Gwendys Zauberfeder - Richard Chizmar - E-Book

Gwendys Zauberfeder E-Book

Richard Chizmar

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Beschreibung

Das Böse kommt zurück nach Castle Rock

Mit dem Winter hält das Böse wieder Einzug in der kleinen Stadt Castle Rock in Maine. Sheriff Norris Ridgewick und sein Team suchen verzweifelt nach vermissten Mädchen. Die Zeit läuft ihnen davon, sie lebend zu finden. Die 37-jährige Gwendy Peterson ist nun Politikerin in Washington. Vor 25 Jahren wurde sie hier in Castle Rock von einem mysteriösen Mann mit einem seltsamen Wunschkasten betraut – oder verflucht? Damals konnte sie ihn wieder loswerden und hat ihn längst vergessen. Das mysteriöse Wiederauftauchen des Kastens führt Gwendy nun nach Hause ... wo sie vielleicht helfen kann, die vermissten Mädchen zu retten und einen Verrückten zu stoppen, bevor Grässliches passiert.

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Seitenzahl: 243

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Das Buch

Mit dem Winter hält das Böse wieder Einzug in der kleinen Stadt Castle Rock in Maine. Sheriff Norris Ridgewick und sein Team suchen verzweifelt nach vermissten Mädchen. Die Zeit läuft ihnen davon, sie lebend zu finden. Die 37-jährige Gwendy Peterson ist nun Politikerin in Washington. Vor 25 Jahren wurde sie hier in Castle Rock von einem mysteriösen Mann mit einem seltsamen Wunschkasten betraut – oder verflucht? Damals konnte sie ihn wieder loswerden und hat ihn längst vergessen. Das mysteriöse Wiederauftauchen des Kastens führt Gwendy nun nach Hause … wo sie vielleicht helfen kann, die vermissten Mädchen zu retten und einen Verrückten zu stoppen, bevor Grässliches passiert.

Der Autor

Richard Chizmar ist Verleger von Cemetery Dance Publications und Autor von Kurzgeschichten. Als Herausgeber von Anthologien wurde er mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem »Bram Stoker Award«, mit dem »World Fantasy Special Award« und mit dem Preis der International Horror Guild. Zusammen mit Stephen King hat er bereits Gwendys Wunschkasten geschrieben.

Bereits bei Heyne erschienen: Stephen King / Richard Chizmar, Gwendys Wunchkasten.

Richard Chizmar

Mit einem Vorwort vonStephen King

Aus dem Englischenvon Sven-Eric Wehmeyer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

GWENDY’S MAGIC FEATHER

bei Cemetery Dance Publications, Baltimore

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 by Richard Chizmar

Copyright Vorwort © 2019 by Stephen King

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-26151-1V002

www.heyne.de

Für Kara, Billy und Noah,die mein Leben verzaubern

Vorwort

Wie Gwendy dem Vergessen entkam

Das Schreiben von Geschichten ist hauptsächlich Spielerei. Arbeit mag sich dazugesellen, wenn es richtig zur Sache geht, aber am Anfang steht so gut wie immer ein schlichtes Gedankenspiel. Man fragt sich: »Was wäre, wenn …«, und dann setzt man sich an den Schreibtisch, um herauszufinden, wohin einen das führt. Dazu braucht es eine leichte Hand, Unbefangenheit und Zuversicht.

Vor vier oder fünf Jahren – ich weiß es nicht mehr ganz genau, aber es muss in der Zeit gewesen sein, wo ich noch an der Bill-Hodges-Trilogie gearbeitet habe – spielte ich mit der Idee einer modernen Pandora. Man erinnert sich, das war jenes neugierige kleine Mädchen, dem eine magische Büchse in die Hände fiel, und als ihre verdammte Neugier (die größte aller Menschheitsplagen) sie dazu führte, das Ding zu öffnen, entwichen daraus sämtliche Übel der Welt. Was würde passieren, fragte ich mich also, wenn ein modernes kleines Mädchen einen solchen Behälter in die Finger bekäme, den ihr nicht Zeus, sondern ein geheimnisvoller Fremder zum Geschenk macht?

Ich war von der Idee angetan und setzte mich hin, eine Geschichte mit dem Titel Gwendys Wunschkasten zu schreiben. Die Frage, woher der Name Gwendy komme, könnte ich genauso wenig beantworten wie die nach dem genauen Zeitpunkt, wann ich die ursprünglichen zwanzig oder dreißig Seiten niedergeschrieben habe. Vielleicht habe ich an Peter Pans kleine Freundin Wendy Darling oder an Gwyneth Paltrow gedacht, vielleicht ist der Name auch urplötzlich einfach so in meinem Kopf aufgeploppt (wie der Name der Figur John Rainbird in Feuerkind). Ich stellte mir jedenfalls eine Art Holzkästchen mit farbigen Tasten vor, wovon jede für einen der Erdteile steht; drückt man eine, geschieht auf dem entsprechenden Kontinent etwas Schlimmes. Ich fügte eine schwarze Taste hinzu, die alles auf einmal vernichten würde, sowie kleine Hebel an den Seiten – einfach nur, damit die Eigentümerin des Kastens nicht das Interesse an ihm verlor –, nach deren Betätigung der Kasten süchtig machende Süßigkeiten ausspuckt.

