Scherbenhelden - Johannes Herwig - E-Book
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Scherbenhelden E-Book

Johannes Herwig

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Beschreibung

Leipzig, 1995. Die Stadt ist im Umbruch. Nino lebt allein mit seinem Vater und hat die ganz normalen Probleme eines Fünfzehnjährigen. Stress in der Schule, erste Beziehungen. Gemeinsam mit seinem besten Freund Max wird er eines Tages beim Klauen erwischt und von einer Gruppe Punks rausgehauen, die bald sein neues Zuhause wird. Neuer Ärger kommt dazu: Konflikte mit seinem Vater, Gefühle für ein Mädchen mit dunklem Geheimnis und die tägliche Bedrohung durch Neonazis, die überall zu sein scheinen. Außerdem will Nino endlich wissen, warum seine Mutter ihn und seinen Vater kurz vor dem Mauerfall zurückgelassen hat

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Für uns

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Der Winter schläft irgendwo in Grönland.

Der Frühling schickt dir einen Blumenstrauß.

Deine Stadt hat fünfhundert Straßen.

Doch die beste führt aus ihr heraus.

AufBruch

Prolog

Typen wie uns um diese Zeit noch ins Gebäude zu lassen, stand mit Sicherheit nicht in der Dienstanweisung des Pförtners. Er saß hinter seiner Glasscheibe und musterte Kante, Schröder, Zombie und mich wie ein alter Gorilla seine Rivalen.

»Unser Kumpel ist zu Besuch.« Schröder zog Kante neben sich, um die Masche abzuziehen, die wir uns eben auf der Straße überlegt hatten. Kantes unzählige Ohrringe klirrten. »Dürfen wir?«, fragte Schröder. »Ihm die Stadt von oben zeigen? Dauert nicht lang! Hand drauf!« Er lächelte breit wie ein Türrahmen. Mit seiner Harrington-Jacke und der Glatze hätte er noch am normalsten von uns ausgesehen, wenn nicht die schwarze Augenklappe gewesen wäre. Die meisten nannten Schröder nur den Piraten. Der Pförtner zögerte, dann schaute er auf die Uhr.

»Zehn Minuten.«

»Ist ein Wort!« Schröder klatschte in die Hände. Im nächsten Moment stand er schon am Fahrstuhl.

»Wart ihr schon mal hier?«, fragte ich in der Kabine. »Das Ding geht voll ab.« Mit seiner Bierflasche betätigte Kante den Knopf für die oberste Etage. Es klang, als prostete uns der Lift zu. Die Anzeigetafel blinkte wie eine Lichterkette.

»Scheiße, meine Ohren platzen gleich.« Zombie bleckte die Zähne und bewegte den Kiefer. Ich hatte kaum meine Kippe fertig gedreht, da öffnete sich schon die Tür zum neunundzwanzigsten Stock.

»Ist ja geil.« Kante lehnte sich an ein Fenster.

»Schön, was?«, sagte ich. Wie Kinder vor einem riesigen Aquarium standen wir an den Scheiben und drückten unsere Nasen platt. Die Stadt glitzerte wie Spielzeug.

»Hat wer Feuer?« Ich winkte mit meiner Zigarette.

»Rauchmelder.« Schröder stach einen seiner langen Finger in die Luft. Ich zuckte mit den Schultern.

»Hey, guckt mal«, sagte Kante und zeigte auf einen Feuerlöscher, der neben der Tür zur Toilette hing. Er besah ihn von allen Seiten. Dann zog er den roten Zylinder aus der Halterung. Die Schrauben knirschten. Wie Schnee rieselte Putz von der Wand und hinterließ kleine Häufchen auf dem Boden.

»Willst du denn damit?«, fragte Schröder.

»Abwarten.« Kante grinste. »Hier geht’s doch irgendwo zur Plattform, oder?« Das Gerät baumelte in seiner Hand wie eine Abrissbirne. Ganz hinten im Flur stand verlassen ein Drehkreuz, hinter dem sich eine Treppe nach oben zog.

»Kommt ihr?«, fragte Kante. »Das wird geil!« Schröder warf ihm einen Blick zu wie ein Meister, dessen Lehrling schon wieder gestümpert hat, lief dann aber hinterher. Zombie sah raus in die Nacht. Unter uns auf der Kreuzung schob ein Blaulicht eine Kette anderer Autos zur Seite.

»Bleibst du hier?«, fragte ich. Als sie nicht reagierte, tippte ich ihr an die Schulter. Ihre roten Haare flogen herum. Für einen Moment schaute sie mich an, als sähe sie mich zum ersten Mal.

»Nee.« Wir gingen zur Treppe. Schröder stakste über die Absperrung, Kante hatte es bereits geschafft. Zombie zwängte sich durch zwei Metallbalken. Ich folgte ihr. Durch einen Treppengang, in dem mehrere historische Aufnahmen des Uniriesen hingen, ging es rauf zum Dach.

»Und jetzt?«, fragte ich. Wir standen vor einer dicken Glastür, die zu sagen schien, dass an dieser Stelle auf jeden Fall Schluss war. Kante grinste und sah zu Schröder.

»Schon gut«, brummte der nur. Er kramte in seiner Jackentasche, brachte ein winziges Besteck mit silbernen Gerätschaften und gebogenen Drähten hervor und machte sich an der Tür zu schaffen. Kante hüpfte um ihn herum wie ein Kind, das noch nicht sicher ist, ob ihm seine Lieblings-Süßigkeit auch wirklich gekauft wird. Zombie sah bleich aus, doch Aktionen wie diese gab es bei uns ständig. Vielleicht lag es nur am Neonlicht.

