Gute Pflege braucht Kraft - Nicole Lindner - E-Book

Gute Pflege braucht Kraft E-Book

Nicole Lindner

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Beschreibung

"Ich brauche dringend eine Auszeit – aber wie soll das gehen?", fragen sich viele pflegende Angehörige und stehen dabei oft bereits seit Jahren kurz vor einem Zusammenbruch. Dieser Ratgeber will Pflegende dabei unterstützen, den liebevollen persönlichen Einsatz für einen alten Menschen beizubehalten und sich und die eigene Gesundheit trotzdem nicht zu vergessen. Denn wer sich um eine andere Person kümmert, weiß aus Erfahrung, dass diese Aufgabe kein Sprint, sondern ein Marathon ist. In diesem Buch finden sich viele Beispiele und Tipps aus der Praxis sowie spannende Hintergrundinfos zur Methode der Biografiearbeit, welche in der Altenpflege bereits seit Jahren erfolgreich eingesetzt wird. Darüber hinaus werden Unterstützungsleistungen der Pflegekasse aufgezeigt, mit denen Leser:innen Entlastung im Alltag finden. Am Ende steht das Ziel, die Lebensqualität für alle Familienmitglieder hoch zu halten – damit Körper, Geist und Seele auch in Zukunft gesund bleiben!

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Erste Hilfen, Band 19

©

Diana Krammel

Nicole Lindner, geb. 1978, ist Sozialpädagogin bzw. Pflegeberaterin und seit 2010 in unterschiedlichen Bereichen der Pflege tätig. Seit 2017 ist sie selbst pflegende Angehörige und kennt alle Höhen und Tiefen der häuslichen Pflege. Daneben betreibt Nicole Lindner eine Website für Persönlichkeitsentwicklung und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Sie lebt auf dem Land und genießt mit ihrem Mann die Natur. www.soziale-dienste-regensburg.de

Nicole Lindner

Gute Pflege braucht Kraft

Selbsthilfe für pflegende Angehörige

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autor:innen und zum Verlag finden Sie unter: www.mabuse-verlag.de.

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Projektkoordination und Lektorat: Simone Holz, Pisa,

www.lektorat-redazione-holz.eu/

Satz und Gestaltung: Walburga Fichtner, Köln

Umschlagabbildung: © istockphoto.com/DrAfter123

Umschlaggestaltung: Marion Ullrich, Frankfurt am Main

eISBN: 978-3-86321-669-6

ISBN: 978-3-86321-638-2

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung: Die Fakten – und was Biografiearbeit leisten kann

