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Während in den verwinkelten Gassen des Viktorianischen Londons der erste Schnee fällt, hofft ein Waisenmädchen auf eine neue Familie. In einem gespenstischen Kloster am Gardasee wird ein junger Mann von seiner Vergangenheit heimgesucht. Ein labyrinthhaftes Herrenhaus führt einen Vater in einer eisigen Winternacht auf der Suche nach seinem Sohn durch Raum und Zeit. Und auf einer sturmumtosten Insel vor der schottischen Küste bewahrt das Meer auch die dunkelsten Geheimnisse. Hier passiert Unerklärliches, hier verschwimmt das Wirkliche mit dem Unwirklichen. In sechs meisterhaft erzählten Geschichten führen uns preisgekrönte Autor*innen in die Welt des Schaurigen. Doch zwischen dem Duft von Clementinen, dem Geschmack von Portwein und Austernsuppe sowie dem Knistern des Kaminfeuers wird das Gruseln zu einem wohligen Erlebnis. Die perfekte Lektüre für die stillen Stunden, wenn der Tag der Nacht weicht. Schaurige Geschichten: Band 1: Schaurige Nächte Band 2: Wintergeister Band 3: Gruselige Stunden Alle Bände sind eigenständige Sammlungen von Erzählungen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2025
Während in den verwinkelten Gassen des Viktorianischen Londons der erste Schnee fällt, hofft ein Waisenmädchen auf eine neue Familie. In einem gespenstischen Kloster am Gardasee wird ein junger Mann von seiner Vergangenheit heimgesucht. Ein labyrinthartiges Herrenhaus führt einen Vater in einer eisigen Winternacht auf der Suche nach seinem Sohn durch Raum und Zeit. Hier passiert Unerklärliches, hier verschwimmt das Wirkliche mit dem Unwirklichen.
In sechs meisterhaft erzählten Geschichten führen uns preisgekrönte Autor*innen in die Welt des Schaurigen. Doch zwischen dem Duft von Clementinen, dem Geschmack von Portwein und der Wärme eines Kaminfeuers wird das Gruseln zu einem wohligen Erlebnis.
Imogen Hermes Gowar, Laura Shepherd-Robinson, Stuart Turton, Kiran Millwood Hargrave, Elizabeth Macneal und Natasha Pulley sind vielfach ausgezeichnete Autor*innen sowie ausgewiesene Expert*innen des unheimlichen Erzählens.
Sibylle Schmidt hat in Berlin Theaterwissenschaften und Amerikanistik studiert. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. JP Delaney, Ciara Geraghty, David James Poissant und Sharon Gosling.
Kiran Millwood Hargrave, Laura Shepherd-Robinson, Stuart Turton, Imogen Hermes Gowar, Natasha Pulley, Elizabeth Macneal
GRUSELIGE STUNDEN
Schaurige Geschichten für kalte Abende
Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
Die aufgeführten Erzählungen entstammen der Anthologie ›The Winter Spirits‹, die 2023 bei Sphere, London erschienen ist.
›Host‹ Copyright © Kiran Millwood Hargrave, 2023
›Inferno‹ Copyright © Laura Shepherd-Robinson, 2023
›The Master of the House‹ Copyright © Stuart Turton, 2023
›A Double Thread‹ Copyright © Imogen Hermes Gowar, 2023
›The Salt Miracles‹ Copyright © Natasha Pulley, 2023
›Banished‹ Copyright © Elizabeth Macneal Limited, 2023
E-Book 2025
© 2025 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG, Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Übersetzung: Sibylle Schmidt
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagillustration: Ayumi Takahashi/2 Agenten
Illustrationen im Innenteil: © Lisa Perrin
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-7558-1138-1
www.dumont-buchverlag.de
WIRT
Kiran Millwood Hargrave
In der Hauptstadt flackern die Kerzen des zweiten Advents auf den Altären der Kirchen, doch für Mary sind alle Tage gleich. Gestern war ihr Geburtstag, aber das weiß sie nicht, denn sie hat weder Mutter noch Vater, die es ihr sagen könnten. Ihr Bruder Abel ist älter, jedoch nur ein paar Jahre, sodass auch er sich nicht erinnern kann. Die Geschwister haben Glück, dass sie zusammen sein können; das bekommen sie oft zu hören auf der Insel, wo Äste eines Familienstammbaums nicht selten so abgebrochen sind, dass sie bluten.
Zwischen zwei Wasserwegen ist es gelegen, das Elendsviertel Jacob’s Island. Sie wurden auf die Straße gesetzt, Abel und Mary, vor drei Jahren vom Armenhaus in Whitechapel hineingeworfen in diese Freiheit, die keine ist, und fanden in der Edwards Street eine Bleibe über einem Bordell, tagsüber getarnt als Gemüseladen durch den Verkauf von schlaffem Kohl und unansehnlichen Kartoffeln, während sich nachts auf den schmutzigen Tischen erschlaffte Frauen unter unansehnlichen Männern winden.
Mary ist mit der Insel vertraut und weiß, wo sie ihre Röcke heben kann, wo sie in der Mitte der Straße bleiben muss, um die Kloaken zu meiden, wo sich die übelsten Diebe herumtreiben, die sogar ein Kind überfallen würden, aber jetzt verfolgt sie etwas, als sie mit frisch gegerbten Häuten in den Händen auf das Dock zusteuert, von dem aus Boote die wertvolle Ware in vornehme Viertel liefern. Sie sieht nicht, was ihr folgt, riecht es nicht, aber es kennt sie auf eine knochentiefe, seelenzehrende Weise und ist so erbarmungslos wie Hunger oder Begehren – ja, es ist hungrig und begierig –, und so gibt es kein Entkommen. Arme Mary mit dem tief gesenkten Kopf. Würde sie nicht so sehr wie Beute wirken, hätte sie vielleicht mehr Glück.
