Habichtland - Florian Knöppler - E-Book

Habichtland E-Book

Florian Knöppler

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Beschreibung

Wie kann man leben und lieben, wenn die Welt im Irrsinn versinkt? Deutschland 1941: Hannes und Lisa leben mit ihren Kindern zurückgezogen auf einem kleinen Hof in der Elbmarsch. Sie wollen sich von allem fernhalten, was nach Politik riecht. Doch Lisa fällt das immer ­schwerer. Sie kann nicht länger stillhalten, wenn der Bürgermeister seine Reden schwingt, wenn die Lehrerin ihren Kindern Härte predigt. Als Hannes einen offiziellen Posten im Dorf annimmt, um seine Familie zu schützen, spricht Lisa kaum noch mit ihm. Kurz darauf trifft Hannes seine Jugendliebe Mara wieder, die ihn bittet, ein großes Wagnis einzugehen ... In der Fortsetzung seines erfolgreichen Romans "Kronsnest" erzählt Florian Knöppler mit großer sprachlicher Intensität von einer Familie, die an den Verhältnissen der Zeit zu zerbrechen droht. "Florian Knöppler hat ein feines Gespür für die Charaktere und deren Dialoge, für Landschaften und das Lebensgefühl in einer dunklen Zeit." Hauke Harder | Buchhandlung Almut Schmidt

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Florian Knöppler

Habichtland

PENDRAGON

Für Malte und Rona

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

„Lässt dich ja bitten wie ’ne Jungfrau.“

Karl nahm die Zügel in eine Hand und rückte zur Seite. Hannes stieg auf, versuchte ein Grinsen.

„Na ja, tat ja nicht nötig. Aber danke.“

Die Pferde zogen an. Was für ein Unsinn, sich plötzlich so zu zieren, dachte er, gerade bei Karl, dem frischgebackenen Ortsbauernführer und Königssohn. Prinz von Neuendorf, das hörte er bestimmt nicht gern. Schwer zu sagen, warum er Karl nicht leiden mochte. Da war irgendwas Seltsames an ihm und ein Gerücht, er habe wen gemeldet, wegen nichts.

„Und gestern, wie fandest du unser Maifeuer?“, fragte Hannes, als ihm nichts anderes einfiel.

„Ungeheuer würdevoll“, Karl grinste breit, „ein echter Ausdruck deutscher Sitte. Gut im Kampf gegen alles Volksfremde.“

Das war aus der Rede von Karls Vater, über die Lisa noch gestöhnt hatte, als sie schon im Bett lagen. Entgegen ihrer Abmachung, dass dieser Kram es nicht über ihre Schwelle schaffen sollte. Etwas bei ihr war anders geworden.

„Guck nicht wie ’ne Kuh beim Kalben“, sagte Karl, „er ist nicht der liebe Gott.“

„Stimmt.“

„Und das kann er ruhig auch mal hören. Tut ihm gut.“

Hannes pulte sich Dreck von den Fingernägeln. So hatte er Karl noch nie reden hören, schwer vorzustellen, dass sein alter Herr davon wusste.

„Wir kämpfen also nicht gegen das Volksfremde?“

„Doch, klar. Aber mein Vater tut, als wär er der Führer.“

Hannes schaute ihn von der Seite an, raspelkurze Haare, das schmale Kinn vorgestreckt.

„Kämpfen muss man, immer“, sagte Karl, „geht nicht anders. Bald geht’s nach Russland, wirst sehen. ’41 wird unser Jahr.“

Hannes heftete den Blick auf die Pferde vor ihnen. Prächtige Tiere, gut im Futter, glänzendes Fell, dicke Muskeln an der Hinterhand. Wer die richtigen Leute kannte, musste solche Pferde nicht zur Musterung bringen. Im Juni war die nächste, vielleicht war dann Alda weg und ihnen blieb nur Schnittchen.

Schweigend fuhren sie weiter, vorbei an den Kopfweiden, deren silbriges Laub im Wind schwankte, bis zur Ecke, an der Karl abbiegen musste zum Von-Heesen-Hof, wie die Leute immer noch sagten, obwohl er schon lange den Lübbens gehörte.

„Noch was anderes“, sagte Karl, als die Pferde zum Stehen kamen, „ich brauch noch einen Stellvertreter. Ich wollte dich vorschlagen.“

Hannes starrte ihn an.

„Wie … warum ich?“

Karl lachte.

„Weil sie sich von dir was sagen lassen.“

‚Von einem kleinen Krauter?‘, hätte er fast gefragt.

„Weil du ein guter Bauer bist und mit den Leuten kannst.“

Hannes schluckte schwer und sah sofort Lisa vor sich, mit zusammengezogenen Brauen.

„Muss ich drüber nachdenken.“

„Ja, mach das“, sagte Karl, „aber auf so einem Posten kann man eine Menge bewirken, Ausbildung, Beratung, denen helfen, die es verdienen, mitreden, welche Höfe Gefangene kriegen. Und ist auch nie verkehrt, wenn einem jemand dumm kommen will.“

Hannes hörte auf zu atmen. Vielleicht wusste er mehr, vielleicht wollte ihnen jemand ans Leder. Undenkbar war das nicht. Lisa richtete es, um nicht grüßen zu müssen, immer noch so ein, dass bei ihren Gängen ins Dorf an beiden Händen Taschen hingen.

„Übrigens, gestern Abend, Lisa, das war nicht schlau.“

Schlagartig wurde ihm heiß. Bei den Feierlichkeiten hatte sich Lisa zu einem höhnischen Kommentar hinreißen lassen, leise zwar, aber nicht leise genug. Ja, irgendwas lief bei ihr aus dem Ruder.

„Was ich nur sagen will: Pass auf sie auf.“

Hannes’ Herz klopfte noch bis zur Kehle, als Karl auf der Kastanienallee kleiner wurde. Am Ende des Weges erhoben sich ein paar mächtige Giebel, die Dächer waren inzwischen wieder gut in Schuss. In ein paar Tagen würden die Kastanien aufblühen und die Bienen der ganzen Gegend anlocken, auch seine. Er selbst hatte es bis jetzt vermeiden können, auch nur einen Fuß auf den Hof zu setzen, seitdem Maras Vater ihn hatte verkaufen müssen. Dort, auf diesem prächtigen Hof an der Seite von Mara, hatte er zum ersten Mal gespürt, dass man auch anders leben konnte, lachend, frei, ohne zusammengebissene Zähne.

