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Es ist ein sehr unglücklicher Umstand unter dem sich Psychotherapeutin Dr. Rebecca Brandt und Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann begegnen. Nach dem tragischen Verlust ihres Verlobten führt Rebecca ein sehr zurückgezogenes Leben. Sie hofft, dass sie so böse Überraschungen von sich fernhalten kann. Aber selbst in einer Kleinstadt ist das kaum möglich. Manche ihrer Patienten führen alles andere als ein beschauliches, ruhiges Leben. Eines Tages erbt sie völlig unerwartet ein Haus, das ihr Leben verändern wird. Seit sein Zwillingsbruder vor fünf Jahren spurlos verschwand, ist die Suche nach ihm zu Leons Obsession geworden. Das Finden seines Bruders ist alles was für ihn zählt, deswegen verließ ihn letztendlich auch seine Freundin. Als Leon Rebecca kennenlernt, stellt er sein Singleleben in Frage. Doch zu einem Treffen mit ihr kommt es nicht, denn Rebecca verschwindet plötzlich ebenso spurlos wie einst sein Bruder. Rebecca findet sich in einer Welt voller Monster wieder und es ist nicht nur ihr Verstand, der in Gefahr ist. Leon ahnt nicht, dass Rebecca der Schlüssel zu all seinen Fragen ist und wie nahe er einer Welt ist, in der längst von der Erde verschwundene Kreaturen leben.
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Seitenzahl: 462
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die kleine Marmorstatue stand mit hoch erhobenem Haupt auf einem Sideboard. Das Chiton reichte ihr bis zu den Sandalen, aus denen ihre Miniaturzehen heraus blitzten. In der rechten Hand hielt sie eine Lanze, die Finger ihrer linken Hand schlossen sich fest um ein Schild. Ihren Kopf zierte ein Helm aus dessen Mitte sich eine Sphinx erhob. Stolz überblickte die knapp 30 Zentimeter große Statue den hell erleuchteten Hausflur. Ihre winzigen Augen schienen die Eingangstür geradezu zu fixieren. Die Stille des Flures wurde jäh von schweren Atemzügen unterbrochen. Nur zögernd ließ eine Hand von dem dunklen Holz eines Türrahmens ab. Mit kraftlosem Schritt stolperte ein Mann in den Flur. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, unschlüssig darüber, ob sie bereits schwer genug waren, um der Erdanziehung nachzugeben oder ob sie sich noch etwas weiter sammeln sollten. Panisch schauten die Augen des Mannes zurück. Gehetzt wollten sie wissen, wie dicht der Verfolger ihm auf den Fersen war. Die Glühbirnen der alten Messingwandlampen weckten die goldenen Rocaille-Motive an der cremeweißen Wand förmlich zum Leben. Sie schlängelten sich zu einem bizarren Tanz im Takt seines Herzens. Seine linke Hand fasste sich an den plötzlich schmerzenden Brustkorb. Sein Atem ging schnell und flach. Der Druck auf seiner Brust machte ein tiefes Durchatmen unmöglich. Nach Halt suchend, stützte sich seine rechte Hand auf den rötlich gemaserten Marmor der Anrichte des Sideboards. Erneut sah er hinter sich. Kam es näher? Ja, er konnte es hören. Dieses Geräusch, das in seine Nervenbahnen eindrang, sich durch seinen gesamten Körper bahnte und tief in sein Gehirn fraß. Vereinzelte Tropfen auf seiner Stirn waren zu einem Entschluss gekommen. Losgelöst von der kalten, nassen Haut stürzten sie dem Boden entgegen. Jeder Atemzug intensivierte den Schmerz in seiner Brust. Er konnte das nicht länger ertragen. Die ständige Furcht in ihm und nun diese furchtbaren Schmerzen in seiner Brust. Es war zu viel. Seine Hand glitt von dem glatten, kühlen Marmor und stieß gegen die kleine, stolze Statue. Die Geräusche verstummten endlich. Der Schmerz war nur noch eine kurze Erinnerung, als er zu Boden sank und alles Leben seinem Körper entwich. Die kleine Statue fiel von der Anrichte, vorbei an den Türen des aus Palisander mit Wurzelholzfurnier bestehenden Sideboards, auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls ließ das Holz des Parketts zersplittern, als sich der Helm der griechischen Göttin Athene unweit des Mannes in das Parkett bohrte. Ein dunkler Schatten glitt über den leblosen Körper hinweg der Haustür entgegen. Bevor der Schatten die Tür erreichte, verschwand er plötzlich. Eine Staubwolke rieselte zu Boden. Wie von einem unsichtbaren Sauger angezogen, setzten sich die kleinen Körnchen in Bewegung bis sie durch eine offene Tür aus dem Blickfeld der kleinen Statue verschwanden.
In der dunklen Pfütze auf dem Asphalt spiegelte sich das rhythmische Aufleuchten eines orangefarbenen Warnlichts verschwommen wieder. Die stetig einprasselnden Regentropfen verhinderten ein klares Spiegelbild des Warnlichts der Ampelanlage. Ein alter, brauner Herrenstiefel landete inmitten der Pfütze, verdrängte das Wasser und ließ es zu allen Seiten aufspritzen. Im Schein der im Wind schwankenden Straßenlaterne war zu sehen, wie sich die Hose des Mannes fest an die Beine presste. Große, eisige Tropfen trafen auf einen grauen Parka. Die durchsickernde Nässe verfärbte ihn dunkelgrau, fast schwarz. Mit dem Gesicht tief unter der Kapuze verborgen eilte der Mann an diesem späten, unfreundlichen Herbstabend über eine verlassene Kreuzung. Ihm machten weder der Wind noch der Regen etwas aus. Das waren kleine Nichtigkeiten. Er war auf einer wichtigen Mission, musste einen einsamen Kampf gegen Ungerechtigkeit ausfechten. Der Gedanke daran spornte seinen Zorn an, erhitzte seinen Körper. Warum verdampfte der Regen nicht, sobald er ihn berührte? Das wunderte ihn zwar, hielt ihn jedoch nicht auf. Zielsicher öffnete er die unverschlossene Eingangstür eines mehrstöckigen Gebäudes. Er passierte den Aufzug ohne jegliches Interesse daran und stieß die Tür zum Treppenhaus auf.
Hinter einem Fenster, einige Stockwerke oberhalb der ungemütlichen Kreuzung, war es bedeutend freundlicher. Das regelmäßige Ticken der großen Standuhr bildete ein beruhigendes Hintergrundgeräusch in einem ansonsten stillen, fast menschenleeren Empfangsbereich. Gegenüber der Standuhr, die neben den Sesseln des Sitzbereichs thronte, befand sich die Anmeldung. Hinter der aus exquisitem, dunklem Holz bestehenden Theke fuhr eine kurzhaarige, brünette Frau einen Computer herunter. Während das leise Summen erlosch, drückte einer ihrer sorgfältig manikürten Finger eine Taste der Gegensprechanlage. „Rebecca, ich habe deinen Terminplan für morgen aktualisiert. Wenn du mich heute nicht mehr benötigst, mache ich jetzt Feierabend.“
Eine weibliche Stimme erklang aus dem Lautsprecher der Anlage. „Vielen Dank, Natascha. Wir sehen uns morgen.“
Natascha stand auf und verschwand hinter der, in einem warmen Gelbton gestrichenen Wand, in einem Nebenraum. Ihr Finger lag bereits auf dem Schalter des Kaffeeautomaten. Sie sah auf ihre Armbanduhr und ließ den Automaten an. Aus einem schmalen Schrank einer Nische nahm sie ihren Mantel. Nachdem sie den Sitz ihrer perlweißen Bluse überprüft hatte, zog sie sich ihren Mantel über und holte ihre Handtasche aus dem Schrank.
Der dicke Teppich verschluckte die Trittgeräusche ihrer Schuhe, als sie nun zur Tür schritt. Erst im Flur machten ihre Schuhe klick, klack, klick, klack, während sie in Richtung Fahrstuhl ging. Sie betätigte den Knopf und wartete auf die Ankunft des Lifts.
Nach nur wenigen Augenblicken glitt die Tür auf und gab die Sicht auf zwei Männer in blauen Arbeitsanzügen frei. Mitsamt einem Putzwagen und einem Staubsauger verließen die beiden Männer den Aufzug. Ein batteriebetriebenes Radio stand ganz oben auf dem Putzwagen, übertrug live ein Fußballspiel und beendete die Ruhe auf dieser Etage.
„So früh schon Feierabend, Natascha?“ erkundigte sich einer der beiden Männer und lächelte sie schelmisch an.
Sie erwiderte sein Lächeln. „Ja, Manny. Ausnahmsweise mache ich mal richtig früh Feierabend. Ich habe die Kaffeemaschine für euch angelassen.“
Manny umarmte sie spontan. „Du bist ein Engel. Ich wünsche dir einen wunderbaren Feierabend.“
„Den wünsche ich euch beiden auch.“ Sie betrat die Kabine, drückte die EG-Taste und schenkte den beiden ein letztes Lächeln, bevor sich die Kabinentür schloss.
Natascha mochte die beiden. Sie trafen regelmäßig aufeinander, wenn Natascha Feierabend machte und die beiden Männer mit ihrer Arbeit auf dieser Etage begannen. Für Natascha war es mittlerweile ein Ritual den Kaffeevollautomaten anzulassen, damit sich die beiden mit einer Tasse Kaffee stärken konnten.