Doch nicht alles ist trostlos. Weihnachten ist ein Lichtblick, wenn die Reichen jenseits des Flusses ihr Gewissen entdecken und Spenden an die heruntergekommene Kirche schicken, das einstige Leprahospital. Einige dieser Spenden erreichen sogar diejenigen, für die sie bestimmt sind, und so werden bei den Adventsgottesdiensten Clementinen verteilt, leuchtend orange wie glühende Kohlen und mit Nelken gespickt. Letztes Jahr erhielt Mary zum ersten Mal solch eine Frucht, und die Erinnerung an die betörende Süße sucht sie immer wieder heim, wie Phantomschmerzen.
Daran denkt sie auch jetzt, mehr, als gut für sie ist, während sie dem Dock entgegeneilt. Sie hätte lieber auf ihre Umgebung achten sollen. Dann hätte sie vielleicht bemerkt, dass der Mann, der sie verfolgt, glänzende, blank polierte Lederstiefel trägt, die so gar nicht zu seinem abgewetzten, geflickten Mantel und den Bartstoppeln passen.
Die Gassen speien Mary aus, hinaus an den Pier, einst aus verrottendem Holz, nun aus glattem Stein, breit genug für mehrere Boote und deshalb zu jeder Tageszeit der geschäftigste Teil der Insel. Teirneys Kahn liegt immer an derselben Stelle. Der Mann lässt sich zurückfallen und beobachtet, wie Mary der rauchenden Frau an Deck die Häute übergibt. Das ruft ihm in Erinnerung, dass auch er rauchen könnte, die Pfeife, die er eigens erstanden hat, um Hände und Gesicht zu beschäftigen, sollte er zum Warten gezwungen sein. Er stopft Tabak in die Pfeife, zündet ihn an und pafft unbeholfen, während das Mädchen mit Ma Teirney spricht.
»Wie geht’s denn so?«
»Gut, Ma.«
»Hat euch die Seuche nicht erwischt, dich und deinen Bruder?«
»Nein.«
»Das ist gut, Mädchen.« Ma Teirney begutachtet die Häute, hat wie stets etwas zu bemängeln, zahlt aber dennoch den vollen Preis. Das würde sie niemandem gestehen, nicht einmal sich selbst, aber sie kommt nur wegen Mary auf diese elende Insel, um Häute zu kaufen. Das Mädchen hat dichtes schwarzes Haar, schneeweiße Haut und schimmernde dunkle Augen. Eine sanfte Seele.
»Das Gleiche nächste Woche wieder, Ma?«
»Nicht über Weihnachten.«
»Ach, ist nächste Woche Weihnachten, Ma?«
»So ist es. Und hier hab ich was für dich.«
Ma bringt aus ihrer Tasche eine kleine hölzerne Kegelpuppe zum Vorschein, gekleidet in einen Stoffrest von ihren Näharbeiten, ein schimmerndes Stück Taft. Pfauenblau ist er, und Ma hat mit ihren geschickten Fingern ein Kleid mit schmaler Taille und weitem Rock nach der neuesten Mode daraus geschneidert und sogar Saum und Ärmelmanschetten mit Spitze versehen. Das Gesicht ist schon ein bisschen abgenutzt, aber immerhin aus schönem Kiefernholz.
»Ma.« Kaum mehr als ein Hauchen. Ein richtiges Geschenk hat Mary noch nie im Leben bekommen. Sie wagt es nicht einmal, danach zu greifen, weil sie fürchtet, es würde ihr wieder entrissen. »Die ist doch nicht für mich?«
»Warum nicht, mein Kind? Nimm sie nur.«
Zittrig kommt Mary der Aufforderung nach, schämt sich ihrer schmutzigen Hände auf dem azurblauen Rock, doch die Scham ist schnell vergessen, denn der Stoff fühlt sich wundersam weich und zugleich so fest an, als wolle er ihren Fingern für immer Halt geben. Überglücklich drückt sie die Puppe an die Brust.
Als sie sich verabschieden, ist Ma traurig und froh zugleich und Mary restlos verliebt in ihr erstes Spielzeug. Der Mann löst sich von der Wand und folgt Mary erneut ins Gewirr der Gassen.
In der nächsten Woche fegt der blaue Tod über die Insel, und als am dritten Advent die Kerzen angezündet werden, sind die Kirchenbänke halb leer, und zahlreiche Leichen werden zu Armengräbern verschifft. Cholera ist nichts Neues an Orten, die so überfüllt und schmutzig sind, aber diese ist besonders bösartig, zumal sie der Grippewelle dieses Winters auf dem Fuße folgt.
Abel und Mary verlassen das Haus nicht, wie Ma Teirney es ihnen in solchen Zeiten geraten hat, und ernähren sich von gekochten Kartoffelschalen vom Gemüsehändler. Mary macht das nicht viel aus. Es hat schon Zeiten gegeben, in denen sie mehr hungerten, und sie mag ihren Bruder und liebt ihre Puppe, die sie Clementine genannt hat. Mit Clementine geht sie zu festlichen Bällen, und beide drücken ihre Lippen an Maserungen im Holz der alten Tür, die, wenn man die Augen zusammenkneift, Männern mit Bart und gütigem Blick ähneln. Abel klagt, weil er betteln gehen will, hört aber auf die Bitten seiner Schwester und bleibt zu Hause.