Möglicherweise ist mir außerdem »Die Waffe« in den Sinn gekommen, meine liebste Kurzgeschichte von Fredric Brown. Darin öffnet ein an der Entwicklung einer Megabombe beteiligter Wissenschaftler einem spätabendlichen Besucher die Tür, der ihn eindringlich bittet, sein Arbeitsprojekt aufzugeben. Der Wissenschaftler hat einen Sohn, der, wie man mittlerweile wohl sagt, »mental herausgefordert« ist. Nachdem er seinen Besucher rausgeschmissen hat, sieht er seinen Sohn mit einem geladenen Revolver herumspielen. Die letzte Zeile der Erzählung lautet: »Nur ein Irrer würde einem Idioten eine geladene Waffe geben.«

Der Wunschkasten ist genau diese geladene Waffe, und obwohl es sich bei Gwendy um alles andere als eine Idiotin handelt, ist sie doch immer noch ein Kind, Herrgott noch mal. Ich überlegte mir, was sie wohl mit dem Kasten anstellen würde. Wie lange würde es dauern, bis sie den Süßigkeiten verfallen war, die er so spendabel rausrückte? Wie lange, bis ihre Neugier sie dazu verleitete, eine der Tasten zu drücken, nur um zu sehen, was passieren könnte? (Leider passierte Jonestown, wie sich herausstellen sollte.) Und würde sie vielleicht eine Obsession für die schwarze Taste entwickeln, jenen besonders fiesen Knopf, der alles vernichtete? Könnte die Geschichte damit enden, dass Gwendy – nachdem sie beispielsweise einen schlechten Tag hatte – diesen Knopf drückt und die Apokalypse herbeiführt? Wäre das in einer Welt, wo genug atomare Feuerkraft existiert, alles Leben auf der Erde für Tausende von Jahren auszulöschen, wirklich so weit hergeholt? Und in der – mögen wir uns das eingestehen oder nicht – einige der Leute mit Zugang zu derartigen Waffen nicht ganz dicht sind?

Zunächst lief es mit der Geschichte prima, doch dann ging mir irgendwann der Sprit aus. Das passiert mir nicht oft, aber hin und wieder eben doch. Ich habe wahrscheinlich an die zwei Dutzend unvollendete Erzählungen (und mindestens zwei Romane) in der Schublade, die sich von mir verabschiedet haben. (Beziehungsweise ich mich von ihnen.) Ich glaube, ich war an dem Punkt angelangt, wo Gwendy auszuknobeln versucht, wie sie das Kästchen am besten vor ihren Eltern verstecken kann. Alles erschien mir auf einmal zu kompliziert. Schlimmer noch, ich hatte keinen Plan, was danach kommen sollte. Ich unterbrach meine Arbeit an der Erzählung und wandte mich anderen Dingen zu.

Die Zeit verging – ungefähr zwei Jahre, vielleicht auch ein klein bisschen mehr. Ab und an dachte ich an Gwendy und ihren gefährlichen Wunschkasten, aber neue Ideen blieben aus, weshalb sich die Geschichte in die unterste Bildschirmecke auf dem Desktop meines Bürorechners abgeschoben fand. Nicht gelöscht, aber entschieden gemieden.

Dann erhielt ich eines Tages eine E-Mail von Richard Chizmar, Gründer und Verleger von Cemetery Dance Publications sowie Verfasser einiger außergewöhnlich guter Kurzgeschichten in den Genres Fantasy und Horror. Er schlug vor – wohl eher beiläufig, ohne die ernsthafte Erwartung, ich würde darauf anspringen –, wir könnten ja irgendwann mal zusammen an einer Geschichte arbeiten. Oder vielleicht hätte ich ja auch mal Lust, an einem dieser Kettenromane mitzuwirken, wo mehrere Autoren gemeinsam eine große Erzählung schaffen. Das mit dem Kettenroman reizte mich nicht, weil dabei selten etwas Interessantes herauskommt, aber eine Zusammenarbeit mit Rich konnte ich mir gut vorstellen. Ich war mit seinem Werk vertraut und wusste, wie gut er Kleinstadtszenarien und das Leben der Mittelklasse in den Vorstädten hinbekommt. Er kann mühelos Bilder von Gartengrillpartys, Rad fahrenden Kindern, Ausflügen zum Walmart und Popcorn mampfenden Familien vor dem Fernseher heraufbeschwören … um dann ein finsteres Loch in all das zu reißen, indem er ein übernatürliches Element und einen Hauch von Horror einführt. Rich schreibt Geschichten, wo sorgenfreie Welten plötzlich ins Grausame kippen. Wenn jemand Gwendys Geschichte vollenden könnte, dann er, war mein Gedanke. Außerdem war ich ehrlich gesagt ziemlich neugierig.