Unnachgiebig drängte der Wind die Regentropfen gegen das Fenster. Sie barsten an der Scheibe, rannen in kleinen Sturzbächen hinab in die Tiefe. Schräg rechts hinter dem Fenster saß Dr. Rebecca Brandt an ihrem Schreibtisch und schaltete ihren PC aus. Sie dehnte ihren Hals langsam von einer Seite zur anderen. Ihre verspannten Muskeln sehnten sich nach einer Massage. Doch ein Blick auf ihre Armbanduhr bestätigte ihre Befürchtung: dafür war es heute zu spät. An diesem Abend bekam sie keinen Termin mehr. Ihre Muskeln mussten noch etwas länger mit der Verspannung zurechtkommen. Sie löste ihre zu einem Knoten gebundenen, dunklen Haare, die ihr umgehend bis weit über die Schultern fielen und starrte zu dem Fenster. Hinter ihr lag ein langer Tag. Es war jedes Jahr das Gleiche. Zu dieser Jahreszeit bekam sie regen Zulauf von Patienten mit Winterdepressionen. Was bei einem Herbsttief wie diesem nicht weiter verwunderlich war. Die Aussicht dort hinaus, in den vom Wind getriebenen regelrecht peitschenden Regen zu müssen, war wenig verlockend. Rebecca entglitt ein Seufzen. Etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit zur Tür. Ein unerwarteter Gast hatte wortlos ihr Sprechzimmer betreten. Am Saum seines völlig durchnässten, grauen Parkas bildeten sich dicke Tropfen, die schwer zu Boden fielen.
„Die Sprechzeiten sind heute leider vorbei. Vereinbaren Sie doch bitte morgen früh einen Termin“, teilte Rebecca ihrem späten Gast mit.
„Es ist Ihre Schuld!“ fuhr der Mann sie an und zog seine rechte Hand aus der Tasche seines Parkas. Zum Vorschein kam eine Pistole, deren Mündung er jetzt auf Rebecca richtete. Mit der freien Hand schob er sich die Kapuze vom Kopf. Trotz ihres heftig schlagenden Herzens versuchte Rebecca ruhig zu bleiben und sich auf ihn zu konzentrieren. Er war von Leid gezeichnet, stellte sie fest. Die Haut um seine Augen und um seinen Mund hatte tiefe Furchen, wirkte regelrecht grau. Sein ungepflegtes Haar mochte einst dunkel gewesen sein, doch davon zeugten nur noch wenige Strähnen, die an der Masse an Grau herausstachen. Rebecca kannte den Mann nicht. Er war nicht ihr Patient. Ungeachtet der Pistole versuchte sie ganz ruhig sitzen zu bleiben und beobachtete ihn weiter. Es fiel ihr sehr schwer Ruhe zu bewahren. Alles in ihr wollte instinktiv fliehen und sich der Gefahr entziehen. Aber vielleicht schoss er, sobald sie versuchte zu fliehen. Sie hatte keine Wahl und musste ruhig bleiben. Auf keinen Fall durfte sie den Mann provozieren. Das könnte schlimme Folgen für sie haben. Sie durfte auch nicht in Panik geraten. Also blieb sie weiter sitzen und betrachtete den Mann. Er beschaffte sich mit Hilfe einer Waffe eine Dominanz, zu der er sonst wahrscheinlich nicht fähig war. Es wäre unklug, wenn nicht sogar fatal, diese momentane Dominanz zu ignorieren oder in Frage zu stellen. Aber ein zu defensives Verhalten erschien Rebecca auch nicht passend. Mit Geiselnahmen hatte sie keinerlei Erfahrungen.
„Der Abschaum hat mein kleines Mädchen ermordet und Sie lassen ihn nach nur drei Jahren aus dem Gefängnis raus?“ Speichel flog aus seinem Mund während er sprach, die Worte förmlich ausspie.
Jetzt wusste Rebecca, wen sie vor sich hatte. Es musste Ulrich Pauly sein. Vor drei Jahren war Natalie Pauly, ein vierzehnjähriger Teenager von einem Auto angefahren und tödlich verletzt worden. Der Unfallverursacher hatte damals Fahrerflucht begangen. Es hatte sich herausgestellt, dass er zum Unfallzeitpunkt stark alkoholisiert war und keine Fahrerlaubnis besaß. Die hatte er bereits Monate zuvor wegen Trunkenheit am Steuer bei der Polizei abgeben müssen. Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich um einen unverbesserlichen Trinker und Autofahrer, der eine dreijährige Haftstrafe absitzen musste. In den letzten zwei Jahren hatte Rebecca einige Gespräche mit ihm geführt. Dem Mann setzte der von ihm verursachte Unfall und ganz besonders der Tod des Mädchens sehr zu.
„Laut unserem Rechtssystem hat der Mann ausreichend für seine Tat gebüßt“, versuchte sie Ulrich Pauly die Situation zu erklären. Sie ahnte, wie wenig sie ihn damit überzeugen konnte. Der Mann hatte schließlich seine Tochter verloren.
Er verzog angewidert sein Gesicht. Die Furchen um seinen Mund vertieften sich zu Schluchten. „Meine kleine Natalie ist tot. Nicht bloß für drei Jahre Sie ist für immer tot. Wie können da drei Jahre Gefängnis gerecht sein?“
Das konnte Rebecca ihm nicht beantworten. Sie machte die Gesetze nicht. Langsam stand sie auf, schob ihre Schultern zurück und richtete ihre Handflächen nach oben. Mit kleinen Schritten näherte sie sich Pauly. Der Mann war so aufgebracht, so wütend. Aber er war kein Mörder. Das konnte sie erkennen. Seine Hände zitterten, schienen das Gewicht der Pistole kaum halten zu können, obwohl er sie mittlerweile mit beiden Händen hielt. In seinen Augen fand sie keine Mordlust, nur Schmerz und Verzweiflung.
„Bleiben Sie stehen!“ schrie er sie an.
Rebecca ignorierte den Befehl. Sie musste irgendwie zu ihm durchdringen. Ihn beruhigen und dazu bringen, die Waffe zu senken. Oder besser noch, sie ganz aus den Händen zu legen. „Lassen Sie uns in Ruhe darüber reden, Herr Pauly.“ Sie war in seiner Reichweite angekommen. Wenn sie ihren Arm etwas mehr streckte, konnte sie die Pistole berühren.
„In aller Ruhe darüber reden?“
Tropfen seines Speichels trafen ihr Gesicht. Sie widerstand dem Bedürfnis sich mit der Hand durch das Gesicht zu streichen, um die Tropfen wegzuwischen. Sie sah noch, wie er eine Hand von der Waffe löste und ausholte. Diese plötzliche Bewegung konnte sie nicht einordnen. Erst als sie seine Hand auf ihrer Wange aufschlagen spürte, realisierte sie was geschah. Die Wucht des Schlags war heftig. Rebecca taumelte zurück, stürzte zu Boden. Ein metallischer Geschmack erfüllte ihren Mund.
Manny packte den Papierkorb und beförderte den Inhalt schwungvoll in einen großen, am Putzwagen befestigten Plastiksack. Frustriert verfolgte er die Berichterstattung des Fußballspiels im Radio. Für seine Lieblingsmannschaft lief es alles andere als gut. Er stellte den Korb wieder auf seinen Platz und warf einen Blick rüber zu seinem Kollegen und Nachbarn Till, der gerade einen Schreibtisch abwischte. Till hatte ihm diesen Job besorgt. Dafür war Manny ihm sehr dankbar, obwohl er den Reinigungsjob nicht wirklich mochte. Genau genommen verabscheute er diese Aufgabe sogar. Es war eine mühsame, anstrengende Arbeit, besonders wenn man vorher bereits neun Stunden lang in einer Fabrik geschuftet hatte. Aber Manny brauchte das Geld. Auch wenn aus dem angeblichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde tatsächlich nur vier Euro herauskamen. Der Eigentümer der Reinigungsfirma kannte die Schlupflöcher des Systems zur Genüge, um weiterhin beim Personal sparen zu können. Dennoch blieb Manny nichts anderes übrig, als für den Halsabschneider zu arbeiten. Erika, seine seit nunmehr fünfunddreißig Jahren geliebte Ehefrau, und wer schaffte es heutzutage noch so viele Jahre mit ein und demselben Partner zu verbringen, war krank. Die Zuzahlungen zu ihren Behandlungen und die benötigten Medikamente fraßen gewaltige Löcher in ihr ohnehin kleines Haushaltsbudget. Seit ihr Sohn vor Jahren eine Stelle als Lastwagenfahrer in Kanada angenommen hatte, waren er und Erika alleine. Mittlerweile war ihr einziges Kind verheiratet und sogar selbst Vater von zwei Kindern. Manny und Erika kannten ihre Schwiegertochter und ihre Enkel nur über das Internet. Kleine Kameras übertrugen ihre Gespräche live, so dass sie nicht nur miteinander sprechen, sondern sich auch gleichzeitig sehen konnten. Till hatte ihnen mit diesem technischen Kram geholfen. Er war in solchen Dingen versierter als Manny. Und so war es ihnen wenigstens möglich, ihren Sohn und seine Familie einmal in der Woche auf einem Bildschirm zu sehen. Leider reichte das Geld seit drei Monaten nicht mehr, um die Telefonrechnung zu bezahlen. Den Anbieter interessierte ihre Lebensumstände nicht. Ohne Rechnungsbegleichung kein Service, teilte ihm die Dame, mit der er von Tills Telefon ausgesprochen hatte, mit. Seitdem gingen Manny und Erika jeden Samstagabend hinüber zu Till, um dessen Computer zu benutzen. Manny war Till für viele Dinge dankbar. Er wusste nicht, was er ohne Till machen sollte. Till war ein wahrer Freund und mit Sicherheit der beste Nachbar überhaupt auf diesem Planeten. Dennoch musste endlich das Geld her, um die Telefonrechnung zu bezahlen, denn Erika fielen selbst die wenigen Schritte hinüber ins Nachbarhaus zunehmend schwerer. Manny schob den Putzwagen zurück auf den Gang. Bis zur nächsten Station, der Praxis von Dr. Brandt, waren es nur wenige Meter. Manny freute sich schon auf eine Tasse heißen Kaffee. Natascha, die Sprechstundenhilfe von Dr. Brandt, war ein wahrer Engel. Sie ließ die Kaffeemaschine extra für ihn und Till an.
