Guild Wars Band 2: Die Herrschaft der Drachen - Robert J. King - E-Book

Guild Wars Band 2: Die Herrschaft der Drachen E-Book

Robert J. King

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Beschreibung

DAS SCHICKSAL RUFT - SIE FOLGEN ... In den dunklen Tiefen Tyrias sind die Alten Drachen aus ihrem jahrhundertealten Schlaf erwacht. Zunächst erhob sich Primordus und jagte die Asura aus ihrem unterirdischen Reich an die Oberfläche. Ein halbes Jahrhundert später erwachte Jormag und zwang die Norn zur Flucht aus den Südlichen Zittergipfeln. Eine Generation später kehrte Zhaitan in einer kontinenterschütternden Umwälzung zurück, wobei unter anderem die Hauptstadt der Menschennation Kryta überflutet wurde. Die Völker Tyrias stehen am Abgund. Helden warfen sich der Bedrohung mutig entgegen, nur um zu willfährigen Dienern zu werden; Armeen stellten sich den Drachen und wurden mühelos hinweggefegt; die Zwerge opferten ihr gesamtes Volk, um einen einzelnen Drachen-Champion zur Strecke zu bringen. Die Tage der Sterblichen scheinen gezählt ... Aus den Reihen der Geschlagenen erheben sich 6 mutige Streiter, die für ihre Völker in die Schlacht ziehen wollen: Eir, die Norn- Jägerin; Snaff, der geniale Asura und seine Assistentin Zojja; Rytlock, der wilde Charr-Krieger; die Sylvari Caithe und Logan, der menschliche Hauptmann der Seraph-Wache. Zusammen bilden sie die legendäre Abenteurergruppe Klinge des Schicksals - und das Schicksal Tyrias liegt nun in ihren Händen ...

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Roman

Von J. Robert King

Ins Deutsche übertragenvon Tobias Toneguzzo & Andreas Kasprzak

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Deutsche Ausgabe: Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87, 70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., New York.

Amerikanische Originalausgabe: “Guild Wars: Edge of Destiny” by J. Robert King, published in the US by Pocket Star Books, a Division of Simon and Schuster, Inc., January 2011.

Copyright © 2011 by ArenaNet, Inc. All Rights Reserved. NCsoft, the interlocking MC logo, ArenaNet, Guild Wars, Guild Wars 2, Ghosts of Ascalon, and all associated logos and designs are trademarks or registered trademarks of NCsoft Corporation.

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

No similarity between any of the names, characters, persons and/or institutions in this publication and those of any pre-existing person or institution is intended and any similarity which may exist is purely coincidental. No portion of this publication may be reproduced, by any means, without the express written permission of the copyright holder(s).

Übersetzung: Andreas Kasprzak

Lektorat: Jesper Hollenberg & Andreas Kasprzak für Grinning Cat Productions

Redaktion: Mathias Ulinski, Holger Wiest

Chefredaktion: Jo Löffler

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Cover Art by Kekai Kotaki

Für Eli, die leidenschaftliche Spielerin,

für Aidan, den begeisterten Zuhörer,

Danksagung

Mein herzlicher Dank gebührt allen Mitarbeitern bei ArenaNet, insbesondere Will McDermott, Ree Soesbee, Jeff Grubb, James Phinney, Randy Price, Steve Hwang, Colin Johanson und Bobby Stein. Ein besonderes Dankeschön auch an Jeff Strain, Patrick Wyatt und Mike O’Brien, die Gründer von ArenaNet und Schöpfer von Guild Wars.

Mein Dank gilt außerdem Pocket Books und Ed Schlesinger und meinen Autorenkollegen Matt Forbeck und Jeff Grubb.

Und ein ganz besonderer Dank an Jennie und die Jungs dafür, dass es sie nicht stört, wenn ich gegen Drachen kämpfe.

Zeitachse

10000 vor dem Exodus

Der Letzte der Großen Riesen verschwindet vom Kontinent Tyria.

205 v.d.E.

Die Menschen erscheinen auf dem Kontinent Tyria.

100 v.d.E.

Die Menschen vertreiben die Charr aus Ascalon.

1 v.d.E.

Die Menschengötter schenken den Völkern von Tyria die Magie.

0

Exodus der Menschengötter.

2 nach dem Exodus

Orr wird eine unabhängige Nation.

300 n.d.E.

Kryta wird als Kolonie von Elona gegründet.

358 n.d.E.

Kryta wird eine unabhängige Nation.

898 n.d.E.

Der Große Nordwall wird errichtet.

1070 n.d.E.

Die Charr-Invasion in Ascalon beginnt. Die Zeit des Großen Feuers bricht an.

1071 n.d.E.

Orr versinkt.

1072 n.d.E.

Die Ascalonier fliehen nach Kryta.

1075 n.d.E.

Kormir wird zur Göttin.

1078 n.d.E.

Primordus, der Alte Feuerdrache, regt sich, erwacht jedoch nicht. Die Asura erscheinen auf der Oberfläche. Die Transformation der Zwerge beginnt.

1080 n.d.E.

König Adelbern ruft die Ebon-Vorhut zurück. Gründung von Ebonfalke.

1088 n.d.E.

Königin Salma eint Kryta.

1090 n.d.E.

Die Charr erobern Ascalon. Das Feindfeuer beginnt.

1105 n.d.E.

In den Zittergipfeln wird das Kloster von Durmand gegründet.

1112 n.d.E.

Die Charr errichten die Schwarze Zitadelle auf den Ruinen der Stadt Rin in Ascalon.

1116 n.d.E.

Kalla Brandklinge führt die Rebellion gegen die Schamanenkaste der Flammen-Legion an.

1120 n.d.E.

Primordus erwacht.

1165 n.d.E.

Jormag, der Alte Eisdrache, erwacht. Die Nornen fliehen nach Süden in die Zittergipfel.

1180 n.d.E.

Ventari, der Prophet der Zentauren, stirbt beim Bleichen Baum und hinterlässt die Ventari-Tafel.

1219 n.d.E.

Zhaitan, der Alte Untotendrache, erwacht. Orr erhebt sich aus dem Meer. Löwenstein wird überflutet.

1220 n.d.E.

Die Stadt Götterfels wird in Kryta in der Provinz Schattenmoor gegründet.

1230 n.d.E.

Korsaren besetzen die allmählich wieder trocknenden Ruinen von Löwenstein.

1302 n.d.E.

Die vom Bleichen Baum abstammenden Sylvari erscheinen erstmals an der Befleckten Küste.

1319 n.d.E.

Eir Stegalkin gründet eine Gruppe von Helden, die als die „Klinge des Schicksals“ bekannt werden.

Prolog

Traum und Albtraum

Die Flammen leuchteten wie Herbstlaub – rot und golden. Sie prasselten laut, als der Wind durch sie hindurchfegte und Funken in den Himmel hinaufwirbelte.

Das gesamte Dorf stand in Flammen: Strohdächer, Flechtwerk, Gebälk – alles verwandelte sich in Asche und wurde vom Wind davongetragen.

Caithe beobachtete, wie die Häuser und ihre Bewohner verbrannten.

Sie war zu spät gekommen. Das Feuer hatte bereits alles zerstört.

Trotz der Vernichtung, die sie anrichteten, boten die Flammen doch einen wunderschönen Anblick.

Caithe, eine der Erstgeborenen der Sylvari, sprang von dem Felsen hinunter, auf dem sie gekauert hatte, und ging langsam auf die brennende Siedlung zu. Wie alle Mitglieder ihres Volkes war sie schlank und geschmeidig, das Kind eines großen Baumes in einem heiligen Wald. Sie war eins mit der Natur, eins mit der Welt. Das Leder ihrer Kleider war verziert mit den Mustern und Zeichen ihrer Heimat. Sie strich sich das silbrig schillernde Haar aus der Stirn und suchte in dem zerstörten Dorf nach Zeichen von Leben um … Doch das Einzige, was sich noch rührte, waren die Flammen. Sie lauschte nach Stimmen, hörte jedoch nur noch das Prasseln des Feuers.

Caithe hatte keine Angst vor den Flammen. Sie war jung und stark, unbeugsam und furchtlos wie das Feuer selbst. Und sie war neugierig. Diese Eigenschaft war es auch, die sie hierher geführt hatte. Das Feuer war interessant.

Wer hatte es gelegt? Und warum? Wie hatte dieses Dorf geheißen, ehe es sich in Asche verwandelt hatte?

„Es geht doch nichts über ein schönes Freudenfeuer“, erklang eine tiefe weibliche Stimme, die Caithe vertraut war.

Caithe wandte sich um. Die Sylvari, die hinter ihr stand, trug ein schwarzes Orchideenkleid, als wäre sie unterwegs zu einem festlichen Ball. Caithes große Augen verengten sich. „Was tust du hier, Faolain?“

Die Angesprochene verzog die Lippen zu dem bitteren Lächeln einer Süchtigen. „Das Feuer hat mich angelockt.“

„Wie eine Motte.“

„Wie dich.“

Caithe schnitt eine Grimasse. Sie und Faolain hätten nicht verschiedener sein können. Schon immer war das so gewesen, seitdem sie ihren Kokons am Mutterbaum entstiegen waren: Faolain hatte Fragen gestellt, während Caithe nach den Antworten suchte. Nichtsdestotrotz waren sie Freundinnen gewesen. Gute Freundinnen sogar, die beschlossen hatten, gemeinsam die Welt zu erkunden. Als sie älter wurden, traten die Unterschiede zwischen ihnen jedoch immer deutlicher zum Vorschein. Während Caithe stark und aufrecht war wie ein junger Baum, erinnerte Faolain an Giftefeu, denn sie war verkrümmt und verdorben.