Niemand stört sie, auch nicht der Mann mit den Lederstiefeln und den gepflegten Fingernägeln, der die Aufgabe hat, sie zu beobachten und abzuwarten, bis Mary wieder auftaucht. Erst abends verlässt er die Insel, wird mit dem gemieteten Boot zur Waterloo Bridge gebracht, wo sein Kutscher ihn abholt und durch die lebhaften Straßen fährt, vorbei an St. Giles und Soho, wo der Mann einst in Etablissements verkehrte, und durch Bloomsbury, wo er in einem Haus mit hohen Zimmern und Kristalllüstern geboren wurde, bis hin zu ihrer stillen Villa am Regent’s Park, der sich in die Nacht erstreckt wie ein dunkles Meer.
Die Straßen sind menschenleer, die Laternenanzünder längst verschwunden, nur hie und da wartet ein Kutscher vor Häusern, aus denen warmes gelbes Licht von zahllosen Kerzen strahlt und das lebhafte Stimmengewirr einer Abendgesellschaft zu vernehmen ist. Solche Soireen haben der Mann und seine Gemahlin früher auch gegeben in ihrem Speisezimmer mit den Wandbehängen aus Damast, zwölf Gänge wurden serviert, kreiert von dem Koch, den sie einem berühmten Luxushotel abgeworben hatten. Nun hat dieser Raum kahle Wände, und der große Tisch mit dem Schnitzwerk ist ebenso verkauft wie die zwölf hochlehnigen Stühle mit Seidenbezug. Die schweren Vorhänge sind stets zugezogen, das Zimmer wird nur von Kerzenlicht erhellt; nichts ist geblieben außer einem runden Tisch mit spindeldürren Beinen aus der Küche, in der es kein Personal mehr gibt. An jenem Tisch wartet die Gattin des Mannes auf Neuigkeiten, in Anwesenheit einer Frau, die mit den Toten spricht.
Durch ein ausgeklügeltes Schattenspiel zwischen den Gaslaternen in der vornehmen Straße und einem winzigen Spalt in den Vorhängen vor den Bleiglasfenstern kann Mrs Flints Gehilfin Violet ihrer Herrin mitteilen, wann sich die Kutsche von Mr Ezra Griffiths nähert. Das ist für Mrs Flint das Zeichen, aus ihrer Trance zu erwachen, die grünen Augen auf ihr Opfer zu richten und zu sagen: »Er ist zu Hause.« Daraufhin tritt Mrs Edith Griffiths, Edie, ans Fenster, erstaunt ob dieser Genauigkeit und fügt sie jenem Gewebe aus hauchzarten Gewissheiten hinzu, mit denen sie sich beweisen will, dass sie das Richtige tun, dass diese Frau, die in ihrem Zuhause hockt, recht hat mit ihren Verheißungen. Dann fällt es Edie leichter, ihr Unbehagen ob ihres Vorhabens beiseitezuschieben.
Sie öffnet die Haustür, deren Anstrich stets makellos ist, um den Schein zu wahren und Klatsch in der Nachbarschaft zu unterbinden, nimmt Ezra den stinkenden Mantel und die Schirmmütze ab, küsst ihren Mann, der erschöpft aussieht, auf die stoppelige Wange und hält den Atem an, um die Ausdünstung der Armut nicht einzuatmen. Edie weiß das nicht, aber Ezra empfindet das Haus als ebenso übel riechend: Es verströmt den Gestank von angestautem Leid und endlosem Warten.
»Und?«, fragt Edie.
»Hat noch immer nicht ihre Unterkunft verlassen«, antwortet ihr Mann.
Edie wendet sich ab, hängt Mantel und Mütze sorgsam neben Ezras guten Umhang und geht ins Esszimmer zurück. Ezra folgt ihr widerwillig, reibt sich die Augen und unterdrückt ein Gähnen.
»Hat immer noch nicht ihre Unterkunft verlassen«, teilt Edie Mrs Flint mit, und beide Frauen sehen Ezra an, als er den Raum betritt. Wie immer empfindet er einen Anflug von Abscheu, wenn die ältere Frau ihn fixiert. Sie ist von robuster Statur, die grünen Augen sind so tief wie ein Teich. Ihr Haar ist dunkelbraun, bis auf zwei breite weiße Strähnen, die ihr blasses Gesicht umrahmen. Diese Frau ist kraftvoll, ganz anders als seine bedauernswerte Edie, und das stört Ezra ebenso sehr wie, dass er Mrs Flint jedes Wort glaubt. Doch sie ist das Bindeglied zwischen den beiden, ihre Hoffnung. Sie hat einen Plan.
»Wir können nicht länger warten«, verkündet Mrs Flint. »Wer weiß, wann die Seuche endet. Je länger wir warten, desto dünner werden die Fäden. Ich kann sie nicht auf Dauer halten. Und das Mädchen muss willig sein, vergessen Sie das nicht.«
»Ich weiß«, erwidert Ezra, bemüht, nicht ungehalten zu klingen. »Aber sie wohnt mit ihrem Bruder zusammen, der kräftig ist und sich nichts gefallen lässt. Sie haben mir doch gesagt, es soll nicht auffallen.«
»Die Frau mit der Puppe. Turner?«
»Teirney«, sagt Ezra, der sich an die Aufschrift des Kahns erinnert.