1 Die geistige Haltung stärken

Wissen verschafft Sicherheit

Erste organisatorische Schritte

Die eigene Pflegerolle klären

Akzeptanz, Flexibilität und Geduld als Helferinnen anerkennen

Belastenden Gedanken und Gefühlen Raum geben

2 Körperliches Wohlbefinden stärken

Für ausreichend Schlaf sorgen

Sich körperlich betätigen

Auf Rückengesundheit und Ausgleich achten

Gesunde Ernährung praktizieren

3 Seelisches Wohlbefinden stärken

Pflegen ja, Aufopfern nein? Selbstfürsorge als Grundlage der gemeinsamen Zeit

Das Verbindende sehen

Liebevoll miteinander umgehen

Sinn finden in der Aufgabe

Individuelle Kraftquellen nutzen

4 Finanzierung der Pflege, Betreuungsmöglichkeiten und Hilfen für pflegende Angehörige

Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung

Ergänzendes Versorgungsangebot

Hilfsangebote und -möglichkeiten für pflegende Angehörige

5 Entlastung finden – aber wie? Methoden zur konkreten Umsetzung

Biografische Selbstreflexion verschafft Klarheit

Voraussetzungen für eine gute Pflege

Nachwort

Wichtige Hilfen für pflegende Angehörige auf einen Blick

Ansprechpartner:innen bei Eintreten einer Pflegebedürftigkeit

Ansprechpartner:innen im Krisenfall

Literaturverzeichnis

Vorwort

Es ist drei Uhr nachmittags. Während ich diese Zeilen schreibe, liegt meine Mutter neben mir und schläft. Die Medikamente, welche sie nimmt, machen sie müde. So müde, dass sie mehrere Stunden am Tag ruht und dazwischen eine Vielzahl von Tabletten einnimmt. Alle Pillen (täglich elf Stück) richte ich ihr Woche für Woche in ein kleines Kästchen ein und sie schluckt sie morgens und abends mit je einer Handvoll Wasser. Ich könnte das nicht, denke ich mir jedes Mal, wenn ich sie dabei beobachte, doch meine 74-jährige Mutter ist seit ihrem Schlaganfall pragmatisch geworden. Sie fügt sich ihrem Schicksal und nimmt hin, was geschieht. Sei es, dass bei uns Woche für Woche unterschiedlichste Menschen das Haus betreten, man ihr gegen die Spastik schmerzhafte Spritzen in die Armbeuge rammt, sie von ihrer Tochter in intimsten Regionen gesäubert wird oder dass sie dreimal pro Woche eine Einrichtung besucht, welche sich Tagespflege nennt. Da ist nicht mehr viel mit Autonomie und noch weniger mit Intimsphäre. Seit Mamas Schlaganfall ist alles um sie herum auf sie abgestimmt, das verhält sich nun schon seit fünf Jahren so. Als sie damals nach einem Routineeingriff im Krankenhaus erwachte, konnte sie plötzlich ihre Hand nicht mehr bewegen, genauso wenig das linke Bein. Eine „Funktionsstörung“ sei das, wie uns die Ärztinnen und Ärzte mehr oder weniger im Vorbeigehen mitteilten. Dass der Begriff eine Halbseitenlähmung verkörperte, die nie wieder weggehen und unser aller Leben auf den Kopf stellen sollte, ahnte damals keiner von uns. Erst, als wir unsere herzensgute Mutter und Ehefrau mit blassem Gesicht im Krankenhausbett liegen sahen, den Mund verzogen und den Arm wie einen verletzten Flügel auf der Bettdecke ruhend, wussten wir, dass bei der Operation etwas ganz gehörig schiefgelaufen war. Was anschließend geschah, ist die Geschichte vieler schwerkranker Menschen: Rehabilitation, erneuter (zunächst vom Fachpersonal nicht erkannter) Schlaganfall, wieder Krankenhaus und zurück in die Reha, nach acht Wochen austherapiert und schließlich als Pflegefall nach Hause entlassen.

Bei aller Freude über die Entlassung kam meine Mutter in ein Zuhause zurück, das sie so nicht mehr wiedererkannte. In aller Eile hatten mein Vater, mein Bruder und ich zwischenzeitlich das Bad umgebaut und das Wohnzimmer zu einem Schlafzimmer umfunktioniert. Darüber hinaus verfügten wir über eine Unmenge an Hilfsmitteln, welche uns bei der täglichen Pflege unterstützen sollten. Anfangs wussten wir nicht, wozu wir welches Hilfsmittel verwenden sollten, doch das lernten wir schnell. Bis zum heutigen Tag steht in unserem ehemaligen Wohnzimmer ein Pflegebett. Daneben befindet sich ein Rollstuhl, mit dem mein Vater oder ich Mama zur Toilette begleiten, sofern sie das Bedürfnis dazu hat. Haben wir Glück, passiert das nur einmal in 60 Minuten, läuft es schlecht, schieben wir sie mehrmals pro Stunde durch das Haus. Dann heben wir sie aus dem Bett in den Rollstuhl, fahren sie durch das Esszimmer ins Bad, setzen sie auf die Toilette und warten. Ist meine Mutter fertig, helfen wir ihr beim Anziehen, rollen sie wieder zurück und legen sie ins Bett. Doch das ist nicht alles. Möchte sie etwas trinken, reichen wir ihr einen Tee. Liegt sie unbequem, richten wir ihr das Kissen. Hat sie Lust auf fernsehen, drücken wir ihr die Fernbedienung in die Hand. Das geht Tag und Nacht so, 168 Stunden pro Woche, 365 Tage im Jahr. Daneben sind wir in aller Regelmäßigkeit bei Ärzt:innen und im Sanitätshaus, erledigen den Bürokram bzw. Haushalt und leiden an der beständigen Angst, dass es Mama schlechter gehen könnte und wir irgendwann aus Geldmangel das Haus verkaufen müssen.

Seitdem mein Vater und ich das leisten, was sich Pflege nennt, wissen wir sehr genau, was sich hinter der Statistik von fast fünf Millionen häuslich Pflegenden alleine in Deutschland verbirgt. Wir wissen, mit welchen Problemen, Ängsten und Belastungen sowohl die Betroffenen als auch die Angehörigen Tag für Tag konfrontiert sind. Daneben kennen wir noch weitere Menschen, die sich regelmäßig verausgaben und oft bis ans Ende ihrer Leistungsfähigkeit gehen – nicht selten sogar darüber hinaus. Genau aus diesem Grund ist es mir ein Herzensanliegen, dieses Buch zu verfassen. Ich möchte verhindern, dass pflegende Angehörige aus Sorge um ihre Lieben ausbrennen und sich selbst immer mehr vergessen. Mein Wunsch ist es, diesen mutigen, couragierten Menschen eine Stütze an die Hand zu geben, die den oftmals stressigen Pflegealltag unterbricht. Dabei ist der Ratgeber als eine Art Inspirationsquelle gedacht, bei der sich jede:r das herausgreifen kann, was sie bzw. ihn anspricht und sie bzw. er für die eigene individuelle Entspannung benötigt.