„Hast du dieses Feuer gelegt?“, fragte Caithe.

Faolain warf den Kopf in den Nacken. Ihr schwarzes Haar bauschte sich auf, und Rauch kräuselte aus ihrer Nase, als sie ausatmete. „So sehr mir der Gedanke auch gefällt, nein, ich war es nicht. Die Zerstörer sind dafür verantwortlich – Magmamonster.“

Caithe schüttelte grimmig den Kopf. „Sie säen überall Tod und Verwüstung.“

Ihre ehemalige Freundin zuckte die Schultern. „Der Alte Drache Primordus erobert sich die Welt zurück.“

Aus einem brennenden Stall drang ein lautes Stöhnen zu ihnen herüber. Caithe eilte zu dem Gebäude, riss die Tür auf und blickte sich suchend um. Dichter schwarzer Rauch wogte über dem Heu, und auf dem Dreschboden züngelten Flammen empor. Eine rußgeschwärzte Gestalt lag vor der gegenüberliegenden Wand. Eigentlich hätte sie schon längst erstickt sein müssen, doch sie lebte noch und stöhnte.

Caithe sprang zwischen den Flammen hindurch, die nach ihrem grazilen Körper leckten, mit der Schnelligkeit ihrer Bewegungen jedoch nicht mithalten konnten, und ließ sich neben dem Überlebenden auf die Knie sinken. Er hatte keine Augen mehr, sein Gesicht war nur noch eine rissige Kruste über rotem Fleisch und zuckenden Muskeln, und seine Lippen waren geschmolzen. „Das brennende Biest … brennende … brennende …“

„Ich bin hier, um dir zu helfen“, sagte Caithe.

„Welch süße Worte“, flüsterte Faolain, als sie sich neben Caithe kniete. „Die Hoffnung ist das Öl auf den Flammen der Verzweiflung.“

„Was ist mit meiner Haut?“, krächzte der Überlebende. „Sind die Verbrennungen schlimm?“

„Ja“, sagte Caithe sanft.

Faolain lachte. „Wie grausam du doch bist.“

„Sie kamen aus dem Boden“, murmelte der Mann. „Sie kletterten aus dem Erdreich. Wie Kakerlaken. Schwarz, mit Körpern aus purem Feuer …“

„Zerstörer“, sagte Faolain.

„Wir holen einen Arzt.“

„Einen Arzt?“ Faolain packte Caithes Arm und grinste böse. „Du tust das wegen mir, nicht wahr?“

„Was? Ich versuche nur, ihm zu helfen!“

„Ich bitte dich! Er ist schon tot, er weiß es nur noch nicht. Du quälst ihn wegen mir, habe ich recht?“

„Nein! Das tue ich nicht.“

Faolains Augen blitzten. „Du willst, dass er mir leidtut. Dass ich Mitleid mit ihm empfinde.“

„Nein!“, entgegnete Caithe. „Ich meine … natürlich will ich, dass du Mitleid mit ihm hast, aber …“

„Helft mir!“, heulte der Mann, und seine Lippen platzten auf.

„Das werden wir“, flüsterte Caithe beruhigend.

Faolain schloss ihre Augen, und die Muskeln in ihrem Kiefer spannten sich an. „Du kannst mich nicht mehr auf deine Seite zurückziehen.“

„Das versuche ich doch gar nicht.“

„Dann lass es mich versuchen“, gurrte Faolain. „Komm mit mir, Caithe. Schließe dich dem Nightmare Court an.“

„Lass mich in Ruhe. Ich muss ihm helfen“, schrie Caithe. Sie schob ihre Arme unter den Körper des Verletzten und hob ihn hoch. Dann ging sie auf die Tür der Scheune zu.

Faolain stellte sich ihr in den Weg, drückte ihre Hand gegen Caithes Brust. Die Berührung ihrer Finger war heißer als jedes Feuer. Plötzlich spürte Caithe etwas anderes Warmes: das Blut des Bauern, das aus seiner durchschnittenen Kehle spritzte. Ungläubig starrte sie auf den Dolch in Faolains Hand.

„Was …?“ Sie taumelte zurück und fiel auf die Knie. „Du hast ihn ermordet!“

„Ich habe ihn erlöst. Jetzt komm mit mir.“

„Niemals werde ich mich dem Nightmare Court anschließen. Niemals!“

Faolains Augen verengten sich zu Schlitzen. „Meine Berührung – und das Opfer dieses Mannes – haben die Dunkelheit in dir erweckt.“ Sie wandte sich um und stapfte zur Tür, ohne auf die Flammen zu achten. „Bald schon wirst du mir gehören.“

1. Teil

Die Zusammenkunft der Helden

1. Kapitel

Nornen und Narren

„Schau wild und furchterregend drein!“

Der Kopf des riesigen Wolfs zuckte hoch, und seine Augen blitzten.

„Ja, bleib so! Beweg dich nicht!“

Niemand konnte Garm befehlen, still zu sitzen, war er doch weit mehr als ein gewöhnlicher Wolf; fünf Fuß maß er von den krallenbewehrten Pfoten bis zu den sehnigen Schultern; fast drei Zentner wog er, und das nachtschwarze Fell und die rot glühenden Augen trugen das ihre zu seiner furchterregenden Erscheinung bei. Er war ein Wesen, das geboren war, zu jagen, zu reißen und zu zermalmen – nicht, um still zu sitzen oder Befehlen zu gehorchen. Und das tat er auch nicht, weder das eine noch das andere.

Nur für Eir Stegalkin machte er eine Ausnahme.

Garm neigte den Kopf und blickte die Nornenkriegerin an. So wie er ein Riese unter den Wölfen war, so war auch sie eine imposante Erscheinung, die ihresgleichen suchte. Wenn sie die Arme nach oben streckte, konnte sie die Decke berühren, die sich zwölf Fuß über dem Boden befand. Der Holzhammer in ihrer Rechten, den ein normaler Mensch nur mit beiden Händen hätte schwingen können, wirkte geradezu winzig.

Eirs durchdringender Blick richtete sich auf Garm, woraufhin der Wolf den Kopf wieder nach vorn wandte und versuchte, wild und furchterregend dreinzuschauen.

Es war nicht so, dass er Angst hatte vor dieser Titanin, ebenso wenig vor dem Hammer, der nun wieder durch die Luft sauste und mit einer gewaltigen Wucht auf den Meißel in Eirs linker Hand prallte. Mehrere Splitter fielen von dem großen Granitblock, an dem die Norn arbeitete, zu Boden. Garms Blick huschte noch einmal hinüber zu diesem gewaltigen schwarzen Quader. Noch war er unförmig und von den Meißelhieben wie von Pockennarben übersät, aber bald schon würde er sich in eine Statue verwandeln. Eine Statue, die ihn darstellte. Doch auch das war nicht der Grund, warum der riesenhafte Wolf stillhielt.

Er hielt still, weil Eir das Alphatier war.

Erneut sprengte der Meißel einen länglichen Granitbrocken aus dem Block. Dann noch einen. Und noch einen. Allmählich nahm der schwarze Stein Konturen an. Weitere Brocken fielen zu Boden, und je länger Eir den Granit bearbeitete, desto kleiner wurden sie – aus Brocken wurden Splitter, und aus Splittern wurde schließlich feiner Staub.

Garms Statue nahm zusehends Gestalt an.

Eir trat von ihrem Werk zurück und fuhr sich mit einem Arm über die schweißbedeckte Stirn. Ihr Gesicht hatte etwas Statuenhaftes, etwas Erhabenes und Unerschütterliches. Ihre moosgrünen Augen bildeten einen interessanten Kontrast zu der roten Mähne, die sie für gewöhnlich mit einem Lederband bändigte, um ungehindert arbeiten zu können. Die lederne Schürze, die sie trug, schränkte zwar die Bewegungsfreiheit ihrer muskulösen Arme ein wenig ein, schützte jedoch ihre Brust und ihre Beine vor den umherfliegenden Steinsplittern. Ihr Gesicht nahm einen konzentrierten Ausdruck an, während ihr Blick den Formen im Granit folgte. „Das könnte mein Meisterwerk werden“, sagte sie schließlich.

Garm ließ den Blick über die anderen Statuen in der Werkstatt der Norn wandern: ein aufrecht stehender Eisbär, ein großer Elch mit einem mindestens zwanzig Fuß breiten Geweih, eine Schneeschlange, die sich vom Boden bis zur Decke um eine Säule wand – und natürlich die Armee von Nornenkriegern, die in heldenhafter Pose in Stein und Holz verewigt worden waren. Ursprünglich hatten sie keine Armee gebildet, sondern waren lediglich tapfere Krieger, von denen Eir Statuen angefertigt hatte, bevor sie auszogen, um gegen den Drachensohn, den Meisterkrieger des Alten Drachen Jormag, zu kämpfen.

Nicht einer von ihnen war wieder zurückgekehrt.

„Sei gegrüßt, Tochter des Hauses Stegalkin!“, ertönte eine Stimme vom Eingang her, und als Garm sich umwandte, sah er, wie ein Nornenkrieger seinen Kopf durch die Tür steckte. Sein Haar war zu einem struppigen Pferdeschwanz zusammengefasst und sein Gesicht von beispielloser Hässlichkeit. „Beim Bären, sind hier viele Leute!“

Hinter dem Nornen zischte jemand und schlug ihm auf die Schulter. „Das sind Statuen!“

Der Norn kniff die Augen zusammen, dann nickte er heftig, wobei sein Pferdeschwanz hin und her schwang. „Natürlich. Statuen. Aus diesem Grund sind wir ja hier.“ Er hielt inne, und sein Kopf ruckte plötzlich nach oben. Offenbar hatte er Schluckauf. „Bald schon werde ich eine von ihnen sein. Ich meine, eine von ihnen wird ich sein. Ich meine, ich werde eine Statue haben. Beim Raben, Orin, dieses Bier war höllisch stark.“

Eir stand regungslos da. Einzig die Ader an ihrer Schläfe pulsierte. „Kunden“, sagte sie schließlich und ging zur Tür hinüber.

