie man damals sagte: sie leisteten Widerstand in Wort, Schrift und Tat. Stolz trugen sie die rot-gelbe Atomkraft-nein-danke-Anstecknadel auf den Pullovern, Jeansjacken oder Parkas. Zu Schintlholzers Verdruss zierten Aufkleber mit demselben Motiv den Postkasten und die Wohnungstür, neben dem Abreißblock mit Bleistift für den seltenen Fall, dass einmal niemand zuhause war und eine Botschaft hinterlassen werden musste. Sie trennten den Müll mit Akribie. Darin kam ihnen die Stadtverwaltung kaum entgegen; Papier wurde gelegentlich abgeholt, Glas musste man selber an weit entfernte Sammelpunkte liefern, und bei der Rettung seltenerer Stoffe wie Aluminium oder Zinn (von den Weinflaschen) war man ebenso auf sich allein gestellt wie in der Kompostfrage oder der bis heute byzantinisch gebliebenen Kunststoffproblematik. Birgit und Betty hatten Schintlholzer die Aussage entlockt, dass es im Garten früher einen Komposthaufen gegeben habe, «im Krieg oder nach dem Krieg». Danach konnte sie zu dem Vorschlag, wieder einen anzulegen, kaum noch nein sagen. «Dass mir halt der Garten nicht versaut wird», sagte die Alte und brumselte etwas von Ratten, die durch «Speisereste» angelockt würden. Das wurde in der WG nicht gern gehört, weil nicht geglaubt. Wörter wie «Ratten» und «Speisereste» trübten den sonst wasserklaren Naturbegriff sekundenlang erheblich.

Wenn sie nicht gerade auf eine Prüfung lernte, profilierte Birgit sich als Recyclingweltmeister. Sie spülte die leeren Joghurt- und Sauerrahmbecher unter heißem Wasser (ohne Spülmittel!) aus und sammelte mit Eifer alles, was an Aluminium, Weißblech oder Zinn anfiel. Das stapelte sie in kleinen Nestern in finsteren Ecken im Gang, und dann begann sie auf Patho, Neuro oder Kinder zu lernen und an Mülltrennen war nicht mehr zu denken. Die anderen hatten weniger Ambitionen, sich auf dem Gebiet der Spurenelemente zu profilieren.

Um Gästen und Neuzugängen in der WG den Einstieg in die Kompostwissenschaften zu erleichtern, hing über dem Kübel, gleich rechts im Eck, wenn man in die Küche kam, an der Wand ein A4-Blatt mit den wichtigsten Merkmalen, die Müll haben musste, um sich als «Bio-Müll» zu qualifizieren. Obwohl das Blatt informativ und auch in Maßen lustig aufgemacht war, gab es mit dem Kompost nichts als Zores. Es mussten gar keine Spitzfindigkeiten sein, die – nach Robert Gernhardts bahnbrechender seinerzeitiger Glosse in der Titanic –, unter dem Begriff «Altschnursammeltonne» firmierten; nein, schon der einfache Unterschied zwischen VERROTTEN – also Biomüll – und VERFAULEN (wichtigstes Beispiel: Schalen von Zitrusfrüchten!) – also: kein Biomüll, war selbst innerhalb der Belegschaft kaum durchzusetzen. Von den hoffnungslosen Fällen, die nicht einmal die grundlegende Differenz organisch-anorganisch begriffen und beharrlich die Teeblätter zum Müll allgemein und die Kronenkorken zum Kompost warfen, nur so viel: Katrin kapierte es nie, und alle beiderseitige Liebesmüh endete in ihrem stillen Boykott des Abfallwesens. Manchmal schien es, als schmuggle sie die leeren Joghurtbecher aus dem Haus, um nur ja bei keiner Sündhaftigkeit ertappt zu werden, just so, wie einst Viktoria und Martin während einer kurzen glücklichen Woche in San Gimignano die Präservative in die städtischen Papierkörbe entsorgten, um die Pensionswirtin nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn diese, was mindestens viermal täglich geschah, ihr Zimmer inspizierte und wieder auf einen Hochglanz brachte, der sich in der vergangenen drei Stunden kaum hatte verflüchtigen können.

