Halber Löwe - Johannes Herwig - E-Book

Halber Löwe E-Book

Johannes Herwig

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Beschreibung

Für Sascha beginnt das letzte Schuljahr. Abhängen im Abbruchhaus, Mutproben mit seinen Kumpels, die immer gefährlicher werden: Sieht so der Rest seines Lebens aus? Und dann passiert etwas. Etwas, das alles, was war, zerschlägt und alles infrage stellt, was noch sein kann. Sich weiter wegducken – unmöglich. Rau im Sound der Straße, darunter voller Herz: Johannes Herwig erzählt in seinem neuen Roman von einer Freundschaft, die scheinbar über allem steht, und von der Schwierigkeit, Verantwortung zu übernehmen. Für die, an denen einem was liegt – und für sich selbst.

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JOHANNES HERWIG

HALBER LÖWE

When I wrote about partiesSomeone always diedWhen I tried to write happyYo I knew I lied

Ice-T

Inhalt

FRÜHLING

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

SOMMER

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

HERBST

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

WINTER

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Über den Autor

FRÜHLING

1

Ein Friedhof war kein guter Ort zum Scheißebauen, aber dafür hatten die Jungs und ich ja den Rest der Stadt.

»Und wo müssen wir jetzt hin? Lass mich bloß nicht allein! Hier verläuft man sich ja.« Jarno spuckte auf den Boden, was ich irgendwie blöd fand, aber er machte das ständig. Wir nannten ihn nur Jörn, denn Jarno, das war nun wirklich kein normaler Name. Beim Aussprechen verrenkte man sich glatt den Kiefer, darauf hatten die anderen und ich keinen Bock.

»Einfach mir nach«, sagte ich. »Ist noch ein bisschen.« Jarno rückte sein Basecap zurecht. Neben seinem Ohr lugte ein Stück von der Stelle hervor, wo sie ihn letztens genäht hatten. Der Typ vom Wachschutz hatte sich dort mit seinem Schlagstock verewigt. Und sich danach fast in die Hose gemacht, als ihm Engel, unser Senior, seine Knarre an den Kopf gehalten hatte. Zur Klärung der Situation sozusagen.

Ich kannte den Friedhof gut, aber ich kam nach wie vor nicht gern her. All die Toten. Lagen hier einfach so unter der Erde. Friedlich, oder vielleicht stinksauer, wer wusste das schon. Die Steine auf ihren Gräbern gaben wenig preis: wie alt sie geworden waren, in welcher Zeit sie gelebt hatten, vielleicht der Beruf und irgendein Spruch, der die Hinterbliebenen tröstete. Die Größe vielleicht noch ein Hinweis, wie es mit der Kohle ausgesehen hatte.

Mein Vater war einer von ihnen. Wirklich mehr als über all die anderen, die hier lagen, wusste ich über ihn aber auch nicht. Immerhin, jetzt im Frühling war der Südfriedhof eine echte Wucht. Bäume und Büsche blühten in den prächtigsten Farben; Pflanzen, die es nirgendwo sonst in der Stadt gab und von denen ich auch keine Ahnung hatte, wie sie hießen, säumten die Wege. Überall wuchs Rhododendron, meterhohe Sträucher mit Blüten, die wie Bälle aussahen. Diesen einen Namen hatte ich mir mal gemerkt, auch wenn ich noch immer nachschlagen musste, wie man ihn schrieb.

Die Anlage war mehr Park als Friedhof. Riesengroß und fast romantisch, an manchen Stellen zumindest. Ich nahm an, dass hier auch jede Menge berühmter Leute lagen.

Der Pfad ging in einen Weg über, auf dem sich Risse durch den Beton zogen, geformt wie die Äste von kahlen Bäumen. Wir liefen an Gräbern vorbei, eingezäunt von kleinen, rostroten Gittern. Von Gestrüpp überwucherte Grabsteine, auf denen man die eingravierten Namen nur noch erahnen konnte. Weiter hinten gab es richtige Tempel, die Ruhestätten ehemals sicher reicher Säcke. An anderen Stellen des Friedhofs standen die Gräber dagegen dicht an dicht, Felder aus kleinen Kreuzen, Steinen und Statuen.

»Für Engel überlegen wir uns diesmal was richtig Mieses, okay?«, sagte Jarno und kratzte sich, bewusst oder unbewusst, an der langsam abheilenden Wunde. Sie hatte ein bisschen was von einem großen Tausendfüßler, der ihm über den Kopf huschte. »Geht mir mordsmäßig auf die Eier, dass der immer mit den dreckigen Ideen daherkommt, selbst aber mit Samthandschuhen angefasst wird.«

»Noch angepisst?«, fragte ich. Jarno zog die Nase hoch und spuckte wieder auf den Boden.