„Tor! Tor! Tor!“ rief Till hinter ihm enthusiastisch.
Manny teilte Tills Enthusiasmus nur bedingt. Ihre Mannschaft hatte bisher ein einziges Tor geschossen. Es war bereits die 72. Spielminute und sie brauchten noch sage und schreibe drei weitere Tore, um das Ruder herum zu reißen. Und das nur vorausgesetzt, die gegnerische Mannschaft blieb selbst torlos. Manny drückte die Türklinke zur Praxis herunter und schob den Wagen ein Stück weit hinein. Durch den Empfangsbereich konnte er die weit geöffnete Tür zu Dr. Brandts Sprechzimmer gut sehen. Ebenso den Mann und die Waffe in dessen Hand. In Mannys Ohren klang der Knall ohrenbetäubend. Hoffentlich kommt unser Junge nach Hause und steht Erika bei, dachte Manny noch. Da bohrte sich die Kugel schon in seinen Oberkörper und durchschlug sein Herz. Manny sackte zusammen und fiel Till direkt vor die Füße. Ein einzelner Tropfen Blut verirrte sich auf den Schriftzug an der Praxistür, machte aus dem Punkt hinter dem Doktor einen bizarren Doppelpunkt.
Der Rückstoß traf Ulrich Pauly völlig unerwartet. Seine Hand schleuderte schwungvoll zurück, wurde von seiner Stirn abrupt abgebremst. Für einen Augenblick sah er Sterne, als das Metall in seiner Hand auf seinen Kopf traf. Schmerz breitete sich in seinem Kopf aus. Er begriff nicht, was soeben geschehen war. Ulrich hatte diesem Monster, das die Seite von Natalies Mörder ergriffen hatte, einen Schlag mit der Hand verpasst. Auch wenn es seiner Erziehung völlig widersprach eine Frau zu schlagen, die Strafe hatte sie sich verdient! Sie war ein Monster und sie hörte nicht auf ihn. Er hatte sie doch davor gewarnt sich ihm zu nähern. Ulrichs Blick klärte sich allmählich. In der nun offenen Praxistür lag ein Mann. Er erinnerte sich an eine Bewegung, die er im Augenwinkel wahrgenommen hatte, als seine Hand das Gesicht des Monsters traf. Wie ferngesteuert hatte sich die Waffe in seine Blickrichtung gedreht. Erschrocken über den plötzlich auftauchenden Mann, war Ulrich zusammengezuckt. Dabei musste sich der Schuss gelöst haben. Ulrich zitterte am ganzen Körper. Das hatte er nicht gewollt. Die Pistole sollte lediglich seiner Forderung nach Gerechtigkeit mehr Ausdruck verleihen. Sie sollte niemanden verletzen! Schließlich war er doch kein Monster! Und dennoch lag dort hinten dieser Mann, auf den er geschossen hatte. Das konnte nicht sein! Ulrich war kein Mörder! Er war nicht wie dieser unbelehrbare, betrunkene Autofahrer, der seinem kleinen Mädchen das Leben genommen hatte. So war er nicht! Die Gestalt seiner Tochter tauchte neben dem am Boden liegenden Mann auf. „Natalie“, schluchzte Ulrich, glücklich darüber, seine geliebte Tochter endlich wieder zu sehen. Sie schaute von dem am Boden liegenden Mann zu ihm auf. Mit vorwurfsvoller, geradezu enttäuschter Miene starrte sie Ulrich an.
Der laute Schuss lichtete endlich den Nebel, der Rebecca seit dem heftigen Schlag umgab. Ihre Sinne kehrten zurück und sie sah zu dem Schützen auf. Offenbar stand Pauly unter Schock. Mit weit aufgerissenen Augen stierte er zu der Eingangstür der Praxis auf der anderen Seite des Vorzimmers. Rebecca nutzte die sich ihr bietende Gelegenheit. Schnell richtete sie sich auf. Etwas zu schnell, aber den Schwindel der sie erfasste, ignorierte sie. Rebecca versuchte die Waffe Paulys Hand zu entreißen. Unter normalen Umständen wäre sie zu solch einer Tat nicht fähig. Derartige Aktionen waren lebensgefährlich. Aber unter normalen Umständen gab es auch keine auf sie gerichteten Waffen. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste etwas unternehmen. Er hatte bereits geschossen. Sie wusste nicht warum. Wie hatte sie ihn bloß derartig falsch einschätzen können? Seine Wut und seine Verzweiflung so unterschätzt? Sie musste die Pistole in ihren Besitz bekommen, bevor er erneut schießen konnte. Erst dann war sie sicher. Auf keinen Fall wollte sie von ihm erschossen werden. Pauly leistete trotz seines Schocks erhebliche Gegenwehr. Er war nicht bereit ihr die Waffe zu überlassen. Sie rangen darum. Der Lauf der Pistole richtete sich zwischen ihren Körpern nach oben. Dann durchdrang erneut ein ohrenbetäubender Knall die Praxisräume. Rebecca wartete auf den einsetzenden Schmerz, der einem Einschlag in ihren Körper unweigerlich folgen musste. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen klappte Pauly direkt vor ihr zusammen, schlug hart mit dem Rücken auf dem Boden auf. Rebeccas Magen rebellierte, als sie das von der Kugel zerfetzte Gesicht Paulys sah. Der dicke, hellgraue Teppich unter ihm sog die rote Flüssigkeit begierig auf.
Kriminaloberkommissar Leon Zimmermann hielt die halbvolle Kaffeekanne in seiner rechten Hand und goss die schwarze, aromatische Brühe in eine Tasse während sein PC hochfuhr. Mit diesem Ritual begann er jedes Mal seinen Dienst. Den bröckelnden Wandputz oberhalb der Kaffeemaschine beachtete er nicht. Überhaupt hatte er keinen Blick für den traurigen, renovierungsbedürftigen Zustand der Inspektion. Seine Gedanken waren ganz woanders. Er konnte es kaum erwarten, dass sein PC endlich einsatzbereit war. Die Überprüfung gewisser Bankdaten gehörten auch zu seinem täglichen Ritual. In dieser Kleinstadt verlief der Dienst meistens eher ruhig. Was einer der Vorteile gegenüber einer Großstadt war. Zwar war es nie wirklich langweilig, aber die hiesigen Einsätze beschränkten sich auf kleinere Delikte, wenn man mal von der Einbruchserie absah, deren Täter einfach nicht beizukommen war. Leon ging zu seinem Schreibtisch und blickte auf den Monitor. Er stellte seine Tasse auf den Tisch, setzte sich und gab einige Daten ein. Egal wie lange er auch auf die Kontendaten starrte, sie änderten sich nicht. Seit nun mehr fünf Jahren tat sich nichts. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand fünf Jahre lang nicht auf sein Konto zu griff? Selbst wenn es mittlerweile leicht ins Soll abgerutscht war, weil es keinerlei Einzahlungen gegeben hatte. Frustriert schloss er die Seite mit einem heftigen Fingerdruck.
"Was genau erwartest du auf dem Konto zu finden?" erklang die Stimme seines Kollegen Dieter Erhardt, dessen Schreibtisch nur wenige Meter von seinem entfernt stand.
Leon ging nicht auf die Frage ein. "Gibt es was Neues von der Krankenkasse?"
Dieter schüttelte seinen Kopf. "Nein. Falls sich daran etwas ändern sollte, melden sie es umgehend."
Leon sah zu Dieter rüber. Dieter war ein Urgestein der Inspektion. Obwohl er seit einer Ewigkeit hier war, hatte er niemals die Ambitionen auf der Karriereleiter empor zu steigen. Er könnte die Inspektion mit Leichtigkeit leiten, aber daran hatte Dieter kein Interesse. Seine Position, sein Job, reichte ihm völlig und der hatte Spuren hinterlassen. Wenige graue Haare zierten seinen Kopf, umgaben die blanke Platte seines Schädels wie einen Ring. Dieter behauptete gerne, dass das am ständigen Raufen der Haare lag. Mit den Jahren hatte er seine durchtrainierte Figur verloren, war deutlich fülliger geworden. Trotz seiner nicht unbedingt optimalen körperlichen Verfassung war er ein hervorragender Polizist und der leitende Ermittler in dem Vermisstenfall, der Leon keine Ruhe ließ.
Menschen verschwanden zwar täglich, aber sie konnten sich nicht in Luft auflösen. Irgendwo musste Daniel sein. So ungern Leon die Möglichkeit in Betracht zog, er musste es wissen: "Gab es in letzter Zeit eine Prüfung bei der Bank? Ist Geld verschwunden?"
Dieter schüttelte den Kopf. "Es gab in den letzten zwei Jahren sogar zwei Prüfungen und nein, dein Bruder hat kein Geld von seinem Arbeitgeber abgezweigt. Das Thema hatten wir bereits mehrfach, Leon."
Leon runzelte die Stirn. "Er war in den letzten fünf Jahren nicht krank und er hat kein Geld. Das ergibt keinen Sinn."
Dieter stand auf, ging zu Leon rüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Es ergibt Sinn, wenn..."