Lange Rede, kurzer Sinn: Er hat hervorragende Arbeit geleistet. Ich habe ein bisschen was von seinem Zeug umgeschrieben, er ein bisschen was von meinem, und am Ende kam dabei ein kleines Juwel heraus. Ich werde ihm auf ewig dankbar sein, nicht zugelassen zu haben, dass Gwendy am unteren rechten Rand meiner Benutzeroberfläche einen langsamen Tod stirbt.

Als er anregte, ihre Geschichte danach weiterzuspinnen, war ich durchaus interessiert, aber nicht restlos überzeugt. Worum sollte sich eine Fortsetzung denn drehen, wollte ich wissen. Er fragte mich, was ich davon hielte, wenn Gwendy, inzwischen erwachsen, ins Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten eingezogen wäre und der Wunschkasten wieder in ihrem Leben auftauchte … zusammen mit dem eigentlichen Eigentümer des Kastens, dem mysteriösen Mann mit dem schwarzen Hut.

Man weiß intuitiv, wann etwas passt, und das Konzept war so perfekt, dass es mich neidisch machte (nicht sehr, aber immerhin, jawoll). In Gwendys Machtposition innerhalb der Mühlen des politischen Apparats fand der Wunschkasten seinen Widerhall. Ich sagte Rich, das klinge großartig, er solle einfach loslegen. Höchstwahrscheinlich hätte ich dasselbe gesagt, wenn sein Vorschlag auf eine Geschichte hinausgelaufen wäre, in der Gwendy durchs Weltall schippert, hinter eine Raumkrümmung hüpft und in einer fremden Galaxie landet. Weil Gwendy ihm ebenso gehört wie mir. Wahrscheinlich sogar noch mehr, denn ohne sein beherztes Eingreifen würde sie ja gar nicht existieren.

In der vorliegenden Geschichte – glücklich, wer die Lektüre noch vor sich hat! – kommen Richs eindrucksvolle Fertigkeiten allesamt zur Entfaltung. Er versteht es, Castle Rock wachzurufen und die ganz normalen Leute von nebenan, die sich in der Stadt tummeln und so authentisch klingen. Es sind uns vertraute Menschen, und deswegen fühlen wir mit ihnen und sorgen uns um sie. Was auch für Gwendy gilt. Ganz ehrlich: Ich habe mich ziemlich in sie verliebt und bin überglücklich, dass sie zurückgekehrt ist und wir mehr über sie erfahren.

Stephen King

17. Mai 2019

1

Am Donnerstag, dem 16. Dezember 1999, erwacht Gwendy Peterson vor Sonnenaufgang, zieht sich warm an und bricht zu einer Laufrunde auf.

Vor gar nicht allzu langer Zeit hat sie wegen einer Verletzung am rechten Fuß noch leicht gehinkt, aber ein halbes Jahr Physiotherapie und orthopädische Einlagen in ihren liebsten New-Balance-Laufschuhen haben das kleine Problem in den Griff bekommen. Jetzt läuft sie mindestens dreimal pro Woche, vorzugsweise bei Morgendämmerung, wenn die Stadt gerade erst anfängt, die Augen aufzuschlagen.

In den fünfzehn Jahren seit Gwendys Abschluss an der Brown University und ihrem Wegzug aus ihrer Heimatstadt Castle Rock im Bundesstaat Maine ist schrecklich viel passiert, aber die Geschichte eilt nicht und kann getrost an späterer Stelle erzählt werden. Jetzt wollen wir uns erst einmal an Gwendys Fersen heften, während sie quer durch die Stadt streift.

Nachdem sie auf den Betonstufen ihres gemieteten Reihenhauses die Beine gedehnt hat, joggt sie, mit den Füßen einen gleichmäßigen Rhythmus auf die streusalzbedeckte Straße trommelnd, die Ninth Street runter, bis die in die Pennsylvania Avenue mündet. Sie biegt scharf nach links ab und lässt das Navy Memorial und die National Gallery of Art hinter sich. Sogar mitten im tiefsten Winter sind die Museen hell erleuchtet und sowohl die asphaltierten als auch die geschotterten Fußwege sauber freigeschaufelt; man kann unseren fließenden Steuergeldern regelrecht bei der Arbeit zuschauen.

Als Gwendy die Nationalpromenade erreicht, schaltet sie mit dem erhebenden Gefühl von Leichtigkeit in den Füßen und Kraft in den Beinen einen Gang höher. Ihr Pferdeschwanz baumelt unter dem Rand der Wintermütze hervor und raschelt bei jedem Schritt über den Sweatshirtrücken. Sie läuft am Reflexionsbecken entlang, wo sie die Enten- und Vogelfamilien vermisst, die sich in den warmen Sommermonaten dort sonst häuslich einrichten, und bewegt sich auf den Schatten des Washington-Monument-Obelisken zu. Sie hält sich auf dem beleuchteten Weg, zieht einen weiten Bogen um das berühmte Denkmal und schlägt die östliche Richtung zum Kapitol ein. An dieser Stelle säumen die Smithsonian-Museen beide Seiten der Promenade, und sie erinnert sich wieder einmal an ihren ersten Besuch in der Hauptstadt.