Sie lebten vegetarisch. Birgit, die nach eigenen Aussagen bis dahin nicht viel gekocht hatte, warf sich mit ihrem charakteristischen Enthusiasmus auf Hirse und Grünkern; Naturreis war fast schon banal. Das Zeug quoll erst im Mund richtig auf, eine wundersame Brotvermehrung, wie Betty theologisch anmerkte, angebrannt vor allem dann, wenn Katrin kochte. Spätabends aß man dann am Würstelstand vor dem Goldenen Dachl eine Sankt Johanner mit Ragout.

Und sie tranken den Kaffee, den eine Fair-trade-Organisation direkt von den nikaraguanischen oder guatemaltekischen Bauern zu ihnen brachte, von Birgit mit einer Handmühle der Marke Peugeot aus dem Nachlass ihrer Großmutter selber gemahlen und mit braunem Zucker gesüßt, der wie Katzenstreu aussah und nach Karamel schmeckte, was dem Kaffeetrinken eine zusätzlich heroische Note verlieh. Sebastian war selber in Nikaragua gewesen, und mit Schaudern erfuhren sie vom Schmutz, dem Ungeziefer und dem Mangel an Gummistiefeln, der bei dem allgegenwärtigen und mit Blutegeln angereicherten Schlamm fatale Folgen hatte und den die Revolutionäre Volksfront trotz massiver ausländischer Hilfe nicht zu beseitigen imstande war. Bis auf eine Woche Brechdurchfall hatte er jedoch den Arbeitseinsatz im Sumpf hinter Managua gut überstanden. Betty, die sich im Stillen vorgenommen hatte, den Sandinisten an Ort und Stelle beizustehen, zögerte die Entscheidung immer weiter hinaus. Ihre Herkunft aus forstwirtschaftlichem Milieu hinderte nicht, dass sie sich vor kleinen, krabbelnden und beißenden Tieren furchtbar grauste. So blieb sie im Lande und erwarb ihren Lorbeer, zusammen mit ihrer Freundin Margot, einstweilen dadurch, dass sie im Hochschülerschafts-Wahlkampf mitmischte, und zwar dergestalt, dass die beiden gegen die sonstige Gewohnheit beim ersten Hahnenschrei auf den Beinen waren und im gesamten Uni-Bereich die Plakate der Jungen Europäischen Studenteninitiative mit individuell gestalteten Aufklebern verzierten.

Am zweiten Morgen standen sie schon etwas später auf. Da lauerten ihnen die Reaktionäre von der JES auf und jagten unter lauten Schmähungen und Fluchworten hinter ihnen her, waren aber von ihrer bürgerlichen Erziehung doch so weit behindert, dass sie keinen tätlichen Angriff auf die zwei Damen wagten, auch wenn diese betont unweiblich in Pullover, Jeans und Turnpatschen daherkamen, zudem, im Fall Margots, äußerst kurzgeschoren und mit randlosen Brillen. Elisabeth hielt übrigens an der Politkommissarsjacke fest, die jetzt nach Jahren weniger ehrfurchtgebietend wirkte als zu Morak-Zeiten. Nach herrschender JES-Ideologie waren sie so zwar «keine richtigen Frauen», aber einer solchen unrichtigen Frau tatsächlich eine herunterzuhauen, wie man es bei einem – selbst unrichtigen – Mann ohne Zögern getan hätte, dazu konnten sich die Verfechter der christlich-abendländischen Werte denn doch nicht durchringen.

«Eine gute Farbe hast du», bekam Betty von Sebastian zu hören, als sie daheim in der Küche auftauchte, wo die anderen grade beim Frühstück saßen.