»Ach, geht«, sagte er. »Aufgabe ist Aufgabe. Nur ungerecht, dass es gerade unser Opa immer so leicht hat. Weil wir so nett sind.« Er grinste, aber seine Augen blieben hart. »Timo hat Einspruch erhoben. Er ist dagegen, Engel zu … wie hat er gesagt? Ach ja, zu provozieren.« Jarno nahm das Basecap ab, fuhr sich durch die Haare und setzte es wieder auf. »Was für ein Scheiß.«

»Bin dabei«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass die Reihe nach Engel an mir war. Ein hartes Ding für ihn könnte ein dreimal so hartes für mich bedeuten. Das Ganze lief so ab: Drei von uns überlegten sich, was derjenige, der dran war, für eine Mutprobe zu leisten hatte. Immer nacheinander: Timo, Jarno, Engel und ich. Das machten wir jetzt schon seit Jahren. Je älter wir wurden, desto fieser wurden die Dinger allerdings. Zu nicht kleinen Teilen lag das an Engel, der sich mit seinen Vorschlägen meistens durchsetzte. Und ohnehin immer bekloppter wurde. Jarno grinste, diesmal war es ein zufriedenes Grinsen.

»Auf dich ist Verlass, Sascha«, sagte er. »Sind wir dann jetzt bald mal da? Das macht mich irgendwie fertig hier.«

»Vor dem Pavillon nach links«, sagte ich. »Und was du dich überhaupt beschwerst. Gehen wir zu deinem Vater oder zu meinem?« Jarno murrte etwas, das ich nicht verstand.

»Hast ja recht«, sagte er dann. »Sorry.« Von dem betonierten Weg führte ein wieder schmaler werdender Pfad über ein Stück Wiese. An dieser Stelle des Friedhofs sahen die Gräber fast alle gleich aus, die ordentlich aufgereihten Grabsteine eher unscheinbar, doch das meines Vaters konnte ich trotzdem schon von Weitem erkennen. Ein Stück daneben tappte eine Krähe über das Gras, schlug kurz mit den Flügeln, als wollte sie vor Jarno und mir davonfliegen, und hüpfte dann hinter einen Baum.

»Tja, da wären wir«, sagte ich. Auf dem Grabstein meines Vaters war nicht viel zu lesen, Geburts- und Sterbedatum und sein Name. Ich verband nicht viel mit diesem Ort. Vielleicht, weil er schon so lange tot war. Ich nur das Gefühl der Leere kannte, nicht das Gefühl des Verlusts. Trotzdem hatte es immer etwas Beklemmendes, hier zu sein. Als wäre hier doch noch irgendetwas von ihm da. Etwas, das von diesen drei, vier Quadratmetern Wiese nicht wegkonnte und mich immer etwas vorwurfsvoll ansah, weil ich mich so selten blicken ließ.

»Na dann«, sagte Jarno und tippte wie zur Erinnerung an die Blumen in meiner Hand. Ich riss das Papier ab, das meine Mutter um den Strauß gewickelt hatte.

Alles Gute zum Geburtstag, sagte ich in Gedanken. Eine Weile stand ich nur so da, das Papier, das im leisen Wind raschelte, in meiner linken Hand, die Blumen in meiner rechten. Ich hoffe, dir geht es gut. Wo auch immer du gerade bist. Ich hätte gern noch was Tiefsinnigeres angefügt, doch mein Kopf blieb leer. Jarno schwieg, die Hände in den Hosentaschen. Ich lehnte den Strauß an den Grabstein, bemüht, nicht auf die Fläche direkt davor zu treten. Die Blumen rutschten ein wenig, blieben aber stehen.

Wie heute hatte bei der Beerdigung die Sonne geschienen. Es war warm gewesen, schon am Morgen, und die Erwachsenen hatten geschwitzt in ihren schwarzen Klamotten. Ansonsten wusste ich nicht mehr viel von diesem Tag. Ein paar Erinnerungen, Standbilder, praktisch nichts Zusammenhängendes. Aber diese eine Sache, die war nie wirklich weggegangen. Dieses Gefühl, das sich schwer beschreiben und schwer begreifen ließ, zumal wenn man es als so kleiner Junge erlebt hatte. Eine Art Wut, auch wenn es das nicht ganz traf. Ich hatte einfach nicht verstehen können, warum um uns herum ein so schöner Tag war, warum die Sonne strahlte und die Vögel sangen – wenn wir doch traurig waren. Es war schwer gewesen, mit dieser Entrüstung, diesem Zorn oder was auch immer umzugehen. Und die Erwachsenen, die an mir herumgetätschelt hatten, von Beileid oder Anteilnahme gefaselt hatten, obwohl ich gar nicht wusste, was das sein sollte, hatten mir nicht im Geringsten geholfen.

»Na los, Keule«, hörte ich plötzlich Jarnos Stimme. »Die Toten brauchen uns nicht.« Er boxte mir in die Schulter, sanft, für seine Verhältnisse zumindest. Wahrscheinlich hatte er damit sogar recht. Wahrscheinlich brauchten die Lebenden die Verstorbenen mehr. Ich schloss die Augen, merkte, wie in mir irgendwas emporstieg, etwas, das den Hals eng und das Atmen schwer machte, und öffnete sie schnell wieder. Ich hatte noch nie geheult, außer als Knirps vielleicht, da würde ich jetzt bestimmt nicht wieder damit anfangen. Jarno spuckte auf den Boden, immerhin Richtung Weg, nicht Richtung Grab.