»Bitte sehr«, sagte Schröder wie ein Schaffner, der den nächsten Bahnhof verkündet. Nachtluft füllte meine Lungen, was mich daran erinnerte, dass ich noch immer meine unangezündete Kippe in der Hand hielt. Hier oben klang das Hupen der Autos kilometerweit entfernt. Ein aus bunten Perlen gestickter Teppich aus Stadt reichte bis zum Horizont. Kante trat an die Brüstung der Plattform und fummelte am Feuerlöscher.

»Schon mal so was benutzt?«, fragte Schröder und kniff die Augenbrauen zusammen. Er war etwas älter als die meisten in unserer Clique.

»Steht doch drauf. Sicherung raus und ab«, sagte Kante und zog an einer Art Öse. Dann richtete er den Schlauch auf mich.

»Dusche gefällig?«

»Lass mal«, grinste ich. »Gib mir lieber Feuer.« Schröder reichte mir Streichhölzer. Der Wind blies eins nach dem anderen aus, als wäre er strikt dagegen, dass ich jetzt rauchte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kante als Nächstes versuchte, Zombie zu necken. Er hielt ihr den Schlauch fast ins Gesicht, doch sie reagierte kaum. Wer Zombie auf diese Weise zu nahe trat, konnte sich im Normalfall glücklich schätzen, wenn er mit einem Stahlkappenstiefel Richtung Schienbein davonkam. Kante schien selbst etwas irritiert und ließ von ihr ab.

»Jetzt passt auf«, rief er. »Es geht los!« Ein Strahl aus weißem Nebel schoss nach oben. Unser Feuerwehrmann drehte und schüttelte den Schlauch. Das Löschzeugs schien überall zu sein. Meine Zigarette brannte noch immer nicht.

»Silvester, Leute!« Kante tanzte und schrie. Schröder sah mich an, ließ den Zeigefinger vor seiner Schläfe kreisen und half mir dann mit der Kippe, indem er die Hände zu einer windgeschützten Kugel formte.

»Darf ich auch mal?«, rief ich zu Kante rüber.

»Na logisch, Mann!« Ich nahm den Zylinder. Er war schwerer, als ich erwartet hätte. Dann ballerte ich in den Himmel, als wäre ich wieder ein kleiner Junge, der im Garten seiner Oma mit dem Wasserschlauch spielt.

»Komm, Schröder, jetzt du!« Kante grinste. Der Pirat tat noch kurz so, als hätte er keine Lust, dann reichte ich den Löscher an ihn weiter. Er schoss einen langen Bogen vom Dach. Ich stellte mir vor, wie das Ganze von unten aussah, und zog an meiner Zigarette. Mit einem Mal war da ein Fehler in meinem Blickfeld. Ich nahm das Bild wahr, aber mein Verstand sträubte sich, es zu kapieren.

Auf einer zweiten Ebene ein Stück unterhalb der Brüstung befand sich eine Anordnung von Metallstreben, ein bisschen wie das Netz einer riesigen Spinne. Dann war da nur noch der Rand des Dachs, hinter dem es über hundert Meter nach unten ging. Genau dort stand ein Mensch, klein und starr wie die Galionsfigur eines futuristischen Schiffs.

Ich weiß nicht, ob eine Minute oder eine Sekunde verging, bis meine Finger Schröders Jacke gefunden hatten. Ich riss an seinem Arm, als wollte ich ihn von der Schulter pflücken. Aus meiner Kehle kam kein Laut. Es fühlte sich an, als würde ich Luftblasen kotzen.

»Alter!«, sagte der Pirat. Dann war sein Mund nur noch ein Kreis. Wie in Zeitlupe fiel der Feuerlöscher zu Boden.

»Verdammte Scheiße!«, kam aus dem Loch in Schröders Gesicht. Hinter ihm sah ich Kante, dessen Augen blankes Entsetzen waren. In den gefährlichsten Situationen hatte ich ihn nie die Fassung verlieren sehen. Er interessierte sich einfach nicht im Geringsten dafür, welchen misslichen Ausgang irgendetwas nehmen konnte, was ihn betraf. Aber das hier. Das war was anderes.

»Zombie, bist du irre?«, schrie Kante. »Komm da weg!« Seine Stimme überschlug sich. Zombie wandte den Kopf, sah zur anderen Seite, als würde von dort noch jemand rufen, und dann wieder hoch zu uns. Ihre Füße waren keine Armlänge vom Nichts entfernt. Kante schrie noch einmal. Schröder schrie auch. Ich bekam es kaum mit, aber irgendwie musste ich ein Stück gerannt sein, denn auf einmal war ich an der Brüstung.

»Vergiss es«, sagte Zombie.

»Das willst du doch gar nicht«, hörte ich mich sagen. Zombies Blick war uralt. Als wäre sie schon ewig auf der Welt und gehörte nicht hierher.

»Du hast keine Ahnung.«

Ich dachte an alles, was sie mir erzählt hatte. Ich wusste einiges von ihr. Mehr als die meisten wahrscheinlich, aber ganz offensichtlich nicht genug. Eins von Schröders langen Beinen schob sich auf die Brüstung.

»Vergiss es«, sagte Zombie noch einmal, lauter. »Vergesst es alle!« Die Stadt stand still. Nur der Wind wehte durch ihre Haare.