Sie war dann überstürzt nach Lübeck gezogen und hatte einen anderen geheiratet. Und er war bald darauf schon in Lisa verliebt gewesen und hatte sich schnell mit ihr verlobt. Damals war Lisa so fröhlich und übermütig gewesen, mit diesem unwiderstehlichen Drang, alles zu nutzen, was sich ihr bot. Heute konnte Hannes sich manchmal anstrengen, wie er wollte, ohne Lisa zum Lächeln zu bringen. Zuletzt vor ein paar Tagen, nachdem sie kopfschüttelnd ein Schulbuch der Kinder weggelegt hatte.

Er machte sich auf den Weg, zu Hause wartete genug Arbeit. Die Kinder waren noch in der Schule. Lisa war allein, in der Küche vielleicht. Oder sie sprach doch mit jemandem, zwei Männern in Uniform. ‚Tut uns leid, Frau Thormählen, Sie müssen mitkommen. Schreiben Sie Ihrem Mann eine Nachricht.‘

Hannes fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht, fixierte einen Jungbullen am Wegrand. Krumme Hörner, ein Fleck auf der Stirn. Aber es half nichts, gegen solche Anfälle half selten etwas. ‚W… wieso weg?‘ Die kleine Marie in der Küchentür, mit ihrem viel zu großen Ranzen, dahinter Niklas, der wegen des Stotterns seiner Schwester die Augen verdrehte. ‚W… wann kommt Mama denn … wieder?‘ Erst nach einer Weile wurde es besser.

Sie waren häufiger geworden, diese Vorstellungen, die sich nicht verscheuchen ließen, und kamen in immer neuen Varianten: Niklas mit verdrehtem Genick, Marie im Fieberkrampf oder er selbst tot und die Kinder auf Jahre verstört.

Wann hatte es angefangen mit diesem Mist? Vielleicht nach der Geburt von Marie. Sie war dabei fast gestorben, eine abgeklemmte Nabelschnur. Auch Lisa war in Gefahr gewesen. Er hatte draußen auf der Diele gewartet und mitbekommen, wie in der Schlafkammer Hektik ausbrach. Die Hebamme lief herum, irgendwas fiel um und Lisa schrie und schrie. Und er konnte nur dastehen und auf eine Forke starren, die an der Wand lehnte, auf eine Pferdedecke, einen Sack Weizen. Alles so gleichgültig und unbewegt, ohne Zeichen dafür zu geben, ob gerade alles kaputtging oder nur noch schöner wurde.

Es war gutgegangen, aber in den Wochen danach hatte er manchmal, fast ohne Grund, angefangen zu weinen. Er hatte das Gefühl gehabt, es wäre etwas zerbrochen, er würde verrückt und könnte sich selbst nicht mehr über den Weg trauen. Irgendwann war es besser geworden, aber nie wieder wie vorher.

Er ließ den Blick über die Weiden schweifen. Das Gras wuchs jetzt wie verrückt, es war erstaunlich warm, der Himmel blau, fast ohne Wolken. Heute Abend würde er Lisa überreden, zwei Flaschen Bier in den Rucksack zu stecken und noch mal nach den Schafen zu sehen, wenn die Kinder schliefen. Ein Spaziergang durchs menschenleere Vorland, das sich hinterm Deich bis zum Fluss erstreckte.

Das taten sie manchmal, wenn das Wetter danach war, auf dem klapprigen Steg sitzen, mitten im hohen Schilf, und den Schwalben zusehen, wie sie über dem Wasser Insekten fingen. Meist war Lisa danach wie ausgewechselt, als ob es keine gereckten Arme auf der Dorfstraße gäbe und keine Schulbücher mit krummnasigen Juden. Einmal waren sie auf dem Rückweg von Regen überrascht worden, hatten im muffigen Stroh eines Schuppens gesessen, nach draußen geschaut und schließlich sogar lachend die Tür verbarrikadiert.

Lisa war allein, in der Küche. Sie schnitt Kartoffeln klein. Er setzte sich, trank ein Glas Wasser und betrachtete ihren Rücken, ihren schlanken, muskulösen Nacken. Er musste mit ihr wegen der Maifeier reden, spätestens am Abend, auch wenn er schon jetzt wusste, wie sie reagieren würde. Lächelnd, mit mehr oder weniger Spott. ‚Du machst dir aber auch immer Gedanken, Hannes! Was ich zu wenig denke, denkst du zu viel.‘

„Ist was?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und hielt inne.

„Hatte der Schmied die Beschläge fertig?“

„Ja“, sagte er.

Der Rucksack mit den Eisenbeschlägen stand auf der Diele, der Schmied hatte sie heißmachen und richten müssen. Jetzt nur noch einbauen, und der Balkenmäher war wieder bereit.

„Ich muss dir noch was erzählen“, begann er.

„Aha“, brummte sie und nahm sich die nächste Kartoffel.

„Es haben alle gehört. Was du gesagt hast, bei der Maifeier.“

Lisa nickte nur und schnitt weiter.

„Lisa, das ist gefährlich.“

Das Messer in ihrer Hand bewegte sich langsamer, dann fuhr sie herum.

„Ach ja, ist es das?“

„Lisa, ich …“

„Lisa, Lisa, Lisa“, sie funkelte ihn an, „weißt du was? Sie können mich mal alle, diese Schweineköpfe.“

Er senkte den Blick. So hatte er sie lange nicht erlebt.

„Und außerdem“, das Messer bohrte sich in eine Kartoffel, „hab ich ja dich. Was ich krumm mache, machst du wieder gerade. Nach der Kirche, beim Bier mit den richtigen Leuten.“

Sie warf die Schürze weg, die Tür knallte gegen das Regal. Er war allein. Langsam drehte er das Glas in den Händen, wischte über einen Fleck. Vor dem Fenster stritten ein paar Krähen. Mit den richtigen Leuten, ein Kriecher, ein Schleimscheißer von Ehemann.

Plötzlich stand sie wieder in der Tür, schloss sie sorgfältig und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Ihre Augen schwammen vor Tränen.

„Ich werd’ noch verrückt, irgendwann werde ich verrückt“, sagte sie leise und schaute zur Decke. Die Krähen flogen weg, es wurde still.

„Sie haben kein Recht dazu“, sagte sie schließlich. Er wartete. Vielleicht dachte sie an die Kinder oder die Maifeier. Aber sie fing von einem Nachbarjungen an. „Ich hab Peter getroffen, da stimmt was nicht. Er ist grün und blau.“ Sie nickte bekräftigend, als würde das ihren Gefühlsausbruch erklären.