Leider stellt dieses Buch nicht die Lösung für alle belastenden Pflegesituationen dar, das liegt in der Natur der Sache. Denn ein:e um drei Uhr morgens umherlaufende:r Demenzkranke:r stellt Angehörige sicherlich vor andere Herausforderungen als ein Mensch, der sein Essen verweigert. Die Arten von Pflege richten sich immer nach den Ursachen und Folgen der Pflegebedürftigkeit, das war schon immer so. Trotzdem habe ich versucht, in diesem Buch so viele Entspannungs- und Entlastungsoptionen wie möglich aufzunehmen, unter anderem unterstützt durch hilfreiche Methoden der Biografiearbeit, welche ich während meiner eigenen sozialpädagogischen Arbeit kennen- (und schätzen) gelernt habe. Was genau hinter diesem Begriff steckt, erkläre ich Ihnen in der Einleitung zu vorliegendem Buch, womit wir schon bei den eigentlichen Inhalten sind. Im Folgenden sei ein Überblick darüber gegeben, was Sie sich von diesem Ratgeber erwarten dürfen.

Zunächst betrachte ich die Pflegesituation in Deutschland und erkläre, mit welchen speziellen Herausforderungen gerade häuslich Pflegende oftmals konfrontiert (und nicht selten alleingelassen) sind. Dabei sind körperliche und vor allem psychische Erkrankungen nicht zu unterschätzende Risikofaktoren, denn eine Vielzahl der Angehörigen kennt die eigenen Grenzen nicht oder ignoriert sie aus Unkenntnis über die Alternativen. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass die Pflegeperson irgendwann zusammenbricht – womit natürlich weder der:dem Angehörigen noch dem alten Menschen gedient ist. Otto Beier, langjähriger Betreiber der Beratungsplattform „Pflege-durch-Angehoerige.de“, teilt diese Meinung und führt das in einem persönlichen Interview aus. In der Einleitung stelle ich zudem die Methode der Biografiearbeit vor, welche in der Alten- und Pflegearbeit bzw. Krisenintervention gerne angewandt wird. Dort, wo es passt, sind später im Buch immer wieder Informationen aus der biografischen Arbeit aufgeführt. Sie durchlaufen es wie ein roter Faden und sind mit einem symbolischen Auge gekennzeichnet. Dieses Auge wirft eine Art „biografischen Blick“ auf die jeweilige Situation und erklärt Ihnen Hintergründe genauer. Fakt ist, dass lebensgeschichtliche Methoden und Erfahrungen für Pflegende und Gepflegte eine wertvolle Ressource darstellen können. Nicht selten schaffen sie es sogar, den gemeinsamen Alltag zu bereichern und die Pflege zu erleichtern.

Kapitel 1 bis 3 widmen sich anschließend der aktiven Stärkung von Körper, Geist und Seele häuslich pflegender Angehöriger. Ich zeige auf, wie Stress sich bei einer Pflege bemerkbar machen kann und kläre die Frage, warum das Achten auf sich selbst sowie regelmäßige Entspannung von Anfang an so wichtig sind. Um diesen Wunschzustand zu erreichen, werden unterschiedlichste Vorschläge gemacht, die auf eine Verbesserung der persönlichen Stressbelastung abzielen. Dort, wo es sich angeboten hat, habe ich Berichte aus meiner eigenen sozialpädagogischen Praxis mit aufgenommen, genauso wie Aussagen von ehemaligen Klient:innen, welche sie mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt haben. Alle Zitate sind anonymisiert.

Kapitel 4 und 5 gehen sodann der Frage nach, welche Unterstützungsleistungen es für pflegende Angehörige in Deutschland gibt und mit welchen Mitteln eine gute Pflege im Alltag geleistet werden kann. Nach meiner Erfahrung ermöglichen dies drei Komponenten: das Wissen der Pflegenden um die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, die Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, sowie die Stärkung der Beziehung zur pflegebedürftigen Person. Das alles kann mithilfe konkreter biografischer Übungen erreicht werden, welche am Ende des Buches erklärt sind. Darüber hinaus finden Sie noch „Wichtige Hilfen für pflegende Angehörige auf einen Blick“ – sodass Sie die wesentlichsten Unterstützungsleistungen für Ihre spezielle Situation schnell parat haben.

Liebe:r Leser:in, ich hoffe wirklich, mit diesem Buch viele häuslich Pflegende ansprechen zu können und vor allem Ihnen ganz persönlich mit dem Geschriebenen in so manch dunkler Stunde ein Hoffnungsschimmer zu sein. Über Tipps und Rückmeldungen freue ich mich natürlich sehr, bitte richten Sie diese einfach an meine E-Mail-Adresse: [email protected]. Uns allen häuslich Pflegenden wünsche ich noch lange den Mut und die Kraft für die ehrenvolle Aufgabe, den Menschen, den wir lieben, noch lange zu Hause zu pflegen und ihm (genauso wie uns selbst!) noch viele unbeschwerte Stunden zu bescheren.