In jenem Sommer war sie zehn Jahre alt, und sie und ihre Eltern verbrachten drei lange, verschwitzte Tage damit, Washington von früh bis spät zu erkunden. Am Abend brachen sie immer auf ihren Hotelbetten zusammen und bestellten den Zimmerservice – ein geradezu unerhörter Luxus für die Familie Peterson –, weil sie zum Duschen vor einem Restaurantbesuch einfach zu erschöpft waren. Am letzten Tag überraschte ihr Vater sie mit Karten für eine Velotaxi-Stadtrundfahrt. Die drei quetschten sich auf die Hinterbank der beengten Fahrradkutsche, aßen Waffeleis und kicherten über ihren Reiseführer, der die Promenade rauf und runter strampelte.

Nicht in einer Million Jahren hätte sich Gwendy damals träumen lassen, eines Tages in der Hauptstadt zu leben und zu arbeiten. Hätte jemand sie auch nur achtzehn Monate zuvor nach der Möglichkeit dazu gefragt, hätte sie das entschieden verneint. Das Leben ist manchmal ganz schön seltsam, denkt sie, während sie einen Kiesweg entlangläuft, der zur Ninth Street zurückführt. Es steckt voller Überraschungen – und längst nicht alle sind angenehm.

Gwendy lässt die Nationalpromenade allmählich hinter sich, saugt die eisige Luft ein und beschleunigt für die Zielgerade abermals ihre Schritte. Die Straßen sind inzwischen zum Leben erwacht, ein geschäftiges Treiben frühmorgendlicher Berufspendler, aus ihren Pappkartonbehausungen kriechender Obdachloser und dem Rumpeln und Malmen von Müllwagen, die ihre Runden drehen. Gwendy sichtet die bunten Weihnachtslichter, die nicht mehr weit entfernt vor ihr in ihrem Erkerfenster blinken, und setzt zu einem Spurt an. Ihr Nachbar von gegenüber hebt eine Hand und ruft ihr etwas zu, aber Gwendy sieht und hört ihn nicht. Die Beine biegen sich mit fließender Anmut und Kraft, doch in Gedanken ist sie an diesem kalten Dezembermorgen weit, weit weg.

2

Selbst mit feuchtem Haar und kaum einem Hauch Make-up sieht Gwendy umwerfend aus. Wie sie da in der Ecke des engen und vollgepackten Fahrstuhls steht, zieht sie eine stattliche Anzahl bewundernder Blicke auf sich – die paar unverhohlen neidischen wollen wir einfach ignorieren. Wäre ihre alte Freundin Olive Kepnes noch am Leben (auch all die Jahre später vergeht nach wie vor kaum ein Tag, wo Gwendy nicht an sie denkt), würde sie Gwendy sagen, sie sehe granatenmäßig gut aus. Und sie hätte damit recht.

Gwendy, die eine schlichte, graue Hose, eine weiße Seidenbluse und Slipper mit flachen Absätzen trägt (solche, die ihre Mutter als vernünftige Schuhe bezeichnet), sieht nicht nach ihren siebenunddreißig Jahren, sondern zehn Jahre jünger aus. Sie würde das jedem gegenüber energisch bestreiten, der es wagte, sie darauf hinzuweisen, aber ihr Widerspruch wäre sinnlos. Es war nichts als die reine Wahrheit.

Der Fahrstuhl klingelt, und die Tür gleitet zum dritten Stock auf. Gwendy und zwei weitere Passagiere schieben sich an den anderen vorbei nach draußen und gesellen sich zu einer überschaubaren Gruppe von Angestellten, die in einer ordentlichen Schlange an der Sicherheitsschleuse warten. Ein korpulenter Wachmann mit Dienstmarke und Seitenwaffe steht am Eingang und scannt die Ausweise. Eine junge Wachfrau hat sich ein paar Meter hinter ihm postiert und starrt auf den Bildschirm vor ihr, während die Mitarbeiter die Vertikallamellen des Durchgangsdetektors passieren.

Als Gwendy an der Reihe ist, zieht sie ihren laminierten Dienstausweis aus der Umhängetasche und reicht ihn dem Wachmann.

»Morgen, Kongressabgeordnete Peterson. Haben Sie einen arbeitsreichen Tag vor sich?« Er scannt den Strichcode und gibt den Ausweis mit einem freundlichen Lächeln zurück.