„Vielleicht nur eine Prügelei?“

Sie schüttelte den Kopf. Peter hatte neu bei einem Bauern angefangen, knapp fünfzehn war er, aber noch klein und schmal.

„Da waren alte Flecken und neue und Schorf.“

„Du meinst, der Bauer?“

Sie zog eine Schulter hoch.

„Eigentlich nicht.“

Josef Behrens führte den Hof. Ein großer und immer ein bisschen selbstgefälliger Mann, einer, der was zu sagen hatte, obwohl er noch jung war, im Gemeinderat und auch sonst, und einer, der nie hinter Mädchen hatte herlaufen müssen. Sie kamen zu ihm. Nur Lisa hatte Abstand gehalten, damals in der Schule, wahrscheinlich hatte er gerade deshalb unbedingt sie gewollt.

„Ich quetsch ihn mal aus, wenn ich ihn seh, den Jungen, mein ich.“

„Ja“, sagte Lisa, „mir wollt’ er nichts erzählen.“

Er schenkte Wasser nach, schob ihr das Glas rüber.

„Wollen wir heute Abend nach den Schafen gucken?“

Ihre Mundwinkel zuckten in einem halben Lächeln.

„Du hast sie von der Krückau weggeholt, erinnerst du dich? Guck aus dem Fenster und du siehst sie.“

„Hab vielleicht welche vergessen.“

In diesem Augenblick quietschte die Türklinke, wurde heruntergedrückt, blieb unten.

„Marie?“

Hannes schob den Stuhl zurück, ging zur Tür und machte sie vorsichtig auf. Mit gesenktem Kopf stand sie da und rührte sich nicht. Er strich ihr das dünne Haar aus dem Gesicht, nahm sie auf den Arm und kehrte zum Tisch zurück. Lange saßen sie nur da, Marie mit ihrer Nase an seinem Hals, bis sie dann doch zu schluchzen anfing. Wilde Zuckungen, hohe, schrille Töne. Es dauerte, bis sie sich beruhigte. So war das immer, wenn sie einmal angefangen hatte, in letzter Zeit viel zu häufig. Es gab ein paar Mädchen in der Schule, die alles daransetzten, Marie zum Weinen zu bringen. Ein Tag ohne war ein verlorener Tag. Und manchmal machten die Jungs noch mit. Alle zusammen: „Wa… wa… warum ist Ma… Ma… Marie so dumm?“

„Was ist passiert?“, flüsterte Hannes in ihr Ohr und suchte dabei Lisas Blick, die kurz den Kopf schief legte. ‚Ist schon in Ordnung‘, hieß das, ‚ist eben so, Papas Tochter.‘ Die Mädchen, wisperte Marie, hatten an ihrem Rock gezogen, auf dem Rückweg. Also hatte sie ihn festgehalten. Aber dann waren zwei von hinten gekommen und hatten ihre Arme zurückgebogen, bis der Rock unten war und alle lachten.

„Und Niklas? Wo war der?“

Sie zuckte mit den Schultern. Niklas hatte sie noch nie beschützt, ein nutzloser großer Bruder, schon neun, aber immer war er gerade nicht da oder schaute nicht hin. Er wollte unbedingt zu den Starken gehören, die den Schwachen immer heftiger zusetzten und von niemandem mehr gebremst wurden.

Nach dem Mittagessen jagte eine Arbeit die andere. Aber dann kam das Melken, endlich. Hannes legte die Arme auf das Gatter, rief nach den Kühen und schaute ihnen zu, wie sie auf ihn zu trotteten. Auf der Weide glänzte der Hahnenfuß, am Rand schwankten die weißen Blütenteller der Holunderbüsche. Der Wonnemonat, nur ohne Wonne, dafür mit dem Gefühl, dass es nicht weiterging wie bisher. Lisa wollte oder konnte nicht mehr.

Sonst war Melken genau das Richtige, wenn man ein paar Sachen sortieren musste, aber heute drehte sich alles, Lisa am Küchentisch, die verweinte Marie, Karl mit wichtigtuerischem Grinsen, dann wieder Lisa. Über ihm zog ein Habicht vorüber, ein erstaunlich großer, dann eine Möwe, die offensichtlich die Weide absuchte.

„Bist du immer noch nicht fertig? Hast ja ganz schön getrödelt.“

Walter. Er war endlich von seinem Ausflug nach Elmshorn zurück und ging an ihm vorbei zur nächsten Kuh. Walter, der Lehrer, der zweite Mann der Mutter, der nicht mal beim Melken aussah wie ein Bauer.

„Ja, damit du noch eine abkriegst.“

„Danke.“

Sie wohnten jetzt seit vielen Jahren zusammen auf dem Hof, aber wenn Walter ihm über den Weg lief, musste er fast immer auch an die Mutter denken. Clara, für Walter sein größtes Glück, wie er häufig gesagt hatte. Kein anderer sprach so was aus, nur er, auch noch nach dem Tod der Mutter. Die Möwe stieß zur Weide herab. Zwei kleine Vögel stiegen auf, schrien und griffen die Möwe an, aber die nahm seelenruhig einen zweiten Anlauf, schnappte sich etwas am Boden und flog davon.

Er schaute Walter von der Seite an. Er war still geworden in letzter Zeit. Jahrelang hatte man ihm den Rausschmiss aus der Schule kaum angemerkt, auch nicht die vielen Verhaftungen überall, die Hetze in den Zeitungen, die gereckten Arme auf der Straße, jedenfalls solange er noch die Mutter hatte. Auch sie war in den wenigen gemeinsamen Jahren glücklicher gewesen als jemals zuvor, mit einer Fröhlichkeit, die Hannes als Kind fast nie an ihr bemerkt hatte.

Jetzt war Walter ein anderer Mann. Nach Neuendorf ging er nur noch, wenn es wirklich sein musste. Er wollte nicht auf der Straße grüßen müssen und wollte auch das übliche Gerede nicht mehr hören. Ihn konnte er doch fragen, wie man Karl am besten absagte. Wenn nicht ihn, wen dann?

„Walter?“

„Hmm?“

„Was …“, Hannes atmete tief durch und schloss sogar die Augen, aber es ging nicht, „… was war so los in Elmshorn?“

Walter hielt inne, dann war wieder der Milchstrahl im Eimer zu hören, rechts, links, rechts. Einfach nicht genug Mut, nicht einmal Walter konnte er davon erzählen.