»Kann sie schreiben?«
Ezra zuckt mit den Schultern. »Ich bezweifle, dass die Kleine lesen kann.«
»Ein Brief könnte dennoch nützlich sein. Etwas mit Unterschrift, ein Brief, der sie zur Arbeit beordert. Das wäre nicht ungewöhnlich, und das Mädchen ist gewiss recht unbedarft.« Mrs Flint blickt Ezra auffordernd an, und er merkt, dass er wohl Stift und Papier besorgen soll.
Im Stillen schäumt er vor Wut, als er den muffigen Raum verlässt und sich in sein Arbeitszimmer in der ersten Etage begibt. Die Holzstufen, nicht mehr von einem Teppich bedeckt, knarren, und Ezra wünscht sich, lautloser gehen zu können, damit er hören kann, was die Hexe sagt, sobald er hinausgeht. Es ist ihm zuwider, Edie tagsüber mit ihr allein zu lassen. Die Anwesenheit von Violet ist ihm auch kein Trost, denn das Mädchen steht nicht minder unter Mrs Flints Bann wie Edie.
Das alles begann bei einem Dinner mit seinem Freund Alistair und dessen Frau Maude, die beide mit Vorliebe an Vorstellungen von Elektrisierern und Hypnotiseuren teilnahmen. Das Paar erwähnte ein Etablissement in Holborn, wo es keine Tricks und Spiegel gab, nur eine Frau mit grünen Augen, die durch den Schleier ins Jenseits blicken konnte. Als der Name der Spiritistin fiel – Mrs Stone oder Mrs Slate –, erstarrte Edie förmlich. Ihr Gesicht, seit jener schrecklichen Nacht permanent angespannt, wurde weich, und ihre Augen leuchteten beinahe so ekstatisch wie manchmal, wenn sie beisammenlagen. Es wäre besser gewesen, Ezra hätte dieses Gerede sofort unterbunden. Aber wie kann man einem geliebten Menschen eine solche Freude verwehren?
Als Edie am nächsten Tag so überraschend in seinem Arbeitszimmer erschien, dass er gerade noch hastig die Whiskyflasche in einer Schublade verstauen konnte, leuchteten ihre Augen noch immer, und in der Hand hielt sie einen Zettel mit einer Adresse in Holborn. Und Ezra setzte dem Ganzen wiederum kein Ende. Denn auch er brauchte die Hoffnung.
Durch ihren Kutscher Thomas arrangierten sie ein Treffen in der folgenden Woche. Edie wirkte ruhiger, Ezra trank weniger, und sie bewahrten stillschweigend ihr Geheimnis, wie damals in der frühen Zeit der Schwangerschaft. Als der Tag kam, kleideten sie sich mit so viel Sorgfalt wie für einen Opernbesuch. Falls Thomas ihren Aufzug für einen Abend in Holborn als eigenartig empfand, ließ er sich wie üblich nichts anmerken.
Das kleine Haus sah von außen unauffällig und bescheiden aus, was Ezra sofort zusagte. Es erinnerte ihn an gehobene Bordelle, in denen man nebst anderen Diensten auch Tee serviert bekam. Was hier angeboten wurde, war nirgendwo zu sehen, auf einem kleinen Messingschild stand lediglich Mrs Flint. Er klopfte zweimal. Edie hatte sich bei ihm eingehakt, und ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der kalten Luft.
Eine junge Frau, die ihnen später als Violet vorgestellt wurde, öffnete die Tür. Sie trug schwarze Dienstmädchenkleidung und eine weiße Rüschenhaube, unter der widerspenstige blonde Locken hervorquollen. Als sie lächelte, kamen schiefe Zähne zum Vorschein. Schon damals hatte Ezra ihr Gesicht als schlau und durchtrieben empfunden.
»Mr und Mrs Griffiths«, bemerkte sie, nicht als Frage, und trat beiseite, um sie in den schmalen Flur zu führen. »Kommen Sie herein. Ins Hinterzimmer, bitte.«
In dem schummrigen Gang gab es linker Hand eine geschlossene Tür, rechter Hand zwei, eine Treppe führte nach oben ins dunkle zweite Stockwerk. Die Tapete war verblichen, aber nicht schäbig, und ein schwerer blumiger Duft wurde stärker, als sie auf die hintere Tür zugingen, wo sich in Häusern wie diesem gewöhnlich die Küche befand.
Bevor sie die Tür erreichten, öffnete sie sich wie von Geisterhand, und Edie erschauderte vor Aufregung oder Angst. Sie erblickten einen kleinen runden Tisch, mit Kerzen beleuchtet, an dem eine Frau saß, die nur Mrs Flint sein konnte. Vielleicht hatte sie sich diesen Namen selbst gegeben, er passte jedenfalls gut zu ihr. Ihre Wangenknochen waren so kantig wie Feuerstein, der Blick aus den grünen Augen hart, die Falten ihrer Trauerkleidung messerscharf – sie war eine Furcht einflößende Gestalt, ganz anders als Ezras Vorstellung von einer Frau mit samtigen Schals und molligen Wangen.
Violet geleitete sie hinein, und Mrs Flint bot ihnen die Stühle links und rechts von ihr an.