1

CDs und Kassetten zogen sich in endlosen Reihen durch offene Gänge, Abspielgeräte jeder Art glitzerten in Vitrinen aus Glas. Im Hintergrund der Elektronikabteilung des Kaufhauses, die sich über die gesamte Etage erstreckte, pries eine freundliche Stimme die Vorzüge schnurloser Telefone, multifunktionaler Videokameras und Funkwecker an. Ein langer Typ um die fünfzig, Schnauzbart wie ein Sheriff und die Hände am Gürtel, wanderte bedächtig zwischen den Auslagen umher und machte sich wenig Mühe, sein Dasein als Detektiv zu verstecken.

»Ich klau das Ding jetzt«, sagte mein Schulfreund Max und wedelte mit dem Science-Fiction-Film, den er sich ausgesucht hatte, vor meiner Nase. Ich sah mich um. Die Rolltreppen nach unten befanden sich in der Mitte. Zwei aufgeklappten Flügeltüren gleich war der Zugang von der Diebstahlsicherung gesäumt. Gegenüber die Kasse, ein weißes Schiff von einem Tresen, groß und ohne Besatzung, zumindest im Moment. Daneben der Blick des Sheriffs, der auf uns liegen blieb, eine Sekunde zu lang. Ob aufgrund unserer Klamotten oder weil ich ihn selbst angeschaut hatte, konnte ich nicht sagen.

»Wir werden beobachtet«, raunte ich, als befänden wir uns selbst in einem Film. Max winkte ab.

»Drehen wir noch eine Runde. Guck mal!« Er drückte die Tasten eines tragbaren CD-Players und tat schwer interessiert. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich der Detektiv in eine andere Richtung wandte.

»Was ist mit der Sicherung?«, fragte ich.

»Schon erledigt.« Max zeigte die Rückseite der Videokassette, in deren Ecke statt eines Magnetstreifens nur noch ein klebriges Viereck zu sehen war. Langsam näherten wir uns der Rolltreppe. Ich hatte ein ungutes Gefühl, irgendeine Ahnung, aber sie war nicht deutlich genug, meinen Freund von seinem Vorhaben abzubringen. An einem Rondell mit Plastikschädeln, die die neuesten Kopfhörermodelle trugen und aussahen wie eine Truppe musikbegeisterter Außerirdischer, blieb Max stehen. Er kratzte sich und tat, als würde er in seinen Taschen etwas suchen. Dann steckte er den Film mit einer schnellen Bewegung zwischen Bauch und Hosenbund.

Wieder sah ich mich um. Wenig Kundschaft, nach wie vor niemand an der Kasse. Kein Detektiv. Ich gab mir größte Mühe, Max nicht auf sein T-Shirt zu starren. Das Video hob sich unter dem Stoff ab wie ein kleiner Koffer.

»Dann mal raus hier«, sagte er und klang jetzt selbst etwas zweifelnd. Wir liefen Richtung Ausgang, immer langsamer. Als wäre das Warnsystem vor der Rolltreppe eine Selbstschussanlage.

»Bist du sicher, dass da kein Alarm losgeht?«, flüsterte ich.

»Mann, Nino. Keine Ahnung«, flüsterte Max. Ich hatte schon einige Geschichten davon gehört, wie Kaufhäuser ihre Waren sicherten, mit doppelten Magnetstreifen, versteckten Etiketten und anderem Zeug. Zeug, das nur darauf wartete, den nächsten und wieder nächsten Depp anzuschmieren. Ich selbst hatte nicht wirklich viel Erfahrung. Natürlich – als kleiner Junge hatte auch ich nach der Wiedervereinigung dem plötzlichen Überfluss in den Süßigkeitenabteilungen nicht widerstehen können. Auf dem Heimweg von der Schule waren so manches Mal Gummibärchen oder eine der anfangs absurd teuren, bunten Softdrink-Dosen in meinem Turnbeutel gelandet. Aber das lag fünf Jahre zurück.

Die Rolltreppe war jetzt nur noch ein paar Meter entfernt. Ihr monotones Rattern klang lauter und lauter in meinen Ohren. Das Sicherungssystem vor der Treppe sah auf einmal so einschüchternd aus, dass ich fast stehen geblieben wäre.

»Los jetzt, Mensch«, zischte Max. »Spitzel im Anmarsch!« Der Detektiv schwebte von links über den Gang heran, als trüge er Gleitschuhe. Ich stürzte nach vorn, die Stufen abwärts. Die Elektronikabteilung verschwand aus meinem Blickfeld. In Erwartung eines schrillen Signals stellten sich mir die Nackenhaare auf, doch nichts passierte. Max zog mit großen Augen an mir vorbei, heftig um eine unbeteiligte Miene bemüht.

»Scheiße«, murmelte er, am Ende mit ganz langem Vokal. Ich sah nach oben. Der Detektiv spähte die Rolltreppe hinunter und setzte uns dann hinterher.

»Schnell!«, rief ich, was ziemlich überflüssig war, denn Max schoss bereits davon, mehrere Stufen auf einmal nehmend.

»Vorsicht! Platz da!«, schrie er. Ein paar erschrockene Kaufhausbesucher stoben auseinander wie Tauben. Wir bahnten uns den Weg nach unten, binnen Sekunden zu zwei Räubern auf der Flucht geworden. Die langen Beine des Sheriffs klebten uns an den Fersen. Der Kerl sagte kein Wort, um seinen Atem zu sparen, wahrscheinlich. Im Erdgeschoss rannte ich einen Ständer mit Sonnenbrillen um, der mit dem Geräusch von Tausenden Murmeln auf den Boden krachte. Dann hatten wir die große Glastür erreicht, explodierten ins Freie und eilten Richtung Markt. In der schwachen Hoffnung, der Sheriff würde uns in der Fußgängerzone nicht weiter verfolgen, sah ich mich um, doch der Schnauzbart nahm seinen Job ernst.