Nach dem Melken gingen Walter und er direkt zum Abendbrot. Er beobachtete Niklas, der mit gesenktem Kopf dasaß, man sah nur seinen weißblonden Schopf, die erstaunlich großen Hände, die neben dem Teller liegenblieben und nicht nach den eingemachten Mirabellen griffen, obwohl er an anderen Tagen um jede einzelne kämpfte. Den ganzen Nachmittag hatte er kein Wort gesagt, gleichzeitig aber bei der Arbeit nicht eine Sekunde nachgelassen und schließlich sogar noch ganz allein den Rotstock auf der Kälberweide ausgestochen. Eine harte Arbeit für einen Neunjährigen.

Bei Niklas wusste man selten, was in ihm vorging. Er konnte freundlich sein, aber auch gnadenlos. Einmal hatte er sogar dabei mitgemacht, als die Nachbarjungen halbwüchsige Mäuse mit dem Schwanz auf ein Brett nagelten und dann einen Kreis bildeten, jeder mit einem Spaten oder Knüppel bewaffnet. Wenn sich eine Maus losriss, musste man sie platthauen. Jede Maus ein Punkt. Hannes hatte es gesehen, sie hatten ihn nicht kommen hören.

Das war das einzige Mal, dass er Niklas geschlagen hatte. Eine Ohrfeige, die den Jungen zu Boden warf und Hannes Tränen in die Augen trieb. ‚Genauso wie damals der Vater‘, war es Hannes sofort durch den Kopf geschossen. Die gleiche Wut, die gleichen Schläge. Ihm war übel geworden, auf dem Weg nach Hause, den ganzen Tag hatte er kaum noch was essen können.

Und heute? Niklas mochte ein schlechtes Gewissen haben, wegen Marie. Oder jemand hatte abfällig über seine Familie geredet oder er hatte einfach nur aufgeschnappt, die deutschen Jungs müssten nun den Ernst der Lage erkennen und arbeiten für zwei, jetzt, wo die meisten Männer im Feld seien.

„Niklas?“

„Ja?“

„Danke für den Rotstock. War gut.“

Niklas hob nur kurz die Schultern.

„Was ist eigentlich mit der Zwille? Wieder in Ordnung?“

„Nee, geht immer ab.“

„Zeig mal her“, sagte er und sah Marie beim Kauen innehalten.

Niklas stand auf und ging zur Tür, bemüht, nicht zu eilig dabei auszusehen. Als er weg war, wechselte Hannes einen Blick mit Lisa und ging hinterher.

Ein ganz normaler Arbeitstag wäre ihm lieber gewesen, dachte Hannes am nächsten Morgen in der Kirche, keine Sonntagsruhe. Einzelne Sonnenstrahlen fielen auf den Boden vor seinen Füßen. Wie bei der Beerdigung der Mutter, auch diese Goldkörner in der Luft. Fünf Jahre war es her, neben Walter hatte er gesessen, der nicht weinte, nichts sagte, den ganzen Tag nicht. Und in den Wochen danach nur das Nötigste.

Und er selbst? Manchmal trafen ihn die Erinnerungen und Gedanken noch heute wie Ohrfeigen. Die Mutter, ganz allein unter dem Apfelbaum liegend, weit hinten im Außendeich, von der Leiter gefallen. Und dann innerlich verblutet. Also die ganze Zeit bei vollem Bewusstsein, die Schmerzen, der Wind über ihr, während er in Ruhe eine neue Stalltür einpasste, mit dem Zollstock nachmaß, hobelte, die Beschläge festschraubte, die Tür einhängte, als hätte er alle Zeit der Welt. Gründlichkeit vor Eiligkeit. Oder er sah die Mutter den Deich überqueren und den Weg in Richtung Obstwiese einschlagen, angezogen wie durch einen Magneten, der etwas mit ihr vorhatte. Sie ging durch den Regen, ohne sich an ihm zu stören und ohne etwas zu ahnen. Immer wieder dieser Regen, der am Tag danach grau in den Pfützen stand.

„… und genau das ist der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft.“

Julius stieg von der Kanzel und schlug das Gesangbuch auf. Sehr aufrecht stand er da, schaute auf die kaum besetzten Bankreihen und begann zu singen. Die Gemeinde folgte, ein paar dünne alte Stimmen, die man mühelos hätte übertönen können.

Er hatte es nicht leicht, Pastor Julius Weber. Die Leute traten reihenweise aus der Kirche aus, obwohl er gar nicht unbeliebt war. Zwei Vorstände der Kirchengemeinde hatten ihr Amt niedergelegt, der HJ-Dienst fand rein zufällig am Dienstag statt, wenn er die Konfirmanden unterrichtete, und vor ein paar Wochen hatte eine Familie auf den Gedenkgottesdienst verzichtet. Der Sohn gefallen und kein Gedenken in der Kirche.

Julius klappte das Buch zu und machte ein paar Ankündigungen. Nebenan im Krug saßen sie jetzt alle und ließen es sich gutgehen, Hein und Karl, hoffentlich nicht Josef. Hannes sah sie schon winken, sah sich selbst auf ihren Tisch zugehen. Bier mit den richtigen Leuten.

„Was hat der Pastor euch heute versprochen, wieder nur das ewige Leben?“, rief ihm Josef entgegen.

„Nein“, antwortete Karl für Hannes, „Auch fruchtbare Äcker und folgsame Frauen.“

Das war ein Seitenhieb, aber Josef lachte nur. Seine Frau Ilka war nicht gerade das, was man folgsam nannte. Eine sehr große, sehr hübsche und sehr selbstbewusste Frau, früher die beste Freundin von Mara. Wusste der Teufel, warum sie ausgerechnet Josef gewollt hatte.

Hannes setzte sich und bekam sofort ein Bier vorgesetzt.

„Danke.“

Der Wirt nickte nur.

Josef hielt ihm den Krug zum Anstoßen hin.

„Und, Hannes, stehen schon die Schilder?“

Da war er wieder, der Großbauer, der es allen kleinen Krautern zeigen musste. In der Woche zuvor hatte der Reichsminister verfügt, alle kleinen Nutzflächen müssten mit Namensschildern versehen werden. Als ob nicht jeder wusste, wem was gehörte.

„Pass auf“, erwiderte Hannes, „bald gibt’s auch Schilder für Flächen, wo der Bauer nichts erntet.“

Karl brach in Gelächter aus, Josef stimmte zögerlich ein, bis er nickte und eine Augenbraue hochzog. Wahrscheinlich vor dem Spiegel eingeübt. „Nicht schlecht. Die nächste Runde geht auf mich.“

Eine Weile sprachen sie nun über den Bierpreis, der angeblich gesenkt werden sollte, und über die Klauenseuche. Langsam ließ die Spannung im Bauch nach, Karl hatte ihn nicht auf sein Angebot angesprochen.