Einleitung: Die Fakten – und was Biografiearbeit leisten kann

„Manchmal nervt es mich, wenn Oma fragt, ob ich sie besuche. Aber wenn wir dann zusammensitzen und uns über das Leben und ihre Kindheit unterhalten, fühle ich mich mit ihr verbunden.“

– Eine Enkelin –

Liebe:r Leser:in, vielleicht kennen Sie das ja auch: Lange Zeit ist alles gut, Ihre betagten Eltern kommen alleine zurecht und brauchen nur von Zeit zu Zeit Unterstützung im eigenen Heim. Als liebendes Kind machen Sie sich anfangs vielleicht nur geringfügig Sorgen. Sie leben schließlich Ihr eigenes Leben, fahren öfters in den Urlaub, haben womöglich einen herausfordernden Job und Kinder bzw. Enkel, um die Sie sich ebenfalls kümmern. Doch irgendwann häufen sich die telefonischen Nachfragen der älteren Generation, die Probleme werden vielschichtiger und die geistige und/oder körperliche Leistungsfähigkeit der Senior:innen nimmt spürbar ab. Das alles kostet Sie Kraft, denn plötzlich wiederholen sich nicht enden wollende Gespräche, Diskussionen entflammen und manchmal ist schon eine ausgebrannte Glühbirne ein nicht zu überwindendes Hindernis, das keinen Aufschub mehr duldet. In solchen Momenten nehmen sich viele besorgte Kinder noch intensiver ihrer Eltern an und stellen irgendwann fest, dass der Aufwand mit den Jahren zunimmt. Genauso wie die psychische Belastung sowie der (oftmals unrealistisch vertretene) Anspruch, stets allem gerecht werden zu wollen. Das kann dazu führen, dass das eigene Leben komplett in den Hintergrund rückt und die Betroffenen vergessen, sich gut um ihre eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Mögliche Folgen sind dabei so tragisch wie vielfältig: Krankheiten entstehen, Partnerschaften gehen in die Brüche, Freundschaften verlieren sich und Zeit für Hobbys ist nicht mehr vorhanden. Kurzum: Das eigene Leben leidet.

„Was ist da passiert?“, fragen sich viele Angehörige, die vor den Trümmern ihrer vorher scheinbar so gefestigten Existenz stehen und feststellen, dass sie mit den Jahren aufopferungsvoller Pflege müde geworden sind. Eine Antwort auf diese Frage liegt nahe: Die ursprünglich so gut gemeinte Unterstützung ist schleichend einer Art Aufopferung gewichen, in der das eigene Leben nicht mehr viel Raum einnimmt. Stattdessen ist die zu betreuende Person der Mittelpunkt, wird geliebt und mit allen Kräften unterstützt. Ein regelmäßiges Abschalten oder das Nehmen einer Auszeit erscheint den pflegenden Angehörigen oftmals unmöglich. Viele plagt das schlechte Gewissen und der Gedanke: Aber wer soll es denn sonst machen, wenn nicht ich? Doch gerade diese Einstellung ist gefährlich, denn schädigt sie doch auf Dauer nur diejenige Person, die für Ihren hilfsbedürftigen Angehörigen am allerwichtigsten ist: Sie selbst. Daneben ist es kein Geheimnis, dass wir alle älter werden und der Anteil der versorgungsbedürftigen Älteren stetig wächst. Was Altern bedeutet, wird in einem Zitat aus Sandor Marais Roman „Die Glut“ (Marai, 2001, zitiert nach Klingenberger, 2003) deutlich.

„Man altert langsam: Zuerst altert die Lust am Leben und an den Menschen, weißt du, allmählich wird alles so wirklich, du verstehst die Bedeutung von allem, alles wiederholt sich auf beängstigend langweilige Art. … Dann altert der Körper; nicht auf einmal, nein, zuerst altern die Augen oder die Beine oder das Herz. Man altert in Raten. Und mit einem Mal beginnt die Seele zu altern: denn der Körper mag alt geworden sein, die Seele aber hat noch ihre Sehnsüchte, ihre Erinnerungen, noch sucht sie, noch freut sie sich, noch sehnt sie sich nach Freude. Und wenn die Sehnsucht nach Freude vergeht, verbleiben nur noch die Erinnerungen oder die Eitelkeit; und dann ist man wirklich alt, endgültig.“

Glaubt man aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2021), ist das gar nicht so weit hergeholt, denn die Anzahl deutscher Rentner:innen wird in Zukunft wachsen. Konkret steigt die Zahl der über 67-Jährigen bis 2035 um 3,6 Millionen an, genauso erhöht sich deren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 20 % (im Jahr 2020) auf 24 % (im Jahr 2035). Das führt vor Augen, dass der sogenannte demografische Wandel längst auch unser Land erreicht hat, wohlgemerkt bei zeitgleich sinkender Geburtenrate und immer weniger Pflegepersonal. Wer nun eins und eins zusammenzählt, kann sich vorstellen, wie die Pflegesituation im Jahr 2035 aussehen wird: gelinde gesagt angespannt. Menschen, die in der Lage sind, ohne größere gesundheitliche Probleme altern zu können, dürfen sich glücklich schätzen. Alle anderen sind auf die Unterstützung von Familie, Staat oder diverser Pflegeorganisationen angewiesen. Doch wer denkt neben der versorgungsbedürftigen älteren Generation an diejenigen, welche diese pflegt? Schließlich sind unterstützungsleistende Angehörige ein wichtiger (und oftmals stark belasteter!) Pfeiler im deutschen Gesundheitswesen.