»Ist wohl so«, sagte ich. Hinter uns neben einer Bank stand ein rostiger Abfallkorb. Ich knüllte das Papier zusammen und warf es hinein. Jarno streckte sich. Wir liefen eine Allee entlang zum Ausgang. Durch die Bäume konnte man das Völkerschlachtdenkmal sehen. Von oben hatte man einen großartigen Blick über die Stadt. Letztens hatte ich Jacky mitgenommen, als wir an einem Sonntag mal wieder allein gewesen waren, und war ganz stolz gewesen, wie sie die ganzen Treppen mit ihren kleinen Beinchen geschafft hatte.

»Wieso hat deine Mutter das Gemüse eigentlich nicht selbst gebracht?«, fragte Jarno, während wir den Weg entlangschlurften, Wölkchen aus Staub unter unseren Schuhen.

»Doppelschicht«, sagte ich. Wie so oft, wenn sie den Nachmittag gern frei gehabt hätte, fügte ich an, auch das nur in Gedanken. »Sind schon wieder alle krank, oder was weiß ich.«

»Krankenhaus eben. Wie der Name schon sagt.« Jarno grinste, aber ich sparte mir, auf seinen müden Witz zu reagieren. Am Osttor vom Messegelände, wo das große Doppel-M stand, trennten wir uns.

»Heute Abend am Treffpunkt?«, fragte Jarno. »Zum Pläneschmieden? Da ist Engel beim Fußball. Timo kommt auch. Seine Memmentour, die treiben wir ihm schon noch aus.« Ich murmelte etwas Zustimmendes.

»Wird aber später«, sagte ich. »Muss warten auf meine Mutter. Kann meine Schwester nicht allein lassen. Weißte ja.«

»Halbschwester«, verbesserte Jarno.

»Was auch immer.« Wir verabschiedeten uns mit dem Cliquengruß, klatschende rechte Hände und aneinandergeschlagene Schultern. Dann beeilte ich mich. Es war kurz vor fünf, kurz bevor sie im Kindergarten von Jacky Feierabend machten.

2

Unser Kühlschrank war so leer wie mein Kopf beim mündlichen Mathetest. Ein schlappes Bund Radieschen, Reste einer Großpackung Käse (Variation in Scheiben), in der Tür Ketchup und ein einsames Ei. Ich klappte die Tür wieder zu. Die Sachen würden knapp für den nächsten Morgen reichen, für das Abendbrot musste ich mir was anderes einfallen lassen. Ich durchwühlte den Schrank. Mit Mehl oder Puddingpulver oder Kuvertüre (was war da eigentlich der Unterschied zu Schokolade?) war nichts anzufangen, aber hinten versteckte sich noch eine Packung Spaghetti.

»Nudeln mit Ketchup?«, schrie ich in Richtung unseres Zimmers. Jacky hatte das Radio aufgedreht und plärrte in einer Sprache, die sie wohl für Englisch hielt, irgendeinen Popsong mit. Sie unterbrach ihre Show, kam in die Küche gerannt, nickte wie ein Wackeldackel mit dem Kopf, sodass ihre widerspenstigen Locken hin und her flogen, und rannte wieder weg. Ich wusch den einen großen Topf, den wir besaßen, sowie zwei Teller und Besteck ab, rückte den restlichen Stapel Geschirr neben dem Becken ein Stück zusammen und feuerte den Gasherd an. Die Flammen zischten, als ich den noch nassen Topf mit Wasser aufsetzte.

Wenig später saßen wir vor unseren dampfenden Spaghetti. Jacky rupfte sich eine Scheibe Käse klein, die ich ihr zugeteilt hatte, und schüttete, die Flasche in beiden Händen, großzügig Ketchup über das Ganze. Sie wusste, dass ich es nicht so genau nahm wie Mama.

»Zopf!«, sagte ich mahnend, als sie schon reinhauen wollte, die Spitzen ihrer Haare fast auf dem Teller. Sie verdrehte die Augen, schmiss die Gabel auf den Tisch, rannte noch einmal in unser Zimmer und kam mit halbwegs ordentlich zusammengebundenen Locken zurück.

»Wann kommt Mama? Gucken wir dann noch Sandmann?«, fragte sie ohne Punkt und Komma, den Mund voller Spaghetti.

»Nach acht. Wenn du schon schläfst, jedenfalls«, antwortete ich. »Und ja, das machen wir.«

»Und liest du mir auch noch vor?« Jacky sah mich hoffnungsvoll an. Ich war froh, wenn unsere Mutter das machte. Diese niedlichen Geschichten von irgendwelchen Tieren, die gemeinsam jedes Problem lösten, wenn sie nur zusammenhielten, gingen mir ziemlich auf den Geist. Ich wusste nicht, warum man kleine Kinder immer für so dumm verkaufen musste. Das sagte ich natürlich nie laut, aber Jacky spürte wohl manchmal meine fehlende Begeisterung.