„Warum haben sie dich eigentlich nicht genommen?“, fragte Josef und drehte an einem Schnauzbartende. „So ein Bild von einem Mann!“

Hannes zeigte auf seine Brust.

„Herzstolpern.“

„Und das reicht?“

„Und natürlich Blödheit“, sagte Hannes. Irgendwas musste er ja sagen. Fast hätte er noch hinzugefügt: ‚Genau wie bei dir‘, obwohl Josef offizieller Kriegsversehrter war. Lungenschüsse in Frankreich.

„Ach was“, hörte er plötzlich Karl sagen, „sie wollten ihn zu Hause haben. Er ist uk, unabkömmlich, auch ohne offizielle Bestätigung, bald noch viel mehr, nicht wahr, Hannes?“

Sofort spürte er das Blut in Hals und Kopf pochen.

„Klar. Der Bauer mit der schönsten Klitsche im ganzen Reich. Der sollte kämpfen an der Heimatfront.“

Lustig war das nicht, aber sie lachten, und Karl ließ es gut sein.

„Bin gleich wieder da“, sagte Hannes, drückte sich vom Tisch hoch und ging zum Klo. Kleine Pause. Er stellte sich vors Pinkelbecken. Das Fenster stand offen, der Geruch irgendeines Krautes wehte herein und vermischte sich mit dem alten Urin, in der Ferne rief ein Kuckuck.

Zurück im Schankraum musste er husten, so dick war die Luft.

„Dann lernen sie endlich das Arbeiten, die Schmarotzer“, hörte er schon von weitem Josef. Sie waren bei den Juden angekommen, seinem Lieblingsthema. Manchmal war es zum Staunen, immer noch. Dieser verrückte Hass. Erst die Schmierereien auf von Heesens Kutsche, obwohl der nicht mal Jude war, lange vor Hitler, und dann fast wöchentlich immer ein bisschen mehr.

Die Eingangstür ging, ein Mann kam herein, ein Soldat, Thies. Er war es, endlich, und er war heil, wie es aussah. Hannes ging ihm entgegen. Sonst klopften sie sich nur auf die Schulter, aber jetzt drückte er den Freund, egal was die anderen dachten.

„Komm, setz dich, ich hol ein Bier.“

Natürlich musste Thies berichten. Ein Balkanheld, ein echter.

„Ihr habt aber ganz schön gebummelt“, sagte Karl und lachte, „elf Tage und noch mal sechs für Griechenland.“

Thies grinste halbherzig, erzählte von tapferen Griechen, lausigen Italienern und der Akropolis. Aber Begeisterung lag nicht darin. Karl und Josef bemerkten es nicht. Sie lachten, fragten immer weiter nach Details. Hannes sah sie schon schwadronieren, große Kenner der Vorgänge an der Front und selbst in Sicherheit, der eine uk, weil sein Vater ihn nicht verlieren wollte, der andere mit einer Verletzung, die ihn angeblich ganz untauglich machte. Nach zwei Bieren stieß Thies ihn unterm Tisch an. Sie bezahlten und ließen die beiden anderen allein.

Es war gut, in Stille neben ihm herzugehen, über die aufgewärmte Dorfstraße von Neuendorf. Unter einem Dachvorsprung sammelte eine Meise die Spinnen ab. Magens Hühner fraßen heruntergefallene Apfelblüten und ließen sich auch vom Ruf eines Habichts nicht stören. Wer laut rief, jagte nicht. Erst hinterm Dorf warf Thies ihm einen Blick zu.

„Und?“

Hannes hob nur die Schultern.

„Lisa?“

Hannes schüttelte den Kopf. Noch immer sträubte sich etwas, wenn er mit Thies über Lisa sprechen sollte, obwohl der mit der alten Sache lange abgeschlossen hatte.

„Vielleicht doch, ein bisschen. Bei der Maifeier, sie kann den Mund nicht halten.“

Thies lächelte.

„Ist auch schwer, bei ’ner Lübbenrede.“

Er war der einzige Parteigenosse, mit dem man reden konnte, über alles, auch über Goebbels und Lübben. Er war überhaupt der einzige, bei dem man nicht aufpassen musste, und das, obwohl Thies und er oft nicht einer Meinung waren.

„Also?“

Hannes atmete tief ein. „Sie kann sich nicht mehr zusammenreißen. Kurz vorm Explodieren. Und dann hat mich auch noch Karl gefragt. Will mich als Stellvertreter.“

Erst einmal sagte Thies nichts. So war er schon immer gewesen. Früher hatte man manchmal ewig warten müssen.

„Mach es.“

„Eigentlich frag ich mich nur, wie ich absagen kann.“

„Erzähl keine Märchen.“

Wieder verfielen sie in Schweigen, bis Thies ihn mit der Schulter anstieß.

„Wirklich. Ist besser. Auch für Lisa, für euch alle.“

Hannes ließ den Blick über die schon sommerdunkel glänzenden Weiden schweifen. Eine Kuh warf den Kopf nach hinten und zog Schleimfäden durch die Luft. Thies konnte recht haben. Man musste für den Posten nicht mal in die Partei. Landwirtschaft, keine Politik.

„Und ist auch besser, du kannst hierbleiben.“

Hannes starrte ihn ungläubig an. Bisher hatte Thies immer gesagt, man dürfe sich nicht verdrücken. Das ganze Programm. Sogar das verrückte „Volk ohne Raum“ war darin vorgekommen.

„Lass das den Führer nicht hören.“

Thies stieß Luft durch die Nase.

„Im Ernst“, hakte Hannes nach, „ist was passiert?“

Er schüttelte den Kopf. „Nee. Aber manche werden zu Hause dringender gebraucht.“

‚Und du?‘, dachte Hannes, ‚du nicht?‘ Aber er sagte es nicht, natürlich nicht. Wenn es um Rieke ging, war er schon immer vorsichtig gewesen. Eine freundliche und auch hübsche Frau, die Thies da hatte. Es sah aus, als ob die beiden sich gut verstanden, und auch, als ob Thies sie liebhatte. Aber vielleicht wollte er das nur glauben, und Thies wollte es glauben machen.

Hannes erinnerte sich noch genau an Thies’ Hochzeit. Thies hatte Rieke geküsst, auf der Feier nach der Kirche, und ihren Blick erwidert. Niemand außer Hannes, da war er sich sicher, hatte in diesem Moment etwas Merkwürdiges gesehen, etwas anderes als die frische Liebe eines Bräutigams. Aber es war eher Freundlichkeit gewesen oder Zuneigung, Liebe sah bei Thies ganz anders aus.