Im Dezember 2021 verzeichnete das Statistische Bundesamt (Statistisches Bundesamt, 2022) etwa fünf Millionen Pflegebedürftige, von denen die meisten zu Hause versorgt werden – Tendenz steigend, denn der Anteil der versorgungsbedürftigen Älteren wird immer größer. Genaue Zahlen der häuslich Pflegenden gibt es dabei nicht, denn noch immer ist nicht abschließend geklärt, wer als pflegende:r Angehörige:r gilt (Bohnet-Joschko & Bidenko, 2019). In vielen Fällen werden es aber Familienangehörige wie Sie und ich sein oder Freundinnen und Freunde bzw. Nachbar:innen, welche die Hilfe für Pflegebedürftige leisten. Uns alle vereint eines: Wir kümmern uns engagiert und aufopferungsvoll um eine gesundheitlich eingeschränkte Person, die Unterstützung braucht, weil sie sonst alleine nicht mehr zurechtkäme. Unbestritten ist das ein wertvoller Dienst und verdient Anerkennung, doch die Gefahr dabei ist immer die eigene Überforderung. Viele der informell, also nicht berufsmäßig Pflegenden haben mit gesundheitlichen und sozialen Belastungen zu kämpfen und wissen zugleich nur wenig über das in Deutschland existierende Informations-, Beratungs- und Entlastungsangebot. Dies fällt sogar Fachleuten wie Otto Beier auf – er ist selbst ehemaliger pflegender Angehöriger und betreibt seit einigen Jahren die Beratungsplattform „Pflege-durch-Angehoerige.de“. Im nachfolgenden Interview schildert er die Situation von pflegenden Angehörigen.

Sehr geehrter Herr Beier, Sie führen sehr erfolgreich das Informationsportal „Pflege-durch-Angehörige.de“. Möchten Sie sich und Ihr Portal kurz vorstellen?

Ja, sehr gerne. Wie die meisten pflegenden Angehörigen sind auch wir (meine Frau und ich) sukzessive immer mehr in die Pflege unserer Eltern involviert worden. Meist ist es ein schleichender Prozess. Hier und da mal brauchen die Eltern Hilfe, bis dann irgendwann sehr viel Unterstützung im täglichen Leben notwendig wird. So wie die meisten Pflegenden waren auch wir nicht auf diese Aufgabe vorbereitet und machten deshalb vieles falsch in Bezug auf Pflegegrade, Pflegeleistungen oder Hilfsmittel beantragen. Wir kannten uns einfach im Pflegegesetz nicht aus. Das war der Grund, warum wir viele Pflegeleistungen nicht kannten und beantragten. Das geht den meisten Pflegenden so und es geht viel Geld verloren. Letztendlich hatten wir vier Pflegefälle in zwei verschiedenen Bundesländern und wir bekamen Routine. Wir wollten nicht, dass es anderen Pflegenden genauso geht wie uns, und haben die Internetseite www.Pflege-durch-Angehoerige.de ins Netz gestellt, wo wir unsere Erfahrungen teilen, aber vor allem auch in gut verständlicher Sprache darüber informieren, auf welche Pflegeleistungen die pflegebedürftigen Personen, aber auch wir Pflegenden (!) Anrecht haben. Die Erfahrung und der Austausch mit anderen Pflegenden hat uns gezeigt, dass selbst alte „Pflegefüchse“, die schon zehn Jahre und länger einen Angehörigen pflegen, noch immer nicht alle Leistungen in Anspruch genommen haben, die ihnen zustehen würden.

Sie waren selbst bis vor einigen Jahren pflegender Angehöriger. Welche Erfahrungen haben Sie während der Pflegezeit gemacht?

Wir Pflegenden sehen es als selbstverständlich an, sich um unsere Angehörigen zu kümmern. Das ist auch gut so. Allerdings ist nicht jeder Mensch aus zeitlichen, physischen oder psychischen Gründen in der Lage, die Pflege zu übernehmen. Dann sollte man sich das aber auch eingestehen und nach Alternativen suchen. Aber gerade die Pflege unserer Eltern hat noch einen Aspekt, den wir oft unterschätzen. Und zwar den Rollentausch. Wir sind nicht mehr das Kind unserer Eltern, sondern die Verantwortlichen für unsere Eltern. Wir müssen plötzlich für Menschen Entscheidungen treffen, von denen wir es gewohnt sind, dass sie ein Leben lang für sich selbst entschieden haben. Als pflegende:r Angehörige:r muss man lernen, die Hemmungen zu überwinden. Auch das ist ein längerer Prozess, der nicht von heute auf morgen eintritt. Mein Leitsatz bei der Pflege unserer Eltern wurde irgendwann: „So viel wie nötig – so wenig wie möglich!“ Das ist nicht böse gemeint – im Gegenteil. Für meine Frau und mich war es wichtig, dass unsere Eltern in jeder Lebens- und Pflegephase immer noch das erledigen sollten, was sie noch konnten. Wir wollten ihnen nicht die Selbstständigkeit nehmen. Verhätscheln und alles Abnehmen demobilisiert die Pflegebedürftigen sowohl körperlich als auch geistig.