"Er tot wäre", unterbrach Leon ihn. "Aber selbst dann muss es doch irgendwo sterbliche Überreste geben. Hast du nicht alles absuchen lassen?"
Bevor Dieter antworten konnte, streckte ihr Chef Müller seinen Kopf in ihr Büro. "Es gab eine Schießerei in der Hauptstraße 442. Ein Opfer, der Schütze ist tot. Erhardt, Zimmermann, übernehmen Sie das!"
Tack, tack, tack, machte der Absatz eines schwarzen Damenstiefels, als der in ihm steckende Fuß ungeduldig auf dem Linoleumboden des Fahrstuhls trippelte. Ein manikürter, in auffälligem Rot lackierter Finger drückte die Taste zu der dritten Etage. Die Tür schloss sich begleitet von einem leisen Brummen. Der Fahrgast kramte in einer Handtasche nach einem Lippenstift. Den Spiegel im Inneren des Lifts nutzend, zog sich die Frau ihre Lippen nach. Die Farbe war exakt auf ihre Nägel abgestimmt.
Julia Sommer legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Schließlich konnte man ja nie wissen, wem man wann und wo begegnete. Selbst um diese Uhrzeit in einem wahrscheinlich fast menschenleeren Haus konnte es durchaus Überraschungen geben. Ihr Fuß begann erneut zu trippeln, begleitet von ihrem knurrenden Magen. Wieso konnte Rebecca nicht ein einziges Mal pünktlich sein? Denn wenn sie es wäre, würden sie bereits ihre Vorspeise bei ihrem Lieblingsitaliener genießen können. Aber nein, Rebecca war natürlich noch in ihrer Praxis und hielt es nicht für nötig, auf Julias Nachrichten zu antworten. Selbstverständlich könnte Julia einfach im Restaurant auf Rebecca warten, aber sie wusste, dass Rebecca ihre Verabredung durchaus schlichtweg vergessen haben konnte und somit gar nicht auftauchen würde. Deswegen entschied sich Julia ihre Freundin höchstpersönlich zum Essen zu geleiten.
Regentropfen glitzerten wie kleine Edelsteine auf der Oberfläche ihres schwarzen Mantels als sich die Fahrstuhltür öffnete und Julia den Flur betrat. Der unerwartete Anblick ließ sie jäh mitten in der Schrittbewegung innehalten.
Auf dem Boden vor der Praxis, besser gesagt, unter dem Türrahmen lag ein Mann. Sein Körper wurde von einem zweiten Mann, der neben ihm kauerte, geschüttelt.
„Manny! Manny!“ rief er verzweifelt flehend.
Julia schüttelte sich kurz. Die Regentropfen flogen von ihrem Mantel. Das war keine Art von Überraschung, die sie erwartet hatte. Energisch ging sie auf die beiden Männer zu. Sie tastete nach dem Puls des am Boden liegenden. „Das Rufen können Sie sich sparen. Er hört Sie nicht mehr. Er ist tot. Rufen Sie lieber die Polizei.“
„Das habe ich“, murmelte der Mann.
Ohne weiter auf den Trauernden einzugehen, richtete Julia sich wieder auf, schritt vorsichtig an dem Toten vorbei in die Praxis. Unter ihrem Fuß erklang ein knackendes Geräusch, als sie doch auf etwas trat. Julia blickte hinunter. Der Absatz ihres rechten Stiefels steckte im Display eines Handys. Sie hob ihren Fuß an, schüttelte das Handy ab, als wäre es ein lästiges Insekt und ging weiter. Julia fand ihre Freundin im Sprechzimmer.
Rebecca hockte auf dem Boden vor ihrem Schreibtisch. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper gezogen, umschloss sie fest mit ihren Armen und starrte ins Leere. Ihre rechte Wange war knallrot.
Julia warf nur einen kurzen Blick auf dem im Sprechzimmer am Boden liegenden Mann. Nach seinem Puls brauchte sie nicht zu fühlen. Das hatte sich eindeutig erübrigt. Wozu brauchte jemand ohne Gesicht einen Puls? Anstelle eines Gesichts gab es nur zerfetzte Masse zu sehen.
„Wenn ich irgendetwas im Magen hätte, würde ich jetzt kotzen.“
Leon und Dieter betraten mitsamt einer ganzen Schar von Beamten das mehrstöckige Gebäude in der Hauptstraße 442.
"Du nimmst dir Etage für Etage vor", sagte Dieter zu Leon.
Leon blickte ihn erstaunt an. "Wozu? Der Schütze ist tot."
Dieter holte tief Luft. "Woher wissen wir, dass es ein Einzeltäter ist? Vielleicht gibt es einen Komplizen, der uns irgendwo im Gebäude auflauert."
Leon schüttelte den Kopf. "Das ist doch recht weit hergeholt, findest du nicht? Unsere Informationen besagen etwas völlig anderes."
"Auf wie vielen solcher Einsätze warst du bisher, Leon? Richtig, auf keinem. Also tu was ich dir als Vorgesetzter sage und sichere Etage für Etage." Dieter ließ nur sehr selten den Chef raushängen, doch wenn er es tat, richtete sich Leon danach. Wenn auch überaus unwillig. Er stieß die Tür zum Treppenhaus auf, gefolgt von einigen Kollegen. Der Flur der ersten Etage war ruhig und verlassen. Im zweiten Stock sah es nicht anders aus. Nun näherte er sich dem Tatort. Dementsprechend war es im Flur der dritten Etage alles andere als ruhig. Zwei Streifenpolizisten kümmerten sich um einen Mann mit von Tränen überströmten Gesicht. Die Arbeitskleidung, die der Mann trug, wies ihn als Mitglied einer Putzkolonne aus. Wie der Tote auch, bemerkte Leon, als er an dem Kollegen der Spurensicherung vorbeiging, der die Leiche im Eingangsbereich einer Praxis näher in Augenschein nahm. Ein sonderlicher roter Punkt auf dem Schriftzug der Eingangstür zog Leons Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde auf sich, bevor er den Anmeldebereich passierte. Er hörte Dieters Stimme und folgte ihr in ein Sprechzimmer.
Die zahlreich anwesenden Personen ließen den Raum trotz seiner nicht gerade geringen Größe regelrecht klein wirken. Zwei uniformierte Kollegen, Dieter, eine weitere Leiche und zwei Frauen füllten das Zimmer aus. Der Umriss des Toten wurde eingezeichnet, die Leiche fotografiert. Dieter hockte neben einer der beiden Frauen, die zusammengesunken vor einem Schreibtisch auf dem Boden saß. Das musste eine Zeugin sein, vermutete Leon. Die Frau umklammerte ihre Beine fest mit ihren Armen. Ihren Kopf hielt sie gesenkt, wodurch ihr das lange, dunkle Haar wie ein Vorhang vor das Gesicht fiel. Dieters Fragen beantwortete sie sehr leise und geradezu apathisch. Die offensichtlich unter Schock stehende Frau tat Leon leid, selbst wenn es sich bei ihr um Dr. Rebecca Brandt persönlich handeln sollte. Den Namen hatte Leon an der Tür gelesen und er hatte keine guten Erfahrungen mit Psychotherapeuten gesammelt. Seine letzte Begegnung mit einem Exemplar der Sorte hatte ihm unerwünschten Urlaub und eine Therapie zur Aggressionsbewältigung eingebracht. Wie genau der sogenannte Doktor zu der Zeit zu der Erkenntnis gelangte, blieb ihm ein Rätsel. Der Therapeut hatte das Gespräch auf Daniel gelenkt und dabei war Leon ein klein wenig aufbrausend geworden. Aber wer ließ sich schon gerne sagen, dass man seinen vermissten Bruder loslassen musste? Er jedenfalls nicht und genau das hatte er dem Therapeuten nicht gerade höflich mitgeteilt. Seitdem stand Leon mit den Psychofritzen auf Kriegsfuß. Dennoch konnte er in diesem Moment nicht anders, als für das am Boden sitzende Häufchen Elend Sympathie zu empfinden.
Die zweite anwesende Frau unterbrach ein nerviges Trippeln mit dem Fuß und schob sich direkt in Leons Blickfeld. "Hi", hauchte sie mitsamt einem verführerischen Augenaufschlag. "Julia Sommer." Sie streckte ihm ihre perfekt manikürte Hand entgegen.
Leon betrachtete die Hand kurz, ergriff sie aber nicht. "Sind Sie eine Zeugin?"
"Nein. Glücklicherweise war schon alles vorbei, als ich dazu kam. Dennoch, falls ich Ihnen helfen kann, ganz gleich wobei...", sie hatte ihre Hand zwischenzeitlich zurückgezogen und hielt ihm jetzt eine Visitenkarte hin. "...rufen Sie mich an. Ich stehe Ihnen voll und ganz zur Verfügung. Tag und Nacht.“ Perplex nahm Leon die Karte entgegen. Sie befanden sich an einem Tatort mit zwei Leichen und diese Rothaarige hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzubaggern? Ernsthaft?