»Bitte nehmen Sie Platz. Es freut mich, Sie beide kennenzulernen.«
Sie ließen sich nieder, und Ezra sah sich um. Wie Alistair und Maude berichtet hatten, gab es nirgendwo Spiegel. Dieser Raum war tatsächlich früher eine Küche gewesen, das ließ sich an der Größe des Kamins, an Schränken und Rauchflecken an den Wänden erkennen. Aber Essensgerüche waren nicht mehr vorhanden, nur dieser allumfassende blumige Duft. Hinter den Vorhängen waren gewiss ein Fenster und eine Tür verborgen, durch die dennoch ein Hauch der kühlen Septembernacht hereindrang.
»Was führt Sie zu mir?«, fragte Mrs Flint.
»Unsere Tochter«, antwortete Edie mit brüchiger Stimme, während Ezra im selben Moment begann: »Unsere Freunde …«
Als Edie verstummte, fuhr er fort: »Unsere Freunde haben uns von Ihnen erzählt. Die Wallaces.«
»Ah. Ja.« Ihre Stimme klang kalt. »Sie dachten, das hier sei ein vergnügliches Spiel.«
»Sie sagten uns aber, dass Sie sehr überzeugend seien. Dass Sie wahrhaftig mit den …«
Es wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
»Sie müssen es aussprechen«, verlangte Mrs Flint. »Die Zeit des Zögerns ist vorbei, lassen Sie es vor der Tür. Hier müssen Sie glauben können. Ihre Tochter?«
»Ja.«
»Wann?«
»Im letzten Winter. Die Grippe.«
»Ihr Name?«
»Eleanor.«
»Alter?«
»Sieben«, sagte Edie. »Und zwei Monate. Und zehn Tage.«
Mrs Flint schnalzte mit der Zunge. »Was für ein Unglück, so eine Verschwendung. Kinder sind jedoch oft schwerer hervorzulocken. Das Zwischenreich macht ihnen Angst. Als seien sie beim Versteckspiel zu weit gegangen und spürten die Gefahr.«
»Wir möchten ihr keinesfalls Angst machen«, sagte Edie bestürzt.
»Zwischenreich?«, fragte Ezra.
»Der Ort dazwischen. Der Nebel. Dort verharren Kinder oft und warten. Sie haben also richtig entschieden, in Verbindung mit ihr zu treten und sie zu leiten. Und Sie haben mitgebracht, worum ich gebeten hatte?«
»Haare von ihr«, bestätigte Edie und streifte ihren Trauerring vom Finger. »Und ihre Lieblingspuppe.«
Ezra zog sie aus seiner Manteltasche. Eine Stoffpuppe, so groß wie sein Unterarm, mit Porzellangesicht und Glasaugen, kastanienbraunen Locken und salbeigrünem Hut. Am weichen Puppenarm hing ein salbeigrüner Regenschirm.
»Hübsch«, sagte Mrs Flint in vernichtendem Tonfall. Sie nahm beide Gegenstände entgegen und legte sie sorgsam auf den Tisch, wo sie seltsame Schatten warfen. »Violet?«
Ezra erschrak, als die Gehilfin aus dem Schatten vortrat. Sie hatte unbemerkt die Tür geschlossen, und nun schien der Raum sehr klein, die Geräusche von der Straße klangen weit entfernt. Als Violet die Lampen an den Wänden löschte, bewegte sie sich dicht hinter den Stühlen vorbei. Schließlich nahm sie eine schwarze Kerze in einem Ständer aus einem Regal und platzierte ihn vor Mrs Flint auf den Tisch.
»Ich ziehe es vor, nicht viel zu erklären, doch es gibt ein paar Regeln«, begann sie. »Der Kreis darf nicht unterbrochen werden. Ein Klopfen bedeutet ja, zwei nein. Wir konzentrieren uns nur auf Eleanor. Blicken Sie nicht ins Dunkle, nur ins Licht.« Sie zündete die schwarze Kerze an. »Die Flamme ist dafür da, Sie zurückzubringen. An diesem Ort wird sich zeigen, was wir denken, und das ist gefährlich. Wenn Violet es gestattet, dürfen Sie Fragen stellen. Ansonsten sprechen Sie bitte nicht unaufgefordert. Womöglich zittere ich und falle in Trance – das darf Sie nicht beunruhigen. Lassen Sie unter keinen Umständen meine Hand los, Sie sind meine Verankerung. Haben Sie das verstanden?«
»Ja«, flüsterte Edie, aber Ezra hatte Bedenken. Mrs Flint hatte ihnen nicht erklärt, womit zu rechnen war. Würden Sie Eleanor hören oder sehen? Er war auf nichts davon vorbereitet. Aber Mrs Flint hielt ihm die Hand hin, ebenso wie Violet auf der anderen Seite, und Edie hatte bereits beide Hände ergriffen. Ezra tat es ihr gleich und spürte, wie kraftvoll Mrs Flints Griff war, wie kühl Violets Haut. Es war ein seltsames Gefühl, die Hände dieser Frauen zu halten.
Violet begann, langsam von zehn abwärts zu zählen. »Zehn … neun … acht …«
Ezra richtete den Blick auf die Kerzenflamme, doch als Edie bei »fünf« scharf einatmete, blickte er ruckartig auf. Sie starrte Mrs Flint an, die wie versteinert schien, die Schultern fast bis zu den Ohren hochgezogen, die grünen Augen so groß und rund wie die der Puppe auf dem Tisch.