»Hier lang!« Ich packte Max am Arm, rannte an Blumenbeeten und Bänken vorbei über eine Wiese. Die Gruppe, die dort neben ein paar Bäumen saß, beobachtete unseren Auftritt. Aus einem völlig übersteuerten Kassettenrekorder sägte lärmende Musik. Ein Typ mit Augenklappe, der als Einziger eine Glatze trug, hockte breitbeinig im Gras wie ein Sumoringer, ansonsten nahm ich auf die Schnelle nur bunte Haare, Nieten und zerfetzte Hosen wahr.

»Stress oder was?«, hörte ich jemanden rufen, achtete aber nicht darauf, da ich Land gewinnen musste. Max und ich hasteten durch eine Reihe Büsche, deren Zweige mir ins Gesicht peitschten. Hinter mir hörte ich einen brüllenden Fluch, der so laut war, dass ich stehen blieb. Durch die Blätter sah ich, wie ein Kerl, dessen Ohren vor lauter Ringen mehr silbern als fleischfarben waren, vor dem Sheriff herumhüpfte wie ein Kobold. Der Detektiv schrie ein paar unverständliche Dinge und versuchte vergeblich, an ihm vorbeizukommen. Noch mehr Leute standen auf, stellten sich ihm in den Weg, ein Mädchen mit roten Haaren gestikulierte, schließlich erhob sich auch der Glatzkopf aus seiner Ringerpose. Unser Verfolger reckte den Hals, scheinbar auf der Suche nach Max und mir oder einer Idee, wie er mit der Situation umgehen sollte, in die er sich da gebracht hatte. Langsam wieder zu Atem kommend, beobachtete ich das Schauspiel. Der Detektiv war jetzt von einer ganzen Horde umringt. Schreie und Beschimpfungen wogten hin und her. Ein anderes Mädchen schwenkte eine Flasche.

»Der arme Kerl.« Max grinste und schnappte nach Luft. Wir lugten durchs Gebüsch wie die Förster. Der Schnauzbart drohte mit seinem Zeigefinger, sah dabei aber alles andere als furchteinflößend aus. Dann drehte er sich auf den Fersen um, schob die hinter ihm Stehenden mit einer Schwimmbewegung zur Seite und zog ab. Die Menge zerstreute sich. Fast alle nahmen wieder unter den Bäumen Platz, als wäre nicht das Geringste passiert. Das Mädchen mit den roten Haaren griff ein Bier aus einem Kasten und öffnete es mit den Zähnen. Allein vom Zusehen schmerzte mir der Kiefer. Die Glatze mit der Augenklappe und der Typ mit den Piercings, auf dem Kopf einen Irokesenschnitt, schauten in unsere Richtung.

»Na los«, sagte ich. Max wollte protestieren, aber ich kroch bereits durchs Geäst zurück auf die Wiese. Das unverdeckte Auge des Glatzkopfs wrang mich aus wie einen nassen Lappen, aber der andere Typ lächelte, als wären wir alte Bekannte.

»Danke«, sagte ich und räusperte mich, weil meine Stimme auf einmal ganz hoch klang. »Das war echt stark.« Mein Gegenüber ließ seine Ohrringe klimpern. Ein mit unfertigen Tattoos übersäter Arm hielt eine Schachtel Zigaretten in meine Richtung.

»Welchen wie uns helfen wir gern«, sagte er. »Kippe?« Ich nickte und bediente mich. Max, der jetzt herangekommen war, nahm sich auch eine. Ein bisschen vorsichtig, als befürchte er eine Falle. Der tätowierte Arm gab uns beiden Feuer mit einem Zippo. Der Geruch von Benzin stieg mir in die Nase.

»Schickes Shirt«, sagte der Glatzkopf. Ich sah an mir herunter. Das Shirt war von der Band Tarnfarbe und zeigte einen Jungen mit einer riesigen Knarre. Max hatte es mir vor Kurzem geschenkt. Er konnte das Ding nicht tragen – »zu krass« für seine Eltern. Ich warf meinem Freund einen Blick zu.

»Danke«, sagte ich noch einmal.

»Dann packt mal aus«, sagte der Tätowierte. »Weswegen hat der euch verfolgt, der Polyp?« Er steckte sich selbst eine Kippe an und hüllte sich in Rauchschwaden. »Oder, erzählt es doch gleich allen. Wollt ihr euch zu uns setzen?«

»Klar«, sagte ich, bevor Max eine andere Antwort geben konnte. Ich war mir nicht sicher, was er von der Sache hielt. Die Leute in dieser Runde sahen einen ganzen Steinbruch rauer aus als Max und ich, wir zwei sangen zu Hause höchstens Punksongs mit oder lasen Zeitschriften. Aber genau das zog mich an. Ich ließ mich nieder. Max drückte sich etwas umständlich zwischen mich und den Kerl mit der Glatze, als dürfe er ihm nicht zu nahe kommen. Als würde eine Berührung unweigerlich Fausthiebe auf seinen Kiefer nach sich ziehen.

Ich berichtete von der missglückten Klautour. Max zeigte seine Beute und mit viel Geschrei und Gelächter wurde ausgiebig darüber diskutiert, ob der Film cool sei oder nicht. Der tätowierte Typ mit dem Iro und den Ohrringen war der größte Verfechter von Ersterem, stellte sich schließlich gar in die Mitte und spielte seine Lieblingsszene nach. Ich stützte mich mit dem Ellenbogen auf die Wiese, ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen und genoss das Ganze. Dann wandte ich mich an das Mädchen mit den roten Haaren, die den Bierkasten inzwischen als Hocker benutzte.