„Ist Mara noch in der Klinik?“, fragte der Freund.

„Keine Ahnung.“

Schon lange hatte Hannes nichts über Mara gehört, Mara von Heesen, mal in Männerhosen oben im Kirschbaum mit einer Astschere in der Hand, dann wieder in nachtblauem Kleid auf einem Ball, die Haare zu einer Krone geflochten. Zwölf Jahre. Lisa und Thies, Mara und er. Fast ein Wunder, dass Thies ihm irgendwann verziehen hatte. Wann genau, das hatte Hannes nie herausgekriegt. Erst hatte Thies nur seine Parteigenossen zurückgepfiffen. Die waren wild entschlossen gewesen, Hannes kurz und klein zu hauen und am besten auch gleich seinen Hof abzufackeln. Thies musste davon Wind bekommen haben, obwohl er gar nicht zu Hause war, sondern irgendwo auf einem Küstenfrachter zwischen Deutschland, Dänemark und Schweden.

Sie waren bei Hannes angekommen, schauten auf den kleinen Hof mit der Scheune, dem Schweinestall und dem Krückaudeich dahinter. Sonst war Hannes stolz auf diesen Hof, aber jetzt sah er schäbig aus. Unkraut auf dem Hofplatz, das Dielentor konnte einen Anstrich vertragen. Sie kamen nicht hinterher mit der Arbeit, vor allem seit er sich auch noch um den Jepsen-Hof kümmern musste. Alle Söhne im Feld, nur ein alter Knecht als Hilfe.

„Wie lange bist du noch da?“

„Drei Wochen, vielleicht nur zwei.“

„Karl sagt, es geht nach Russland.“

Thies schüttelte den Kopf.

„Eher Afrika und dann endlich England.“

2

Ein Teller ging zu Bruch, der Herd qualmte, die Kartoffeln brannten an, weil Lisa immer drei oder vier Sachen gleichzeitig machte. Sogar Niklas schien jetzt Abstand zu ihr zu halten, obwohl die beiden ein besonderer Draht verband. Von Karl hatte Hannes noch nichts erzählt, immer noch nicht.

Er schaute durch die Tür nach draußen auf den Hofplatz. Da saßen Niklas und Marie auf dem Pflaster und kratzten das Unkraut aus den Fugen. Er hatte den Kindern eine Überraschung versprochen, wenn sie das Stück bis zur Hausecke schafften, ohne sich zu streiten, und eine doppelte, wenn sie bis zum Kaffee fertigwurden. Sie hatten die Arbeit aufgeteilt, Niklas schnitt die Fugen aus, weil das anstrengender war, Marie zupfte das restliche Unkraut weg. Eine gut geölte Maschine, eine Unkrautzupfmaschine, vier Arme, vier Beine, vier Augen.

„Kaffee!“, rief Lisa von der Küche her.

„Fertig!“, schrien Niklas und Marie, sprangen auf und stießen verstohlen ein paar lose Grasbüschel zur Seite.

„Gut habt ihr das gemacht! Die Überraschung gibt’s nach dem Kaffee.“

In der Küche wurden die Kinder sofort stiller. Lisa strich die Honigbrote, trank einen Schluck Malzkaffee, dann kehrte sie zur Anrichte zurück und knetete an einem Teig. Mit dem Rücken zu ihnen, den hellen Zopf über der Schulter.

Mit einem Ruck drehte sie sich plötzlich um, es sah aus, als hätte sie sich dazu zwingen müssen. „Habt ja tüchtig gearbeitet, wieso seid ihr denn so weit gekommen.“

Marie strahlte, sie schaute zu Niklas. Wenn er reden wollte, ließ sie ihm den Vortritt. Jetzt wollte er, auch wenn er brummelte, als wenn das Reden für einen wie ihn nichts wäre. „Na ja, schneiden und zupfen. Und das alte Messer hab ich vorher noch geschärft. Am Schleifstein. Dann geht das ja viel leichter.“

Lisa hörte zu, ihre Züge wurden weicher. Der gleiche Blick wie damals, als die Eule gegen das Fenster geflogen war, ein paar Wochen nach der Geburt von Niklas. Der kleine Kerl hatte nicht trinken wollen und immer nur geschrien, wenn Lisa ihn an der Brust ansetzte, bis sie schon mit den Nerven am Ende war. An einem dieser langen Nachmittage knallte es plötzlich an der Fensterscheibe. Lisa drückte Hannes den Säugling in die Arme, lief nach draußen und kam mit der Eule zwischen ihren Händen zurück. Zuerst sah das Tier halbtot aus, aber dann hob es den Kopf und drehte ihn in alle Richtungen. Lisa schaute ihm dabei verzückt zu, mit diesem weichen Blick, als hätte Gott persönlich sie gerade beschenkt. Danach war alles anders. Lisa legte Niklas an ihre Brust, er trank und wollte nicht wieder aufhören.

Jetzt stand er dort vor ihnen, neun Jahre alt, ein großer Kerl, der wusste, wie es ging. Lisa nickte anerkennend und unterdrückte ein Lächeln. Hannes hätte sie umarmen mögen und küssen, endlich mal wieder.

Als die Kinder unruhig wurden, ging er mit ihnen in den Garten, zur großen Erle. Dort steckte er das Hemd sorgfältig in die Hose und kletterte hinauf. Oben beim Elsternnest war von den Eltern keine Spur, erleichtert griff er hinein und erschrak. Da waren nur zwei Junge, vor ein paar Tagen waren es noch sechs gewesen.

Er überlegte hin und her, bevor er eine Elster griff und sie sich ins Hemd steckte.

„Die gehört euch erst mal zusammen, bis ich noch eine finde, woanders“, sagte er unten und legte das struppige Tier in Maries ausgestreckte Hand. Sie hielt die Luft an, Niklas drehte sich um und ging, beleidigt oder gelangweilt, das konnte man seinem Gesicht nicht ansehen.

Einen ganzen Zacken älter als Niklas, dachte Hannes ein paar Stunden später, als er in Fleien um die Kurve kam, aber auch noch ein halbes Kind. Und er sah aus, wie Lisa ihn beschrieben hatte. Der kleine Peter, grün und blau. Stirn und Wangen waren übersät von Schrammen, Krusten, Blutergüssen. Hannes grüßte, Peter wich seinem Blick aus.