»Ich kann das nicht so gut«, hatte ich hin und wieder als Entschuldigung hervorgebracht. Meistens riss ich mich aber zusammen.

»Logisch«, sagte ich und klaute ihr ein Stück Käse vom Teller.

»Meiner«, rief Jacky.

»Jetzt nicht mehr«, rief ich zurück. Wir grinsten uns an.

Nach dem Essen räumte ich den Tisch ab, während Jacky sich umzog und ihre Zähne putzte, das Abendprogramm bekam sie schon allein auf die Reihe. Ungeduldig mit ihren nackten Füßen auf dem Polster trommelnd, saß sie im Schlafanzug auf dem Sofa, als ich in die Stube kam.

»Anschalten«, krähte sie. Der Fernseher war tabu, nur Mama und ich durften da ran, und ich fand es recht angenehm, dass es darüber auch keine Diskussionen gab. Ich brachte das Gerät zum Laufen. Es stammte noch aus der DDR und war eine ziemliche Möhre, aber für diesen ganzen glitzernden Kram in den Kaufhäusern und in der Werbung fehlte uns schlicht die nötige Kohle. Der neueste Schrei waren ja jetzt diese PCs und Wunder was für tolle Spiele, ich schaltete regelmäßig auf Durchzug, wenn es in der Schule mal wieder darum ging. Es war zwecklos, meine Mutter nach so etwas zu fragen, daher blieb mir auch gar nichts anderes übrig, als auf desinteressiert zu machen. Wenigstens musste ich mir nicht auch noch blöde Sprüche anhören. Letztes Jahr hatten mich ein paar aus der Zehnten wegen meiner ausgelatschten Treter angemacht, ein paar hochnäsige Wichser mit Alpha- und Replay-Jacken, alle mit den gleichen blank gerubbelten New Balance, als hätten sie zusammen einen Schuhladen überfallen. Am nächsten Tag waren Jarno, Engel und so ein durchgeknallter Typ, ein Drogenopfer, das Engel noch einen Gefallen geschuldet hatte, in der großen Hofpause an die Schule gekommen und hatten die gesamte Truppe vor versammelter Mannschaft zusammengelegt. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Die Geschichte hatte heftig die Runde gemacht, obwohl ich bei meiner Vorladung zum Direktor natürlich jede Verbindung abgestritten hatte. Was konnte der Sack mir schon. Jedenfalls war nun bekannt, dass man mir in der Öffentlichkeit besser nicht dumm kam, und was die ganzen Idioten über mich und meine Freunde dachten, konnte mir sowieso gestohlen bleiben.

Wir schauten den Sandmann. Jackys Blick klebte am Bildschirm, ich selbst ließ mich berieseln. Auch diese Sendung war irgendwie Quatsch, aber auszuhalten, sie ging ja nur zehn Minuten. Und natürlich hatte auch ich das als Kind geguckt. Leute wie Engel taten ja gern so, als wären sie schon mit der Kippe im Mundwinkel und der Simson unter dem Arsch auf die Welt gekommen. Nachdem das Männchen im Fernseher seinen Schlafsand gestreut hatte, rieb sich Jacky theatralisch die Augen und streckte sich lang auf dem Sofa aus.

»Na komm schon, du Faulpelz«, sagte ich. In unserem Zimmer ließ ich die Jalousien ein Stück herunter. Es blieb jetzt abends wieder länger hell, die dunkle Jahreszeit war vorüber. Jacky kam aus der Stube geschlurft und kroch in ihr Bett unter den Fenstern. Mein eigenes befand sich in der Ecke neben der Tür. Ein großes Regal in der Mitte, vollgestopft mit Büchern, Spielsachen und sonstigem Kram, fungierte als eine Art Raumteiler. Damit es wenigstens den Anschein hatte, jeder hätte seinen eigenen Bereich. Sollte ich mal eine richtige Freundin haben, hatte hoffentlich sie ein eigenes Zimmer.

Ich setzte mich zu Jacky auf die Matratze. Sie kramte unter ihrer Decke.

»Hast du Ocki gesehen?«, kam es dumpf aus dem Stoffberg hervor.

»Nee«, sagte ich. Ocki war das ungefähr absurdeste Kuscheltier, das man sich vorstellen konnte, ein grüner Tintenfisch mit Glubschaugen und schwabbeligen Plüscharmen. Seit mehr als einem Jahr rätselte ich darüber, ob ihr Vater mit diesem Geschenk Humor oder nur seine Geschmacklosigkeit unter Beweis gestellt hatte. War aber letztlich auch einerlei. Jacky liebte das Ding, etwas anderes zählte nicht. Immerhin mal eine Sache, die er richtig gemacht hatte. Wir suchten im Zimmer herum, schließlich fand ich das Scheusal unter einem Berg Klamotten und Jacky schleppte es ins Bett. Ich las ein ganzes, großformatiges Buch aus der Bibliothek mit zugegeben nicht sehr viel Text. Dann durfte ich gehen.