»Vier … drei …«
Ihre Schultern sackten herunter, ihr Kopf fiel nach vorn wie bei einer Marionette.
»Zwei …«
Ezra fürchtete die nächste Zahl, doch sie kam unweigerlich.
»Eins.«
Ein bitterkalter Windstoß fegte herein. Alle Kerzen flackerten und erloschen, nur die schwarze brannte weiter. Mrs Flints Hand fühlte sich an wie ein Schraubstock, die von Violet wie Eis. Edie wimmerte, als Mrs Flint unendlich langsam den Kopf hob.
»Mrs Flint?«, fragte Violet mit klarer Stimme. Ein energisches Klopfen war zu vernehmen. Ezras Herz pochte wie wild, galoppierte, raste. Ein zweites Klopfen.
»Eleanor?«, fragte Violet.
Ein Klopfen. Ezra hielt die Luft an. So einfach konnte es doch wohl nicht sein? Ihre kleine Tochter konnte nicht so lange auf sie gewartet haben, dass sie nun aus dem Tode so schnell mit ihnen in Verbindung trat? Ein zweites Klopfen. Nein.
»Wer sind Sie?«
»Ein Begleiter«, antwortete Mrs Flint mit der Stimme eines Mannes.
»Sind Sie von Gott beseelt?«, fragte Violet weiter.
»Reines Licht.«
»Kennen Sie Eleanor?«
»Ich kenne das Mädchen, das Sie suchen. Dunkles Haar wie der Vater. Zarte Hände wie die Mutter. Hat Pferde geliebt und ihre Puppe. Clary. Die Puppe Clary.«
»Clary, ja!«, entfuhr es Edie, und Violet warf ihr einen warnenden Blick zu.
Warten Sie, sagte sie tonlos und fragte dann: »Können Sie Eleanor durchlassen?«
»Sie wollen Sie mit nach Hause nehmen?«
Violet klang beunruhigt, als sie fragte: »Was meinen Sie, Begleiter?«
»Sie will nach Hause kommen.«
Ezra schossen Tränen in die Augen, und er blinzelte heftig in der Hoffnung, sie würden sich auflösen.
»Lassen Sie mich mit ihr sprechen«, verlangte Violet.
»Sie sollte nach Hause kommen dürfen, das arme Lämmchen.« Mrs Flints Männerstimme klang beinahe drohend, und ihre Augen loderten. »Kleines Lamm, so zart und so früh aus dem Leben gerissen.«
»Sind Sie von Gott beseelt?«, wiederholte Violet, und nun wurde sie nervös. Ihre Hand zitterte, und Ezra musste sich zwingen, sie nicht zu streicheln. Wie alt Violet wohl war, sechzehn vielleicht? Fast selbst noch ein Kind.
Mrs Flint beugte sich vor, zog die Hände von Edie und Ezra näher heran, hielt sie hoch über die Kerzenflamme, die im Atemhauch zuckte. »Reines Licht.«
»Lassen Sie Eleanor los«, sagte Violet. »Machen Sie den Weg frei.«
Ruckartig kippte Mrs Flints Stuhl nach hinten, sie riss Edie und Ezra mit sich, Violet landete auf dem Tisch. Ezras Arm war so überanstrengt, dass er kaum noch festhalten konnte, doch dann kippte der Stuhl mit einem lauten Knall auf den Terrakottafliesen wieder nach vorne.
»Mama?«
Ezras Körper begann zu zittern, und tief in seiner Brust entstand ein weiß glühender Schmerz, der sich ausbreitete – Sehnsucht, schneidend scharf wie eine Klinge. Diese Stimme war keine Parodie einer Kinderstimme, es war die Stimme eines Kindes. Seines Kindes. Ihrer Eleanor.
Edies Gesicht war verzerrt, sie weinte lautlos, doch als Ezra den Mund öffnete, warf Violet auch ihm einen warnenden Blick zu.
»Ist da Eleanor Griffiths aus Cambridge Gate?«
»Ist meine Mama da?«
»Deine Mama Edith?«
»Edie. Mama.«
Violet nickte Edie zu, doch die schüttelte den Kopf. Ezra konnte sie verstehen, seine Kehle war auch wie zugeschnürt. Als Violet ihn auffordernd ansah, schluckte er mehrmals und sagte:
»Eleanor, hier ist Papa.«
Mrs Flint legte den Kopf schief und horchte aufmerksam.
»Papa?«
»Ja, mein Liebling. Ich bin hier. Und deine Mama auch. Wir beide.«
»Mir ist kalt, Papa.«
»Mein Liebes. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«
»Kommst du mich holen?«
Edie schluchzte auf, und Ezra erkannte, was für ein Narr er gewesen war. Wieso hatte er das alles zugelassen? Wozu sollte das gut sein?
»Es ist alles in Ordnung, Liebes. Geh einfach los.«
»Ich kenne den Weg nicht.«
»Der Begleiter.« Er versuchte, nicht fragend zu klingen, und sah Violet an. »Man wird dir den Weg zeigen.«
Eine Stille trat ein, die endlos zu sein schien.
»Eleanor?«, fragte Ezra. »Bist du noch da?«
»Papa?« Nur mehr ein Flüstern, so flehend, dass Ezra an das letzte Weihnachtsfest denken musste, an ihr letztes Zusammensein, an den heißen Atem seiner Tochter an seiner Wange. Papa, kann ich noch ein Geschenk aufmachen?