»Darf ich eins haben?«, fragte ich, zeigte ihr, als sie nicht gleich reagierte, zwischen die Beine – und zog meinen Finger sofort zurück.

»Ich bezahle natürlich«, schob ich hinterher, die Wangen nicht nur von der Sonne heiß. Das Mädchen sah mich an, als wäre ich ein plötzlich die menschliche Sprache sprechendes Tier.

»Biste bescheuert. Bezahlen.« Mehr kam nicht. Weder rutschte sie zur Seite noch machte sie sonstige Anstalten.

»Dann, äh … später«, sagte ich, zu unsicher, wie ich mich jetzt verhalten sollte. Aus dem Augenwinkel sah ich Max, der sich am Kinn kratzte. Ich war froh, dass in diesem Moment ein Neuzugang auftauchte, der von der peinlichen Situation ablenkte.

»Hey Andy!«, rief der Typ mit dem Iro, der gerade noch einen Dialog aus dem Film zum Besten gegeben hatte. »Siehst ja aus wie der Weihnachtsmann.« Vor mir baumelte eine Plastiktüte, mit Flaschen ausgebeult wie bei einem Pfandsammler. Dahinter reichten schwarze Stiefel bis zu den Knien. Ich schaute nach oben und verrenkte mir fast den Hals. Der Ankömmling war groß wie ein Baum und hatte das Gesicht eines Zwölfjährigen. Auf dem Kopf ebenfalls ein Irokesenschnitt, dünn wie ein Sägeblatt und ebenso millimetergerade in die Höhe frisiert, was von unten glatt wirkte, als würde er den Himmel zerschneiden.

»Kante, du Saufschädel«, sagte Andy und nickte in die Runde. »Hier.« Er kramte in seiner Tüte und zog eine Pulle Korn heraus wie ein Schwert. Der Beschenkte deutete eine theatralische Verbeugung an, nahm den Schnaps und zog umgehend den Verschluss ab.

»Ansonsten Bier«, sagte Andy. »Wer will.« Er pflanzte die Tüte ins Gras. »Das Reudnitzer hab ich für dich mitgehen lassen, Schröder.« Der Glatzkopf griff sich besagte Flasche mit einer Miene, die in etwa so aussah, als würde ein Wolf herzhaft lachen. Wegen der Abfuhr kurz vorher zögerte ich einen Moment, aber da sich alle anderen auch bedienten, fasste ich schließlich Mut und pulte eins zum Teilen mit Max hervor. Dabei versuchte ich, dem Blick von dem Mädchen mit den roten Haaren auszuweichen.

»Danke«, prostete ich Andy zu, der mit den Schultern zuckte, den Mund öffnete, als wolle er etwas sagen, und ihn dann wieder schloss. Er hob sein eigenes Bier eine Winzigkeit und nickte ein halbes Nicken.

Das Thema Film war jetzt erledigt. Max und ich wurden nicht großartig weiter beachtet, doch der Nachmittag verging wie im Flug. Von der vorangegangenen Jagd durchgeschwitzt, lagen wir im Gras, tranken noch ein weiteres Bier und lauschten den Gesprächen. Und dem Saxofon eines am Marktplatz stehenden Straßenmusikers, das mit den plärrenden Songs des Kassettenrekorders ungefähr so gut harmonierte wie Flöte und Kettensäge. Um die Fassaden schlingerten die Tauben der Stadt, als wären auch sie besoffen. Die Einkaufsbummler gafften. Zum Pissen ging man hinter eine Mauer, wo einem der Seichengeruch wie Stecknadeln in die Nase kroch und Sandalen ein böses Schicksal bedeutet hätten. Zum Schluss schenkte mir Kante den letzten Schluck Korn.

2

Wie zwei Abenteurer auf Expedition pflügten Max und ich durch den Urwald, ein im Krieg zerbombtes und danach der Natur überlassenes Stück Wildnis inmitten der Stadt, nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Zwischen den Sträuchern direkt neben dem Wäscheplatz hatte irgendjemand schon vor Jahren ein Loch in die morschen Zaunlatten getreten, sodass man leicht auf das Areal kam.

»Geht mir das auf die Eier, Mensch. Hier brauchst du ja eine Machete!« Max pellte sich eine Efeuranke ab, die sich um ihn gelegt hatte wie eine Schlange. In der Nacht hatte es geregnet und der Boden im Unterholz war noch feucht. Während meine Schuhe in wabbeliger Erde versanken, brach ich ein Stück Ast von einem Baum.

»Bitte schön.«

Max salutierte. »Merci, mon général!«

Ich tippte mir an die Stirn. »Hör mir bloß damit auf. Scheißtest heute Morgen.«

»Ja«, sagte Max, während er mit ausholenden Bewegungen auf das Gestrüpp vor sich einschlug. »Kacke, dass uns die Lorenz auseinandergesetzt hat.«

»Hat mich voll auf dem Kieker«, beschwerte ich mich.

»Scheint so, nicht wahr?« Max ließ den Ast sinken und sah mich an. »Du machst dir nicht ernsthaft Sorgen, oder?«

»Steh auch in Bio auf der Kippe.« Mein Kumpel pikte mir den Stock in die Brust.

»Vergiss es«, sagte er. »Kriegst niemals zwei Fünfen.«

»Hm«, versuchte ich zuzustimmen, obwohl mir mein Gefühl was anderes sagte. »In ein paar Wochen wissen wir mehr.« Wir arbeiteten uns weiter durch die Bäume. Irgendwo hämmerte ein Specht wie ein winziges Maschinengewehr.