»Gute Nacht«, sagte ich. »Bis morgen früh.« Jacky hatte sich schon von mir weggedreht, das Kuscheltier eng an ihre Brust gepresst.

»Nacht«, murmelte sie. Im Halblicht sah ich Locken und ein glotzendes Glubschauge. Einigermaßen lustlos machte ich mich in der Küche an den Geschirrstapel neben der Spüle. Abwaschen war die ultimativ langweiligste Sache der Welt, aber nach einer Doppelschicht wollte ich meiner Mutter dieses Schlachtfeld nicht zumuten. Ich ließ gerade die Brühe aus dem Becken, als der Schlüssel in der Wohnungstür klapperte. Ich hörte, wie meine Mutter ihre Jacke an die Garderobe hängte, ihre Schuhe auszog und ihre Tasche abstellte. Sie hob müde die Hand zu einer Art Gruß, als sie die Küche betrat, und haute sich auf einen Stuhl.

»Hunger?«, fragte ich. Im Kühlschrank stand noch ein Teller mit dem Rest Spaghetti.

»Später«, sagte sie. »Ich muss erst mal runterkommen. Aber danke.« Sie stand wieder auf, kam mit ihrer Tasche aus dem Flur zurück und holte eine Schachtel f6 heraus. »Was für ein ätzender Tag.« Sie klopfte sich eine Kippe zwischen die Finger, zündete sie an und blies den Rauch aus der Nase wie so ein Stier in einem Comic.

»Wer hat denn gefehlt?«, fragte ich. Meine Mutter winkte ab und strich sich ein paar kupferne Strähnchen aus dem Gesicht. Der monatliche Termin beim Friseur war eines der wenigen Dinge, die sie sich leistete.

»Frag lieber, wer nicht gefehlt hat. Steffi und ich haben das Ding quasi allein geschaukelt. Der Uhlig war heute auch unpässlich.« Bei dem letzten Wort verengten sich ihre Augenbrauen. Zwei tiefe Falten erschienen. »Dafür ist der Pfeiffer den ganzen Tag bei uns rumgesprungen, dieser Witz von einem Oberarzt. Weißt ja, wir sehr ich den gefressen habe.«

»Misch dem doch mal was in den Tee«, sagte ich. »Irgendwas, mit dem der nicht mehr vom Klo runterkommt oder so.«

»Na klar«, sagte meine Mutter, einen Anflug von Grinsen in den Mundwinkeln. »Mit Jacky alles gut gelaufen?« Ich zuckte mit den Schultern und schob ihr den Aschenbecher hin, der neben dem Toaster stand.

»Logisch.« Eine Weile schwiegen wir, das leise Ticken der Uhr an der Wand und das Knistern der Zigarette meiner Mutter waren die einzigen Geräusche in der Küche.

»Ich muss noch mal los«, sagte ich schließlich. »Zu Jörn. Falls du sonst nichts mehr brauchst. Haben was zu bequatschen.« Meine Mutter schnaubte.

»Was soll ich schon brauchen«, sagte sie. Wir sahen uns an. Dass auf die Frage keine Antwort kommen konnte, weil eine Antwort zu lange gedauert hätte, war uns wohl beiden klar.

»Lass mal gut sein, Sascha«, sagte meine Mutter und drückte ihre Kippe aus. »Komm nicht so spät.«

»Ich versuch’s.« Mit dem Kopf zeigte ich auf ihre Handtasche. »Hast du noch ’nen Fünfer für mich?« Sie suchte nach ihrem Portemonnaie. Im Scheinfach befand sich ein Zwanziger. Sie betrachtete ihn kurz, als würde sie im Kopf etwas rechnen oder irgendwas anderes überlegen. Dann fischte sie etwas Hartgeld aus dem anderen Fach.

»Mehr ist gerade nicht drin«, sagte sie. »Ich muss Carsten schon wieder wegen Jackys Unterhalt hinterherrennen. Der raubt mir den letzten Nerv.«

»Passt schon«, sagte ich und nahm die klimpernden Münzen entgegen. »Danke.« Ich wollte noch Getränke besorgen, auch Jarno und Timo waren meistens klamm. Aber für ein paar Bier würde es reichen. Manchmal beklaute Timo seinen Vater, Schmerzensgeld nannte er das, aber das ging nur, wenn sein Alter abends ausging und am Morgen nicht mehr wusste, wie viel Kohle er in der Kneipe gelassen hatte. Schoss er sich zu Hause ab, hatte Timo zu viel Schiss, ihm ans Portemonnaie zu gehen. Das ganze Thema mit dem Geld ging mir ziemlich auf den Sack, in meiner Klasse war es ein richtiger Wettstreit geworden, wer das meiste Taschengeld bekam. Ich fragte mich, wie man sich daran so aufgeilen konnte, dass die Eltern zufällig Pinke besaßen. Früher hatte das doch niemanden gejuckt.