Welchen Eindruck haben Sie von der Situation vieler häuslich Pflegender in Deutschland?

Da gibt es sehr viele Aspekte. Nehmen wir mal die Doppel- und Dreifachbelastung. Die Generation 50+ muss Job, Familie, Kinder, Enkel:innen und die Pflege unter einen Hut bringen. Oftmals bleibt für Hobbys keine Zeit mehr. Einerseits ist da das schlechte Gewissen, nicht genug Zeit für die pflegebedürftige Person zu haben, andererseits hat man für sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse auch keine Zeit mehr. Auf Dauer kann das schnell zu einer Überlastung, im schlimmsten Fall zu einem Burn-out1 führen. Ein weiterer Aspekt sind die Kosten: Pflege kann sehr teuer werden. Wer einen Pflegedienst in Anspruch nimmt, bekommt kein – oder nur noch ein anteilmäßiges – Pflegegeld. Um die Kosten zu deckeln, wird dann kein Pflegedienst in Anspruch genommen, der zum Beispiel bei der Körperhygiene die Pflegenden entlasten könnte. Verbesserungswürdig sind auch die Entlastungsleistungen, die jedem Pflegebedürftigen zustehen. Leider gibt es hier noch zu wenig Anbieter:innen, die diese Entlastungsleistungen zu einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten und abrechnen können.

Mit welchen Ängsten sind pflegende Angehörige häufig konfrontiert?

Oftmals geben Pflegende den Job ganz auf oder reduzieren ihre Arbeitszeiten. Leider rutschen immer noch einige finanziell sehr ab. Es kommt also zur physischen/psychischen Belastung auch noch die finanzielle Sorge hinzu. Auch die Angst, dass man selbst krank wird und die Pflege nicht erbringen kann, ist eine ständige Begleiterin. Wer pflegt dann meine:n Angehörige:n? Altenpfleger:in ist ein Lehrberuf mit mehrjähriger Ausbildung. Wir pflegenden Angehörigen leisten die Pflege ohne Ausbildung oder Grundkenntnisse. Die Frage, ob man alles richtig macht, ist ständig präsent.

Inwiefern ist Burn-out ein Thema?

Burn-out ist ein allgegenwärtiges Thema in der Pflege. Die Betreuung eines pflegebedürftigen Elternteils umfasst ja sehr viel. Neben der reinen Pflegearbeit, die schon sehr arbeitsaufwendig sein kann, kommt noch viel mehr dazu: Alle schriftlichen Angelegenheiten müssen übernommen, Bank- und Behördengänge erledigt, oftmals noch Haus und Garten versorgt werden. Anträge, Hilfsmittel und Pflegeleistungen müssen beantragt, Widersprüche eingelegt werden, Kurzzeitpflegestätten gefunden werden usw. Es ist nicht nur so, dass diese Arbeiten erledigt werden müssen, nein, sie sind uns auch nicht geläufig. Deshalb müssen wir uns erst informieren und durchfragen. Bei der reinen Pflegetätigkeit kommt hinzu, dass uns schlicht das Wissen fehlt, wie wir kräfteschonend arbeiten können. Ein Burn-out kündigt sich an. Es ist wichtig, diesen zu erkennen und gegenzusteuern.

Wie stehen Sie zum Thema Selbstfürsorge im Hinblick auf Menschen, die andere pflegen?

Selbstfürsorge ist ganz wichtig, um einem Burn-out vorzubeugen. Denn nur wer selbst gesund ist, kann auch pflegen. Häufig wird jedoch im Trubel die Selbstvorsorge hinten angestellt. Man hat keine Zeit für sich. Hier hilft es, wenn uns Menschen aus unserem Umfeld einfach mal „zwangspausieren“ und uns dem Pflegealltag entreißen.

Was kann ein:e häuslich Pflegende:r tun, um Entlastung zu finden, und warum ist das wichtig?

Ein paar allgemeine Tipps:

Die Pflege und Betreuung sollte eigentlich auf mehrere Schultern verteilt werden. Jede:r kann ihren:seinen Teil dazu beitragen und die Tätigkeiten übernehmen, die ihr:ihm liegen.Hilfe in Anspruch nehmen in Form von Pflegedienst, Tagespflege, Nachbarschaftshilfe usw.Den Mut haben, die pflegebedürftige Person auch mal in eine Kurzzeitpflege zu geben, um selbst in Urlaub fahren zu können.Was ich auch als sehr hilfreich empfinde, sind Pflegekurse für pflegende Angehörige. Diese können sogar zu Hause durchgeführt werden, sodass die Unterweisung auf die persönliche Pflegesituation abgestimmt ist. In solchen Kursen werden zum Beispiel auch körperschonende Pflegetechniken vermittelt.

Welche Empfehlungen haben Sie für pflegende Angehörige, um mit der Pflege besser zurechtzukommen?