»Ein Gutes hätte das Ganze«, grinste Max. Ich hob die Augenbrauen.

»Vielleicht kämst du zu Tanja in die Klasse!«

»Idiot«, sagte ich. »Gehen wir zur Gärtnerei?« Meine Erinnerungen an den Laden waren verwaschen: ein kleines Häuschen am anderen Ende des Urwalds. Meine Mutter, die dort Blumen kaufte, während ich mir die Finger an Kakteen zerstach. Nach der Wende wurde das Geschäft aufgegeben. Mittlerweile verdeckten Brombeerbüsche und anderes Gesträuch die Sicht; fuhr man auf der angrenzenden Straße entlang, war das Haus nicht mehr zu sehen.

»Echt ein komisches Teil.« Max stand vor dem Gebäude, das an mehreren Stellen aussah, als hätte die Hand eines Riesen hineingedrückt. Früher war es mal weiß und gepflegt gewesen. Jetzt fiel grau gewordener Putz von den Ziegeln und die Fenster versteckten sich hinter Kletterpflanzen.

»Wo geht’s denn hier noch mal rein?«

»An der Seite«, sagte ich und zeigte nach links. Glassplitter knirschten unter unseren Füßen. Von dem zur Gärtnerei gehörenden Gewächshaus waren nur noch ein paar Streben übrig, ein grün überwuchertes Skelett, das an die Überreste eines Tiers aus der Vorzeit erinnerte.

»Igitt«, sagte Max und wischte sich seine Hände an der Hose ab. Die Türklinke war völlig verrostet. Wie ein Mantel legte sich die Dunkelheit im Inneren des Gebäudes um uns.

»Warte mal.« Es dauerte einen Moment, bis ich mein Feuerzeug gefunden hatte. Die Flamme gab gerade genug Licht, um zu verhindern, dass wir über einen Haufen aus Müll und Schutt stolperten.

»Wonach riecht das?«, klang die Stimme von Max hohl in dem schummrigen Zimmer.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ist nur ein altes Haus.«

»Mann, hier liegt bestimmt irgendwo ’ne Leiche rum.«

»Quatsch. Lass uns aufs Dach.« Die Treppe befand sich in der Mitte des Raumes. Als Kind hatte sie mich fasziniert, wie sie sich hinter dem Tresen nach oben zog, fein geschnitzt und ausladend, als ob sie irgendwannmal aus einer fürstlichen Villa geklaut und in einem Stück hierhergebracht worden war. Jetzt sah ich nur eine dunkle Masse. Die Stufen sägten wie ein verstimmter Kontrabass.

»Krach nicht ein«, sagte Max.

»Was ist eigentlich los?«, fragte ich, ein bisschen lauter als beabsichtigt. »Hast du was?« Max schwieg. Ich stieg die Treppe hoch und hörte, wie er mir folgte. Die nicht vollständig zugewachsenen Fenster im Obergeschoss ließen gerade genug Helligkeit herein, dass ich mein Feuerzeug wieder wegstecken konnte. An der Wand lehnte eine Schubkarre. Sonst war der Raum leer.

»Da drüben ist eine Luke.« Wir liefen durch einen Rahmen, dessen Tür schräg in den Angeln hing. Unter unseren Schuhen raschelten Zeitungen. Die Leiter in dem zweiten Zimmer war stabil, aber schmal. Wie so ein Ding für Katzen. Wenige Augenblicke später standen wir auf dem Dach.

»Die Aussicht sollte bei keinem Stadtrundgang fehlen«, sagte Max etwas spöttisch. »Ein echter Geheimtipp.« Hinter dünnen Bäumen erstreckte sich eine lange Reihe schmutzig gelber Häuser mit mächtigen Erkern. Hohe Fenster, Risse im Putz. Die vertrauten alten Fassaden, zwischen denen ich schon als kleiner Junge gespielt hatte. Mein Viertel.

»Sorry, Nino«, reagierte Max auf meinen fragenden Blick. »Ich bin heute wohl nicht die beste Gesellschaft.«

»Ist was passiert?«, hakte ich nach. Einen Daumen im Hosenbund, lehnte sich Max an den Schornstein, fast modelmäßig. Fehlte nur noch der Wind, der seine Frisur fliegen ließ.

»Nur der übliche Scheiß«, sagte er.

»Eltern?« Max nickte.

»Wie ich rumrenne. Jeden Tag Theater.« Mein Kumpel war der Einzige in der Schule mit echten Doc Martens. Im Moment etwas eingeschlammt, lugten sie unter der hochgekrempelten Jeans hervor. Die Haare von Max führten ein leichtes Eigenleben und sein Shirt zeigte das Logo der Dead Kennedys.

»Frühs, abends. Beim Gehen, beim Kommen. Zwischen Tür und Angel oder am Tisch. Es wird immer schlimmer. Sackgang, das sag ich dir.«

»Ich find deine Alten nett.«

»Klar.« Max grinste, stieß sich vom Schornstein ab und lief zum Rand des Daches.

»Kommst du morgen wieder mit in die Stadt?«, fragte ich. »Hocken wir uns wieder dazu?« Max spuckte in die Dachrinne.

»Weiß nicht. Mal sehen.« Er kramte in seiner Hose. »Ich hab noch Mischung. Papier dabei?« Ich schüttelte den Kopf. Max spitzte die Lippen wie ein Kussfisch und untersuchte seine Taschen ein weiteres Mal. Es blieb bei dem grünbraunen Tütchen.

»Tja«, sagte ich.