Garm begab sich an ihre Seite.

Der Krieger an der Tür schreckte zurück und wäre beinahe rücklings umgefallen, hätte sein Freund nicht unmittelbar hinter ihm gestanden.

„Werte Krieger“, sagte Eir. „Ihr seid sicher große … Helden. Aber Ihr riecht nach Hopfen.“

„Ja!“, stieß der Mann hervor. Er schien sich von dem Schrecken erholt zu haben, den Garm ihm eingejagt hatte, und ein selbstsicheres Grinsen umspielte seine Lippen, als er über die Schulter zu der Gruppe von ungefähr zwanzig Nornenkriegern zurückblickte, die wankend im Hof standen. „Ich bin Sjord Frostfaust.“

„Sjord Frostfaust?“ Eir zog eine Augenbraue nach oben.

„Genau der. Ich bin auf dem Rücken des Schneeleoparden, mithilfe der Schwingen des Raben und auf dem … dem Rücken des Bären hierhergekommen – überhaupt auf dem Rücken jedes wilden Tieres –, um dem Drachensohn den Krieg zu erklären.“

Eir nickte. „Da müsst Ihr Euch in der Tür geirrt haben. Ich bin nicht der Drachensohn.“

Sjord lachte. „Ja, das sehe ich. Du bist Norn, ebenso wie ich.“

„Norn ja, aber nicht wie Ihr.“

„Nein! Du hast recht“, meinte Sjord, und plötzlich war der Hochmut aus seiner Stimme verschwunden. „Du bist eine Künstlerin. Ich schlage Schädel ein, und du schlägst Figuren aus dem Stein.“

Die Krieger hinter ihm lachten gellend.

Eirs Faust schloss sich fester um den Hammer, als wollte sie Sjord beweisen, dass nicht nur er imstande war, Schädel einzuschlagen.

„Das soll natürlich keine Beleidigung sein“, fuhr der Krieger fort. „Irgendwer muss ja die Statuen von uns Helden anfertigen.“

Garm blickte zu seiner Herrin auf und fragte sich, warum sie diesen Mann nicht einfach tötete. Ihn und seine betrunkenen Begleiter. Ohne jeden Zweifel war sie dazu in der Lage – so wie er selbst. Ein Wort von Eir, und Garm hätte jedem einzelnen dieser Männer die Kehle herausgerissen, bevor sie überhaupt wussten, wie ihnen geschah. Doch Eir schlug weder mit dem Hammer zu, noch gab sie Garm den Befehl anzugreifen. Sie blickte Sjord ruhig an.

„Ihr wollt also, dass ich eine Statue von Euch anfertige.“

Der Norn tippte sich mit dem Finger an die Nase, um anzudeuten, dass sie mit ihrer Vermutung den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.

„Dann sucht Euch doch eine aus“, meinte sie und deutete auf ihre Heldenarmee. „Sie alle waren tapfere, junge Narren, ebenso wie Ihr. Auch sie hielten sich für unbesiegbar und beschlossen im Rausch, die Welt zu retten. Ich bin Euch schon hundertmal begegnet, Sjord Frostfaust, und ich habe schon hundert Statuen von Euch angefertigt. Jeder dieser Männer zog aus, den Drachensohn niederzustrecken.“

Sjords Grinsen wurde nur noch breiter. „Dann verstehen wir uns also.“ Er drückte ihr einen Beutel voller Münzen in die Hand.

Eir beherrschte sich. Geduldig blickte sie den selbst ernannten Helden an. „Nehmt Euer Geld, mietet Euch ein Zimmer und schlaft Euren Rausch aus. Ihr könnt den Drachensohn nicht besiegen.“

Sjord machte einen Schritt zurück, und die Krieger hinter ihm blickten sich verunsichert an. „Du sagst also, ich soll aufgeben? Dann bist du wohl der Ansicht, dass wir zu Recht aus unserer Heimat vertrieben wurden? Wie kannst du dich gegen mich wenden, wo ich doch den Feind unseres Volkes zur Strecke bringen will?“

„Ich wende mich nicht gegen Euch. Ich warne Euch lediglich.“

„Und wovor warnst du mich?“

„Ihr habt keine Chance gegen den Drachensohn. Wenn du losziehst, um gegen ihn zu kämpfen, wirst du letzten Endes nur für ihn kämpfen.“

Sjord schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde gegen ihn antreten und ihn besiegen. Und du wirst mir ein Denkmal errichten, damit die Leute sich auf ewig an diese Heldentat erinnern. Also nimm endlich das Geld, und fang mit deiner Arbeit an.“

Eir löste den Knoten und lockerte das Band, mit dem der Beutel verschlossen war. Ein kleines Vermögen in Silber glänzte ihr entgegen. Sie seufzte. „Na schön, dann kommt, Sjord Frostfaust. Sucht Euch den Holzblock aus, der an Euren Tod erinnern soll.“

„An meinen Triumph“, korrigierte er. „Und ich will eine Statue aus Stein, nicht aus Holz.“

„Für Silber gibt es nur Statuen aus Holz. Für ein steinernes Denkmal bräuchtet Ihr schon Gold.“

Sjord schien zunächst Einspruch erheben zu wollen, ließ dann jedoch schicksalsergeben den Kopf sinken. „Na schön. Dann eben Holz.“

Eir schob sich an ihm vorbei und trat in den Hof hinaus. Garm folgte ihr. „Wie wäre es mit einer mächtigen Tanne?“, fragte sie, während sie an den Steinblöcken und Baumstämmen entlangging, die an der Wand ihrer Werkstatt aufgereiht waren. „Tanne ist ohnehin besser als Stein. Eine Tanne lebt. Sie wächst aus dem Stein. Ihre Wurzeln durchdringen den Stein und zermahlen ihn zu Staub.“

„Ja“, sagte Sjord, und das überhebliche Funkeln kehrte in seine Augen zurück. „Also, aus welchem dieser Stämme soll meine Statue angefertigt werden?“

„Dieser hier“, antwortete Eir und deutete auf den Stamm einer Tanne, der drei Fuß breit und neun Fuß lang war. „Das wird Euer Denkmal.“

Sjord blickte den Stamm an, als könnte er seine eigene Gestalt schon unter dem Holz erkennen. „Gut“, meinte er dann und neigte den Kopf. „Jetzt beginne mit der Arbeit.“

Eir nickte grimmig, hob den schweren Stamm hoch und trug ihn in die Mitte des Hofes. „Stellt Euch dort drüben hin.“

Sjord begab sich an die gewünschte Stelle und bedeutete seinen bierseligen Begleitern, sich um ihn herum aufzustellen. Voller ehrlicher Bewunderung blickten sie ihn an und nahmen ihm zu Ehren einen weiteren ordentlichen Schluck aus ihren Krügen.

„Bewegt Euch nicht!“, befahl Eir.

Sjord warf sich in Positur und erstarrte, einen bemüht Furcht einflößenden Ausdruck auf dem Gesicht.

Garm wusste, wie er sich jetzt fühlte.

Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, ging Eir in die Werkstatt. Nach einigen Augenblicken tauchte sie wieder auf, einen breiten Gürtel mit zahlreichen Schlaufen um die Hüften geschlungen; mehrere Beile, Messer und Meißel steckten darin. Sjords Gefolgsmänner stießen leise Ohs und Ahs aus, als sich die Bildhauerin vor dem Baumstamm aufbaute.

„Geist des Wolfes, leite meine Hand.“

Einige der Betrunkenen lachten, doch ihr Gelächter blieb ihnen im Halse stecken, als Eir hinter ihren Rücken griff und mit jeder Hand eine Axt aus ihrem Gürtel zog. Sie hob die Waffen und ließ sie über ihrem Kopf kreisen.

Garm setzte sich auf die Hinterbeine und beobachtete das Spektakel.

Diese Männer hatten keine Ahnung, dass sie eine Naturgewalt entfesselt hatten. Eir war weit mehr als eine Bildhauerin. Ihr Aufruf an den Geist des Wolfes war kein Gebet gewesen, sondern ein Befehl. Die Mächte des Nordwaldes flossen durch ihren Körper, strömten in ihre Arme, ihre Hände, ja sogar in die Äxte, die sie hielt.

Sie begann mit ihrer Arbeit.

Eine der scharfen Klingen sauste mit brachialer Gewalt herab und hackte ein gewaltiges Stück aus dem Baumstamm. Dann fuhr die andere Axt herab, so schnell wie ein Blitz, und schnitt durch das Holz, als wäre es Wasser. Eir hob die Waffen wieder über den Kopf, wirbelte sie herum und ließ sie erneut hinabschnellen. Dann noch einmal. Und noch einmal. Schneller und immer schneller. Der Stamm wurde rasch schmaler, und bereits nach wenigen Minuten nahm er die groben Umrisse eines menschlichen Körpers an, während Eir weiter alles abschlug, was nicht Sjord Frostfaust war.

Ihr Modell posierte nicht mehr, vielmehr stand es mit offen stehendem Mund da und schien vor Staunen erstarrt zu sein.

Eir wirbelte um die Tanne herum, und ihre Äxte sausten so schnell auf das Holz hinab, dass sie vor den Augen der fassungslosen Beobachter verschwammen. Unvermittelt unterbrach sie ihren ekstatischen Tanz und steckte die Äxte zurück in den Gürtel. Nun zog sie zwei kleinere Beile hervor und machte sich daran, die groben Konturen abzurunden und ihnen die Form des selbst ernannten Helden zu geben.