Zum ersten Mal, seit sie mit der Stimme seiner Tochter sprach, schaute er Mrs Flint an und bereute es augenblicklich. Denn ihr Gesicht mit dem starren Blick, den Falten und Furchen konnte Eleanors glatten Kinderwangen kaum weniger gleichen.
Doch als Mrs Flint ihm mit einer Kopfbewegung bedeutete, näher zu kommen, gehorchte er. »Papa«, flüsterte sie. »Ich mag ihn nicht. Er will mich hierbehalten.«
Grauen erfasste Ezra. »Er?«
»Hilf mir, Papa. Bring mich nach Hause.«
Ein weiterer heftiger Windstoß, und die schwarze Kerze erlosch.
Von da an suchten sie Mrs Flint wöchentlich auf. Jedes Mal mussten sie aufs Neue mit dem Begleiter beginnen, den Violet fragte, ob er von Gott beseelt sei, worauf er antwortete, er sei reines Licht. Doch wenn sie nach Mrs Flints Trancen über das Erlebte sprachen, kamen alle Anwesenden überein, dass Eleanor von etwas festgehalten wurde, und das war nicht hell und licht, sondern dunkel und finster.
Edie und Ezra fragten sich seither verängstigt, was ihr Kind durchmachen musste. Kämpfte Eleanor um ihre Seele, die ins Höllenfeuer geraten war? War dieser Begleiter ein Dämon? Möglich war es, sogar wahrscheinlich. Obwohl Mrs Flint erklärte, dass Eleanor keinen Körper besäße, dem etwas angetan werden könnte, zehrten solche Ängste Tag und Nacht an Ezra. Damals konnte er den wöchentlichen Besuch der Etablissements in der Harley Street noch bezahlen, musste aber feststellen, dass er dort zum Beischlaf nicht mehr imstande war und sich auch an den Reizen der jungen Frauen, Mädchen eigentlich, nicht erfreuen konnte, weil er ständig an seine Tochter denken musste, die mit diesem teuflischen Begleiter im Zwischenreich feststeckte. Zum ersten Mal sah er sich selbst mit den Augen dieser jungen Frauen, hörte, wie leer ihr Lachen klang, und spürte, dass seine Liebkosungen, selbst der zärtlichen Art, nur geduldet, nicht erwünscht waren.
Bei einer Sitzung dann, der achten, kam es zu einer dramatischen Wendung. Als Eleanor wurde Mrs Flint wie von einer fremden, rasenden Macht so vehement nach vorn geschleudert, dass sie mit der Stirn auf den Tisch prallte. Eine rote Schwellung bildete sich, die rasch zu einer dicken Beule anschwoll, in der Ezra mit eigenen Augen etwas zucken sah, als wolle sich ein Insekt ins Gehirn der Spiritistin schlängeln.
Ezra gelang es nicht mehr, sich zu beherrschen. »Das ist unerträglich!«, brüllte er gequält. »Das ist unerträglich!«
Danach schlug Edie vor, Mrs Flint und ihre Gehilfin könnten zu ihnen ins Haus ziehen, damit eine tägliche Begegnung mit Eleanor möglich sei. Die Gebühren waren hoch, aber anfänglich zumindest war es ihnen ein Leichtes, die beiden zu beherbergen. Als dann nach und nach Ziergegenstände, Teppiche und klobige Goldringe verkauft werden mussten, die Edie ohnehin nicht mehr trug – was spielte das für eine Rolle? Eleanor fürchtete sich und steckte mit einem unheimlich raunenden, zwielichtigen Mann an einem Ort fest, zu dem nur Mrs Flint Zugang hatte. Um diesen Zustand zu beenden, waren die Eltern bereit, jeden Preis zu bezahlen.
Mrs Flint hatte sich die komfortabelsten Gästezimmer ausgesucht, Violet war in den Dienstbotenräumen untergebracht. Sie war ein wunderliches Wesen, das schattengleich durch die Gänge des gewaltigen Hauses huschte. Begegnete sie Ezra, hielt sie den goldlockigen Kopf gesenkt, doch die keusche Geste schien ihm nur vorgetäuscht. Wenn ihm nachts eine Pause von den Albträumen vergönnt war, träumte er von Violet und erwachte erhitzt und begehrlich, angewidert von seinem eigenen Verlangen.
Nachdem die Köchin, die Hausmädchen, die Diener entlassen werden mussten, die Lieferungen des Luxuskaufhauses abbestellt wurden, im Esszimmer kaum noch Möbel standen und der Schreibtisch von Ezras Vater zum Pfandleiher gebracht wurde, ging den Griffiths jedes Gefühl dafür verloren, was kostbar war, und so erachteten sie auch die Seele einer Fremden nicht mehr für wertvoll.
Mrs Flint weilte bereits zwei Monate im Haus, als sie endlich bereit war, die Frage zu beantworten, ob man noch mehr tun könne, als nur mit Eleanor zu sprechen. Die Spiritistin schickte Violet zum Haus in Holborn, und sie kehrte mit einem kleinen Buch zurück, auf dessen rotem Einband ein zweifellos sehr unheiliges Symbol prangte. Dieses Werk sei vor Jahrhunderten in Deutschland aus einem Hexenhaus entwendet worden, berichtete Mrs Flint. Die byzantinischen Buchstaben waren von Hand gedruckt, und obwohl Ezra drei Sprachen beherrschte, konnte er nur wenige Worte verstehen. Diese überzeugten ihn jedoch davon, dass dieses Buch echt war, zumindest von jemandem verfasst sein musste, der kein Scharlatan war.