Ganz wichtig: Unbedingt regelmäßig eine Auszeit nehmen. Dazu gehören mal ein Besuch eines Konzerts, ein Tagesausflug oder auch ein Urlaub. Es sollte im Vorfeld dafür gesorgt werden, dass die pflegebedürftige Person so gut versorgt ist, dass die Pflegeperson mit ruhigem Gewissen außer Haus gehen kann. Um nicht immer nur im Thema „Pflege“ festzuhängen, sollten auch die sozialen Kontakte weiterhin gepflegt und die eigenen Freundinnen und Freunde besucht werden. Es tut gut, mal wieder was ganz anderes zu hören oder zu sehen, und gibt wieder Kraft. Genauso können pflegende Angehörige Selbsthilfegruppen besuchen. Gerade bei der Betreuung von Menschen mit Demenz kann das sehr hilfreich sein. Die Gruppen können Tipps zum Umgang mit den demenziell veränderten Menschen geben.

Vielen Dank für das Interview und alles Gute für Sie und Pflegedurch-Angehoerige.de!

Finden Sie sich in den Aussagen von Herrn Beier wieder oder haben bereits ähnliche Erfahrungen gemacht? Unabhängig davon wird in diesem Interview wahrscheinlich deutlich, dass die Versorgung einer pflegebedürftigen Person meist umfangreiches Wissen, emotionale Stärke sowie die Fähigkeit, empathisch auf einen hilfsbedürftigen Menschen eingehen zu können, voraussetzt. Trotzdem dürfen die eigene Person wie auch ihre Belange nicht vergessen werden, und der eigene Alltag noch weniger – was eine höchst anspruchsvolle Aufgabe ist, die es immer wieder aufs Neue auszubalancieren gilt. „Aber wie kann das auf Dauer gelingen?“, werden Sie sich als pflegende:r Angehörige:r an dieser Stelle womöglich fragen. Eine Antwort auf diese Frage möchte ich Ihnen geben, und zwar in Form einer Methode, die sich schon in verschiedensten Disziplinen und Lebensbereichen bewährt hat: die der lebensgeschichtlichen Arbeit, kurz: Biografiearbeit. Biografiearbeit kann durch das methodische Einbeziehen lebensgeschichtlicher Erlebnisse eine Pflegesituation für alle Parteien erleichtern, und dies auf unterschiedlichste Arten, die Sie in diesem Buch noch genauer kennenlernen werden. Das führt besonders bei der Pflege dazu, dass Konfliktsituationen entschärft, belastende Lebensereignisse bewältigt sowie eigene (und fremde) negative Muster im Bedarfsfall verändert werden können. Doch was verbirgt sich hinter diesem eher unscharfen Begriff der Biografiearbeit? Gehen wir auf Spurensuche.

Biografiearbeit hat ihre Ursprünge in der Antike und wird bereits seit langer Zeit erfolgreich in unterschiedlichsten Disziplinen (z. B. Medizin, Psychologie, Pädagogik) eingesetzt (Specht-Tomann, 2012). Vor allem Hippokrates, ein griechischer Arzt und Lehrer (um 460–377 v. Chr.), prägte die Entwicklungsgeschichte entscheidend mit. Der einfühlsame Mann interessierte sich für die Lebensumstände bzw. Geschichten seiner Patient:innen und band diese erfolgreich bei der Behandlung von Krankheiten mit ein.

Bis heute hat sich der Einsatz biografischer Elemente in der Begleitung von Menschen bewährt, weswegen viele Fachleute mit ihnen arbeiten. Dabei sind die Ziele biografischen Handelns nicht immer gleich. So wird ein Mensch, der sich beruflich neu orientieren und seine Stärken herausfinden möchte, wahrscheinlich andere Interessen haben als einer, der biografische Erinnerungen für seine Enkelkinder verfasst. Trotzdem vereint alle angewandten Methoden stets eines: die aktive Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte in unterschiedlicher Form.

Biografischer Blick

„Biografiearbeit ist die Beschäftigung mit den individuellen, gesellschaftlichen und kulturell geprägten Erfahrungen, Erlebnissen und Sichtweisen eines Menschen. Sie bezieht sich auf ‚alles‘, was mit der Lebensgeschichte eines Menschen zusammenhängt und systematisch erfasst oder eingesetzt wird“ (Specht-Tomann, 2012, S. 7).

Sicherlich haben auch Sie schon einmal die Biografie eines Stars bzw. einer berühmten Persönlichkeit gelesen oder alte Fotos durchstöbert, die Ihnen ein Lächeln auf das Gesicht zauberten. Damit sind Sie nicht alleine. Nicht wenige Menschen möchten das Leben rückschauend noch einmal betrachten und beschäftigen sich mit den wichtigsten Stationen desselben. Oft genug entsteht aus dieser intensiven Betrachtung die Chance, bislang Erlebtes anders zu bewerten und die Gegenwart bzw. Zukunft handhabbarer zu machen. Dabei kann es zu einem tieferen Verständnis für die eigene Person kommen und auch eine intensivere Bindung zu anderen wird häufig möglich. Für diese Beschäftigung mit der Lebensgeschichte braucht es Offenheit, Mut, Raum, Zeit und vor allem den Willen, sich mit Leib und Seele auf sich selbst (oder eine andere Person) einzulassen. Manchmal treten daraus überraschende Ergebnisse hervor, aber gerade das ist ja das Spannende an dieser so kreativen Methode.