„War’s kaputt? Das Gatter?“

„Morsch. Ein paar Kühe durchgerannt.“

„Fertig? Willst mitfahren?“ Er deutete auf den Gepäckträger und dann nach vorn, wo es zum Lühnhüserdeich ging. Dort lag Josefs Hof, direkt neben dem der Jepsens, deren Schafen er die Klauen schneiden wollte.

Peter nestelte an seinem Rucksack herum und schüttelte den Kopf. ‚So leicht kommst du mir nicht davon‘, dachte Hannes, stieg ab und wartete, bis Peter seine Sachen zusammengekramt hatte.

Schweigend liefen sie los, Hannes mit der Hand am kühlen Lenker. Der Junge wollte ums Verrecken nicht reden, das war schon jetzt klar. Eigentlich konnte er es Thies überlassen, schließlich war er Peters Onkel und gerade auf Urlaub da. Einfach aufs Rad steigen, ‚na denn‘ sagen und weiterfahren. Aber er hatte es Lisa versprochen.

„Was sind das für Flecken?“

„Bin gefallen.“

„Gefallen.“

Der Junge nickte. „Von der Bodentreppe.“

„Ach.“

Wieder ein Nicken.

„Du glaubst, ich bin dumm, oder?“

Peter presste die Lippen zusammen und sah zur Seite.

„Der Bauer? War’s Josef?“

Keine Reaktion. Eine harte Nuss.

„Dreckskerl“, sagte Hannes und tat so, als wollte er aufs Rad steigen, „ich fahr gleich hin. Das kann er nicht machen.“

„Nein, halt“, rief Peter und stellte sogar ein Bein vor das Rad.

„Ja?“

Kopfschütteln.

„Also? Wer?“

Der Junge schwieg, in seinem Gesicht arbeiteten die Muskeln. Erst als Hannes das Bein über den Sattel schwang, sagte er kaum hörbar: „Otto“. Dann war der Damm gebrochen und er erzählte, aber so leise und durcheinander, dass man ihn kaum verstand.

Der Großknecht Otto und er hatten die Aufgabe bekommen, die Rüben zu pflanzen, den ganzen Tag zu zweit auf dem Feld. Otto hebelte mit dem Spaten einen Spalt in die Erde, Peters Aufgabe war es, den Setzling in den Spalt zu stecken. Wenn er dann mit dem Kopf wieder hochkam, gab ihm Otto einen kleinen Schlag mit dem Stielende. Jede Pflanze ein Schlag.

Auf Jepsens Hof angekommen, lockte Hannes die Schafe in den offenen Stall hinter der Scheune, setzte das erste auf seinen Hintern und fing an, die Klauen zu schneiden. Kein Wunder, dass es hinkte. Hornlappen waren über die Laufflächen gewuchert, Klauenwände abgerissen, darunter faulte das Gewebe. Es waren nicht seine Schafe, aber ihn traf die Schuld. Schon lange hätte er die Klauen schneiden müssen.

Langsam arbeitete er sich durch die Herde. Eine alte Stelle im Rücken meldete sich, und wenn er sich streckte, sah er das Spatenende gegen den Kopf schlagen, nicht heftig, aber immer wieder, an die Schläfe, den Hinterkopf, das Kinn. Manchmal traf der Stiel, manchmal streifte er den Jungen nur.

Hannes war fast fertig, als er einen Menschen, einen großen Mann auf der Nachbarweide laufen sah. Das war nicht mehr Jepsens, sondern schon Josefs Weide, also musste der Mann Otto sein. So groß war sonst niemand auf dem Hof.

Schnell sah er weg, pinselte die Säure auf die Klaue und starrte auf den Dampf, der sofort aufstieg. Das Ganze war nicht sein Bier, aber irgendwie hatte Lisa trotzdem recht. Man konnte sich nicht immer raushalten. Unentschlossen stand er da, bis seine Hand sich plötzlich selbstständig machte. Er sah ihr zu, wie sie den Pinsel beiseitelegte, wie sie sich streckte, sich ballte. Im nächsten Augenblick schon fand er sich am Bretterzaun wieder. Er stieg darüber und ging los.

Ein leises „Moin“, mehr brachte er nicht heraus, als er bei Otto ankam.

„Heil Hitler“, erwiderte Otto.

„Heit-ler.“

Es folgte ein Moment der Stille, nur eine Lerche sang irgendwo. Otto wartete und grinste immer breiter.

„Ich wollte … mal fragen, ob du … ob du ein bisschen freundlicher zu Peter sein kannst.“

„Wolltest du.“

„Ja.“

Hannes musste zu ihm hochsehen, obwohl er selbst nicht klein war. Otto war ein Riese mit dicken Schultern und fleischiger Nase.

„Und warum?“

„Warum was?“

„Warum sollte ich?

„Weil er ein feiner Junge ist.“

Otto schüttelte den Kopf. „Genau das ist er nicht. Ein Lahmarsch und ein Jammerlappen, das ist er.“

Otto schaute auf ihn herab, breitbeinig mit den Daumen im Gürtel. Die gleiche großspurige Art wie im Krug, wenn er mit Josef an der Theke stand. Schaut her, Josef Behrens gibt mir ein Bier aus.

„War’s das jetzt?“, fragte der Knecht.

„Lass ihn in Ruhe.“

„Hör auf zu sabbeln, geh zu Josef. Bin gespannt, was er sagt, wenn du dich in seinen Kram einmischst.“

„Lass ihn in Frieden“, sagte Hannes, wandte sich ab und fühlte den Puls im Mund schlagen.

„Du Weichscheißer. Hast dem Knirps keinen Gefallen getan.“

Auf dem Absatz drehte Hannes sich wieder um.

„Ein blauer Fleck, nur einer, und ich hau dir was aufs Maul.“

„Du? Mir?“

„Richtig. Ich dir.“

Zu schön, es war viel zu schön und friedlich für solch einen Morgen. Das junge Getreide bewegte sich in weichen Wellen, Gerste, weiter hinten Weizen, am Wegrand schwankte Mohn. Hannes und Lisa durchquerten das Vorland zwischen Deich und Krückau, ohne zu reden.

Den ganzen Abend hindurch und auch am Morgen war Lisa einsilbig gewesen, wie benommen oder als hätte sie Schmerzen. Irgendwann in der Nacht war sie sogar aufgestanden, aus der Kammer geschlichen. Als sie schließlich zurückgekommen war, hatte er gleichmäßig geatmet und versucht, an Schwalben über der Kälberweide zu denken, an Bussarde weiter oben, die ihre Kreise drehten ohne einen Flügelschlag, nicht für sich selbst, um besser einschlafen zu können, sondern für sie, als könnte er seine Gedanken an sie weiterreichen.

