Südfall - Florian Knöppler - E-Book

Südfall E-Book

Florian Knöppler

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Beschreibung

Ruhig, menschlich, berührend – ein Roman, in dem Begegnungen zu Wendepunkten werden. Vom Autor von »Kronsnest« und »Habichtland«

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Florian Knöppler

Südfall

PENDRAGON

Für Silke

INHALT

DAVE: Sommer 1944

PAUL: Zwei Tage später

ANNA: Zwei Tage zuvor

CECILIE: Einen Tag zuvor

SIMON: Drei Tage später

DAVE: Wenige Stunden später

DAVE

Sommer 1944

Eine Silbermöwe. Nein, zwei oder drei, irgendwo in der Ferne. Ansonsten nur Stille und Schmerzen. Er ließ die Augen geschlossen, bewegte vorsichtig den linken Arm, den rechten, die Beine. Alles tat weh, aber es war nichts gebrochen. Wo er sich befand, war klar, dazu musste er nicht die Augen öffnen. Unter der Hand ein Gemisch aus Sand und Schlick, dazu die Seevögel, das Salz auf den Lippen. Er war im Watt, nicht in dem der Heimat, sondern zwischen diesen vielen deutschen Inseln.

Jetzt öffnete er doch die Augen, aber es blieb fast vollständig dunkel. Über ihm musste eine dicke Wolkendecke hängen, denn nirgendwo waren Sterne oder der Mond zu sehen. Das war seltsam, denn beim Aufbruch und auf dem Weg hierher war es klar gewesen, genau wie vorhergesagt. Hamburg, 15 Grad, gute Sicht. Merkwürdig auch diese Stille, kein Brummen am Himmel, keine Geräusche der Flak, deren Geschoss Leitwerk und Heck getroffen hatte. Von einer Sekunde auf die andere war die Maschine ins Trudeln geraten und abgestürzt. Er war wohl eine Weile weg gewesen, ausgeknockt. Die anderen waren ganz weg, alle tot. Jetzt lagen sie irgendwo zerquetscht im Wrack. Blut, verdrehte Körper, verbogener Stahl.

Wie von selbst schlossen sich die Augen wieder. Leises Knistern war zu hören, ein altbekanntes Geräusch im Watt, und ein Rinnsal, ablaufendes Wasser oder auflaufendes. In ein paar Stunden würde es spätestens da sein, erst nur schmale Zungen, die die niedrigen Zonen füllten, sich vereinten, dann ein Schwappen, schließlich Wellen und tiefes Wasser.

Alles wie früher zu Hause, wenn er William zu den Reusen begleitet hatte. Manchmal war Emily mitgekommen, auch wenn ihr großer Bruder William behauptet hatte, das bringe Unglück, eine Frau an Bord. „Unsinn“, hatte sie gesagt und gelacht. „Unsinn“, das war eines ihrer Lieblingsworte, auch später, als sie schon zusammenlebten. „Unsinn, Dave, natürlich komme ich mit.“ Sie hatte ihn auf die Dockery-Farm begleitet, ohne die Augen zu verdrehen, obwohl sie gerade erst eingeschlafen waren, sie mit dem Kopf an seiner Schulter. Mrs Dockery hatte angerufen, weil sie ohne Tierarzt nicht mehr zurechtkam. Ihr Mann lag sternhagelvoll im Bett und drei Lämmergeburten drohten schiefzugehen. Da war es gut, wenn ein Zweiter mithalf.

Hör auf damit, dachte er benommen, du musst hoch, das Watt ist nicht der Ort für so was. Die Augen auf, dich abstützen mit den Händen, auf die Knie und hoch. Den Fallschirm lösen und nach Lichtern Ausschau halten. Er blieb liegen, nicht einmal die Finger regten sich.

Emily hatte sich im Stall die Arme gewaschen und ein besonders großes Lamm wieder tief in den Mutterleib zurückgeschoben, in der Hoffnung die Beine zu erwischen, während er in einem anderen Schaf die Gliedmaßen von drei Lämmern zu entwirren versuchte. So viel Energie in einer so schmalen Frau! Und schließlich ihr glückliches Gesicht, die bloßen Arme blutverschmiert.

Seenebel, kam es ihm plötzlich in den Sinn, das war es, weshalb er nichts sehen konnte. Dichter Nebel, dazu passte auch die Windstille. Mühsam drehte er sich auf die Seite und horchte. Da war ein Geräusch, wie weit entfernt, ließ sich nicht sagen. Ein Glucksen, Wasser. Vielleicht brauchte er sich gar nicht mehr anzustrengen, vielleicht war es sowieso zu spät. Alle Priele schon gefüllt, er selbst auf einem höheren Wattrücken, vom Land abgeschnitten. Dann wäre es vorbei, alles, auch die schwarzen Tage, die Kämpfe in ihm und die Gedanken an Emily in der Erde, an das, was noch von ihr übrig war, dort unten in der feuchten Dunkelheit.