Dieter richtete sich auf, kam zu Leon herüber und zog ihn etwas von der aufdringlichen Julia Sommer weg. "Bei dem Toten hier handelt es sich um Ulrich Pauly. Seine Tochter Natalie wurde vor drei Jahren von einem Betrunkenen ohne Führerschein überfahren. Das war eine schlimme Geschichte damals, erinnerst du dich? Anfang dieser Woche wurde der Unfallfahrer aus der Haft entlassen. Dr. Brandt ist die Therapeutin des Fahrers. Pauly tauchte hier bewaffnet auf und bedrohte Dr. Brandt mit der Pistole. Als die Männer von der Putzkolonne die Praxis betreten wollten, hat Pauly geschossen. Er hat den armen Kerl direkt ins Herz getroffen. Dr. Brandt versuchte Pauly die Waffe zu entreißen, wodurch sich ein weiterer Schuss löste. Der dann so endete." Dieter wies auf den toten Pauly. Leon konnte sich kaum vorstellen, wie die zierlich wirkende Frau mit Pauly um die Pistole gerungen hatte. Pauly war ein großer Mann. Leon tippte auf 1,90 Meter. Er ging vor ihr in die Hocke, ähnlich wie Dieter es kurz zuvor noch getan hatte. Erst jetzt konnte er durch den Vorhang der Haare ihr Gesicht sehen. Sie war verletzt. Ihre Wange schimmerte leuchtend rot. Ein Hämatom begann sich zu bilden. Irritiert spürte er das Bedürfnis sie in seine Arme zu nehmen, um sie zu trösten. "Sie müssen ins Krankenhaus", sagte er stattdessen und klang dabei vielleicht etwas ruppig.
"Mir geht es gut." Sie starrte an ihm vorbei, schien ihn nicht wirklich zu registrieren.
"Sie haben da einen bösen Schlag abbekommen und Sie stehen unter Schock. Ich rate Ihnen dringend dazu, sich ärztlich untersuchen zu lassen", versuchte Leon es erneut, aber diesmal in einem sanfteren Ton.
Sie war eine schöne Frau mit geradezu perfekt symmetrischen Gesichtszügen, hohen Wangenknochen und einer zart wirkenden Haut, die unter normalen Umständen sicherlich nicht derartig blass war. Ihr langes, dunkelbraunes Haar erinnerte ihn an Seide. Er frage sich, ob es sich auch wie Seide anfühlte. Der Wunsch seine Arme um sie zu legen, sie an sich zu drücken und fest umschlossen zu halten wurde schier übermächtig.
"Das ist nicht nötig. Mir geht es gut", wiederholte sie.
Er mochte den Klang ihrer Stimme. "Sie könnten eine Gehirnerschütterung haben oder es könnte etwas gebrochen sein." Leon war nicht bereit aufzugeben, obwohl er selbst nicht genau wusste, wieso ihm das wichtig war. Wenn sie nicht ins Krankenhaus wollte, war das schließlich ganz allein ihre Sache, oder etwa nicht? Jetzt blickte sie ihn zum ersten Mal direkt an.
Die Frau hatte unglaubliche Augen, leicht mandelförmig und dunkelbraun. "Es ist ein Bluterguss, der in den nächsten Tagen nicht nur schmerzen, sondern auch verschiedene Farben annehmen wird. Mit meinem Gebiss und meinen Gesichtsknochen ist alles in Ordnung. Darf ich jetzt nach Hause?" fragte sie nun mit erstaunlich fester Stimme.
"Ich kann Sie nicht zu einem Krankenhausbesuch zwingen", stellte Leon fest, so gerne er sie auch zu einem Arzt verfrachtet hätte. "Aber Sie sollten sich auf keinen Fall selbst hinter das Steuer setzen."
"Kein Problem. Ich bringe sie nach Hause", schaltete sich Julia Sommer plötzlich ein und kam näher.
Die Frau versuchte aufzustehen, was ihr nicht leichtfiel. Leon hielt ihr seine Hand entgegen, um ihr zu helfen. Sie ignorierte die Hand und kämpfte sich alleine auf die Füße.
In dem Moment wusste Leon mit Sicherheit, dass es sich bei der Frau um Dr. Rebecca Brandt höchstpersönlich handelte. Sie war stur und wusste alles besser, das war eindeutig ein Psychofritze. Julia Sommer half ihr in den Mantel.
Leon steckte Rebecca seine Karte in die Manteltasche und sagte leise: "Falls Sie sich doch anders entscheiden und Hilfe benötigen, melden Sie sich." Die Worte waren heraus, bevor er überhaupt nachgedacht hatte. Fehlte bloß, dass er wie die Rothaarige kurz zuvor, Tag und Nacht hinzufügte. Aber nun waren seine unbedachten Worte nicht zu ändern. Obwohl er sich darüber ärgerte, denn es klang selbst für ihn wie eine Anmache. Nicht nur für ihn, bemerkte er durch Julias missbilligenden Blick. Sie legte ihren Arm um Rebeccas Schulter und führte sie hinaus.
Leons Blick folgte ihnen, bis sie im Gang verschwunden waren. "Was zum Teufel war das denn?" erkundigte sich Dieter neben ihm verblüfft.
"Nichts", entgegnete Leon kurz. Also hatte sogar Dieter seinen erbärmlichen Anmachversuch mitbekommen. Das war ja ganz großartig.
„Meinst du, wir können uns unterwegs noch etwas zu Essen besorgen?“
Der Klang von Julias Stimme riss Rebecca aus ihren Gedanken. Erst jetzt erkannte sie Häuser in den schemenhaften Umrissen, die an dem Autofenster vorbeizogen. Obwohl sie die bisherige Fahrtzeit damit zugebracht hatte aus dem Fenster zu schauen, hatte sie nichts wirklich gesehen. Der Verlauf dieses Abends war unfassbar. Wie lange war es her, dass sie sich nach einer Massage gesehnt hatte? Nach etwas so Belanglosem. Waren es Minuten? Oder waren es Stunden? Sie wusste es nicht. Zwei Menschen starben heute in ihrem Beisein. Und für einen Tod war sogar sie selbst verantwortlich. Sie wagte es nicht sich auszumalen wie alles verlaufen wäre, wenn die Putzkolonne nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort aufgetaucht wäre. Nach Paulys Tod war Rebecca in eine Leere gestürzt. Sie war einfach auf dem Boden zusammengesunken, unfähig sich zu bewegen. Alles erschien ihr unwirklich und realitätsfremd. Julias Ankunft hatte sie kaum wahrgenommen und die Fragen der Polizisten in einem Automatismus beantwortet. Von einer Sprachfunktion, die quasi im Autopilotenmodus funktionierte hatte sie zwar schon gehört, aber es noch nie selbst erlebt. Bis zum heutigen Abend. Etwas selbst zu erleben war immer vollkommen anders, als es in der Theorie dargestellt wurde. Sie wusste nicht einmal, was die Polizisten sie gefragt hatten oder was sie ihnen antwortete. Die Beharrlichkeit, die Stimme des zweiten Kommissars befreite sie letztendlich irgendwann aus ihrer Starre. Sein mehrmaliger Versuch sie zu einem Krankenhausbesuch zu überreden, war ihr alles andere als willkommen. Ihr ging es gut. Zumindest was ihre körperliche Verfassung betraf. Erstaunlicherweise hatte sie durch den Schlag keine Brüche erlitten, sondern nur einen Bluterguss. Die Krankenhausärzte konnten dagegen nicht mehr unternehmen als sie selbst. Der Kommissar hatte ihr zwar eindringlich zu einer ärztlichen Untersuchung geraten, aber nicht angeboten sie zu begleiten. Wie hätte sie reagiert, wenn er es getan hätte? Sie erinnerte sich an seine Augen, in der Farbe eines strahlend klaren Himmels an einem Sommermorgen. Das war ein schöner Anblick. Wie der ganze Kommissar überhaupt. Was wäre geschehen, wenn er ihr seine Begleitung angeboten hätte? Wäre sie dann ins Krankenhaus gegangen? Es gab viele Dinge, die schlimmer waren, als jetzt mit ihm in einem Krankenhaus warten zu müssen. Worüber würden sie sich während der Wartezeit unterhalten? Den Schusswechsel? Die Aussicht trübte den Gedanken daran. Gab es keine anderen möglichen Themen über die sie sprechen würden? Rebecca seufzte. Vielleicht litt sie doch an einer Gehirnerschütterung. Warum sonst beanspruchte der Kommissar derartig ihr Denken? Das war zu klischeehaft für ihren Geschmack. So etwas passte nicht zu ihr, dafür umso mehr zu Julia.
„Im Notfall gebe ich mich mit Fastfood zufrieden“, meinte diese.
Für einen Moment hatte Rebecca den Faden verloren. Dann fiel ihr Julias Frage wieder ein. „Ich habe keinen Hunger. Setz mich bitte einfach Zuhause ab.“
„Bist du dir sicher?“ fragte Julia zweifelnd und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.
„Ja“, antwortete Rebecca und beobachtete wieder durch das Fenster die Welt, wie sie an ihr vorbeizog.
„Ich fasse nicht, dass er dir einfach so seine Karte gegeben hat“, brummte Julia nun. „Rufst du ihn an?“
Rebecca dachte kurz darüber nach. Die Karte hatte sie für den Notfall bekommen. Jedenfalls hatte sie es so verstanden. „Vermutlich nicht“, antwortete sie. Wer wollte schon gerne ein Notfall sein? Sie jedenfalls nicht.
„Gut, dann gib sie mir“, schlug Julia vor. „Ich rufe ihn an.“
„Nein“, erwiderte Rebecca prompt. Natürlich hatte Julia Interesse an dem Kommissar. Sie hatte ein Interesse an allen gutaussehenden Männern.
„Das finde ich sehr egoistisch von dir“, teilte Julia ihr schnippisch mit.
„Ich habe die Karte im Falle eines Notfalls und nicht damit du deiner Sammlung eine weitere Trophäe hinzufügen kannst“, stellte Rebecca klar.
„Hast du ihn dir denn genau angesehen? Vielleicht hattest du während deiner Freakshow nicht die Zeit dafür? Der Kerl ist heiß. Er ist heiß und er hat Handschellen. Wenn du ihn nicht willst, gib mir die Karte. Ich bin gerne ein Notfall“, forderte Julia.