»Arbeitsreich sind sie alle, Harold.« Sie schenkt ihm ein Augenzwinkern. »Das wissen Sie doch.«

Sein Lächeln wird breiter und enthüllt ein Paar goldgekrönter Frontzähne. »He, ich sag’s auch nicht weiter.«

Gwendy lacht und geht weiter. Von hinter ihr: »Richten Sie Ihrem Mann einen Gruß von mir aus.«

Sie blickt über die Schulter und rückt dabei die Umhängetasche am Arm zurecht. »Mache ich. Mit ein bisschen Glück wird er rechtzeitig an Weihnachten zu Hause sein.«

»So Gott will«, sagt Harold und bekreuzigt sich. Dann wendet er sich dem Nächsten zu und scannt dessen Dienstausweis. »Morgen, Kongressabgeordneter.«

3

Gwendys großes Büro ist ordentlich aufgeräumt. Die Wände sind in einem zartmatten Gelb gestrichen und werden von einer gerahmten Landkarte von Maine, einem quadratischen Spiegel mit Silberrand und einem Schmuckanhänger der Brown University geziert. Helles, warmes Licht fällt auf den Mahagonischreibtisch, der seinen Platz mittig vor der gegenüberliegenden Wand hat. Auf dem Tisch befinden sich eine Pultlampe, Telefon, Terminkalender, Computer samt Tastatur sowie zahlreiche Stapel Schreibarbeiten. Auf der anderen Seite des Raums steht ein dunkles Ledersofa. Davor kauert ein von aufgefächerten Zeitschriften bedeckter Couchtisch. Seitlich daneben ergänzt ein Tischchen mit Kaffeeautomat das Ensemble. Dann ist da noch ein Ablageschrank mit drei Schubladen in der hinteren Ecke, schließlich ein kleines Bücherregal, gefüllt mit Hardcoverbänden, Nippes und gerahmten Fotografien. Das eine der beiden größeren Fotos zeigt eine sonnengebräunte und strahlende Gwendy Arm in Arm neben einem gut aussehenden bärtigen Mann in Castle Rock auf der Parade zum 4. Juli zwei Jahre zuvor. Auf dem anderen präsentiert sich eine deutlich jüngere Gwendy vor ihrer Mutter und ihrem Vater am Sockel des Washington-Monuments.

Gwendy sitzt am Schreibtisch, das Kinn auf die verschränkten Hände gestützt, und blickt stur auf das Foto von ihr und ihren Eltern anstatt auf den Bericht, der aufgeschlagen vor ihr liegt. Nach einer Weile seufzt sie, schließt den Aktenordner und schiebt ihn beiseite.

Sie tippt schnell auf ihre Tastatur ein und öffnet ihren E-Mail-Account. Beim Überfliegen der zahlreichen Nachrichten im Postfach hält sie bei einer Mail von ihrer Mutter inne. Laut Zeitangabe ist sie zehn Minuten zuvor eingegangen. Sie doppelklickt darauf, und der digitalisierte Scan eines Zeitungsartikels füllt den Monitor.

The Castle Rock Call

Donnerstagsausgabe – 16. Dezember 1999

NOCH KEINE SPUR DER ZWEI VERMISSTEN MÄDCHEN

Trotz einer bezirksweiten Suche und Dutzenden von Hinweisen besorgter Bürger hat es im Fall der beiden entführten Castle-County-Mädchen bislang keinerlei Fortschritte gegeben.

Das letzte Opfer, die in Castle Rocks Juniper Lane ansässige fünfzehnjährige Carla Hoffman, wurde am Dienstagabend, dem 14. Dezember, direkt aus ihrem Schlafzimmer verschleppt. Um kurz nach 18 Uhr ging ihr älterer Bruder über die Straße, um einen Klassenkameraden zu besuchen. Als er eine Viertelstunde später nach Hause zurückkam, entdeckte er, dass die Hintertür aufgebrochen und seine Schwester verschwunden war.

»Wir arbeiten rund um die Uhr, um diese Mädchen zu finden«, äußerte sich Castle Rocks Sheriff Norris Ridgewick. »Wir haben zusätzliche Beamte aus benachbarten Städten beigezogen und sind damit beschäftigt, weitere Fahndungs- und Suchaktionen zu organisieren.«

Rhonda Tomlinson, 14 Jahre alt, stammt aus dem nahe gelegenen Bridgton und verschwand am Dienstagnachmittag, dem 7. Dezember, auf dem Heimweg von der Schule …

Stirnrunzelnd beäugt Gwendy den Computermonitor. Sie hat genug gesehen. Sie schließt die E-Mail und will sich gerade abwenden – zögert dann aber. Sie drückt auf der Tastatur herum, wechselt zu GESPEICHERTENACHRICHTEN und scrollt mit der Pfeiltaste nach unten. Nach einer gefühlten Ewigkeit stößt sie auf eine weitere Mail ihrer Mutter, vom 19. November 1998. Die Betreffzeile lautet: GRATULATION!

Sie öffnet die Nachricht und klickt dort einen Link an. In der Mitte des Bildschirms erscheint ein kleines, dunkles Fenster, über das quer hinweg Guten Morgen, Boston geschrieben steht. Dann startet ein Video mit niedriger Auflösung, und das Intro von Guten Morgen, Boston plärrt aus den Rechnerlautsprechern. Gwendy dreht schnell die Lautstärke herunter.