„Stellt Euch gerade hin!“, befahl sie Sjord, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil in ihrer Arbeit innezuhalten.

Frostfaust zuckte zusammen und nahm rasch wieder seine Pose ein.

Und das keinen Moment zu früh, denn nun holte Eir einen Dolch und einen Stechbeitel hervor und arbeitete mit komplexen Bewegungen und unglaublicher Vorsicht die Details ihres Modells heraus. Geringelte Späne und feine Flocken schälten sich von dem Holz und schwebten zu Boden.

„Das bin ja wirklich ich“, stieß Sjord ungläubig hervor.

Und tatsächlich war aus dem Stamm der Tanne mittlerweile ein Mann mit Sjords Kleidung, seinem Haar und seiner Statur geworden.

„Bär, leite meine Hand.“

Nun wanderten auch der Dolch und der Meißel in den Gürtel zurück, und kleine, scharfe Messer kamen zum Einsatz. Als Eir sich damit über das Holz hermachte, schien es, als würde sie mit Krallen darauf einhacken, lang und lebendig, die feine Konturen und winzige Details in den Stamm ritzten. Es schien auch nicht mehr die Muskelkraft einer Nornenkriegerin zu sein, die diese Krallen führte, sondern die urwüchsige Gewalt eines Grizzlys. Eir schien verwandelt und völlig in ihrer Kunst versunken.

Schließlich trat sie von ihrem Werk zurück, und die Aura des Bären schmolz wie Eis in der Frühlingssonne. Nun war sie wieder Eir Stegalkin, Bildhauerin und Kriegerin, und als solche ließ sie sich erschöpft auf einer nahen Bank nieder, um die Statue zu betrachten.

Sie war brillant, dem Modell perfekt nachempfunden – Sjord Frostfaust in Holz. Nichts legte davon beredter Zeugnis ab als die faszinierten Blicke der Männer, die das Modell und die Holzfigur offensichtlich kaum voneinander unterscheiden konnten.

Doch dann warfen sie die Arme in die Höhe und johlten: „Sjord! Sjord! Sjord! Sjord!“ Kurz entschlossen hoben sie den Mann, der sie alle in den Tod führen würde, auf ihre Schultern.

„Nein“, protestierte Frostfaust über ihr Grölen hinweg. „Nicht mich, die Statue! Die Statue!“

Also setzten seine Freunde ihn wieder ab und stemmten sein hölzernes Ebenbild in die Höhe. „Zum Marktplatz!“, riefen sie feierlich. „Sjord soll für alle Zeiten auf dem Marktplatz stehen!“

„Die Statue wird stehen, doch der Mann wird fallen“, murmelte Eir, als Garm sich neben ihr auf den Boden legte. Sie war völlig ausgelaugt. So ekstatisch und erfüllend diese Momente reinster Kreativität und Schöpferkraft sein mochten, so erschöpfend waren sie auch. Von ihrem Platz auf der Bank aus blickte sie Sjord Frostfaust und seinen Männern nach. „Er kann uns nicht retten. Er kann noch nicht einmal sich selbst retten.“

* * *

In dieser Nacht fand Eir keinen Schlaf. Garm hatte das schon häufig erlebt. Sie drehte sich im Bett von einer Seite auf die andere, ging in dem großen Raum auf und ab, murmelte vor sich hin, setzte sich schließlich an ihre Werkbank und fertigte Zeichnungen an. Ein Gedanke war in ihrem Kopf entsprungen, und nun wuchs er heran, so wie Kinder im Leib ihrer Mütter heranwachsen.

Garm erhob sich von seiner Decke und trottete hinüber zu der Werkbank. Interessiert ließ er seinen Blick über das Blatt schweifen, vor dem Eir saß.

Was er sah, war eine Armee aus Holz und Stein.

Eine Woche lang legte sie den Stift nicht mehr aus der Hand, saß nur in ihrer Werkstatt und zeichnete. Die einzigen Unterbrechungen bestanden in gelegentlichen gedankenverlorenen Spaziergängen über den Hof und langen, unergründlichen Blicken über die Brücken hinweg, die von Hoelbrak zu den Zittergipfeln führten. Garm kannte den Ausdruck, der in diesen Momenten in ihren Augen lag, denn er hatte ihn schon viele Male gesehen. Eir wartete auf etwas. Was immer das auch sein mochte, die Art, wie sie ihre Klingen schärfte und ihren Bogen ölte, ließ den Wolf darauf schließen, dass es nichts Gutes war.

* * *

Zwei Wochen später, als die Sonne hinter den Wolken im Westen versank, gaben die Wachtposten von Hoelbrak Alarm.

„Angreifer! Angreifer! Eisbrut!“

Eir sprang von der Werkbank auf und ging zu der Wand hinüber, an der ihre Ausrüstung für den Kampf hing. Sie streifte ihre Tunika ab und schnallte sich den bronzenen Brustpanzer um. Dann schlüpfte sie in ihre Stiefel, warf sich ihren wollenen Umhang über und einen Köcher voller Pfeile über die Schulter, bevor sie ihren Werkzeuggürtel anlegte.

Als die Verwandlung von der Künstlerin zur Kriegerin abgeschlossen war, blickte sie zu Garm hinunter. „Heute Nacht werde ich Sjord Frostfaust noch einmal mit meinen Klingen bearbeiten.“ Sie nahm den großen Bogen von der Wand und ging auf die Tür zu. „Komm.“

Garm folgte seiner Herrin über den Hof – wo die Rufe der Wachen ungleich lauter klangen und vom Stampfen eilender Schritte unterlegt waren – und hinaus auf die Straße. Bjorn, der Hufschmied, der gerade aus seiner Schmiede getreten war, eilte zu ihnen hinüber. Seine rußgeschwärzte Gestalt war in eine klirrende Rüstung gezwängt, und der Stiel eines riesigen Hammers lag in seiner Hand. Gemeinsam rannten sie die Straße hinunter, und als sie an der Weberei vorbeikamen, schloss sich ihnen Silas an, bewaffnet mit einem Kurzbogen und federgeschmückten Pfeilen. Kurz liefen auch Olin, der Juwelier, und Soren, der Zimmermann, neben ihnen her. Sie waren die Handwerker von Hoelbrak und Eir ihre Anführerin.

„Unter den Kämpfern der Eisbrut werden einige sein, die wie Nornen aussehen“, erklärte sie, als die kleine Gruppe auf die Straße zur nördlichen Brücke einbog. „Aber sie sind keine Nornen mehr. Der Drachensohn hat ihnen den Geist geraubt und sie gegen uns aufgebracht. Unter ihrer eisigen Hülle befindet sich noch immer warmes Blut und Fleisch. Sie zu töten wird also schwer werden.“

Bjorn schüttelte wütend den Kopf. „Wir schicken Narren nach Norden, und der Drachensohn schickt Armeen nach Süden.“

„Aber die Verwandelten werden nicht die schlimmsten Gegner sein“, erinnerte ihn Eir. „Der Drachensohn gebietet über etliche Kreaturen, und darunter sind auch geistlose Monster aus Eis. Mit ihnen kann man nicht reden. Man muss sie zerschmettern, oder man wird von ihnen zerschmettert.“

Silas zu ihrer Linken nickte. Er war recht dünn und klein für einen Nornen, und die tiefen Falten in seinem Gesicht zeugten davon, dass die Tage des Kampfes für ihn bald vorüber waren. „Setzen wir Pfeile gegen die Feinde ein, die wie Nornen aussehen?“, fragte er und hob seinen Bogen.

„Ja, wir müssen so viele wie möglich von ihnen töten, bevor sie die Ebene überquert haben und den Wall erreichen. Wenn es jedoch eine große Horde ist, werden sie unsere Verteidigung durchbrechen und zu den Brücken vor der Jagdhalle vorstoßen.“ Eir blickte ihre Begleiter einen nach dem anderen an. „Wir dürfen nicht zulassen, dass sie diese Brücken überqueren.“

Jedes weitere Wort war überflüssig. Rasch ließen sie die letzten Häuser der Siedlung hinter sich und rannten über die Brücke, die Hoelbrak mit den Feldern verband. Jenseits davon erhob sich ein sechs Fuß hoher hölzerner Wall, vor dem sich bereits zahlreiche Krieger versammelt hatten. Unter ihnen erkannte Eir auch Knut Weißbär und seine Gruppe handverlesener Krieger, die Wolfsgeborenen. Mit jeder Minute strömten weitere Nornen herbei, die Waffen kampfbereit erhoben.

Eir führte ihre Gefährten zwischen den anderen Kriegern hindurch zu einer freien Stelle hinter dem Wall und blickte über die dunklen Felder im Norden, ein Flickenteppich aus Moos, Flechten und kargem Gras, hinter dem die eisigen Berge aufragten.

„Ich sehe nichts“, sagte Silas und starrte mit zusammengekniffenen Augen angestrengt in die Ferne.

„Dort!“ Eir deutete mit dem Finger auf einige Gestalten, die plötzlich aus dem Nebel auftauchten. Zunächst zählte sie nur ein gutes Dutzend Krieger – kein Vergleich zu den gut hundert Nornen, die sie entlang des Walls erwarteten. Doch dann schälten sich immer mehr Krieger aus dem grauen Dunst, bis sie es zahlenmäßig mit den Verteidigern aufnehmen konnten. Schließlich waren es so viele, dass sie den Nornen mindestens zwei zu eins überlegen waren.