Der Gedanke, dass Mrs Flint selbst womöglich eine Betrügerin sein könnte, war schon lange verschwunden, wenn er überhaupt jemals existiert hatte. Sie wusste so viel über Eleanor wie Ezra und Edie selbst, und die Stimme, die sie hörten, war die Stimme von Eleanor, daran gab es keinerlei Zweifel. Edie verhielt sich ehrfürchtig gegenüber der Spiritistin, und Ezra verabscheute sie beinahe. Es war ihm zuwider, dass sie von dieser Person abhängig waren und nur durch sie von Eleanors Leid erfahren hatten. Manchmal wünschte er sogar, nichts davon zu wissen, obwohl das natürlich herzlos war. Wozu waren Eltern schließlich da, wenn nicht um den Schmerz des Kindes so deutlich zu fühlen, wie es selbst?
Die Schwierigkeit, erklärte Mrs Flint, bestand darin, dass der Begleiter stets lauschte, auch wenn sie mit Eleanor selbst sprachen. Ezra sah einen Mann mit dunklem Mantel und Bart vor seinem inneren Auge, einen Mann mit fahler Haut und bohrendem Blick.
»Deshalb darf Eleanor keinesfalls von unserem Plan erfahren, wie er auch aussehen mag«, sagte Mrs Flint.
»Aber es kann einen Plan geben?«, fragte Edie, ein tränennasses Taschentuch in den Händen wringend. »Können wir sie aus dem Zwischenreich befreien?«
»Denkbar wäre es.« Die Spiritistin blickte zwischen den Eheleuten hin und her. »Wir könnten aber auch … Vielleicht wäre es sogar möglich …«
»Sie lebendig hierher zurückzubringen?«, krächzte Ezra. Edie sah einen Augenblick lang erschrocken aus, dann geradezu gierig.
»Wir können Eleanor zurückholen?«
»Sie ist noch kein ganzes Jahr fort. Versucht habe ich das allerdings noch nie.« Mrs Flint sah so unsicher aus, wie Ezra sie noch nie erlebt hatte. »Und miterlebt habe ich es auch nie. Aber ich weiß, dass es gelungen ist, in Amerika und in Mitteleuropa.« Sie klopfte auf das blutrote Buch. »In Deutschland.«
»Und in diesem Buch steht, wie man vorgehen kann?«
»Ja.«
»Dann müssen wir es versuchen«, drängte Edie.
»Es ist allerdings durchaus riskant«, fügte Mrs Flint hinzu und warf einen raschen Blick auf Violet, die bleich und angespannt aussah. »Es gibt einen Grund, warum wir solche Vorgänge nicht durchführen. Es erfordert immenses Wissen und einen ungeheuren Aufwand an Vorbereitung …«
»Wir können bezahlen«, platzte Edie heraus, und Mrs Flint hob die Hand und nickte beschwichtigend.
»Das Heikelste ist, dass ein Wirt benötigt wird.«
»Aber wir können hier jeden bewirten«, erwiderte Ezra, »was es auch kostet.«
Mrs Flint warf ihm einen mitleidigen Blick zu, der seinen Hass auf sie noch schürte. »Eine Wirtsperson für ihre Seele, Mr Griffiths.«
Stille trat ein.
»Das kann ich übernehmen«, sagte Edie dann.
»Nein, es muss ein Mädchen in Eleanors Alter sein.«
Wie tief sie gesunken waren, zeigte sich daran, dass Ezra nicht einmal Gewissensbisse verspürte.
»Und sie muss dazu bereit sein. Oder sich wenigstens nicht dagegen wehren«, fügte Mrs Flint hinzu.
»Wie sollen wir so ein Mädchen finden?«
»Vielleicht, indem man eine Halbwahrheit erzählt. Keine fünf Meilen von hier gibt es Elendsviertel voller Kinder, die nur mit Mühe überleben. Gewiss würden etliche davon hier leben wollen, in so einem Luxus.«
Ezra vermied es, sich in dem Raum umzusehen, in dem es kaum noch Mobiliar gab, dafür aber jede Menge Staub.
»Was machen wir mit diesem Kind?«, flüsterte Edie. »Müsste man … ihr wehtun?«
»Nein«, antwortete Mrs Flint bestimmt. »Wenn der Geist in jemanden fährt, wird nur die eigentliche Persönlichkeit verdrängt. Sie verkriecht sich in die Tiefen. Man könnte sie aber auch übertragen.«
»Übertragen?«
»In einem Gegenstand einschließen, einer Puppe zum Beispiel. Viele von diesen Gossenkindern haben kaum einen eigenen Willen.«
Violet zuckte zusammen, doch das bemerkte nur Ezra.
»Ein Kind aus dem Armenhaus als Hausmädchen einstellen?«, bemerkte Edie. »Oder ein Kind aus einem Waisenhaus adoptieren?«
»Das ist in beiden Fällen mit zu vielen offiziellen Unterlagen verbunden«, antwortete Mrs Flint. »Es gibt kein Gesetz, das unseren Plan ausdrücklich untersagt, wie zu Zeiten der Hexenverfolgungen. Aber er entstammt durchaus dem Okkulten …«