Was hatten die Leute nicht alles für Unsinn geredet, wirklichen Unsinn. Dave, das ist ein Kerl. Ein prächtiger Junge, und Lebensmut für zwei. Nur weil er einfach weitergearbeitet hatte, wie immer in Bewegung, wenn etwas Schlimmes passierte, ein Kaiserschnitt am Abend nach ihrer Beerdigung, am Morgen danach einen Abszess öffnen und ein Pferd erschießen. Darmverschlingung. Wenn diese Leute ihn jetzt hätten sehen können, wie er hier herumlag statt aufzustehen und zu überlegen, was er tun konnte, tun musste. Bildete er es sich ein oder waren die Wassergeräusche deutlicher geworden? Ein Wellenschlag. Vielleicht lag es aber auch nur an der Brise, die jetzt aufgekommen war und die Töne herübertrug.

Ja, er hatte weitergearbeitet, war abends sogar in den Pub gegangen und sonntags auf einen Spaziergang an der See. Ein Kraftakt, sicher, aber einfacher als nichts zu tun. Abends zwei, drei Bier mit den anderen und danach zu Hause Weinkrämpfe am Küchentisch, mehr Krämpfe als Weinen, bis er mit Schmerzen in Kiefer und Hals fast noch am Tisch eingeschlafen war. An solch einem Abend im Pub war da plötzlich auch Claire gewesen, die Nichte des alten Schmieds, gerade erst aus St Helens hergezogen. Schon an der Tür hatte er sie bemerkt. Größer als die meisten Männer um sie herum, helle, ziemlich kurze Haare und breite Schultern, von denen er später, als er sie nackt sah, kaum die Augen abwenden konnte. Breit, aber sehr weiblich.

Seine Finger lösten sich aus der Erstarrung und begannen die Umgebung zu ertasten, als wären sie die Untätigkeit leid. Tatsächlich, da war ein Stein, gegen den er eben schon mit dem Knie gestoßen war. Ein Stein im Watt, merkwürdig, ja, aber was ging das ihn an? Daneben Holz, ein angespülter Balken. Er fuhr die ausgewaschene Maserung entlang und kam zu einem Loch. Kein Astloch, ein gebohrtes, für einen Zapfen. Er versuchte sich zu konzentrieren, Schlüsse zu ziehen, die ihm helfen konnten, aber die Gedanken blieben unklar und weit entfernt, als wären es nicht seine. Ein Balken, ein Sparren vielleicht, ein Haus, Land, intakte Häuser an Land. War die Rettung näher, als er dachte?

Mühsam stemmte er sich auf die Knie, stand auf, löste den Fallschirm von den Schultern und drehte sich um die eigene Achse. Noch immer nichts zu sehen, trotz der aufgekommenen Brise. Er hatte die Signalpfeife, die konnte er benutzen, obwohl es nicht immer gut war, von Zivilisten in der Einöde gefunden zu werden. Manchmal, so hieß es, schlugen sie abgestürzte Engländer einfach tot. Irgendwo auf einer Wiese gelandet und mit Dachlatten oder Spaten erschlagen. Seit letztem Sommer erzählte man sich solche Geschichten auf den Flugplätzen in der Heimat. Es brauchte niemanden zu wundern, wenn sie ganz und gar der Wahrheit entsprachen. Immer mitten auf die Hamburger Wohngebiete, ein Feuersturm mit Frauen, Kindern, Alten.

Er zog die Pfeife hervor und stieß den Atem hinein, einmal, zweimal, dreimal, bevor er sich zwang, noch einmal seine Möglichkeiten durchzugehen. Einfach loslaufen? Unsinn, Dave. Selbst wenn du die richtige Richtung wählst, kannst du im Nebel nicht geradeaus gehen. Kein Mensch kann das.

Still bleiben und darauf hoffen, dass der Wind die ganze Suppe wegblies, bevor das Wasser kam? Und dann in eine Ortschaft laufen und auf der Straße warten, wo einen niemand heimlich erledigen konnte? Auch keine gute Idee. Seenebel waren oft hartnäckig. Blieb nur die Pfeife. Noch einmal blies er die drei Töne gellend in die Stille und bereute, dass er den Revolver im Spind liegen gelassen hatte.

„Steck das Ding ein, wenn du in die Luft gehst.“ Claires kleine Litanei. Am Abend im Pub hatte sie von ihrem Hund erzählt, einem Jack Russell, der auf den Hinterbeinen laufen konnte und es in den unmöglichsten Situationen zur Schau stellte, aus eigenem Antrieb, vielleicht aus Eitelkeit. Sie hatten viel gelacht an diesem Abend, bis Claire plötzlich sagte, sie wolle am nächsten Tag ans Meer mit ihrem Hund, ob er sie nicht begleiten wolle.

Wenige Wochen später saßen sie in seinem Garten in der Dämmerung und tranken Bier. Rings um sie her die abgeernteten Felder und die Wiesen, auf denen Schafe weideten. Sie sprachen von seiner Arbeit, als plötzlich wieder die Krämpfe kamen, wie aus dem Nichts. Er schlug die Hände vors Gesicht, es schüttelte ihn, bis er nach Luft schnappen musste. Claire kam um den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und legte die Arme um seine Schultern. Als es vorüber war, ging sie zurück zu ihrem Platz und saß da, ohne Erklärungen zu erwarten. So war es immer, sie tat so viel für ihn. Und er? Musste sich zwingen, mit den Gedanken bei ihr zu bleiben.