„Nein“, wiederholte Rebecca erneut, was ihr einen finsteren Blick von Julia einbrachte.
Ihre Freundin nahm ihr das wirklich übel, stellte Rebecca fest. Sie kannten sich seit Jahren, hatten sich während ihrer Studienzeit sogar eine Wohnung geteilt und sich noch nie wegen eines Mannes gestritten. Vielleicht lag es daran, dass Rebecca sich kurz nach dem Studienbeginn verliebt hatte und wenig später eine feste Beziehung einging. Julia hingegen, beanspruchte damals alle anderen Männer für sich.
„Ich kann es nicht fassen. Du weigerst dich tatsächlich?“ Julias Stimme klang etwas schrill. Sie regte sich sehr über die Sache auf. Was nicht erstaunlich war. Julia war nun einmal eine sehr egoistische Person, die immer bekam was sie wollte. Dazu war ihr jedes Mittel recht. Das galt sowohl für die Anwältin als auch für die Privatperson Julia Sommer. Rebecca sehnte sich nach ihrer Wohnung, nach Ruhe und dem Ende dieser Diskussion. Warum wollte diese Heimfahrt nicht enden? Julia bestrafte sie nun mit Schweigen. Erleichtert stieg Rebecca aus, als der Wagen endlich vor dem Mehrfamilienhaus hielt, in dem sich ihre Wohnung befand. Kaum hatte sie die Wagentür hinter sich geschlossen, rauschte Julia mit quietschenden Reifen davon. Kopfschüttelnd schloss Rebecca die Haustür auf. Ihre Wohnung lag im Parterre. Sie musste nur wenige Schritte durch den Hausflur, um an ihre Wohnungstür zu gelangen. Kaum hatte sie ihre Wohnung betreten, ging sie in die Küche zum Kühlschrank, nahm eine Packung Tiefkühlerbsen aus dem Gefrierfach und schmiegte es an ihre schmerzende Wange. Mit der freien Hand nahm sie ein gerahmtes Foto von einem Regal im Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch sinken. In dem schwachen Lichtschein, der durch die Tür von dem hell erleuchteten Flur ins dunkle Wohnzimmer schien, betrachtete Rebecca das Bild. „Ach, Ben“, seufzte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das Bild fest an ihre Brust drückte.
Leon parkte seinen Wagen im Carport, stieg aus und ging zur Tür seiner Einliegerwohnung. Trude, seine Vermieterin, fischte gerade die Tageszeitung aus dem Briefkasten und winkte ihm mit der Zeitung in der Hand freudig zu. "Guten Morgen, Leon. Ich habe dir gestern Abend etwas zu Essen in den Kühlschrank gestellt. Es gab Schmorbraten mit Klößen und Rotkohl. Ich habe wieder viel zu viel gekocht. Lass es dir schmecken!" Leon winkte zurück. Er mochte das alte Vermieterehepaar, obwohl er sich an Trudes Eigenart ihm etwas zu Essen in seinen Kühlschrank zu stellen, nicht recht gewöhnen konnte. Sie spazierte dazu einfach durch seine Wohnung, während er nicht zu Hause war. Unter Privatsphäre verstand er etwas anderes. Diese Unart hatte Trude sich mit der Zeit angewöhnt. Offensichtlich brauchte der arme Junge etwas Anständiges zu Essen. Von dieser Meinung war sie nicht abzubringen. Die eigentliche Abmachung war, er zahlte eine relativ geringe Miete und dafür mähte er ein paar Mal im Jahr den Rasen. Irgendwann war in einem merkwürdigen Automatismus noch Teilverpflegung dazu gekommen. Er wusste, dass Trude es nur gut mit ihm meinte. Deswegen hatte er das Schloss auch nicht ausgetauscht. Leon sperrte die Tür auf. Selten hatte er sich seinen Dienstschluss so sehr herbei gewünscht wie heute. Nach ihrem Einsatz in der Praxis waren sie zur Inspektion zurückgekehrt, um sich mit der lästigen, aber dazu gehörenden Schreibarbeit zu befassen. Die machte leider einen großen Teil seines Berufs aus. Und Dieter, clever wie er nun mal war, überließ den, seiner Meinung nach, unsinnigen Schreibkram natürlich gerne ihm. Da Leon angeblich noch die Übung fehlte. Als ob das Schreiben von Berichten jahrelange Übung erforderte. Sein Partner nutzte den höheren Dienstgrad aus und schob die unliebsame Arbeit auf Leon ab. Und als wäre das nicht schon Strafe genug gewesen, musste er Sticheleien über sich ergehen lassen. Die winzige Tatsache, dass er Rebecca Brandt seine Hilfe angeboten hatte wurde von seinen Kollegen offenbar sehr amüsiert aufgenommen. Leons Begründung, dass er nur ein anständiger Freund und Helfer sein wollte, bot weitere Gründe für wilde Spekulationen. Na gut, da empfand er ausnahmsweise Sympathie für eine Frau, das letzte Mal war schon Jahre her, und womit bekam er es gedankt? Mit den Sticheleien seiner Kollegen. Er erinnerte sich an seine vielleicht etwas übertriebene Reaktion auf einen Kommentar eines nicht sehr beliebten Kollegen. "Hey Zimmermann. Falls du die Adresse des reizenden Docs brauchst um dich ausgiebig um sie zu kümmern, kann ich sie dir geben. Immerhin wäre es im Interesse von uns allen, wenn du etwas entspannter wärst."
"Wenn du meine Faust in deinem Gesicht brauchst, kann ich sie dir geben", hatte Leon erbost erwidert, doch Dieters fester Griff an seiner Schulter hatte ihn von allem weiterem abgehalten.
Leon verzichtete auf das Einschalten des Lichts und drückte auf den Knopf seines Anrufbeantworters, dessen beharrliches Aufleuchten auf den Eingang von Nachrichten hinwies.
"Leon, dein Vater wird morgen siebzig Jahre alt. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Aber es wäre wirklich schön, wenn du ihn besuchen kommen könntest. Er würde sich so freuen", erklang die Stimme seiner Mutter vom Band. Müde rieb sich Leon die Augen. Geburtstag hin oder her, er konnte seine Eltern nicht besuchen. Zu schwer lastete die Tatsache auf ihm, dass er seinen Bruder einfach nicht finden konnte. Er, der die ideale Ausbildung und alle Möglichkeiten dazu hatte, versagte kläglich. So konnte er seinen Eltern nicht vor die Augen treten. Eines Tages, wenn Daniel endlich wieder da war, würden sie zu zweit heimkehren. Das war jedenfalls Leons Plan. Außerdem liebte sein Vater es, Geschichten über Daniel zu erzählen. Geschichten darüber, wie Daniel einen Vertrag bei einem Bundesligisten ergattert hatte. Und was für ein erfolgreicher Nationalspieler Daniel heute sein könnte, wenn er nicht einfach verschwunden wäre. Nein, das ertrug Leon einfach nicht. Er löschte die Nachricht und ging ins Badezimmer. Das war eine wirklich miese Nacht gewesen. Mal abgesehen davon, dass er eine Therapeutin getroffen hatte, die er nur zu gerne näher kennenlernen würde. Eine Therapeutin, um Himmels willen! Was für eine miese Nacht. Er schaltete das Badezimmerlicht ein, zog sich aus und stellte sich unter das fließende, warme Wasser der Dusche.
Rebecca bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Trotz der eiskalten Regentropfen, die auf sie einschlugen, blieb sie unschlüssig stehen. Der Hintereingang des Gebäudes, in dem ihre Praxis lag, war nur wenige Schritte weit entfernt. Eine leicht zu überbrückende Distanz, wenn da nicht ihre Zweifel wären. Der Problematik war sie sich überaus bewusst. Immerhin hatte sie mal eine Patientin therapiert, die nach einem Überfall monatelang nicht arbeitsfähig, sogar kaum lebensfähig gewesen war. Aber Rebecca wusste genau wie wenig hilfreich es war, sich jetzt ängstlich in der Wohnung zu verschanzen. Die Wahrscheinlichkeit erneut einen solchen Vorfall wie den gestrigen erleben zu müssen, war sehr gering. Sie musste das einfach hinter sich lassen und ihr Leben wie gewohnt weiterführen. Dazu gehörte auch täglich in ihre Praxis zu gehen und ihren Patienten zu helfen. Rebecca straffte die Schultern und ging auf die Tür zu.
Sie fand Natascha und ihre Teilzeitangestellte Sarah im Flur der dritten Etage vor. Die beiden Frauen standen in einigem Abstand zur Praxis und beobachteten zwei in Schutzanzügen gehüllte Personen beim Reinigen des Eingangsbereichs.
Als Natascha sie sah, machte sich Erleichterung auf ihrem Gesicht breit. „Um Himmelswillen, was ist denn hier passiert?“
Rebecca war nicht in der Verfassung irgendwelche Erklärungen abzugeben. Sie hatte es gestern miterlebt und es hatte sie bis in den ohnehin viel zu kurzen Schlaf verfolgt. Das, und diese unglaublich blauen Augen eines bestimmten Polizisten. Sie wollte die Ereignisse nicht auch noch schildern müssen. Jedenfalls nicht jetzt. Auch wenn die beiden Frauen durchaus das Recht auf eine Erklärung hatten. „Es gab Schwierigkeiten“, meinte sie deshalb. Das war eine sehr schwache Beschreibung, wenn man bedachte, dass in diesem Moment die Überreste eines Mannes entfernt wurden, der vor vierundzwanzig Stunden sicherlich noch nichts von seinem baldigen, gewaltsamen Tod geahnt hatte.