„Sind sie schon völlig eingefroren?“, fragte Silas. „Ich kann es nicht erkennen.“

„Die meisten von ihnen scheinen erst seit Kurzem verwandelt zu sein“, erklärte Eir. Tatsächlich waren die Rüstungen vieler Angreifer von einer nur dünnen Raureifschicht überzogen. Ihre Augen hingegen waren tot und kalt wie Eiszapfen.

„Dann werden unsere Pfeile sie durchbohren“, sagte Silas erfreut und hob mit leicht zitternden Händen seinen Bogen.

„Ja“, pflichtete Eir ihm bei. Sie nahm zwei Pfeile aus ihrem Köcher und legte sie an die Sehne ihres Bogens. Während sie die Sehne langsam spannte, sagte sie, an Silas gewandt: „Warte, bis sie das rote Moos erreichen. Dort sind sie in Reichweite deiner Pfeile, und du kannst sie besser erkennen.“ Anschließend beugte sie ihren Oberkörper zurück und feuerte die beiden Pfeile ab. Sie sausten in den dunklen Nachthimmel hinauf, schienen ewig durch die Dunkelheit zu gleiten, bis sie sich schließlich wieder dem Boden entgegensenkten. Einen Augenblick später stürzten zwei der heranstürmenden Gestalten zu Boden, doch da hatte Eir bereits die nächsten Pfeile an den Bogen gelegt und die Sehne gespannt.

Zwei weitere Feinde fielen. Noch zwei. Bald waren es schon acht. Nun legten auch die anderen Bogenschützen der Nornen auf den Feind an, und die Angreifer fielen nicht mehr zu zweien, sondern zu Dutzenden. Doch selbst das konnte ihren Vormarsch nicht stoppen. Die Überlebenden sprangen über die Leichen ihrer gefallenen Kameraden hinweg und rannten weiter auf den Wall zu. Als sie schließlich die Stelle passierten, wo rotes Moos den Boden bedeckte wie ein riesiger getrockneter Blutfleck, eröffnete auch Silas das Feuer. Sein Pfeil bohrte sich mit unglaublicher Präzision in die Stirn eines Angreifers.

„Sie sind noch nicht eingefroren!“, rief er den Umstehenden zu. „Schießt sie nieder!“

Er musste schreien, um das Geheul der anstürmenden Feinde zu übertönen; ein schrilles, an den Nerven zehrendes Kreischen, das mit jeder Sekunde lauter wurde. Es spiegelte den wahnsinnigen Willen der Angreifer wider, ihrem neuen Herrn zu dienen.

Eir hatte bereits vierzig Pfeile verschossen – keiner hatte sein Ziel verfehlt –, und nun zog sie die beiden letzten aus ihrem Köcher und jagte sie zwei Gestalten in die Brust, die einmal Nornen gewesen waren. Gerade als die Angreifer wie eine Sturmwelle gegen den Wall prallten, machte sie einen Schritt zurück.

„Wolf, leite meine Hand“, murmelte sie. Ihre Augen glühten vor grimmiger Entschlossenheit, und ihre Hände griffen nach den Äxten. Sie hob die beiden Waffen über den Kopf und ließ sie langsam kreisen.

Einer der Männer, die ihr vor wenigen Wochen bei der Arbeit zugesehen hatten, war über den Wall geklettert und landete nun mit erhobenem Schwert vor ihr. Doch nun war er kein Mann mehr und sie keine Bildhauerin. „Stirb!“, brüllte er.

Eir wich seinem Hieb aus und ließ die Äxte seitlich hinabsausen. Sie schnitten in die Schultern des Angreifers und gruben sich tiefer und tiefer in sein Fleisch, bis sie auf der Höhe seines Nabels zusammentrafen.

Noch während der Tote auseinanderfiel, wandte Eir sich dem nächsten Feind zu, der den Wall überwunden hatte.

Die Klingen ihrer Äxte teilten den Mann wie ein Stück Brot.

„Ein paar Schritte zurück!“, rief sie. „Lasst sie über den Wall klettern und tötet sie, sobald sie auf dem Boden aufkommen.“

Die anderen Handwerker von Hoelbrak kamen ihrer Aufforderung umgehend nach, und Sekunden später zuckten die Klingen ihrer Schwerter, Dolche und Äxte – und Bjorns Hammer – vor und zerfetzten die Kämpfer der Eisbrut.

Eir tanzte vor ihren Gegnern umher, wie sie sonst um die Blöcke aus Stein und Holz tanzte, und wechselte von den Äxten zu den Meißeln und Messern. Die Werkzeuge sausten durch die Luft, doch diesmal schlugen sie nicht auf Holz oder Stein ein, sondern auf gefrorenes Fleisch, und statt Körper zu formen, zerhackten sie die Leiber der Gegner. Hautfetzen und Muskelstränge flogen wie Holzspäne durch die Luft. Wirbelnd drehte sich Eir um die eigene Achse und blickte sich nach ihren Mitstreitern um.

Unmittelbar neben ihr sprang Garm vor und zurück, und seine riesigen Fänge zerfetzten Kehlen und rissen Arme aus den Gelenken.

Bjorn schlug derweil auf die Gegner ein wie auf glühende Eisen, und sein Hammer zerschmetterte Schädel und Leiber.

Olin und Soren kämpften Rücken an Rücken und droschen mit Knüppel und Stemmeisen die Eisbrut nieder.

Blieb nur noch Silas. Er hatte zwei Angreifer niedergestreckt, noch bevor sie den Wall erreicht hatten.

Doch nun nahm die Eisbrut fürchterliche Rache. Zwei erfrorene Nornen hatten ihn gepackt, und einer von ihnen riss ihm die Eingeweide aus dem Bauch, während der andere ihm das Gesicht vom Schädel kratzte.

Eir sprang zu ihnen hinüber und rammte dem Untoten den Meißel bis zum Heft in den ihr zugekehrten Rücken. Heißes Blut schäumte aus der frostigen Rüstung, und Silas’ Gedärme entglitten den schlaffen Fingern. Mit einem letzten Röcheln ging die raureifüberzogene Gestalt zu Boden. Garm hatte sich auf den anderen Angreifer gestürzt. Die Zähne tief in seine Kehle versenkt, schüttelte der Wolf ihn nun hin und her wie eine Puppe.

Eir beugte sich zu dem Weber hinab, aber es war zu spät. Sie konnte nichts mehr für ihren alten Freund tun. In seinem Bauch klaffte ein großes blutiges Loch, und sein Gesicht war in Fetzen gerissen. Silas war tot.

Rasende Wut brodelte in ihr hoch. Eir wirbelte herum, stürzte sich auf die nächsten beiden Kämpfer der Eisbrut und hackte sie in Stücke. Schon kletterte ein weiterer Angreifer über den Wall, ein Mann mit einem struppigen Pferdeschwanz.

Obwohl sein Gesicht zerschmettert war – seine Nase plattgedrückt, seine Zähne ausgeschlagen, da eine riesige Faust ihn getroffen hatte – und eine dünne Eisschicht seinen Körper umhüllte, erkannte Eir ihn sofort. Sjord Frostfausts Augen waren weiß und erfüllt von dem Zorn des Drachensohnes.

„Bär, leite meine Hand“, flüsterte Eir und trat dem toten Helden entgegen.

Es war wie an jenem Tag vor drei Wochen auf dem sonnenbeschienenen Hof ihrer Werkstatt: ein Sturm aus Stahl, der alles forthackte, was nicht Sjord Frostfaust war. Und während sie um ihn herumhuschte, wurde sie wieder zum Bären – ihre Klingen verwandelten sich in Krallen, und eine raue, urwüchsige Kraft brannte in ihren Muskeln. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie nun nicht Holz bearbeitete, sondern gefrorenes Fleisch.

Als sie schließlich von ihrem Werk zurücktrat, waren von Sjord Frostfaust nur noch Klumpen toten Fleisches übrig.

Die Macht des Bären leitete Eir von einem Feind zum nächsten, um Silas’ Tod zu rächen und Hoelbrak zu verteidigen.

Als der Kampf schließlich vorüber und sie wieder zu Eir Stegalkin geworden war, hatten die Nornen die Angreifer zurückgeschlagen, aber dennoch schien es, als hätte der Drachensohn gewonnen.

* * *

Erschöpft kehrte Eir in ihre Werkstatt zurück. Sie schälte sich aus ihrer blutverschmierten Rüstung und wusch sich bei einem langen und entspannenden Bad die Spuren der Schlacht vom Körper. Nachdem sie sich eine schlichte Tunika übergeworfen hatte, schrubbte sie Garms Fell in dem noch warmen Badewasser.

Nass, aber zufrieden trottete der Wolf schließlich zu seiner Decke hinüber und legte sich hin. Schon nach wenigen Sekunden übermannte ihn die Müdigkeit, und er sank in einen tiefen Schlaf. Nach einiger Zeit suchten ihn Träume von den Monstern der Eisbrut heim.

Eir hingegen wollte keine Ruhe finden. Sie wanderte rastlos zwischen ihren Statuen umher und hielt schließlich vor der einen inne, vor der sie immer stehen blieb. Es war das Abbild eines älteren Nornen. Sein einst so stolzer Rücken war leicht gebeugt, sein Kopf kahl und seine Augen von tiefen Ringen umgeben. Doch auf seinen Lippen lag ein hoffnungsvolles Lächeln.

„Wir haben sie aufgehalten, Vater“, sagte Eir und blickte hinunter auf die Füße der Figur. „Hätten wir sie doch nur aufgehalten, als sie kamen, dich zu holen.“ Sie legte ihre Hand in die kalte steinerne Hand der Statue. Früher, als kleines Mädchen, hatte sie die Hand ihres Vaters oft so gehalten – bevor die Eisbrut kam und sie eine Statue anfertigen musste, um ihren Vater zu sehen.