Der Wind wurde stärker, die Wassergeräusche schienen jetzt direkt vor ihm zu sein. Er starrte in die Dunkelheit und steckte sich wieder die Pfeife zwischen die Lippen. Drei Töne, Pause, und noch mal drei. Dabei merkte er, dass er etwas sehen konnte, oben zwei Sterne, am Boden den Schirm und die Füße. Vielleicht hatte er bald genug Sicht um loszulaufen, bevor ihn hier jemand fand. Also erst mal ein paar Yards in alle vier Richtungen und schauen, wie die direkte Umgebung beschaffen war.

Nach einigen Schritten wurde der Schlick zu hartem Sand, er ging weiter auf dem geriffelten Grund und trat ins Leere. Eine Kante, sein Fuß stand in Wasser. In diesem Moment hörte er es. Bellen, ein großer Hund, nicht weit entfernt. Der Nebel zog jetzt in Schwaden an ihm vorbei, der Mond kam heraus. Eilig lief er zurück, bis ihn ein Knurren innehalten ließ. Beim Fallschirm stand eine Gestalt. Groß und schlank, rechts und links zwei sitzende Hunde.

„Kommen Sie mit“, sagte sie auf Englisch, drehte sich um und ging los, flankiert von den beiden Tieren, die ihr nicht von der Seite wichen. Er folgte den dreien, in seinem Kopf ging alles durcheinander. Es gab einen Weg an Land, er musste nicht sterben. Aber was passierte jetzt, woher kam mit einem Mal dieser Mensch? Ein langer Umhang, eine Ledermütze, wenn er richtig gesehen hatte, und eine helle Stimme, die einer älteren Frau. Und die Sprache, kein deutscher Akzent, eher Schottland und Oberschicht.

Auf ein Schnalzen hin sprangen die Hunde los, verschwanden im Nebel und kamen zurückgeprescht. Vielleicht Gordon Setter, jedenfalls groß und beweglich.

Sie gelangten an einen Priel. Die Frau lief einfach hindurch, der Umhang schwamm auf bis zur Hüfte und wurde von der Strömung zur Seite gezogen. Am anderen Ufer wandte sie sich nach links und nach einer Weile auf hartem Sand scharf nach rechts durch seichtes Wasser. Jetzt konnte er zwischen den Schwaden erkennen, wohin es ging. Eine Erhöhung lag vor ihnen, mit einem Haus darauf, mitten im Watt. Sie erreichten den Rand einer Salzwiese, wenig später das Gebäude. Vor der Tür drehte sich die Frau das erste Mal zu ihm um.

„Sie schlafen im Flur. Udo führt Sie hin.“

Die beiden Grauschimmel waren gut genährt, Kaltblüter mit Muskelpaketen an Brust und Hintern. Eine ganze Weile schon saß er in sich zusammengesunken am Fenster und schaute ihnen beim Grasen zu. Weiter hinten, am Rand der Salzwiesen, standen noch mehr Pferde, eine ganze Herde, manche mager und etwas klapprig.

Ein kleiner Mann hatte ihm die Bank gezeigt, auf der er schlafen sollte, hatte ihm trockene Kleider vor die Füße geworfen und war verschwunden. Am Morgen war er, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, mit ein paar Eimern Meerwasser vorbeigekommen. Später hatte eine rothaarige Frau mit Frühstückstablett das Zimmer durchquert. Seitdem war nichts passiert.

Ein Knarren ließ ihn herumfahren. Da in der Tür stand die Gastgeberin. Sie war alt, 70 oder 80, und hatte ein strenges, schmales Gesicht.

„Sie können hierbleiben“, sagte sie wieder auf Englisch. Sie konnte nicht wissen, dass er Deutsch sprach. „Drüben werden Sie eingesperrt. Wer weiß, was die Bagage mit Ihnen macht. Mir ist es recht, solange Sie sich an die Regeln halten. Sie können sich frei bewegen, draußen und auch hier in der Bibliothek. Das ist der Raum hinter mir. Aber wenn ich hereinkomme, gehen Sie bitte. Und draußen geben Sie acht, dass Sie nicht von einem Boot überrascht werden.“

Er nickte vorsichtig, während sie ihn noch einen Augenblick lang fixierte und in der Bibliothek verschwand. Ratlos schaute er wieder nach draußen, wo die Sonne jetzt Lichtlanzen durch die Wolken trieb. Ein Emily-Wetter, Sonne und Wolken im Wechsel. Dave, schau mal. Nun schau doch endlich, gleich ist es weg.