„Schwierigkeiten? Das ist doch Blut! Und was ist mit deinem Gesicht passiert? Wurdest du etwa geschlagen?“ Natascha starrte entsetzt auf Rebeccas Wange.
Rebecca holte tief Luft. Sie hatte sich vorhin alle Mühe gegeben ihre verfärbte Wange mithilfe diverser Cremes zu kaschieren. Und nun stellte sich all die Mühe als umsonst heraus. Vorsichtig ging sie an den beiden Reinigungsleuten vorbei in ihre Praxis. In ihrem Sprechzimmer verstaute sie ihre Jacke. Als sie sich an ihren Schreibtisch setzte, fiel ihr Blick auf den großen, dunklen Fleck im Teppichboden. Der war unmöglich auswaschbar. Höchstwahrscheinlich musste der Bodenbelag komplett ausgetauscht werden. Vielleicht sollte sie gleich etwas verlegen lassen, das leichter zu reinigen war. Rebecca hatte sich auf eine Panikattacke gefasst gemacht. Das war eine natürliche Reaktion auf die Geschehnisse. Doch sie verspürte keine Panik, lediglich ein kleines, kontinuierliches Pochen in ihrem Kopf. Leichte Kopfschmerzen waren ihr viel lieber als eine Panikattacke. Also nahm sie sich eine der Akten, die auf ihrem Schreibtisch lag und begann zu lesen. Ein Klopfen unterbrach sie wenig später. Rebecca sah auf. Ein Mann des Spezialreinigungsdienstes stand in der Tür. Es war eine bizarre Vorstellung, dass es für solche Reinigungsfirmen überhaupt einen rentablen Markt gab.
„Die Reinigung des Flurs und des Vorzimmers sind abgeschlossen. Den Teppichboden hier werden Sie austauschen lassen müssen. Melden Sie sich, wenn es soweit ist. Ich übernehme die Entsorgung. Das ist Sondermüll“, teilte der Mann ihr mit.
Rebecca überlegte kurz. Es machte keinen Sinn die Arbeit unnötig aufzuschieben. Außerdem war es weder für sie noch für ihre Patienten ein angenehmer Anblick. „Samstagvormittag wäre mir recht.“
Der Mann überprüfte den Termin in einem Notizbuch. Rebecca musste lächeln. Wer benutzte heutzutage noch altertümliche Notizbücher?
Er nickte zustimmend. „Ich kann das auf elf Uhr legen.“
„Das passt“, entgegnete sie.
„Bis morgen.“ Er hob die Hand kurz zum Gruß und ging.
Rebecca wollte sich erneut auf die Akte konzentrieren und wurde gleich wieder unterbrochen.
Natascha betrat das Sprechzimmer, sparte sich das Anklopfen. Sie starrte auf den großen Fleck am Boden. „Wie kann es sein, dass ich hier arbeite, aber nicht weiß was vorgefallen ist?“
„Wie kann es sein, dass du auf Informationen bestehst, die ich dir im Moment nicht geben kann?“ stellte Rebecca eine Gegenfrage. „Nimm dir doch ein Beispiel an Sarah. Sie geht brav ihrer Arbeit nach ohne Fragen zu stellen.“
„Oh, Sarah möchte auch wissen was hier los war. Sie traut sich bloß nicht zu fragen. Das Problem habe ich nicht.“ Natascha setzte sich in einen Sessel vor dem Schreibtisch. Eigentlich war der Sessel den Patienten vorbehalten.
Rebecca legte die Akte zurück auf den Tisch und schaute ihre Angestellte missbilligend an. Natürlich war das nicht nur ihr Arbeitsplatz, sondern auch der von Natascha und Sarah. Von daher hatten sie selbstverständlich das Recht zu erfahren was vorgefallen war. „Kurz nachdem du gegangen bist kam ein fremder Mann in die Praxis. Er hat mich mit einer Waffe bedroht.“
Nataschas Miene zeigte deutlich ihr schockiertes Erstaunen. „Was? Warum? Hat er irgendwas gesagt? War es ein Überfall? Wurde etwas gestohlen? Wer überfällt eine Praxis? Das ist unglaublich!“
„Seine Tochter kam vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht ums Leben. Der Unfallfahrer wurde vor ein paar Tagen aus der Haft entlassen. Darüber war der Mann sehr wütend. Ich weiß nicht, was genau er sich von der Aktion gestern erhofft hat. Das weiß ich wirklich nicht“, erzählte Rebecca. Hoffentlich hatte sich das Thema damit erstmal erledigt.
Natascha sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Er hat dich geschlagen!“
Rebecca verzog das Gesicht. Sie bereute es sofort, denn die Wange schmerzte umgehend. „Ich hatte viel mehr Glück als einer der Gebäudereiniger. Er wurde erschossen.“
Entsetzen löste den Schrecken auf Nataschas Gesicht ab. „Wer wurde erschossen? Wer?“ fragte sie mit schriller Stimme.
„Seinen Namen kenne ich nicht. Es war der Ältere mit dem lichten Haar“, sagte Rebecca.
Natascha schluchzte auf. „Manny? Manny ist tot? Nein, das kann nicht sein! Das darf nicht sein!“ Ihr Schluchzen wurde noch lauter. Sogar als sie regelrecht aus dem Sprechzimmer stürmte. Rebecca sah ihr überrascht nach. Was war denn in Natascha gefahren? Wie gut kannte sie das Reinigungspersonal? So sensibel kannte sie Natascha überhaupt nicht. Die Gute hatte doch normalerweise immer einen kessen Spruch auf den Lippen. Rebecca kramte ein Telefonbuch aus einer Schublade hervor und suchte nach Firmen, die sie mit dem Austausch des Bodenbelags beauftragen konnte.
Abgetragene Gesundheitsschuhe schlurften schwerfällig über einen braunen, gefliesten Boden. Ein alter Mann, mit in allen Richtungen wild abstehenden, weißen Haaren, dicken, buschigen Augenbrauen und einen ebenso buschigen Schurbart, bahnte sich langsam einen Weg durch den von zahlreichen antiken Möbeln gesäumten schmalen Gang. Er kannte jedes einzelne Stück an dem er vorbei schlurfte. Die Herkunft, die Geschichte eines jeden dieser Unikate war ihm bekannt. Sein Wissen bezog sich nicht ausschließlich auf das Mobiliar, es erstreckte sich ebenso auf die anderen Einrichtungsgegenstände. Das war sein Antiquitätenladen, den er seit vielen Jahrzehnten führte. Er liebte diese geschichtsträchtigen, aus massivem Holz erbauten Kunstwerke. Die Arbeit fiel ihm mit jedem Tag der verging schwerer. Seine Kraft, seine Energie, hatten ihn längst verlassen. Das war für einen Mann seines Alters auch nicht weiter erstaunlich. Immerhin war er nun schon über achtzig Jahre alt. Mühsam erkämpfte er sich jeden einzelnen Schritt. Unfassbar, wie aus den kleinsten, alltäglichen Dingen mit den Jahren richtige Herausforderungen wurden. Albert Stein hatte genug von seiner Aufgabe. Über all die Jahre hatte er sich niemals beklagt. Nicht ein einziges Mal. Vor unendlich langer Zeit, als er noch jung und voller Energie gewesen war, hatte die ihm anvertraute Aufgabe ihn sogar mit Stolz erfüllt. Doch das war lange her und nun war er bereit endlich abberufen zu werden. Er erreichte die Kammer hinter dem großen Verkaufsraum, der durch die vielen verkäuflichen Gegenstände hoffnungslos überladen wirkte. Seine von Altersflecken gezeichnete Hand öffnete eine dunkle Holztruhe. Darin befand sich ein mit vielen Schnitzereien verziertes Kästchen. Albert machte sich nicht die Mühe das Kästchen aus der Truhe zu heben. Selbstverständlich hatte er das früher immer getan. Er hatte dieses wertvolle Kästchen aus der Truhe gehoben, diesen besonderen Augenblick, das ganze Ritual regelrecht zelebriert. Doch damit war es seit vielen Jahren vorbei. Er öffnete einfach den Deckel des Kästchens und hob den Inhalt heraus. Bevor er das Herausgenommene näher betrachtete, schloss er erst das Kästchen und dann die Truhe wieder. Nun sah er auf das Kuvert in seiner Hand. Er brauchte es nicht zu öffnen, wusste genau was sich darin befand. Es war immer dasselbe. Diese Prozedur hatte er schon unzählige Male hinter sich gebracht. Der Schlüssel, der sich im Kuvert befand und das dazu gehörige Dokument waren für ihn unwichtige Utensilien. Für ihn zählte nur eines: der Name auf dem Kuvert. Und genau den las er nun: Dr. Rebecca Brandt.
Kaum hatte Rebecca das Telefongespräch mit einer Schreinerei beendet, führte Natascha mit ihren dick verquollenen Augen Eric Richter in ihr Sprechzimmer. Das war eine ungewöhnliche Vorgehensweise. Normalerweise teilte Natascha ihr die Ankunft eines Patienten mit, damit Rebecca den Patienten persönlich in ihr Sprechzimmer bitten konnte. Allerdings war Eric Richter auch nicht ihr Patient, sondern seine Frau Sophia. Und dieser Tag war weder für ihre aufgelöste Sprechstundenhilfe noch für sie selbst normal. Rebecca wusste nicht was Eric Richter in ihrem Sprechzimmer verloren hatte.
„Sophia ist nun bereits einige Wochen bei Ihnen in Therapie, nicht wahr?“ begann er ohne jegliche allgemein übliche, höfliche Einleitung.