„Ich werde den Drachensohn zur Strecke bringen, Vater. Ich werde ihn töten – ihn und den Alten Drachen.“

2. Kapitel

Katz und Maus

Logan Thackeray blickte über die Schulter zurück und bedeutete den anderen Spähern mit einer Handbewegung, sich zwischen den Steinen des Geröllfeldes zu verstecken. Ohne zu zögern, kamen sie seinem Befehl nach. Logan lächelte. In ihrer dunklen Lederrüstung verschmolzen die Männer mit der Umgebung. Das war ein gewaltiger Vorteil, und ein höchst willkommener dazu, hatten sie es heute doch mit Charr zu tun.

Logan legte eine Hand hinter sein Ohr, um die Geräusche auszublenden, die der Wind von hinten zu ihm herantrug. Nun konnte er den entfernten Donner krallenbewehrter Füße deutlich wahrnehmen. Seine braunen Augen blitzten erwartungsvoll, als er sich flach auf den Bauch legte und über die Steine auf den Abhang zukroch, der wenige Fuß vor ihm steil abfiel. Dort angekommen, hob er vorsichtig den Kopf und blickte in die Tiefe.

Unter ihm erstreckte sich eine schmale Schlucht, einer der wenigen Wege, die durch diesen Teil des Flammenkamm-Gebirges führten. Im Osten, ungefähr eine Meile von seiner Position entfernt, erblickte er die Charr. In ihren glänzenden schwarzen Rüstungen erinnerten sie ihn an Kakerlaken, als sie am Boden der Schlucht entlangmarschierten.

Doch Logan hatte diese Kreaturen schon aus der Nähe gesehen und wusste nur zu gut, wie groß und stark sie waren. Fünfhundert Pfund Muskeln, Fell und Fänge. Ihre Gesichter hatten etwas Löwenartiges, und ihre Hörner waren die eines Ochsen, die massige Leiber mit krummen Beinen und scharfen Krallen an Händen und Füßen krönten. Mächtige Krieger waren sie, aber auch gierige Plünderer: Ganz Ascalon hatten sie gebrandschatzt, und einzig die Festung Ebonfalke hatte ihrem Ansturm trotzen können. Doch noch hatten die Charr nicht aufgegeben. Die Gruppe, die dort unten durch die Schlucht zog, hatte sich auf den Weg gemacht, um eine Karawane aus Götterfels zu überfallen, die Versorgungsgüter für Ebonfalke mit sich führte. Die Art, wie die Charr zwischen den Steilwänden dahinmarschierten, zeigte Logan, dass er und seine Späher noch nicht entdeckt worden waren.

„Wir müssen sie aufhalten.“ Der Fels, auf dem er lag, war von haarfeinen Rissen durchzogen. Etwas mehr Gewicht, und er würde zerspringen wie eine Eierschale. Nachdenklich blickte Logan zurück auf das Geröllfeld. „Der richtige Hebel unter dem richtigen Felsblock und zur rechten Zeit …“

Dies war genau die Art Strategie, die er bevorzugte: aus dem Nichts auftauchen, schnell und gnadenlos zuschlagen und dann wieder verschwinden. Sein Bruder mochte das unehrenhaft nennen, doch Logan zog eine Rüstung aus Leder einem Panzer aus poliertem Stahl bei Weitem vor.

Geduckt wich er vom Rand der Schlucht zurück und bedeutete seinen Leuten, ihm zu folgen. Lautlos schlichen sie einen parallel zur Schlucht verlaufenden, geröllübersäten Hang hinauf, bis Logan schließlich fand, wonach er suchte: einen gewaltigen runden Felsblock, nur wenige Dutzend Fuß vom Abgrund entfernt und von der Schlucht aus nicht zu sehen.

Im Schatten des Felsens scharten die Späher sich um ihn. „Seid ihr bereit, für das Geschlecht der Menschen zu kämpfen?“

Zwölf Augenpaare blickten ihn mit stummer Entschlossenheit an.

„Wir brauchen etwas, das sich als Hebel benutzen lässt – sucht also einen Schössling und hackt die Äste ab. Außerdem benötigen wir einen großen Stein, unten flach, oben gewölbt, über den wir unseren Hebel legen können. Dann, Freunde, werden wir einen kleinen Felsrutsch auslösen.“

„Und den Charr so den Weg blockieren“, sponn Wescott Logans Gedanken fort.

„Genau. Wir haben nicht viel Zeit. Wescott, du, Perkins und Fielding, ihr besorgt uns unseren Hebel. Fällt den Schössling möglichst leise. Die Charr dürfen euch nicht hören oder sehen. Everlee, du suchst mit Dawson und Tippett nach einem geeigneten Stein. Die anderen folgen Castor. Späht hinter diesem Kamm im Westen einen Fluchtweg aus. Die Charr werden bemerken, aus welcher Richtung der Felsrutsch kam, und sie werden hierher kommen, um herauszufinden, wer ihn ausgelöst hat.“

„Wir haben noch nie gegen Charr gekämpft“, sagte Everlee. „Wir sind Späher, Logan, nicht die Ebon-Vorhut oder die Seraph-Wachen.“

„Wir sollten den Göttern dafür danken, dass dem so ist, denn andernfalls würden wir jetzt in einhundert Pfund schweren Rüstungen stecken.“ Logan grinste. „Du hast ganz recht: Wir sind Späher. Schnell und flink. Sie werden uns nicht einholen. Los, macht euch an die Arbeit.“

Während seine Leute sich aufteilten und davonhuschten, kletterte Logan den Hang noch ein wenig weiter hinauf, bis er einen geeigneten Aussichtspunkt erreichte. Von dort aus blickte er prüfend auf den Felsbrocken hinunter, auf den geröllübersäten Abhang und die Engstelle der Schlucht, die hinter einem Wasserfall aus Steinen verschwinden würde …

In der Ferne hing eine Staubwolke, aufgewirbelt von Hunderten Füßen, wie ein Banner über der Klamm. Logan beobachtete mit gefurchter Stirn, wie dieses Banner sich wand und kräuselte und langsam immer näher kam. „Wir müssen uns beeilen.“ Er kletterte hinunter zu seinen Spähern, die sich bereits hinter dem Felsblock versammelt hatten.

Wescott und seine Männer hatten einen passenden, neun Fuß langen Schössling gefunden und die Äste abgehackt, Everlee und seine Begleiter einen geeigneten Stein herbeigeschleppt und neben dem Felsblock platziert. Auf Logans Zeichen hin nahmen die Späher nun zu beiden Seiten ihres provisorischen Hebels Stellung und schoben ihn zwischen den Stein und den Fels.

„Auf mein Kommando“, sagte Thackeray, hob den Arm und ging hinüber zu der Tanne und blickte in die Schlucht hinab. Die Charr bewegten sich direkt auf den Engpass zu. „Jetzt!“ Die Späher stemmten sich gegen den Hebel, und der Felsblock geriet knirschend in Bewegung. Schweiß trat den Männern auf die Stirn, und sie bissen die Zähne zusammen, während sie ihre Anstrengungen noch vergrößerten. Endlich hatte der Felsbrocken den Rand des kleinen Vorsprungs erreicht. Logan stemmte sich mit der Schulter dagegen, während seine Männer mit ihrem ganzen Gewicht an dem Hebel hingen, der sich zusehends durchbog. „Strengt euch an, Männer“, keuchte Logan.

Einige Sekunden wankte der Felsblock über dem Abhang, doch dann rollte er immer schneller werdend in die Tiefe. Auf den wenigen Fuß bis zum Rand der Schlucht nahm nicht nur seine Geschwindigkeit zu, sondern er löste auch zahlreiche weitere Steine und Felsbrocken. Es war eine Kettenreaktion, bis der gesamte Hang sich in ein Meer aus hinabrollenden Steinen verwandelte.

Der Boden erbebte.

Logan und seine Späher beobachteten das Schauspiel fasziniert.

Die steinerne Lawine hatte den Rand der Schlucht erreicht, und wie erwartet zerbarst der rissige Stein in tausend kleine Brocken, die ebenso wie die anderen Steine in die Schlucht hinabregneten. Eine gewaltige Staubwolke stieg über der donnernden Lawine auf, während immer mehr Geröll nachrutschte. Die Schlucht war mittlerweile völlig blockiert. Eine undurchdringliche Mauer aus Felsbrocken und Geröll hatte sich vor den Charr aufgetürmt.

„Gut gemacht“, sagte Logan und klopfte Wescott auf die Schulter.

Das Grollen der Lawine verebbte allmählich, und nur noch vereinzelt kullerte ein Stein den Hang hinab. Dafür war nun ein anderes Geräusch zu hören: ein wütendes Brüllen aus hundert Kehlen. Die Charr machten ihrem Zorn Luft.

Logan erschauderte. „Bleibt geduckt und nutzt jede Deckung, die ihr finden könnt. Castor, du führst uns. Los jetzt! Wir müssen uns beeilen!“

Die junge Frau nickte und übernahm die Spitze. Der Fluchtweg, den sie ausgespäht hatte, führte sie über den Kamm des Hügels in ein ausgetrocknetes Bachbett und von dort weiter durch einen kleinen Wald. Das mordlüsterne Schreien der Charr in der Schlucht blieb hinter ihnen zurück, und bald umgab sie wieder die Stille der Wildnis.