Eben Queller und Schlickgras, jetzt Wermut und Strandastern. Er blieb stehen, vor einem Wasserloch, über das die Böen fegten. Diese Salzwiesen waren ähnlich wie bei ihm zu Hause. Ein Flickenteppich verschiedener Grüntöne, je nach Bewuchs und Höhe des Untergrunds. Sonst konnte er sich nicht sattsehen an so etwas, aber jetzt ließ ihn der Anblick kalt.

Er hatte die Insel fast umrundet und steuerte auf die Pferdeherde zu. 23 waren es, wenn er sich nicht verzählt hatte. Als er näherkam, sah er, dass sie alle alt waren, alt oder irgendwie gebrechlich. Bei einigen traten die Rippen hervor, vermutlich waren die Zähne nicht mehr gut, andere hatten Narben auf Kruppe und Flanken, eines entlastete den rechten Vorderhuf. Er ging zu ihm, es hob den Kopf und schaute ihm entgegen.

„Na, meine Gute“, hörte er sich sagen. Sie klangen merkwürdig, diese Worte, fremd, die ersten seit dem Absturz. Das Tier blieb ruhig stehen, ließ sich kraulen und hob sogar bereitwillig den Huf. Ja, es war Strahlfäule, wie er sich gedacht hatte, das Horn vergammelt und in Fetzen. Es stank gotterbärmlich.

Auf dem Rückweg merkte er, wie seine Schritte langsamer wurden. Irritiert setzte er sich auf ein Stück Treibholz. Er hatte den Huf einfach abgesetzt und war gegangen, ohne sich ein Hufmesser herbeizuwünschen, ohne an Kupferlösung zu denken. Als wäre es egal, ob dem Pferd der Fuß wegfaulte. Er rieb sich die Ohrläppchen, kniff hinein, bis der Schmerz quer durch den Kopf zog, und versuchte an den Fuchs zu denken, an das Bein in der Schlagfalle, im Wäldchen hinterm Haus. Aber es blieb alles weit weg, als hätte es jemand anderes erlebt, der Fuchs und das Pferd, die Explosion im Flugzeugheck und der Fall durch die Dunkelheit.

Er hob den Blick, schaute ein paar Seeschwalben hinterher und versuchte an die Zukunft zu denken, daran, wie es jetzt weiterging. Langsam schälten sich ein paar Überlegungen heraus. Er konnte sich stellen, in Gefangenschaft gehen, bezahlen für die Bomben, er konnte versuchen sich nach Dänemark durchzuschlagen, tagsüber irgendwo verstecken, nachts immer am Deich entlang in Richtung Norden und dort irgendwo ein Schiff suchen. Vielleicht fand sich jemand, ein Schmuggler, der wütend genug auf die Besatzer war. Oder er blieb einfach hier, nur essen, schlafen, spazieren gehen, bis der Krieg vorbei war. Keine Einsätze fliegen, kein Heldengewäsch der Kameraden, kein Heimaturlaub, keine Claire, die beim Abschied ihre Traurigkeit überspielte, während er sich fragte, warum er so wenig fühlte.

Dieser Raum war anders. Er ließ den Blick schweifen. Eine richtige Bibliothek. Die Wände waren von Regalen bedeckt, sogar in der Mitte standen zwei. Der Rest des Hauses war fast schäbig, aber hier war alles schön, die Regale mit ihrer feinen Maserung, am Fenster ein Mahagonitisch mit Trockenblumen, daneben drei Bücher. Goethe, Dante, Yeats.

Er setzte sich und griff nach dem Gedichtband von Yeats. Goldene Ranken wanden sich auf dem Deckel. Wie von selbst öffnete sich das Buch etwa in der Mitte.

Ich werde aufstehen und losgehen und nach Innisfree gehen / Und werde aus Lehm und Weide dort eine kleine Hütte bauen, /Neun Reihen Bohnen und ein Korb für die Bienen sollen dort stehen, / Und ich lebe allein auf den summenden Auen.

Er legte es zurück und schritt die Regale ab. Das meiste waren Romane, Gedichte, Dramen. Ein paar italienische Bände, ansonsten deutsche und viele englische. Austen, Dickens, Hardy, Shakespeare. Genug Lesestoff für Monate oder Jahre. Sein Deutsch war gut genug für die meisten Bücher, dank der Großmutter, die ihn von klein auf daran gewöhnt hatte.

Gedankenverloren zog er ein paar der Bände heraus und setzte sich zurück ans Fenster. Draußen hatten sich die Wolken verzogen, die Sonne ließ das Gras der Wiesen glänzen, dahinter glitzerte das Wasser. Reglos saß er eine Weile da, sogar die Gedanken an die vielen Bücher, die Gastgeberin und das Pferd mit der Fäule verflüchtigten sich, bis nur noch Grün und Blau und Grau zurückblieben.

Hier wurde man in Ruhe gelassen. Man konnte der Sonne zusehen, wie sie ums Haus wanderte, dem Wasser, wie es kam und wieder ging. Und ich lebe allein auf den summenden Auen.