In der Seniorenarbeit hat die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte schon seit Langem eine elementare Bedeutung. Durch sie wird erreicht, dass ältere Menschen gelassener mit angstmachenden Situationen (z. B. Krankheit, Verluste, Einsamkeit, Sterben) umgehen können. Gleichzeitig fördert Biografiearbeit die Lebenszufriedenheit, indem sie den Senior:innen verbliebene Fähigkeiten und Stärken bewusst macht sowie einen lebhaften Austausch mit anderen (z. B. durch gemeinsames Erzählen, Hören und Erinnern) ermöglicht. Gerade für Pflegende von Demenzkranken ist das Wissen um deren Lebensgeschichte besonders elementar. Wenn ich weiß, dass meine demenzkranke Mutter Angst vor Hunden hat, werde ich im Alltag wahrscheinlich eher versuchen, die Konfrontation mit den Tieren zu vermeiden, als wenn ich nicht darüber Bescheid wüsste – wenngleich das natürlich nicht immer machbar ist. Trotzdem ermöglicht das Einbeziehen biografischer Hintergründe sowie der entsprechende Umgang mit meiner Mutter dieser ein Gefühl des Verstehens und Angenommenseins, ein „Sicher-Sein“, was eventuelle Schwierigkeiten bereits im Vorfeld entschärfen kann.

Doch nicht nur für meine Mutter. Auch für mich als pflegende Angehörige kann die Beschäftigung mit der Lebensgeschichte Sinn machen. Indem ich meine eigene Vergangenheit anschaue, sie bewusst reflektiere bzw. verarbeite, mir Erlebtes (Schönes wie Belastendes) vor Augen führe und vielleicht sogar Erkenntnisse daraus gewinne, kann ich besser mit gegenwärtigen Alltagsproblemen umgehen. Im besten Falle söhne ich mich mit den Gegebenheiten (bzw. mir als Person) aus und erlange dadurch Kraft für mein Leben. Wie ich das mache, also mit welchen biografischen Methoden, bleibt dabei mir überlassen.

In der Seniorenarbeit sind Gespräche über die Vergangenheit sehr beliebt, das heißt, die alten Menschen tauschen sich in gemeinsamer Runde über das Erlebte (z. B. erster Schultag, Feste, Familienleben) aus. Auch das Verfassen der eigenen Biografie (durch Erinnerungsbücher, selbst erstellte Chroniken, Stammbäume usw.) gewinnt immer mehr an Bedeutung. Dabei werden bei der Erinnerungsarbeit oftmals spezielle Spiele, Bildkarten oder Gegenstände (z. B. Kochlöffel, Röhrenradios, Kleidungsstücke) eingesetzt. Gerade solch persönliche Gegenstände aus der Vergangenheit sind mitunter Gold wert, da sie meist mit angenehmen Erlebnissen verknüpft sind (Leptihn, 2007). Wie oft erlebe ich es, dass ein alter Mensch ein Bild zur Hand nimmt und mir eine damit verbundene Geschichte erzählt oder über eine alte Kommode streichelt und mir anvertraut, dass diese das Hochzeitsgeschenk der Eltern bei der Vermählung war. Alleine dieser liebevolle Blick auf alte Gegenstände und die regelmäßige Beschäftigung damit verbessert das Wohlbefinden eines alten Menschen und ist Grundlage für ein gemeinsames Gespräch.

Im Bereich Persönlichkeitsentwicklung bedient sich die Biografiearbeit ebenfalls interessanter Methoden (Specht-Tomann, 2012). Viele Menschen verschaffen sich zum Beispiel mithilfe von Zeitleisten, Lebenskurven oder Kalendern einen Überblick über das eigene Leben. Dies dient dazu, die Vergangenheit bewusst zu reflektieren und sich Gedanken darüber zu machen, was prägend bzw. einschneidend wirkte. Oft genug kommt dabei lange Verschüttetes zum Vorschein. Und das beeinflusst das Leben manchmal noch bis in die Gegenwart. Wer mag, drückt sich kreativ aus, zum Beispiel, indem er malt, modelliert, schreibt oder mit Holz arbeitet. Genauso gibt es mittlerweile immer mehr Menschen, die ihre Krankheitserfahrungen notieren und damit verarbeiten.

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass dieser emotional fordernde Aufwand durchaus Sinn macht. Denn alleine schon der Prozess, sich aktiv mit der Vergangenheit (und darin bereits erfolgreich Bewältigtem) auseinanderzusetzen, stellt häufig eine Entlastung dar und ermöglicht einen besseren Umgang mit Krisensituationen.

Nach diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein: Wer Biografiearbeit anwendet, wer also schreibt, hört oder erzählt (entweder