Auf dem Minibildschirm sitzen sich Gwendy und die bekannte Frühstücksfernsehmoderatorin Della Cavanaugh auf Lederstühlen mit gerader Rückenlehne gegenüber. Beide haben die Beine übergeschlagen und tragen ein an den Kragen geklemmtes Mikrofon. Am oberen Bildrand läuft ein Kriechtitel: GROSSERDURCHBRUCHFÜRUNSERELOKALMATADORIN.

Gwendy findet ihre Stimme in der Videoaufnahme schrecklich, aber sie schaltet nicht aus. Stattdessen reguliert sie die Lautstärke neu, lehnt sich zurück, schaut sich selbst bei dem Interview zu und erinnert sich daran, wie merkwürdig – und geradezu verstörend – es sich angefühlt hat, ihre Lebensgeschichte vor Tausenden von Fremden auszubreiten …

4

Nach ihrem Brown-Abschluss im Frühling 1984 verbringt Gwendy den Sommer mit einem Teilzeitjob, bevor sie ab Anfang September den Iowa Writers Workshop besucht. In den folgenden drei Monaten konzentriert sie sich ganz auf ihre Seminararbeit und beginnt die Eröffnungskapitel dessen zu schreiben, was ihr erster Roman werden soll, ein Mehrgenerationenfamiliendrama, das in Bangor spielt.

Am Ende des Kurses kehrt sie für die Ferien nach Castle Rock zurück, lässt sich das Tattoo einer winzigen Feder neben die Narbe am rechten Fuß stechen (auf die Feder werden wir bald zurückkommen) und fängt damit an, sich nach einer Vollzeitbeschäftigung umzusehen. Sie erhält eine Reihe interessanter Angebote und entscheidet sich schließlich für ein neu gegründetes Werbe- und PR-Unternehmen im nicht weit entfernten Portland.

Ende Januar 1985 folgt Mr. Peterson seiner Tochter Gwendy den Interstate Highway entlang – einen U-Haul-Anhänger im Schlepptau voller gebrauchter Möbel, mit Klamotten vollgestopfter Umzugskartons und mehr Schuhen, als eine Einzelperson besitzen sollte – und hilft beim Einzug in ihre im Innenstadtbereich gelegene Obergeschosswohnung.

In der darauffolgenden Woche nimmt Gwendy ihre Arbeit auf. Sie erweist sich in Sachen Werbebusiness sehr bald als Naturtalent und verdient sich im Laufe der nächsten anderthalb Jahre ein paar Beförderungen. Mitte des zweiten Jahres wird sie im Firmenbriefkopf bereits als leitende Kundenbetreuerin geführt und bereist die gesamte Ostküste, um wichtige Kunden aufzusuchen.

Bei all der hektischen Termintaktung verliert Gwendy den unfertigen Roman nie aus dem Sinn. Sie tagträumt unentwegt davon und werkelt bei jeder Gelegenheit daran herum, die sie irgendwie freischaufeln kann: auf langen Flügen, an den Wochenenden, an den vereinzelten schneefreien Tagen und gelegentlich abends unter der Woche, wenn ihr Arbeitspensum das gestattet.

Bei der Betriebsweihnachtsfeier im Dezember 1987 stellt Gwendys Boss sie ihm Rahmen eines netten Gesprächs einem alten Freund vom College vor und erwähnt beiläufig, dass seine Starmitarbeiterin nicht nur eine erstklassige Kundenberaterin, sondern auch eine aufstrebende Autorin sei. Der alte Freund ist, wie es der Zufall will, mit einer Literaturagentin verheiratet, weshalb er seine Frau auch sofort herbeiruft und sie mit Gwendy bekannt macht. Die Agentin ist schwer erleichtert, eine gleich gesinnte Bücherliebhaberin zum Reden gefunden zu haben, entwickelt umgehend Sympathie für Gwendy und hat die aufstrebende Autorin am Ende des Abends überredet, ihr die ersten fünfzig Seiten ihres Manuskripts zu schicken.

Als die zweite Januarwoche ihren Lauf nimmt, klingelt eines Nachmittags Gwendys Telefon, und zu ihrer Bestürzung hat sie die Agentin am Apparat, die sich nach dem Verbleib jener ersten fünfzig Seiten erkundigt. Gwendy erklärt, sie sei davon ausgegangen, die Agentin habe bloß höflich sein und ihrem Stapel von unverlangt eingesandten Manuskripten keinesfalls ein weiteres hoffnungslos unlesbares Buch hinzufügen wollen. Die Agentin versichert Gwendy, dass sie niemals nur höflich sei, wenn es um ihre Lektüre gehe, und sie besteht beharrlich darauf, das Material unverzüglich zugesandt zu bekommen. Also druckt Gwendy noch am selben Tag die ersten drei Romankapitel aus, schiebt sie in einen Nachtexpress-Umschlag von FedEx und schickt sie auf den Weg. Zwei Tage später ruft die Agentin wieder an und bittet darum, sich auch den Rest des Manuskripts anschauen zu dürfen.