„Gute Arbeit“, lobte Logan seine Leute erneut. „Das hat der Karawane einen zusätzlichen Vorsprung von vielleicht einem Tag verschafft. Wenn wir Glück haben, reicht das, um Ebonfalke vor den Charr zu erreichen. Vielleicht sind sogar einige dieser Biester von den Felsen erschlagen worden. Die anderen werden jedoch unserer Spur folgen. Wir können also nicht zurück zur Karawane und müssen die Charr so weit wie möglich von ihr fortlocken, bevor es dunkel wird. Dann ändern wir die Richtung und kehren zurück. Bewegt euch leise und haltet die Augen offen.“

* * *

Zenturio Korrak Schwarzschnauze nieste. Eine kleine Staubwolke stob aus seinen Nüstern. Die gezackten Narben, die sein Gesicht überzogen, formten ein Netz – so als wäre sein Kopf auseinandergebrochen und wieder zusammengefügt worden. Sein Fell war von Grau durchzogen und seine Augen trübe, doch trotz seines Alters war er noch immer ein tüchtiger Krieger. Andernfalls hätte man ihm nicht das Kommando über die dreihundert Charr-Soldaten übertragen, die er nun durch das Flammenkamm-Gebirge führte. Er strich sich mit der Hand über seine Hörner, die nach zahllosen Schlachten zerfurcht und deren Spitzen schon vor vielen Jahren abgebrochen waren. „Ich kann es kaum erwarten, mich am Fleisch eines feisten Händlers zu laben“, knurrte er.

„Es heißt, dies sei die letzte Karawane“, sagte Offizier Sever Rußklaue neben ihm. „Königin Jennah plant angeblich, die Tore von Ebonfalke zu verstärken und ihre Truppen dort zu sammeln.“

„Soll sie doch!“, grunzte Schwarzschnauze abfällig. „Sie denkt wohl, wir würden sie belagern. Aber da irrt sie sich. Wir werden die Mauern von Ebonfalke und diese verfluchten Tore bei einem Sturmangriff niederwalzen.“ Er spuckte aus. „Aber erst einmal müssen wir diese Karawane aufhalten!“

„Wenn wir es durch diesen verfluchten Engpass schaffen“, murmelte Rytlock Brimstone.

Korrak warf dem Soldaten einen hasserfüllten Blick zu. Der Charr mit dem dunklen Fell gehörte nicht einmal zur Eisernen Legion, sondern war ein armseliger Köter aus der Blut-Legion, der sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatte. „Was treibst du hier, Soldat Brimstone?“, zischte er. „Ich habe dich doch in die Nachhut gesteckt, um mir dein Geseiere nicht mehr anhören zu müssen.“

„Ich wollte Euch warnen.“

Korrak schnaubte abfällig. „Wovor willst du mich warnen?“

Rytlock deutete mit dem Kopf auf die enge, gewundene Stelle der Schlucht vor ihnen. „Ihr führt uns in eine Falle.“

„Nur ein Feigling sieht überall Fallen“, knurrte Korrak. Doch trotz dieses Tadels ließ er seinen Blick wachsam über die Hänge der Klamm schweifen. „Wo ist nur dein Mut, Soldat?“

„Es bedarf keines Mutes, um in eine Falle zu tappen“, entgegnete Rytlock. Seine Augen unter den schwarzen Brauen hatten sich zu Schlitzen verengt. „Dafür bedarf es lediglich einiger Torheit.“

Korrak wirbelte zu ihm herum. „Hüte deine Zunge, Soldat!“

„Ja, aber seht Ihr denn die Geröllfelder dort oben nicht?“ Rytlock deutete mit seinen rasiermesserscharfen Krallen in die Höhe. „Wenn man mir den Befehl geben würde, eine Charr-Legion aufzuhalten, die durch diese Schlucht marschiert, würde ich mir genau diese Stelle aussuchen.“

Korrak knirschte mit den Zähnen. „Ist es das, was du hier erreichen willst, Brimstone: eine Charr-Legion aufhalten? Mich aufhalten?“

Rytlock lachte. „Glaubt mir, Zenturio, wenn ich Euch aufhalten wollte, würde ich das auf eine völlig andere Weise tun.“

Mit einer einzigen schnellen Bewegung packte Korrak den Soldaten am Brustpanzer und drückte ihm die Spitze seiner Streitaxt gegen den Hals. „Was hast du hier verloren, Brimstone?“

„Ich sagte es doch schon: Ich will Euch warnen. Wir tappen in eine Falle.“

„Nein, nein, nein. Ich meine hier – tausend Meilen von deiner Legion entfernt.“

„Ich gehe meinen eigenen Weg.“

„Aber doch wohl nur, weil sie dich dort nicht mehr haben wollen, richtig? Sie wollten dich loswerden! Deine eigene Legion! Und warum?“ Er gab Rytlock keine Gelegenheit zu einer Antwort. „Kämpfen kannst du, das habe ich gesehen. Es muss also einen anderen Grund geben. Könnte es vielleicht sein, dass sie dich einfach nicht ausstehen konnten?“

Brimstones Augen blitzten, und seine Nüstern blähten sich. Offensichtlich hatte er diese Worte schon mehr als einmal gehört. Doch dann schlich sich ein verhaltenes, gefährliches Lächeln auf seine Lippen. „Das seht Ihr falsch, Zenturio. Ich konnte sie nicht ausstehen.“

„Hier scheinst du auch niemanden leiden zu können.“

„Ich bin eben nicht gerne in der Gesellschaft von Narren.“

„Du bist der Narr!“, grollte Korrak und drückte seine Axt fester gegen Rytlocks Hals. „Nenn mir einen Grund, warum ich dir nicht sofort den Schädel von den Schultern schlagen sollte?“

Der Soldat erwiderte furchtlos den Blick des Zenturios. „Ich dachte, nur in der Blut-Legion gäbe es Dummköpfe, die sich hinter ihren Waffen verstecken, aber in der Eisernen Legion scheint es sich nicht anders zu verhalten.“

Korrak Schwarzschnauze ließ langsam die Axt sinken, und als er sprach, war seine Stimme ein bedrohliches Flüstern. „Du glaubst also, dass uns dort vorne eine Falle erwartet. Na schön. Dann geh voraus und halte die Augen offen. Du bist die neue Vorhut.“ Er deutete auf den Engpass vor ihnen. „Los, los!“

Brimstone starrte ihn einen Augenblick lang mit gebleckten Zähnen an, dann wandte er sich um und setzte sich an die Spitze der Gruppe. Sichtlich angespannt marschierte er voraus.

Schwarzschnauze drehte derweil seine Axt so herum, dass die Gewehrmündung, die in die Spitze des Stiels eingelassen war, auf den Charr-Soldaten zielte. Seine Lefzen verzerrten sich zu einem boshaften Grinsen. „Warum hast du Angst vor den Menschen, Brimstone? Sie sind Feiglinge und ihre Armeen ein Witz. Sie haben Ascalon verloren, und bald schon werden sie Ebonfalke verlieren. Von ihnen hast du nichts zu befürchten.“

„Ich habe keine Angst vor ihnen“, antwortete Rytlock ruhig, den Blick auf die Ränder der Schlucht über ihm gerichtet. „Ich kenne sie. Ich weiß, wie sie denken.“

Nun passierten Korrak und seine Offiziere den Engpass. Nichts geschah. „Du bist feige wie ein Mensch.“

Plötzlich ertönte ein lauter Knall, gefolgt von dem Geprassel herniederfallender Steine.

Die Charr blickten nach oben.

Es war bereits zu spät. Der Schall war langsamer als die Felsbrocken, und als das Donnern erklang, ergoss sich bereits ein tödlicher Regen über den Rand der Schlucht.

Rytlock, Korrak und die Offiziere wirbelten herum, wollten ihren Soldaten, die gerade durch den Engpass marschierten, eine Warnung zurufen. Doch das Dröhnen, mit dem die Felswand nachgab und in die Schlucht hinabstürzte, verschluckte alle anderen Geräusche.

Der erste Felsbrocken zerschmetterte einen Axtträger, der zweite begrub ein halbes Dutzend Charr unter sich. Und nun polterten die Steine so schnell herab, dass keine Einzelheiten mehr zu erkennen waren. Eine rote Staubwolke hüllte alles ein.

Rytlock, Korrak und die Offiziere wichen hastig zurück, als die Lawine breiter zu werden begann. Steinsplitter sausten wie Schrapnelle durch die Luft und prallten klirrend gegen ihre Rüstungen. Vor ihnen erhob sich in Sekundenschnelle eine Wand aus gezackten Felsblöcken, erst einige, dann dreißig, sechzig, dann neunzig Fuß hoch, bis sie schließlich vom Grund der Schlucht bis zu ihrem Rand hinaufreichte. Die nachfolgenden Steine polterten an den Seiten dieses Walls hinunter und rollten vor die Füße der entsetzten Charr.

Ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, war es auch wieder vorüber. Die Staubwolke trieb langsam davon, und zwischen den Steinblöcken wurden die zerschmetterten Körper der toten Soldaten sichtbar.

„Eine Falle“, murmelte Rytlock.

„Halt dein Maul“, schnappte Korrak wütend zurück.

„Ich habe es Euch ja gesagt: Wir tappen in eine Falle.“

„Und ich habe gesagt: Halt dein verfluchtes Maul!“ Korrak ließ seine Axt auf den Soldaten herabsausen.

Doch Rytlock wich dem Hieb mit einem behänden Sprung aus, rollte sich ab und kam geduckt wieder auf die Füße. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er langsam, beinahe genüsslich sein Schwert aus der steinernen Scheide zog. Eine rot glühende Klinge kam zum Vorschein, geschmiedet aus zwei Lagen gezackten Metalls und umgeben von einem übernatürlichen Feuer. Dieses Schwert trug den Namen Sohothin, und vor vielen Jahren, lange bevor es in Rytlocks Besitz übergegangen war, hatte es einem Menschenprinzen aus Ascalon gehört.