Die alte Frau trat in sein Sichtfeld, mit einer Tüte in der einen und einem winzigen Hocker in der anderen Hand. Hühner rannten und flatterten heran, während sie sich setzte und das Futter rund um ihre Füße verstreute. Die Hühner wuselten herum, sie beugte sich hinab und strich ihnen über das Rückengefieder, was sie nicht zu stören schien. Schließlich nahm sie ihren Hocker und verschwand. In der Ferne zogen Schleierwolken auf, lang gezogene Fahnen, die sich langsam vor die Sonne schoben.

Ein Geräusch an der Tür ließ ihn zusammenfahren. Sie stand in der Öffnung. Erschrocken starrte er sie an, erst dann kam er zu sich und verließ eilig den Raum durch die zweite Tür.

Es mochten zehn Minuten vergangen sein, ehe er ihre Stimme hörte. „Sie können rein“, drang es aus der Bibliothek herüber. Er wartete einen Augenblick und drückte vorsichtig die Klinke herunter. Der Raum war leer.

Jetzt war ihm nicht mehr danach, untätig am Fenster zu sitzen. Er ging noch einmal die Regale durch. Irgendwo musste sich doch etwas finden, das ihm mehr über diese Frau verriet. Nach einer Weile stieß er auf einen Ordner mit amateurhaften Bleistiftskizzen und Karten. Die Küstenlinie mit den Inseln davor, Amrum, Föhr, Pellworm. Er blätterte von einer Zeichnung zur anderen, Hallig Südfall, das war diese Insel, Rungholt, Schleuse, Deich, Grabung, Warft, Handel, Hafen. Direkt vor der Insel im Watt hatte eine richtige Stadt gestanden, bis das Meer alles verschlungen hatte. Und die alte Frau hatte sich ausgerechnet in dieses Thema vertieft, in etwas, das einmal gewesen und in einer Katastrophe untergegangen war.

Ein nahes Wiehern weckte ihn. Es musste früh sein. Langsam streckte er Arme und Beine und setzte sich auf. Durch das Fenster schaute einer der Grauschimmel zu ihm herein und drehte die Ohren. Es tat noch alles weh, vom Absturz, aber er fühlte sich fast ausgeschlafen, stand auf, schlüpfte in seine Sachen und verließ das Haus.

Der Schimmel schaute ihm hinterher, als er zum Schuppen hinüberging, wo der Mann ihm am Abend ein Hufmesser und einen Bottich mit blauer Flüssigkeit gezeigt hatte. Erst hatte dieser finstere Kerl ihn nur angeglotzt, als Dave ihn um Material gebeten hatte. „Ein Pferd hat Probleme mit dem Huf, er ist faul, ich brauche ein Messer und copper, Kupfer. Ich bin Tierarzt.“ Aber schließlich war der Mann verschwunden und zurückgekommen und hatte ihn zum Schuppen dirigiert, ob aus eigenem Antrieb oder auf Anweisung, ließ sich schwer sagen.

Es ging leichter Wind an diesem Morgen, über dem Horizont leuchtete es bereits. Er nahm den Trampelpfad direkt am Rand der Salzwiesen. Das Watt lag noch in weiten Teilen trocken, Austernfischer schwirrten über die Flächen, das Gras zitterte in der Brise.

Ja, es war schon richtig, diese Insel war kein schlechter Ort, um das Kriegsende abzuwarten. Aber nur theoretisch, er würde nicht bleiben. Dazu fehlte ihm die Ruhe, er hatte es noch nie lange aushalten können, nichts zu tun. Hier würde er nur an Emily denken, an den Matsch in ihren Haaren und ihr rotgeflecktes Gesicht, das immer noch aussah, als würde sie gerade ersticken, obwohl sie doch schon tot war.

Das Pferd mit der Strahlfäule schaute ihm wieder unverwandt entgegen, während er sich näherte, und hob den Huf, kaum dass er vor ihm stand.

Ein paar Minuten später war alles erledigt, das lose und faulende Horn weggeschnitten, die ganze Fläche mit der Lösung bepinselt. Er wusch sich die Hände in einer Pfütze, wärmte sie unter der dicken Mähne und sog den Geruch ein. „Nichts riecht so gut wie ein Pferd im Wind“, sagte Claire manchmal und dachte dabei wohl vor allem an die große Braune und ihr Fohlen, die hinter ihrem Haus auf der Weide standen.

Wenn er es bis nach Hause schaffte, würde Claire vier Flaschen Bier in eine Tasche stecken, seine Hand nehmen und mit ihm über das Mäuerchen klettern, das die Weide umgab, vielleicht kurz vor der Abenddämmerung, wenn das Licht sich langsam verlor. Auf der anderen Seite würden sie sich ins Gras setzen und möglichst leise reden, wenigstens eine Zeit lang. Wenn die Stute sie erst einmal entdeckt hatte, war es aus mit der Ruhe und sie kam angetrabt, um die Taschen ihrer Kleidung zu untersuchen, bis sie sicher war, dass nirgendwo noch ein Brocken Brot versteckt war. Erst danach ließ sie sich von Claire kraulen und revanchierte sich, indem sie ihre feste Oberlippe an Claires Schulter rieb. In solchen Momenten gelang es ihm manchmal, zu vergessen. Ja, er würde es versuchen, die Küste entlang nach Dänemark, hier auf der Insel würde er verrückt werden.