Rebecca beobachtete ihn aufmerksam. Nur kurz blieb sein Blick auf dem großen Fleck im Teppich hängen, bevor er sich ihr zuwandte. Er nahm nicht in dem Sessel Platz, wie sie ihm wortlos mit Handzeichen anbot. Stattdessen blieb er stehen.
„Ja, das ist sie“, beantwortete sie nun seine Frage.
Eric Richter war zweifelsohne ein attraktiver, charismatischer Mann. Er trug stets teure Anzüge. Rebecca tippte auf Hugo Boss. Nicht weil sie sich damit auskannte, das war eher Julias Fachgebiet, sondern weil allein der Name schon perfekt zu seiner Ausstrahlung passte. Seine kurzen, dunklen Haare waren perfekt gestylt, wiesen nicht mal einen Hauch von Grau auf, obwohl das für einen Mann seines Alters normal wäre. Ein Mann aus reichem Hause, dessen symmetrischen Gesichtszüge ihm wahrscheinlich viele Vorteile verschafften. Mit seiner Figur und seinem Aussehen könnte er ein überaus vorzeigbares Modell für einen Anzugdesigner sein. Aber das wäre eine unwürdige Beschäftigung und kam für Eric Richter selbstverständlich nicht in Frage. Er hatte monatelang fleißig Wahlkampf betrieben und am Montag erreichte er das Ziel seiner Bemühungen: seine Amtseinführung als Oberbürgermeister. Er musste beliebt bei der Bevölkerung sein, sonst wäre er wohl kaum gewählt worden. Doch das galt keineswegs für sie. Sie kannte den Mann hinter der einnehmenden Fassade. Sophia hatte ihr tiefe Einblicke gewährt.
„Wieso bessert sich der Zustand meiner Frau nicht? Nach all diesen kostspieligen Sitzungen kann ich doch eine Besserung erwarten.“ Er blickte auf Rebecca herab.
Der kalte Ausdruck in seinen stahlgrauen Augen war Grund genug für ihre Antipathie ihm gegenüber. Selbst wenn sie keine Hintergrundinformationen über ihn kennen würde. Seine Augen strahlten nicht die geringste Wärme aus, ließen Rebecca erschaudern. „Sophia macht Fortschritte. Das versichere ich Ihnen, Herr Richter.“
„Am Montag findet meine Amtseinführung statt. Ich kann mich nicht in der Öffentlichkeit mit einer Ehefrau blickenlassen, die ständig grundlos in Tränen ausbricht“, teilte Eric ihr mit.
„Öffentliches Interesse liegt Ihrer Frau auch nicht. Deswegen ist es nicht nur in Ihrem Interesse, wenn Sie auf die Begleitung Ihrer Frau verzichten könnten“, erklärte Rebecca ihm.
Er beugte sich drohend über ihren Schreibtisch, taxierte sie mit seinen kalten Augen. „Machen Sie Sophia für den Montag fit. Ansonsten sehe ich mich dazu gezwungen, sie zu einem anderen Therapeuten zu bringen.“ Nach dieser Drohung verließ er das Sprechzimmer.
Kurz darauf kam Sophia herein. Sie war der komplette Gegensatz zu ihrem Mann. Ihre langen, blonden Haare waren zwar gepflegt, dennoch hingen sie glanzlos, geradezu fade herunter. Ihre Hautunreinheiten ließen sich nicht von den teuren Cremes kaschieren. Durch das farbenfrohe Kleid, sicherlich auch ein Designerstück, wirkte sie gespenstisch bleich. Es hieß, sie wäre vor einigen Jahren noch eine strahlende Schönheit gewesen. Davon war heute nicht mehr viel zu sehen.
Sophia setzte sich in den Sessel, faltete ihre Hände in ihrem Schoss und schaute Rebecca unsicher an. „Am Montag ist die Amtseinführung und Eric will die perfekte Familie vorzeigen.“
„Was wollen Sie, Sophia?“ erkundigte sich Rebecca sanft.
„Ich weiß, was Sie denken, Dr. Brandt. Sie fragen sich, warum ich mich nicht von ihm trenne.“ Sophia wich einem direkten Blickkontakt aus.
„Es ist unwichtig, was ich denke. Es ist Ihr Leben. Sie treffen die Entscheidungen.“
Sophia verfügte über keinerlei Selbstwertgefühl. Und es oblag Rebecca nicht, ihr vorzuschreiben wie sie ihr Leben zu führen hatte. Sie konnte ihr nur ihre Unterstützung anbieten, ihr zu hören und für sie da sein.
„Dennoch halten Sie meine Entscheidungen für falsch“, beharrte Sophia.
„Sind es die falschen Entscheidungen?“ Rebecca musterte Sophia aufmerksam.
„Nein. Ich habe zwei wundervolle Kinder. Das war die richtige Entscheidung“, sagte Sophia bestimmt und ohne Zögern. Sie sah Rebecca besorgt an. „Geht es Ihnen gut, Dr. Brandt? Ich habe von dem Überfall gehört.“
Die Frage und Sophias ehrlich besorgter Gesichtsausdruck machten Rebecca fassungslos. Ihre Patientin hatte mehr als genug eigene Probleme. Dennoch sorgte sie sich um ihre Therapeutin? Sophia hatte jemand besseren als Eric Richter verdient. „Mir geht es gut.“ Diese Antwort wurde offenbar zu einer neuen Angewohnheit.
„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind sehr blass, meine Liebe“, teilte Sophia ihr mit.
„Sorgen Sie sich nicht um mich, Sophia. Mir geht es wirklich gut. Möchten Sie eine Tasse Tee?“ Es war höchste Zeit das Gespräch wieder auf Sophia zu lenken.
Eric machte es sich in einem der Sessel im Wartebereich gemütlich. Hoffentlich nahm sich die Quacksalberin seine Worte zu Herzen und diente endlich mit Resultaten. Über die Aussicht auf dieses notwendige Gespräch war er nicht sehr erbaut gewesen. Warum konnten die Leute nicht einfach ihren Job anständig erledigen? Was war so schwer daran? Wieso war es zu viel verlangt? Dabei würde es vieles vereinfachen. Glücklicherweise war die Sprechstundenhilfe geschwätzig. So erfuhr er etwas, das er sich zu Nutzen machen würde. Der unliebsame Morgen hatte also doch etwas Positives an sich. Er zog sein Smartphone aus der Jackettasche und betätigte die Kurzwahl. „In Dr. Brandts Praxis kam es gestern zu einem Zwischenfall. Dabei wurde ein Gebäudereiniger namens Manfred Groß erschossen. Er hat einen Sohn, der in Kanada lebt. Spüren Sie ihn auf und schaffen Sie ihn her.“ Eric hörte dem unsinnigen Gelaber seines Assistenten nur halb zu. Ein Neuankömmling im Empfangsbereich der Praxis beanspruchte den größten Teil seiner Aufmerksamkeit. Was für eine Frau! Ihre wilden, langen, roten Haare ließen sie ungebändigt wirken. Wie eine Wildkatze. Ihr Busen schien ihre Bluse jeden Augenblick sprengen zu wollen. Die Wildkatze, und das war sie ganz eindeutig, setzte sich ihm direkt gegenüber in einen Sessel. Ihr Anblick beflügelte seine Fantasie. Es gab viele Dinge, die er nur allzu gerne mit ihr anstellen wollte. Stattdessen musste er sich mit seinem unfähigen Angestellten herumschlagen. „Keine Ahnung, wie Sie das anstellen sollen. Das ist nicht meine Aufgabe, sondern Ihre. Also erledigen Sie das gefälligst!“ Die Frau schlug ihre Beine übereinander. Dabei rutschte der ohnehin recht kurze Rock noch höher. Für einen winzigen Moment erhaschte er einen Blick auf den Saum ihrer Strümpfe. Seine Hose wurde ihm zu eng. Er hatte eine Schwäche für Frauen, die Strapse trugen. Eric beendete das Gespräch, ließ das Smartphone wieder in seine Tasche gleiten und bedachte sein verführerisches Gegenüber mit einem langen Blick. Dann stand er auf und ging durch die Tür der Patiententoilette.
Beim Betreten der Praxis hatte Julia gleich die geschlossene Sprechzimmertür wahrgenommen. Großartig! Rebecca hatte also Kundschaft. Es passte Julia ganz und gar nicht wegen eines oder einer Verrückten Wartezeit in Kauf zu nehmen. Genervt setzte sie sich in den Wartebereich. Ihre schlechte Laune verschwand jedoch augenblicklich, als sie den ihr gegenübersitzenden Mann erblickte. Das Schicksal setzte ihr dieses Prachtexemplar direkt vor die Füße! Und er war alles andere als desinteressiert. Er telefonierte in einem sexy gebieterischen Tonfall und zog sie gleichzeitig mit seinen Blicken aus. Julia mochte multitaskingfähige Männer. Er beendete das Gespräch und bedachte sie mit einem sehr langen und eindeutig einladenden Blick, bevor er zur Toilette ging. Konzentriert lauschte Julia den Umgebungsgeräuschen. Sie hörte das leise Brummen von Nataschas Computer, das sanfte Surren der Lüftungsanlage, das Ticken der Standuhr und endlich den Schließmechanismus der Toilettentür. Die Tür wurde aber nicht geöffnet. Der heiße Kerl hatte die Tür zwar entriegelt, doch den Raum verließ er nicht. Wozu sperrte man auf, wenn man den Raum nicht verlassen wollte? Natascha stand auf und verschwand in dem kleinen Aufenthaltsraum hinter der Empfangstheke. Julia nutzte die Chance und eilte zur Toilette. Sie öffnete die Tür, trat ein und sperrte sofort ab. Der Mann lächelte, zog sie fest an sich und schob seine Zunge zwischen ihre Lippen.