»Scheiße«, sagte Max.

»Warte mal.« Ich lief zur Luke, stieg die Leiter runter und kam mit einem Stück Zeitung zurück. Max tippte sich an die Stirn.

»Das vergiss mal schön.«

»Na gut.« Das Papier flog vom Dach und bäumte sich dabei auf, als wolle es protestieren. Die Nachmittagssonne schien mir ins Gesicht. Wir setzten uns.

»Hast du eigentlich Mila angerufen?«, fragte ich.

»Nee«, sagte Max. »Seit der Party ist Funkstille.«

»Deswegen ja.«

»Hab kein’ Bock.« Mein Kumpel legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.

»Mit dieser Tussi von der Reclam-Schule war nicht wirklich was, oder?«, fragte ich. »Die da aufgetaucht ist? Mit dem Engelsnamen? Marie?«

Max grinste wie jemand, der gerade einen schönen Traum hat. »Keine Ahnung, was du meinst.«

»Den Grund für Milas Auftritt. Hat doch wirklich jeder mitgekriegt, Mann.«

»Schon gut«, sagte Max, stützte sich auf den Ellenbogen und sah mich an. »War süß, aber nicht der Rede wert. Küsschen hier, Küsschen da.«

Ich zog die Augenbrauen hoch und schaute auf seinen Hosenstall.

»Küsschen da?«, fragte ich.

»Davon träumst du.«

»Den ganzen Tag.« Max schaute mich prüfend an.

»Hat das schon mal eine bei dir gemacht?«, fragte er. Ich blinzelte in die Sonne. Als ich mich wieder zu Max wandte, tanzten grelle Kreise vor seinem Gesicht.

»Bei mir ist noch nicht viel gelaufen«, sagte ich. »Weißt du doch.«

»Na, und Katrin?«, fragte Max. »Was war mit der?«

»Händchen halten. Mehr nicht«, gab ich zu. Der Oberkörper neben mir klappte nach oben wie bei einem Stehaufmännchen.

»Verarschst mich, oder?« Ich schüttelte den Kopf. Weit weg röhrte ein Motorrad.

»Nino, Mann. Du Flöte«, sagte Max und rieb sich die Augenbrauen. »Aber was soll’s. Bist ja erst fünfzehn.« Ich wusste nicht, wie viel Ironie dieser Kommentar enthielt. Wir schwiegen eine Weile. Schließlich klatschte Max in die Hände und erhob sich.

»Okay«, sagte er mit einer Stimme, so entschlossen wie ein Kletterer vor dem Aufstieg. »Darauf ziehen wir einen durch. Ich hol Papier.« Beim letzten Wort malte er Gänsefüßchen in die Luft. Dann verschwand sein Schopf in der Luke.

»Wirklich nur Zeitungen«, sagte Max, als sein Kopf kurze Zeit später wieder auftauchte, wie das Periskop eines U-Boots. »Dachte, ich finde vielleicht ein, äh … Magazin.« Er kletterte zurück aufs Dach und hielt mir die wellige Titelseite eines Sächsischen Tageblatts ins Gesicht. »Mach du mal.«

Ich riss ein Quadrat heraus, verteilte die Mischung und rollte das Ganze zusammen.

»Besser wird’s nicht«, sagte ich. »Müssen das Ding halt aufrauchen, bevor es auseinanderfällt.« Ich zündete den Dübel an und probierte. Es schmeckte, als hätte mir jemand Schleifpapier in die Lunge gestopft. Ich wagte noch einen zweiten Zug. Dann gab ich ab.

»Brutal«, sagte Max und verzog den Hals, dass seine Sehnen hervortraten wie kleine Stämme. Wir rauchten im schnellen Wechsel und ohne Genuss. Als der klägliche Joint zum vierten Mal bei mir landete, kapitulierte ich.

»Zum Abgewöhnen.«

»Jetzt weißte Bescheid, wie.« Max grinste. »Wenn du mal sauber werden willst.«

»Steh sowieso mehr auf Bier«, sagte ich. Max wiegte den Kopf und betrachtete den kleinen Schornstein zwischen seinen Fingern. Dann schnippte er ihn vom Dach.

»Wie ist das so?«, fragte ich.

»Was meinste?«, fragte Max zurück. Ich suchte nach den richtigen Worten.

»Na, wenn dir ein Mädchen … du weißt schon.« Max reckte das Kinn und setzte seine Expertenmiene auf.

»Das kommt ganz darauf an«, sagte er.

»Ob sie hübsch ist?«

»Nee. Auf die Technik. Ist ja umgekehrt dasselbe.«

»Aha«, sagte ich und schaute einem Schwarm Spatzen zu, der von einem Baum zum anderen flog.

»Da frag ich jetzt gar nicht, oder?«

»Was meinste?«, fragte ich zurück.

»Na, ob du das schon mal gemacht hast. Geleckt.« Max zog das Wort in die Länge. Ich reckte den Kopf und sah in den Himmel. Die Wolken sahen aus wie Zuckerwatte.

»Lass uns Bier holen«, sagte ich.

3

Die Straßenbahn Richtung Lindenau stank nach Schweiß und Kippen. Neben uns rollte der abendliche Verkehr. Ein Typ mit silberner Uhr schaute vom Lenkrad nach links Richtung Bahn und machte ein Gesicht, als hätte ihm jemand ins Essen gekotzt. Wir standen, saßen und lagen im hinteren Waggon, an die zwanzig Leute mit Iros, Spikes oder Filz auf dem Kopf. Lederjacken mit ganzen Milchstraßen aus glitzernden Nieten, Hosen aus Flickenfeldern, Bier- und Schnapsflaschen in den Händen. Schiefe Piercings, schlichte Tattoos. Lärm. Als wir am Bahnhof eingestiegen waren, hatten die meisten Fahrgäste bereits die Flucht ergriffen. Ein paar von uns hüpften in einer besoffenen Choreografie auf und ab und brachten den alten Tatra-Wagen fast dazu, aus der Schiene zu springen. Ich winkte dem Typ im Auto zu. Ich fühlte mich großartig.