Auf dem Rückweg schaute er sich das Watt in Richtung Festland genauer an. Zwischen zwei Prielen gab es eine höhere Fläche, auf der Pflöcke einen Weg markierten. Es konnte nichts anderes sein. Der Weg übers Watt.

Am besten ging er gleich heute Nacht. Das Niedrigwasser lag günstig, es würde ihn wohl niemand sehen, wenn er bei Dunkelheit am Festland ankam. Außerdem war klares Wetter und fast Vollmond, die Pflöcke würden gut zu erkennen sein. Solche Bedingungen gab es nicht oft.

„Sie sind früh dran.“

Er zuckte zusammen. Sie stand im Windschatten hinter dem Schuppen, an dem der Pfad vorbeiführte.

„Ja“, antwortete er und fühlte sein Herz schlagen.

Die Frau musterte ihn, kühl und durchdringend, wie ihm schien.

„Sie waren bei den Pferden.“

Er nickte. „Ja.“ Mehr fiel ihm nicht ein.

„Wird es was?“

„Wie bitte?“

„Der Huf.“

„Ja, mit Geduld. Und Pinseln. So oft es geht.“

Sie schaute an ihm vorbei, ohne zu blinzeln.

„Den Wagenweg übers Watt haben Sie ja schon entdeckt. Da kann auch jemand kommen. Ein paar Stunden lang, rund ums Niedrigwasser.“

Er nickte wieder und versuchte ihren Blick zu deuten.

„Heute ist es um zwei. In der kommenden Nacht ein bisschen später.“

„Aha.“

„Aber ich muss nicht zum Land. In meiner Vorratskammer ist noch von allem genug.“

Jetzt sah sie ihn doch an, nickte kaum merklich und ging an ihm vorbei in Richtung Haus. Verwirrt schaute er ihr hinterher. Was hatte sie wohl auf diese Insel geführt? Pure Freude an der Natur konnte es nicht gewesen sein. Allgemeiner Verdruss oder eine Reihe von Schicksalsschlägen, Enttäuschungen, Verlusten? Ein gestorbener Mann, gefühllose Eltern, ein verlorenes Kind oder alles zusammen. Möglichkeiten gab es genug.

… möchte ich mich nochmals bei Ihnen bedanken. Gleich breche ich auf. Leider muss ich mich in Ihrer Vorratskammer bedienen, bitte entschuldigen Sie dies.

Ich verbleibe mit den besten Wünschen,

Ihr Dave Milton

Er las den Brief noch einmal, legte den Bleistift darauf und horchte in die Stille. Die anderen mussten lange schlafen, seit zwei Stunden hatte sich nichts mehr gerührt. Vorsichtig nahm er den Jutesack mit der Flasche, ging auf leisen Sohlen zur Küchentür und drückte sie auf. Nicht das geringste Geräusch.

„Da sind Sie ja. Wird auch Zeit.“

Sie saß neben dem Fenster, durch das der Mond ein Viereck auf die Bretter warf.

„Ja, ich gehe. Ich muss.“

„Ich weiß.“

„Und ich brauche etwas zu essen für den Weg.“

Sie stand auf und ging zum Tisch.

„Ich habe schon was vorbereitet. Hier.“

Er blieb auf der Schwelle stehen.

„Nun kommen Sie schon“, sagte sie ungeduldig und hielt ihm etwas Eingewickeltes entgegen. Schnell machte er die wenigen Schritte, nahm die Päckchen und verstaute sie in seinem Jutesack.

„Danke“, sagte er schließlich, „für alles.“

„Hinter der dänischen Grenze kommt ein Fluss, in einem Nebenarm liegt ein einzelnes Boot, es heißt Julia. In der Kajüte können Sie schlafen und warten. Der Besitzer kommt regelmäßig, Simon, er wird Ihnen helfen.“

„Danke.“

Er überlegte, ihr die Hand zu reichen, aber dann war die Gelegenheit vorüber. Sie wandte sich ab und ging zurück zu ihrem Stuhl.

PAUL

Zwei Tage später

Sie waren alle da, 34 insgesamt, Muttertiere und Lämmer, weit verstreut auf der Salzwiese und dem Deich. Paul setzte sich ins halbhohe Gras und schaute auf das graue Wasser hinaus, auf den silbrigen Sonnenstreifen und die Böen, die als dunklere Flecken von links kamen und nach rechts verschwanden.

Seit drei Jahren kam er fast täglich hierher, um nach den Schafen zu sehen oder einfach nur so. Vorher in Husum hatte er mit der Landwirtschaft nichts am Hut gehabt, genau wie die Mutter. Jetzt, bei Tante Anna auf dem Hof, war es anders. Er musste helfen und er wollte helfen. Inzwischen war er eine volle Arbeitskraft, wenn er nicht gerade in der Schule hocken und Faust oder Thermodynamik pauken musste. Schon deshalb würde man ihn niemals vor die Tür setzen. Nicht, dass die Tante das vorhatte, aber trotzdem.