Wer Flügel hatte, war im Himmel, hatte sie mal gesagt, und konnte allem entkommen. Er hatte genickt und an Seester denken müssen, an ihre Kindheit in Seester, von der sie nie sprach. Und an ihren Onkel, der sie gerettet hatte, einfach von der Schule abgeholt, dem Vater weggenommen und von den Behörden Recht bekommen.

Sie erreichten den Steg, verstauten die Eimer für die Fische und zogen die Segel hoch. Lisa nahm ihren Platz an der Pinne ein, er löste die Festmacher und zog das Vorsegel straff. Sofort nahmen sie Fahrt auf, obwohl die Flut ihnen immer noch entgegenströmte.

Es war auch jetzt noch ein schönes Boot, dachte er, kein Fischerboot, ein feines Beiboot aus Mahagoni und dünnen Eichenspanten, wie Lisa ihm gleich bei ihrer ersten Fahrt vorgeschwärmt hatte. Sie waren damit viel unterwegs gewesen, zum Bishorster Sand, ihrer erklärten Lieblingsinsel, und nach Drochtersen, wo sie versucht hatten, etwas über die Vergangenheit des Bootes zu erfahren. Dabei hatte er sie oft nach irgendwelchen Vögeln oder Schmetterlingen gefragt, bis sie ins Erzählen kam, über Distelfalter, die es bis nach Spanien schafften, oder Eulen, die so lautlos fliegen konnten, weil sie winzige Federn an den Flügelkanten hatten. Manches davon wusste er schon, aber es war etwas ganz anderes, es von Lisa erzählt zu bekommen. ‚Guck sie dir genau an, in diesem Augenblick‘, hatte er gedacht, ‚und vergiss es nie wieder.‘

Kräftige Wellen schlugen gegen den Bug, als sie auf die Elbe kamen. Lisa lehnte sich über die Bordwand, ihr Zopf wehte ihr ins Gesicht, sofort sah sie anders aus.

Sie steuerten direkt auf die erste Reuse zu. Er nahm den Anker in die Hand und wartete auf das Kommando. An Bord war immer sie der Kapitän. Dann nahmen sie schnell die Segel herunter und ließen sich zur Boje treiben.

In der Reuse wimmelte es vor Aalen, er kippte sie in den Eimer, sie schlug den Deckel darauf und spannte den Sicherheitsbügel. Wenn jetzt noch ein paar Zander im Netz hingen, war alles richtig, dachte er und spürte Lisas Blick. Dieser Blick erreichte ihn immer, wenn sie einen guten Fang getan hatten. Einfach, weil sie sich seinen Anblick nicht entgehen lassen wollte, hatte sie mal gesagt: „Das Gesicht von einem kleinen Jungen, der einen Fisch gefangen hat, nicht besonders schlau im Kopf, aber so glücklich.“

Die Rückfahrt war nach Lisas Geschmack. Kräftiger Wind schräg von hinten. Sie schossen auf die Krückaumündung zu, zwei Schwäne mussten fliehen, dann vorbei an den Seitenarmen des Flusses, am klapprigen Steg, an dem er damals mit Mara und Jakob und Ilka gebadet hatte, vor vielen Jahren, in einem anderen Leben.

Ein alter Mann in seinem Kahn fuhr zusammen, als sie an ihm vorbeirasten, und schaute ihnen mit großen Augen nach.

„Weißt du, was er denkt?“, sagte Hannes.

„Mir egal.“

„Ein Teufelsweib.“

„Witzbold.“

„Was für eine Frau. Wenn ich jung wäre, …“

Lisa ruckte mit dem Kopf, wie um eine Fliege zu verscheuchen.

„Oh, ein Königreich für so eine Frau.“

„Die Fock muss dichter. Und Klappe“, sagte sie, aber mit einem Lächeln in der Stimme.

Dann waren sie schon bei der schiefen Esche, deren Äste bis zum Wasser reichten, und kurz darauf an ihrem Steg. Als die Segel unten waren, die Leinen vertäut, rollten sie das Tuch auf, machten Ordnung und horchten beide, das wusste er, auf die plötzliche Ruhe.

„Schau mal“, sagte er schließlich und holte eine Flasche hervor. Lisas Fliederbeerwein.

„Dieb.“

„Und dazu ein guter.“

„Hätte ich gemerkt.“

„Ja, Weihnachten oder Ostern. Mit viel Glück.“

Er kniete sich vor sie auf den Bootsboden, küsste sie auf den Leberfleck an ihrer Oberlippe. Sie roch gut, nach Wärme und frischem Schweiß. Dann ließ er seine Hand ihren Rücken hinuntergleiten, über den groben Stoff ihrer Bluse, bis zur Taille, über den Bauch und wieder zurück. Ihre Brüste ließ er aus. Dort mochte sie nicht berührt werden. Sie hatte es nie erklärt, er hatte nie gefragt.

„Du hast was auf dem Herzen“, sagte er dann, „was ist passiert?“

Sie schüttelte den Kopf, die Augen weiter geschlossen.

„Später.“

Aber auch auf dem Rückweg blieb sie stumm. Schweigend und entspannt gingen sie nebeneinander den ausgefahrenen Weg entlang, beobachteten die Bachstelzen an den Pfützenrändern, den Wind in den Bäumen. Wieder dachte er, dass er es eigentlich nicht hören wollte. Vielleicht hatte es mit den Kindern zu tun. Besser einfach nur neben ihr hergehen, auf den fernen Deich zu, am liebsten ohne ihn je zu erreichen.

Am nächsten Tag machte Hannes sich auf den Weg zum Pastorat, um dort ein repariertes Ornament abzugeben, und blieb fast die ganze Zeit in Gedanken versunken, bei Lisa und Niklas. Nach der Tour zu den Reusen hatte sie, während sie die Zander ausnahm und er den Aalen die Köpfe abschnitt, doch noch zu erzählen begonnen, von Niklas, der immer wieder einen Kettenhund mit der Zwille beschossen hatte. Ein Bauer aus Spiekerhörn war aufgetaucht und hatte sich speichelsprühend über Niklas beschwert, fuchsteufelswild, der immer besoffene Kerl, aber er hatte ja recht. Einen wehrlosen Kettenhund mit der Zwille zu beschießen, war ein Unding, auch wenn es so ein schrecklicher Köter war. „Wäre der Junge anders, wenn er vor dem ganzen Dreck hier großgeworden wäre?“, hatte Lisa gefragt. Hannes hatte die Schultern gehoben und vage gedacht, wie viel Leben noch in den Aalen steckte, auch ohne Kopf.