Die Sache hat nur einen Haken: Gwendy hat das Buch noch nicht fertig geschrieben.

Anstatt das der Agentin gegenüber zuzugeben, nimmt sie sich den folgenden Tag, einen Freitag, frei – für Gwendy ein Novum – und verbringt das lange Wochenende damit, literweise Pepsi light zu trinken und sich den Autorinnenarsch aufzureißen, um das letzte halbe Dutzend Kapitel zu vollenden. Während der Mittagspause am Montag druckt Gwendy die knapp dreihundert restlichen Romanseiten aus und stopft sie in einen FedEx-Karton.

Einige Tage später meldet sich die Agentin und bietet Gwendy an, sie zu vertreten. Der Rest ist, wie man zu sagen pflegt, Geschichte.

Im April 1990 wird Libellensommer, der Debütroman der achtundzwanzigjährigen Gwendy Peterson, als Hardcover veröffentlicht, erhält glänzende Kritiken und erzielt wenig beeindruckende Verkaufszahlen. Ein paar Monate darauf gewinnt sie damit den renommierten Robert Frost Award, der alljährlich von der New England Literary Society »an ein Werk von literarisch besonders hohem Wert« verliehen wird. Die Auszeichnung vertickt möglicherweise – möglicherweise sei stark betont – ein paar Hundert zusätzliche Exemplare und führt zu einem hübschen kleinen Rückseitentext auf der Taschenbuchausgabe. Das Ganze hat, mit anderen Worten, keinen Einfluss auf den Kontostand.

All das ändert sich schon bald mit dem Erscheinen von Gwendys zweitem Roman, einem Vorstadtthriller mit dem Titel Nachtwache, der im darauffolgenden Herbst auf den Buchmarkt geworfen wird. Euphorische Rezensionen und der wesentlich auf starker Mund-zu-Mund-Propaganda basierende Verkaufserfolg schießen das Werk für vier Wochen am Stück auf die Bestsellerliste der New York Times, wo es ein gemütliches Plätzchen zwischen Megabestsellern von Auflagengiganten wie Sidney Sheldon, Anne Rice und John Grisham belegt.

1993 erblickt Gwendys dritter und bislang ehrgeizigster Roman Kuss im Dunkel das Licht der Welt, ein sechshundert Seiten starker, wuchtiger Thriller mit einem Kreuzfahrtschiff als Schauplatz. Mit dem Buch stattet Gwendy der Bestsellerliste einen neuerlichen Besuch ab – diesmal für sechs Wochen –, und nicht lange danach, genau rechtzeitig zu den Feiertagen, startet in den Kinos die Filmadaption von Nachtwache mit Nicolas Cage als gehörntem Biedermanngatten in der Hauptrolle.

Gwendy hat nun einen Punkt in ihrer Karriere erreicht, von dem aus es ihr möglich ist, in die Spitzenliga der Unterhaltungsindustrie aufzusteigen. Ihre Agentin rechnet für das nächste Wettbieten der Verlage mit einem siebenstelligen Angebot, und sowohl Kuss im Dunkel als auch Libellensommer sind inzwischen als Leinwandprojekte bei großen Filmstudios gelandet. Sie muss nichts weiter tun als die Sache durchziehen, wie ihr Vater das gern ausdrückt.

Stattdessen ändert sie zur Überraschung aller den Kurs.

Kuss im Dunkel ist einem Mann namens Johnathon Riordan gewidmet. Als Gwendy ein paar Jahre zuvor bei der Werbeagentur zu arbeiten begann, war es Johnathon, der sie unter seine Fittiche nahm und ihr die Spielregeln der Werbebranche beibrachte. Zu einem Zeitpunkt, wo er sie leicht als unmittelbare Rivalin hätte betrachten können – vor allem aufgrund ihrer ungefähren Gleichaltrigkeit; Gwendy war nur drei Jahre jünger als Johnathon –, freundete er sich stattdessen mit ihr an und entwickelte sich zu ihrem engsten Verbündeten, sowohl im Büro als auch in der Welt jenseits davon. Wen bat Gwendy um Hilfe, wenn sie es innerhalb von zwei Tagen zweimal schaffte, ihren Schlüsselbund im Wagen einzuschließen? Johnathon. Wessen Kennerurteil holte sie ein, bevor sie sich mit einem Mann verabredete? Johnathons. Die beiden verbrachten in Gwendys Wohnung unzählige Feierabende damit, Chinagerichte direkt aus der Pappschachtel zu mampfen und sich dabei Beziehungskomödien anzuschauen. Als Gwendy ihren Debütroman verkaufte, war Johnathon der Erste, dem sie das erzählte, und bei ihrer ersten öffentlichen Lesung stand er vor der Buchhandlung ganz vorn in der Schlange. Im Lauf der Zeit wurde das Verhältnis zwischen ihnen immer enger und Johnathon zum großen Bruder, den Gwendy sich immer gewünscht hatte. Und dann erkrankte er. Neun Monate später war er tot.