Der Wind strich ihm warm über das Gesicht. Das Gras war in den letzten Tagen dunkler geworden, es war jetzt Sommer oder wenigstens eher Sommer als Frühling. In letzter Zeit achtete er auf solche Sachen genauer. Die Sicht war gut, die meisten Halligen und Inseln hoben sich als graue Streifen ab, Gröde, sogar Hooge, und natürlich Pellworm und Nordstrand.

Nicht zu erkennen von diesem Platz aus war Südfall. Was für eine merkwürdige Frau, diese Halliggräfin. Es gab so viele Gerüchte über sie, dass man Bücher damit füllen konnte. Im ersten Krieg sollte sie eine große Pferderochade mit ein paar Leuten von den anderen Inseln organisiert haben. Wenn jemand von den Streitkräften rüberkam, um die Pferde zu mustern und einzuziehen, waren sie gerade auf einer anderen Insel, weil da angeblich mehr Gras auf den Flächen stand. Und dem Postboten sagte sie immer wieder klar und deutlich, was sie dachte, zuletzt über den Bürgermeister: „Der und seine Bagage. Was für ein Gesindel.“ Und trotzdem ließ man sie in Ruhe. Es war schon ein starkes Stück, dass jemand so was ungestraft sagen konnte.

Seit einigen Tagen gab es noch mehr Luftangriffe als vorher, riesige Geschwader überquerten das Wattenmeer auf dem Weg nach Hamburg und Berlin. Ein paar der Bomber lagen jetzt irgendwo im Schlick, große Dinger angeblich, mit sieben Mann Besatzung. Die meisten tot. Erschlagen oder ertrunken. Geschah ihnen nur recht.

Paul ließ sich rückwärts ins Gras sinken und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Ertrunken, die Antwort gab er immer in der Schule und der HJ. „Und deine Mutter?“ – „Ertrunken.“ Danach noch ein fester Blick in die Augen und schon hörten sie auf zu fragen, egal wer es war.

Lange hatten ihm solche Fragen, so seltsam das auch war, wenig ausgemacht, als ginge es um die Mutter eines anderen, und er war hierher auf den Deich gekommen, ohne an sie zu denken. Aber jetzt setzte er manchmal alles daran, sich an Einzelheiten zu erinnern, an ihre Augenbrauen, an ihre energischen Bewegungen in der Küche, obwohl das manchmal so wehtat, dass ihm die Augen brannten.

Energisch war die Mutter auch beim letzten gemeinsamen Frühstück gewesen, vor bald drei Jahren. Er hatte ihr ansehen können, wie schlecht es ihr ging. Sie konnte nicht viel geschlafen haben, wirkte fahrig, wie mit was anderem, was Wichtigem beschäftigt, und doch riss sie sich zusammen und fragte ihn nach der Schule und seinen Plänen für den Nachmittag. Er antwortete kaum, noch müde und wortkarg. Sie fragte trotzdem weiter und sprach vom Sommer, der jetzt endlich da war, und vom warmen Wasser der Nordsee. Warum redet sie so viel, sie ist doch auch müde, dachte er vage und zwang sich, ausführlicher zu antworten.

„Die HJ macht Spaß, ich krieg bald meine eigene Gruppe mit Pimpfen.“

„Schön. Ein bisschen Macht für meinen Sohn.“

Sie lachten.

„Und in der Schule ist alles in Ordnung so weit. Die Lehrerin in Deutsch ist die beste. Ganz schön gefühlsduselig, wenn’s um Gedichte geht. Aber tausendmal besser als der alte Lehrer.“

Die Mutter grinste, bevor sie wieder die Augenbrauen zusammenzog und den Teelöffel konzentriert auf dem Tellerrand balancierte.

Paul sprang aus dem Gras auf und zählte die Schafe noch einmal. Alle da, ganz sicher. Er schüttelte den Kopf und rieb sich die Stirn. Die anderen aus der Klasse meldeten sich zur Front und er lag im Gras, grübelte und walzte trübe Erinnerungen aus, als brächte das irgendwas außer schlechtem Schlaf. Tante Anna wollte ihn nicht die richtige Uniform anziehen lassen. Wenn er davon anfing, sah sie aus, als wollte sie ihn schütteln oder wäre bereit, für immer mit ihm zu brechen.

Lena meinte, es sei richtig zu Hause zu bleiben. Sie war seit einem Jahr in seiner Klasse, vom Lyzeum herübergewechselt, durch irgendeine Sonderregelung. „Mach erst die Schule fertig und die Ausbildung zum Offizier. So wirst du für unser Land viel wertvoller.“ Niemals sagte Lena „für unseren Führer“ wie die anderen, sie machte nicht mit bei diesem Heiligenzirkus. Es war immer gut mit ihr zu reden, interessant, besser als das übliche Sprücheklopfen unter Jungen, das ihm inzwischen zu den Ohren rauskam.