»Du bist ja nur neidisch«, hatte Philip, der alte Schnösel und Lehrerliebling, kommentiert. Kurze Zeit später war leider seine Milch im Rucksack ausgelaufen, als er von der Hofpause wiederkam, so ein Pech.

Meine Mutter verstaute ihre Geldbörse wieder in der Tasche und nahm sich eine neue Zigarette.

»Bringst du Jacky morgen früh?«, rief sie, als ich schon im Flur war. »Abholen sollte diesmal klargehen.«

»Mach ich«, sagte ich und steckte den Kopf noch mal zur Küche herein. »Bis dann.« Meine Mutter nickte, das Gesicht in Rauchschwaden gehüllt, als würde sie durch Nebel schauen.

3

Unser Treffpunkt war eigentlich eine ganze Wohnung, drei Zimmer im obersten Stock eines Abbruchhauses, nur ein paar Straßen weiter. Der gesamte Block stand leer, der Putz an den Fassaden war praktisch nicht mehr vorhanden und die meisten Fenster eingeworfen. Oben am Abschluss des Erkers, sozusagen genau über unserem Wohnzimmer, schaute der Kopf eines Löwen auf die Straße: eine Stuckarbeit, irgendwann bestimmt einmal prächtig gewesen, nun abgebröckelt oder abgeschlagen worden wie in den Legenden um die Sphinx. Eigentlich war er nur noch halb.

Von innen hingegen war unsere Bude in einem ganz passablen Zustand. Wir hatten vor einigen Monaten mal ein Wochenende damit verbracht, den Müll rauszutragen und ordentlich durchzukehren. Dann hatten wir die anderen Wohnungen abgesucht und das Ding ein bisschen eingerichtet mit dem, was uns so in die Hände gefallen war: ein etwas modrig riechender Sessel, mehrere Campinghocker, ein wurmstichiger alter Tisch, unter den wir als Ersatz für das abgebrochene Bein zwei leere Bierkästen und ein paar Ziegelsteine gestapelt hatten.

Ich nahm einen Umweg zu dem Kiosk, der bei uns abends noch geöffnet hatte, und knöpfte dem mürrischen Verkäufer für mein Kleingeld immerhin fünf Wicküler ab, diese Wessi-Sorte, die beim Öffnen so nach Raubtierhaus roch. Die verfallende Häuserzeile glotzte dunkel auf mich herab, als ich um die Ecke bog. Um hineinzugelangen, musste man über ein rostiges Tor, von dem ich immer braune Finger bekam, in den Hof klettern. Die Haustüren waren zugemauert worden, doch die Hintereingänge standen offen. Weiß der Himmel, was das für einen Sinn machte.

Den Weg nach oben fand ich auch im Dunklen. Engel hatte mal eine ganze Weile wichtig an den Schaltkästen im Keller rumgefummelt und behauptet, dass er die Elektrik schon wieder zum Laufen bekommen würde. Es war bei der Behauptung geblieben.

Durch das Milchglas an der Tür zu unserer Bude sah ich Kerzenschein. Ich klopfte, zweimal lang, zweimal kurz. Das war unser Zeichen, um ungebetenen Besuch sofort erkennen zu können. Damit jeder auch gleich wusste, dass hier niemand außer uns was zu suchen hatte, lagen im Flur ein paar Meinungsverstärker bereit: Hammer, Basi, Profileisen. Timo kam, seinen langsamen, lustlosen Gang erkannte ich schon von draußen. Kette und Schloss klapperten, dann öffnete er. Auch in dem nur schummrigen Licht entdeckte ich eine frische Schwellung auf seiner Wange. Ich zog die Augenbrauen hoch. »Wieder Streicheleinheiten bekommen?«

Timo zuckte mit den Schultern und sah mich mit seinem trotzigen Kleinkindblick an. Seine Brikettfrisur passte dadurch noch weniger zum Gesicht als sonst.

»Das Arschloch«, sagte ich. Wir klatschten uns ab, der Gruß kam seinerseits etwas schlaff. Ich lief schon mal vor, während Timo die Tür wieder verrammelte. Jarno saß auf dem Sessel und kaute an einem Döner. Mit vollem Mund nickte er mir zu. Auf dem Tisch Verpackungsreste, leere Flaschen und ein paar Kerzen, die tanzende Schatten an die Wand warfen. In der Ecke stand ein wahres Monstrum von einem Kachelofen, im Winter hatten wir mal versucht, das Teil anzufeuern, und dann tagelang lüften müssen. Da war nichts mehr zu holen. Wer weiß, was in dem Abzug steckte.

Ich packte meine Mitbringsel aus und machte mir eine der Flaschen an der Tischkante auf. Timo kam rein und ließ sich etwas umständlich auf einen der Hocker nieder. Etwas lag in der Luft, irgendeine Spannung, und ich konnte mir schon denken, was der Grund war.

»Bier?«, fragte ich Richtung Timo, der mit verschränkten Armen und vorgeschobener Unterlippe dasaß, als wäre er die menschgewordene schlechte Laune.