«Ich habe einen Wettlauf mit den Vertretern des finstersten Mittelalters hinter mir, und es waren einige Langstreckenläufer dabei. Meine Farbe ist nicht gut, sondern hochrot. Es war furchtbar. Ich schwitze wie ein Schwein.»

Erhard errötete leicht und sagte, sie sei gar nicht rot.

«Klar ist sie rot», sagte Sebastian Essl, «und wie», und lachte grandios, dem Anlass kaum angemessen. Katrin, die neben ihm saß, lachte so lang wie er, keine Sekunde länger.

Nach einem Monat kam der erste Krach.

Denn nach einem Monat waren die öffentlichen Bereiche, also Gang, Küche, Bad, wieder schmutzig, und das fröhliche erste gemeinsame Putzen des ersten Tages in der Gilmgasse, dieses, wie man geglaubt hatte, zusammenschmiedende Gemeinschaftserlebnis, würde sich nicht wiederholen.

Nicht dass sie in der Zwischenzeit nicht auch geputzt hätten. Betty hatte mehrfach Bad und Küche geputzt, Martin hatte in der Küche die Umgebung von Herd und Geschirrspüler sauber gehalten und profilierte sich als Müllentsorger. Birgit hatte ein bisschen geputzt und Katrin und Sebastian gar nicht. Nach Sebastians anfänglicher Gestaltungsorgie verbrachten sie die meiste Zeit in seinem Zimmer im düsteren Glanz von Dunkelgrün und Scharlachrot. Sie hatten gerade das erste Buch von Alice Miller gelesen und mussten in der Folge ihre gesamte Kindheit und Jugend überdenken und neu bewerten. Manchmal kochten sie, aber putzen? Dazu war keine Zeit.

Das schleppte sich so hin, und allmählich spitzte es sich zu. Betty platzte zuerst der Kragen. Sie stellte Katrin im Gang, als diese sich ausnahmsweise ohne Sebastian herauswagte, und fragte sie, ob sie eigentlich schon einmal daran gedacht habe, den Gang zu putzen.

«Ist der dreckig?» fragte Katrin pikiert. Sie hielt sich selber peinlich sauber und lebte in dem Glauben, dass damit alles getan war, dass diese Sauberkeit gewissermaßen auf ihre nähere Umgebung einwirke oder abfärbe, die dadurch ebenfalls der drohenden Verschmutzung entgehen würde.

Die Antwort hatte Betty erwartet, und das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Als die Auseinandersetzung die zulässige Dezibelgrenze überschritt, kam Sebastian aus seinem Zimmer, um die wankende Front der Schmutzfinken durch einen Flankenangriff zu entlasten. «Wir müssen das organisieren», sagte er. «Ich habe mir gedacht, dass es ohne Organisieren geht, aber es geht nicht.»

«Natürlich geht es ohne», sagte Betty, Granit in der Stimme. «Es müsste nur jemand putzen. Aber der Jemand bin immer ich. Ich bin ja nicht geisteskrank, dass ich mich für die WG zum Putztrottel mache. Da brauchen wir keine großen Pläne, nur jemanden, der es tut.»

Es endete damit, das Sebastian schrie, «Du hast ja einen krankhaften Putzfimmel», und daraufhin schrie Betty, «Und du hast einen krankhaften Dreckfimmel, und dein Zimmer verschandelt die ganze Wohnung, wenn du es genau wissen willst.» Das stimmte zwar, tat aber nichts zur Sache.

Wutschnaubend schrubbte Sebastian dann im Gang herum, eine Tätigkeit, deren Endergebnis Betty als «ungleichmäßiges Umverteilen» dessen bezeichnete, was hätte beseitigt werden sollen. Martin kannte diese Methode vom Bundesheer, sagte aber nichts weiter dazu, um nicht unversehens noch selber in die Schusslinie zu geraten.