„Du wagst es, deine Waffe gegen mich zu erheben?“, zischte Korrak Schwarzschnauze. „Ich werde deinem erbärmlichen Dasein ein Ende …“

Mit einem schnellen, unerwarteten Hieb schnitt der Soldat dem Zenturio das Wort und den Kopf ab. Kein Tropfen Blut rann aus dem Halsstumpf, denn die gewaltige Hitze der Klinge hatte die Wunde augenblicklich versiegelt. Einzig einige Dampfwölkchen stiegen von der Leiche auf, als sie mit einem dumpfen Laut zu Boden gefallen war.

Rytlock Brimstone trat auf die Offiziere zu, die sich mit ihm und Korrak auf diese Seite der Schlucht gerettet hatten. „Ich schätze, ihr braucht einen neuen Anführer.“

Die Charr blickten sich nervös an, gingen dann jedoch einer nach dem anderen vor Rytlock auf die Knie und neigten den Kopf, um ihm ihre Loyalität zu bekunden.

„Wir erkennen dich als unseren Zenturio an – fürs Erste zumindest“, brummte Sever Rußklaue. „Sollen wir die Steine forträumen?“

„Darum sollen sich die Männer auf der anderen Seite kümmern. Wir werden derweil die Menschen suchen, die uns diese Falle gestellt haben.“

Rußklaue zog die Augenbrauen hoch. „Menschen? Hier?“

„Ja, hier.“ Rytlock blickte zum Rand der Schlucht hinauf. „Sie sind gerissener, als du denkst, aber sie sind auch feige. Nun, da ihr Plan erfolgreich war, werden sie versuchen zu fliehen. Wir müssen also schneller sein als sie.“ Mit diesen Worten löste er die Schnallen seines Brustpanzers und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. „Nehmt nur mit, was ihr unbedingt braucht. Uns steht ein harter Aufstieg und ein langer Lauf bevor. Und an seinem Ende ein hoffentlich siegreicher Kampf.“

Langsam erhoben die Offiziere sich wieder und entledigten sich ihrer Rüstungen. Sie waren nun die Jäger – und sie würden kämpfen bis zum Tod.

* * *

Der Tag neigte sich seinem Ende zu, als Logan Thackeray und seine Späher den Pass oberhalb der Baumgrenze erreichten. Die Männer warteten ungeduldig darauf, von ihm in das nächste Tal hinabgeführt zu werden, doch Logan kauerte sich auf einem Überhang nieder und blickte auf den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Seine scharfen Augen suchten nach Anzeichen von Bewegungen, doch bislang hatten sich allein die Schatten geregt, waren länger geworden und miteinander verschmolzen, als die Sonne hinter den Berggipfeln tiefer sank.

Er wusste, dass die steile, gefährliche Strecke, die sie zurückgelegt hatten, selbst den blutrünstigsten Verfolger entmutigen musste.

Doch er wusste ebenso, dass die Charr durch nichts zu entmutigen waren. Aus diesem Grund hielt er nach ihnen Ausschau.

Mehrere Minuten saß er reglos da und wartete. Der Wind war zu einem unhörbaren Säuseln geworden. Nichts rührte sich. Doch dann sah er es plötzlich. Gute fünf Meilen hinter ihnen bewegten sich die Äste der Bäume, als massige Leiber zwischen ihnen hindurchstrichen.

Die Charr waren ihnen noch immer auf den Fersen.

Logan kletterte von dem Überhang herunter und ging zu den Spähern hinüber. „Sie holen schnell auf. Wir haben nur noch fünf Meilen Vorsprung.“

Die Männer starrten ihn erschrocken an, und die Farbe wich aus ihren Gesichtern. Sie waren Späher, Begleitschutz für Karawanen, aber keine Krieger und gehörten nicht einmal der Armee von Kryta an. Keiner von ihnen hatte sich bislang einem Charr entgegenstellen müssen, geschweige denn einem Dutzend dieser wilden Bestien.

„Der Berg und die Dunkelheit sind unsere Verbündeten“, sagte Logan, um den Mut seiner Begleiter nicht vollends sinken zu lassen. „Wir werden weitergehen und ihnen in regelmäßigen Abständen Fallen stellen.“

„Aber wohin sollen wir gehen? Nach Westen etwa? Dort hausen die Oger!“, warf Wescott kopfschüttelnd ein.

„Wenn wir vorsichtig sind, können wir uns unbemerkt an ihnen vorbeischleichen. Die Charr hingegen werden so viel Lärm machen, dass die Oger sie zweifellos angreifen, und genau das könnte die Lösung für unser Problem sein.“ Logan blickte jedem der Späher ins Gesicht. „Los!“, sagte er dann und begann mit dem Abstieg ins Tal.

* * *

Im fahlen Mondlicht folgte Legionär Rytlock Brimstone dem kaum zu erkennenden Pfad. Seine Brust hob und senkte sich jedes Mal wie ein Blasebalg, wenn er die dünne, kalte Luft in seine Lungen sog. „Sie sind nicht mehr weit entfernt. Ich kann sie bereits riechen.“

Hinter ihm stolperte Sever Rußklaue über einen Stein, den er nicht gesehen hatte. „Warum ziehst du nicht dein Schwert? In seinem Licht kämen wir sicher schneller voran.“

„Dann sehen die Menschen, wo wir uns befinden“, knurrte Rytlock.

„Aber wir sind blind bei dieser Dunkelheit. Zwei von uns haben wir bereits an ihre hinterlistigen Fallen verloren. Wie viele sollen denn noch sterben?“

„Es war nicht die Nacht, die sie getötet hat; es war ihre eigene Dummheit – und die Verschlagenheit dieser Menschen. Ihr Anführer kennt sich in diesen Bergen aus und weiß, wie wir denken.“

„Das klingt ja fast so, als ob du ihn bewundern würdest“, brummte Rußklaue mit verächtlich verzerrtem Gesicht.

„Ja, so wie der Bluthund den Fuchs bewundert“, erklärte Rytlock und blickte den Offizier durchdringend an. „Und jetzt weiter! Folgt mir. Sie sind dort entlangmarschiert, nach Südwesten.“ Als die anderen Charr sein Gesicht nicht mehr sehen konnten, grinste er wölfisch. „Noch bevor die nächste Stunde verstrichen ist, werden wir sie gestellt haben.“

* * *

„Hier entlang!“, flüsterte Logan, während er am felsigen Ufer eines Bergbaches entlangrannte. Im schwachen Schein des Mondes erkannte er ringsum knorriges Gebüsch und dicht nebeneinanderstehende Kiefern. Dies war der einzige sichere, schnelle Weg durch den Wald. Keine halbe Meile hinter ihnen waren ihnen die hornbewehrten und bewaffneten Charr auf den Fersen.

Sie holten rasch auf.

Logan und seine Späher hasteten am Ufer des Baches entlang, und immer wieder mussten sie um ihr Gleichgewicht kämpfen, wenn sie auf den nassen Steinen ausglitten. Sie liefen dicht nebeneinander her, eine Gruppe von Hasen, die vor den Wölfen flüchtete.

Plötzlich verschwand der Bach vor Logan, und er kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen, um nicht mit dem Wasser in eine tiefe Schlucht hinunterzustürzen.

„Stopp! Haltet ein!“, warnte er.

Die anderen hielten hinter ihm an und blickten wie er hinab in die Schwärze.

„Wie tief ist es bis zum Grund?“, fragte Wescott.

Mit einem Fuß stieß Logan einen Stein über den Rand und begann zu zählen. Erst bei fünf hörte er ein leises Klacken. „Zu tief.“

„Und nun?“

Logan lächelte grimmig. „Nun waten wir durch den Bach und suchen einen anderen Weg.“

„Sie haben uns fast schon erreicht“, sagte Everlee. Als ob er die anderen daran erinnern müsste!

„Ich weiß“, knurrte Logan. „Wir haben zwei oder drei von ihnen mit unseren Fallen ausgeschaltet, aber ihr Anführer ist ein gerissener Bursche. Versuchen wir also, noch einige Charr auszuschalten, bevor sie uns einholen. Weiter jetzt!“

Logan trat als Erster in das eisig kalte Wasser des Baches. Es reichte ihm nach einigen Schritten bis zu den Hüften, ehe es endlich wieder seichter wurde. Am anderen Ufer angekommen, kletterten er und seine Leute nass und fröstelnd die Böschung hinauf.

Bald schon umfing sie die völlige Finsternis des Waldes. Nun gab es keinen Bach und keine Sterne mehr, die ihnen den Weg weisen konnten, und das wenige Mondlicht, das durch das Blätterdach fiel, war ihnen keine Hilfe. Schon nach wenigen Minuten wurde das Gebüsch so dicht, dass die Späher ihre Schwerter ziehen und sich ihren Weg freischlagen mussten. Doch schließlich wurde das Dickicht wieder lichter, und sie rannten hinaus auf eine runde Lichtung, die in den bläulichen Schein des Mondes getaucht war.

Hinter sich konnten sie das Geräusch der Charr-Klingen ausmachen, die auf das Gebüsch einschlugen.

Logan führte die Männer zwischen zwei gewaltigen Kiefern hindurch und in ein schmales Tal. Das Gras strich ihnen über die Beine. Getrieben von der Angst vor den Charr, rannten sie dahin, bis sie jäh vor einer senkrecht aufragenden Felswand standen.

„Wir müssen einen Weg finden“, zischte Logan.

„Es gibt keinen anderen Weg!“, heulte Wescott. „Das ist eine Sackgasse.“

„Dann versucht zu klettern! Es muss Spalten und Vorsprünge geben, an denen wir uns hochziehen können.“

Die Späher tasteten die Felswand im trüben Schein des Mondes ab.