»Tja, okay«, sagte er und zog die Worte dabei in die Länge, wie jemand, den ich gerade minutenlang zu irgendeiner Sache überredet hatte. Ich öffnete eine zweite Flasche und reichte sie rüber, vielleicht entspannte ihn das ja ein bisschen.

»Was gibt’s Neues?«, fragte ich nach einem kräftigen Schluck. Das Bier müffelte wie verrückt, schmeckte aber. Jarno stopfte sich das letzte Stück Brot in den Mund und murmelte etwas Unverständliches.

»Ich hab was rausgekriegt«, sagte er, nachdem er runtergeschluckt hatte. »Und dann ist mir was eingefallen. Ein echter Geistesblitz. Mal sehen, was du davon hältst.« Er schaute bedeutungsvoll zu Timo, der keine Anstalten machte, ein anderes Gesicht aufzusetzen. »Erinnerst du dich noch an den Pilei unserer früheren Schule?«, fuhr er fort und kratzte mit einem Fingernagel zwischen seinen Zähnen rum.

»Meinst du den Fummler?«, fragte ich. »Dieses alte Pädo-Schwein?« Jarno lächelte und schnippte den Krautrest, den er hervorgepult hatte, auf den Boden.

»Danke, Sascha«, sagte er. »Genau den.«

»Mit Sicherheit unvergessen.« Ich setzte mich. »Und?« Jarnos Augen funkelten. Er war überzeugt, ein echtes As im Ärmel zu haben, das konnte man sehen.

»Ich lauf da vorhin über die Ampel an der Tanke«, sagte er. »Und wer kommt mir entgegen?«

»Nee«, sagte ich und rückte ein Stück nach vorn.

»Doch.« Jarno grinste triumphierend. »Ganz genau. Der alte Salewski. Unser feiner Herr Pionierleiter. Sah echt fertig aus, der Mann.«

»Hat er dich erkannt?« Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. Er hatte die Arme auf den Sessellehnen abgelegt und schien das Ganze überaus zu genießen.

»Bin schnell vorbei, über die Straße«, sagte er. »Aber dann dachte ich mir, guckst du doch mal, wo die Pfeife hingeht. Und bin umgedreht.«

»Wie Sherlock Holmes oder so«, sagte Timo von der Seite. Er baute an einem Dübel und machte nach wie vor einen ziemlich mürrischen Eindruck. Nicht, dass das so ungewöhnlich war.

»Ach komm«, sagte Jarno und wandte sich wieder zu mir. »Also, Sascha. Halt dich fest. Der Penner ist nur zwei Ecken von der Tanke entfernt in einen Hauseingang rein. Ich warte kurz, check die Klingelschilder, und was seh ich?« Er machte eine Pause.

»Ein Schild mit dem Namen Salewski?«, fragte ich, als die Pause begann, zu lang zu werden.

»Ein Schild mit dem Namen Salewski«, bestätigte er.

»Nicht schlecht, Sherlock«, nickte ich anerkennend. »Und was ist jetzt dein Geistesblitz?« Jarno rieb sich die Hände. Nicht im übertragenen Sinn, sondern tatsächlich.

»Engel soll bei dem einsteigen«, sagte er. »Und ’n bisschen Rabatz machen. Nichts Brutales. Nur, dass sich der Mann schön in die Hose scheißt.« Er lehnte sich im Sessel zurück. »Das ist Engels nächste Aufgabe. Und die Rache am Pilei bekommen wir gratis. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Ist das nicht genial?« Jarno stand auf und nahm sich nun auch ein Bier. Timo hatte seinen Joint fertig und begann, das Zimmer mit süßlichem Rauch einzunebeln.

»Alter, ich sag’s dir noch mal. Das ist Einbruch! Ist dir schon klar, ja?«, maulte er. Jarno öffnete die Flasche mit einem Feuerzeug und winkte ab.

»Wär doch nicht unser erstes Mal.«

»Ja, aber in eine Privatwohnung?«, sagte Timo und schüttelte den Kopf, während der Qualm aus seinem Mund nach oben stieg wie bei einem Räuchermännchen. »Engel ist volljährig. Wenn der erwischt wird, ist die Kacke aber am Dampfen.«

»Weißt du, was ich glaube?«, fragte Jarno und hielt Timo die Hand entgegen, damit der ihm den Dübel weiterreichte. »Ich glaube«, fuhr Jarno fort, »dass du endlich mal aufhören solltest, vor Engel Schiss zu haben. Der ist nicht dein Vater. Und der kann ruhig auch mal ’n bisschen schwitzen. Spätestens nach dem Ding mit der Lagerhalle ist das nur recht und billig.« Er tippte auf die genähte Wunde unter seinem Basecap und nahm einen tiefen Zug vom Joint. »Sascha findet das auch«, fuhr er mit halb erstickter Stimme fort und blies dann den Rauch aus. »Stimmt doch, Sascha, oder? Sag doch auch mal was.« Ich sah zu Timo, der Jarno mit einem kühlen Blick bedachte. Dass er so ein Typ war, für den das Glas immer halb leer statt halb voll war, hieß nicht, dass er nicht auch in die Luft gehen konnte.