Das ist der Moment, wo die Überraschung die Bühne betritt.

Beseelt vom aidsbedingten Tod ihres besten Freunds, kündigt Gwendy ihre Stelle bei der Werbeagentur und füllt die nächsten acht Monate damit, die wahre Geschichte von Johnathons inspirierendem Leben als junger homosexueller Mann und den tragischen Umständen seines Ablebens niederzuschreiben. Nachdem sie die Gedenkschrift vollendet hat, stürzt sie sich, noch längst nicht über ihre Trauer hinweg, unverzüglich in die Regiearbeit an einem Dokumentarfilm, der auf Johnathons Geschichte basiert.

Familie und Freunde sind überrascht, aber nicht verwundert. Die meisten neigen dazu, ihre neu entdeckte Leidenschaft mit einer so schlichten wie abgedroschenen Feststellung zu erklären: »Typisch Gwendy.« Was ihre Agentin angeht, so ist die, obwohl sie das nie klar und deutlich ausspricht – das wäre nicht nur verständnis-, sondern vor allem gefühllos –, zutiefst enttäuscht. Gwendy hatte die Überholspur in Richtung Starruhm befahren, dann aber plötzlich das Steuer herumgerissen, um ein derart kontroverses, heikles und unschickliches Thema wie die Aidsseuche anzupacken.

Gwendy kümmert das wenig. Jemand von großer Wichtigkeit hat ihr einmal etwas mitgegeben: »Du hast der Welt noch viel zu sagen … Und die Welt wird dir zuhören.« Und Gwendy Peterson glaubt fest daran.

Mit geschlossenen Augen – Johnathons Geschichte erscheint im Sommer 1994. Zwar bekommt das Buch in Publishers Weekly und im Rolling Stone positive Kritik, ist an den Kassen der landesweiten Buchhandlungsketten aber eine ziemliche Trantüte. Bis Ende August landet es bei den meisten Händlern als Ramschkistenmaterial in den weniger prächtigen Ladenecken.

Bei der mit demselben Titel versehenen Dokumentation verhält es sich jedoch gänzlich anders. Der Film startet kurz nach der Buchveröffentlichung, läuft in brechend vollen Festivalsälen vor gefesseltem Publikum und gewinnt schließlich den Oscar als bester Dokumentarfilm. Fast fünfzig Millionen Menschen sind Zeuge, wie Gwendy ihre tränenreiche Dankesrede hält. Den überwiegenden Teil der folgenden paar Monate ist sie damit beschäftigt, Zeitungen und Zeitschriften im ganzen Land Interviews zu geben und in diversen Morgen- und Late-Night-Talkshows aufzutreten. Ihre Agentin schwebt im siebten Himmel. Gwendy hat wieder auf die Überholspur gewechselt und ist gefragter denn je.

Während der Filmproduktion hat sie Ryan Brown, einen Profifotografen aus Andover in Massachusetts kennengelernt. Die zwei beginnen eine zwanglose Freundschaft miteinander, die sich in einer für beide unvorhergesehenen Wendung zu einer Liebesbeziehung auswächst.

An einem wolkenlosen Novembermorgen zieht Ryan bei einer Flusswanderung am Royal River in der Nähe von Castle Rock einen Diamantring aus dem Rucksack, lässt sich auf ein Knie nieder und macht ihr einen Heiratsantrag. Gwendy heult Rotz und Wasser und ist von dem Augenblick so gebannt, dass sie nicht in der Lage ist, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Also wechselt Ryan, ganz Sportsmann, aufs andere Knie und wiederholt den Antrag. »Ich weiß, wie sehr du Überraschungen magst, Gwennie. Komm schon, was sagst du? Willst du den Rest deines Lebens mit mir verbringen?« Diesmal findet Gwendy die Sprache wieder.

Im folgenden Jahr werden sie in derselben Kirche wie Gwendys Eltern mitten in Castle Rock getraut. Die Hochzeitsfeier findet im Castle Inn statt, und auch wenn sich Ryans jüngerer Bruder auf der Tanzfläche volltrunken den Knöchel bricht, amüsieren sich sämtliche Gäste bestens. Die Väter von Braut und Bräutigam finden über ihre geteilte Bewunderung von Louis-L’Amour-Westernromanen zusammen, und die beiden Mütter kichern den ganzen Tag über wie Schwestern. Die meisten Leute prophezeien, dass Gwendy jetzt, wo sie in den Hafen der Ehe eingelaufen ist, zur Ruhe kommen, sesshaft werden und sich wieder auf das Schreiben von Romanen konzentrieren wird.

Aber Gwendy Peterson findet in der Tat großen Gefallen an Überraschungen – und sie hat noch eine in petto.