Paul atmete zweimal tief ein und ging den Deich hinunter in Richtung Salzwiesen, um nach dem Tier mit der Wunde zu gucken. Mitten im Außendeich stand auf einer kleinen Warft ein Schuppen für die Schafe, als Schutz bei Schlechtwetter und übertretender Flut. Vor einem Jahr hatte sich ein geflohener Fremdarbeiter in dem windschiefen Gebäude versteckt, sich einfach nur in eine dunkle Ecke gedrückt. Wer weiß, ob sie ihn auch erwischt hätten, wenn er sich oben im Gebälk auf den Brettern versteckt hätte. So jedenfalls hätte Paul es gemacht.

Das Tier mit der Wunde, ein langbeiniges mit dunklem Kopf, war nirgendwo zu sehen. Paul zählte noch einmal, 33. Also war es im Schuppen oder dahinter. Er ging hinüber und schaute zur Tür hinein. Da stand es, drehte sich nach ihm um und kam ihm vertrauensvoll entgegen. Die Schafe kannten ihn und wussten, dass er meistens was dabeihatte, einen mehligen Apfel oder ein paar Körner Schrot.

Paul fütterte das Tier, betastete die sauber verschorfte Wunde an der Schulter und schaute aus den Augenwinkeln in die Ecken und nach oben in den Dachstuhl. Nichts, der Schuppen war leer.

Bald war Melkzeit. Er machte sich auf den Rückweg, um vorher noch was zu essen. In letzter Zeit war er ständig hungrig. Hungrig und irgendwie unruhig und – wenn er ehrlich war – mit den Gedanken bei Lena. Sie waren jetzt seit fast einem Jahr Freunde, gute Freunde, aber nicht mehr, auch wenn sie von den Schulkameraden ständig aufgezogen wurden.

„Quatsch keine Opern, du bist in sie verschossen.“ Lorenz hielt sich zurück, wenn es in der Schule Sprüche hagelte, aber wenn sie allein waren, nahm der Freund kein Blatt vor den Mund. „Du bist nur zu blöd, es zu kapieren.“ Man konnte gar nicht anders als mitzulachen, wenn Lorenz in Fahrt kam. Jetzt lag er irgendwo im Osten in einem Schützengraben und machte dort seine Witze, da konnte man sicher sein. Oder er war schon tot. So stellte er sich ihn immer wieder vor, tot wie die Mutter, wie vielleicht auch der Vater. Eine Granate, ein blutüberströmter Lorenz, nachrückende Russen, die an ihm vorbeiliefen. Er hatte sich freiwillig gemeldet und damit nur das getan, wovon sie beide schon lange redeten. Und trotzdem: Er war weggegangen, wie alle, die ihn wirklich kannten.

Die beiden alten Knechte sah Paul schon von Weitem auf der Weide hinterm Obstgarten. Sie hatten ohne ihn mit dem Melken angefangen. Schnell lief er nach drinnen, zog sich eine Jacke über und schlang im Stehen eine trockene Scheibe Brot hinunter. Zuspätkommen war schließlich nicht seine Art, er war bekannt für strikte Pünktlichkeit, auch wenn sie in letzter Zeit etwas gelitten hatte.

Normalerweise mochte er das Melken gern, aber heute brauchte er eine Weile, bis er einigermaßen zur Ruhe kam und den Blick schweifen lassen konnte. Pappelsamen schwebten durch die Luft, beinahe so zahlreich wie die Schneeflocken im Winter, wenn ein Schauer zögerlich begann.

Leider richteten die Knechte es häufig so ein, dass sie nebeneinander arbeiten und dabei reden konnten. Er kannte niemanden, der so viel redete wie Dieter und Hermann. Sie plapperten und tratschten ohne Pause. Heute hatten sie die Stimmen gesenkt und man konnte weghören.

Weit oben im sanften Blau kreisten zwei Bussarde. „Es ist doch wirklich ein schönes Land“, hatte die Mutter mal gesagt und er hatte genickt, an einem warmen Sommerabend an ihrer Badestelle am Hafen. Wenn sie so etwas sagte, konnte man ihr Fragen stellen. Sie lächelte, antwortete geduldig und zog genussvoll an ihrer Zigarette. Und trotzdem musste man wachsam sein. Ihre Stimmung konnte jederzeit umschlagen und sie Dinge sagen lassen, an die man sich später lieber nicht erinnerte.

Diese Wachsamkeit, die kannte Paul auch vom Vater, als der noch bei ihnen gewohnt hatte. An manchen Tagen redeten die Eltern in Ruhe und Frieden miteinander und lachten ausgelassen, bis sie ins Bett gingen. An anderen hörte man die Mutter plötzlich verletzende Dinge zum Vater sagen, wie aus dem Nichts. „Du bist so eine Memme.“ An den Satz konnte sich Paul noch mit Bestimmtheit erinnern, genauso wie an die Reaktion des Vaters. Er hatte den Blick gesenkt und es gut sein lassen. Wie hatte sich Paul für ihn geschämt und sich in den Jahren danach geschworen, niemals so zu werden wie er.