»Ich finde, wir sollten das zusammen entscheiden«, sagte ich, um die Wogen ein bisschen zu glätten. »Aber ich find’s schon irgendwie geil, die Idee. Schon allein wegen Engels Gesicht.« Jarno hielt mir den Joint hin, ich schüttelte den Kopf. Er gab an Timo zurück.

»Guck mal, Timo«, sagte er. »Den Engel zwingt doch niemand, die Aufgabe anzunehmen. Die Verantwortung trägt er selbst. So läuft das. So läuft das bei jedem von uns.«

»Als ob das so einfach wäre.« Timo klopfte den Ascheberg, der sich vorn an dem Dübel gesammelt hatte, in eine der Styroporpackungen auf dem Tisch. Jarno verdrehte die Augen und setzte sich wieder in seinen Sessel. Dann sah er mich auffordernd an.

»Hast du denn einen anderen Vorschlag?«, fragte ich Richtung Timo, während der neue Rauchschwaden ausstieß.

»Wozu die Diskussion«, sagte er zwischen zwei Zügen. »Ihr seid euch doch schon einig.«

»Blödmann«, sagte Jarno. Ich hielt mich an meinem Bier fest und schwieg. Draußen, wahrscheinlich vorn auf der Hauptstraße, röhrte irgendeine getunte Karre mit definitiv überhöhter Geschwindigkeit vorbei. Timo drückte den Joint aus und verzog die Lippen zu einem winzigen Lächeln.

»Ich geb’s ja zu«, sagte er. »Die Sache hat schon was.«

»Aber erst einmal rummosern«, sagte Jarno und schnitt eine Grimasse. Timo zeigte ihm den Mittelfinger.

»Von mir aus tragt Engel das Ding auf«, sagte er. »Aber ich sag euch, wie es ist. Ich hab kein gutes Gefühl dabei. Denkt dran, wenn was schiefläuft.«

»Schiefgelaufen ist schon letztes Mal was«, sagte Jarno und zeigte erneut auf seinen Kopf, zog sogar das Cap herunter.

»Das wird wieder. Aber so was meine ich nicht.«

»Was denn dann?«, fragte Jarno, nahm sein Bier zwischen Zeige- und Mittelfinger und setzte den Flaschenhals an den Mund.

»Keine Ahnung«, sagte Timo. Sein Lächeln war wieder verschwunden. Vielleicht war es auch nie da gewesen.

4

Die Show stieg am ersten Samstag im Mai. Engel selbst hatte mal die Regel ins Spiel gebracht, dass die Aufgaben immer am ersten Samstag eines Monats gemacht werden sollten. Vielleicht, damit es einen festen Termin gab und sich keiner drücken konnte.

Seinen Auftrag hatte er mit unbeteiligter Miene entgegengenommen, aber ich blickte bei dem Kerl einfach nicht durch. Mal bekam man von ihm einen ganzen Abend lang dumme Sprüche, mal machte er auf besten Kumpel, lud zum Filmegucken bei sich ein und spendierte Schnaps. Wir waren schon irgendwie ein seltsames Gespann, Jarno, Timo, er und ich, Jungs aus dem Viertel, die vielleicht nur deshalb miteinander abhingen, weil sie schon immer miteinander abgehangen hatten (oder niemand anders mit ihnen abhängen wollte). Aber es schweißte wohl zusammen, dass man schon als Kind gemeinsam die Pioniernachmittage geschwänzt hatte und Engel, damals noch der zweimal sitzen gebliebene Steve, mit von seinem Vater geklauten Kippen an der Mauer hinter dem Spielplatz vorbei gekommen war.

Wir machten unser Ding, hatten wir schon immer gemacht, und wir hatten auch noch nie lang gefackelt, wenn jemand das Maul aufriss und uns dumm kam. Selbst die großkotzigen Glatzen, die mit ihren tiefergelegten Karren an der Tankstelle rumlungerten, sobald es dunkel wurde, und sich wie die Könige der Nacht vorkamen, hielten die Klappe, wenn wir dort unser Bier holten. Auf der Straße interessierte es auch keinen, dass wir sonst nicht viel auf die Kette bekamen – sei es in der Schule oder wie bei Engel mit seiner nach einem halben Jahr abgebrochenen Ausbildung zum Elektriker.

Die Bude von Salewski hatte zum Hof raus einen Balkon, auf den man locker mit einer Räuberleiter kam, das hatten wir schon gecheckt. Der Plan war, bis mindestens Mitternacht zu warten, also bis die meisten Leute schlafen gegangen waren. Wir hockten in unserer Bude, der Abend war warm und roch nach Sommer, aber vor so einer Aktion wollten wir uns lieber nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Engel saß auf dem Fensterbrett, den Rücken am Rahmen, ein Bein draußen.