»Mann, wie geht denn das Scheißding raus?« Andy popelte an einem Nothammer herum, der versiegelt und scheinbar ziemlich fest zwischen zwei Klammern hing.

»Von unten drücken!«, rief Kante durch den Waggon. Er hatte sich ganz vorn auf einem Doppelsitz breitgemacht, das Knie über der Lehne. Sein Stiefel pendelte wie ein Metronom. Andy nickte und fummelte weiter. Ein paar Sekunden später schwenkte er das orangene Hämmerchen wie ein Kind, das mit seinem Lolli prahlt. Seine Haare berührten fast die Decke der Straßenbahn. Dann regnete es Tausende winzige Scherben nach innen und außen.

»Jetzt ist aber Schluss!«, rief einer der letzten Mitfahrer, die es noch bei uns ausgehalten hatten, ein älterer Herr mit Handgelenktasche und dicken Wangen. Andy entglaste zwei weitere Scheiben. Unbeirrt rumpelte die Straßenbahn vor sich hin. Der Mann stand auf, wurde aber von dem Mädchen mit den roten Haaren am Weitergehen gehindert.

»Hinsetzen und Fresse, Alter.« Die Handgelenktasche versuchte, sie beiseitezuschieben.

»Fass mich nicht an, du Arsch!« Das Mädchen sah aus, als wolle sie jeden Moment über den Kerl herfallen. Der Mann hatte einen wirklich stattlichen Bauch, der wie eine Schranke zwischen den beiden war.

»Verdammtes Balg!«, presste er hervor. Es klang, als würde er lieber ganz andere Worte benutzen, wäre sich dafür aber zu fein.

»Setz dich einfach wieder hin!«, rief ich plötzlich, selbst ein bisschen überrascht, dass ich mich einmischte. Ein Typ mit Ringen in der Lippe winkte ab.

»Zombie braucht keine Hilfe«, sagte er.

»Wie nennst du mich?«, schrie das Mädchen den Mann an. Der schaute sich um, aber keiner machte Anstalten, ihn zu unterstützen. Ein paar Kids fanden das Treiben scheinbar ganz witzig, irgendein Studententyp sah angestrengt aus dem Fenster. Sonst war niemand mehr da.

»Wie du mich nennst, will ich wissen!« Zombie schnippte mit ihren Fingern vor dem Gesicht des Mannes. Sein Arm zuckte, als wolle er mit einer Ohrfeige antworten. Dann hielt die Bahn und er drängte sich Richtung Tür. Die Augen des Mädchens brannten. Für einen Moment dachte ich, sie würde den Kerl mit einem Tritt in den Rücken verabschieden. Aber sie stand nur da. Der hinausgeekelte Fahrgast drohte mit der Faust.

»Früher hätte ich dir Anstand beigebracht!«, rief er. »Jedem von euch!« Sein Blick fiel auf mich. Ich spürte in ihm eine Verachtung, die so abgrundtief war, dass ich fast ein wenig erschrak. Um mich herum Gröhlen und Lachen.

»Der Krieg ist vorbei, Opa!« Schröder imitierte einen Schnauzbart, indem er sich den linken Zeigefinger über die Lippe legte. »Wiedersehen!« Das Abfahrtssignal schrillte wie ein kaputter Wecker. Die Bahn fuhr ab.

»Lass mal noch was ganz«, sagte einer der Älteren zu Andy. Er hatte schlechte Zähne, aber der Iro auf seinem Kopf glänzte wie frisch lackiert. »Wir sind gleich da.« Andy zuckte mit den Schultern und steckte den Nothammer ein. Draußen zog das Zentralstadion vorbei, einer der vielen DDR-Bauten in der Stadt, die langsam verfielen.

»Bist du sicher, dass da niemand mehr ist?«, hörte ich Kante den älteren Typ fragen. Der Angesprochene nickte.

»Klaro. Das Ding schließt achtzehn Uhr.« Die Bahn wurde wieder langsamer. Im Gehen riss Andy noch einen Sitz aus der Halterung, was ihm einen weiteren genervten Blick einbrachte.

»Schon gut, Glefe«, grinste Andy. »Nix passiert.« Unser Haufen walzte von der Hauptstraße über eine Wiese und danach durch einen Gartenverein. Ein paar Opis und Omis in Unterhemd und Schürze duckten sich hinter ihre Hecken, als kämen die Barbaren.

»Da hinten durch die Bäume«, sagte Glefe schließlich. Neben einer Reihe Schuppen mit verrammelten Fenstern standen Trauerweiden, deren Zweige die Dächer streichelten. Wir krochen unter die Blätter und stießen auf eine Mauer. Zombie sah nach oben und verzog das Gesicht.

»Und jetzt?«

»Räuberleiter«, sagte Glefe. »Ich helf dir.« Zombie spuckte auf den Boden.

»Angst, dass dir jemand unter den Rock guckt?«, fragte eins der anderen Mädchen.

»Klappe«, sagte Zombie. Es dauerte eine Weile, bis alle das Hindernis überwunden hatten. Auf der anderen Seite lag ein riesiges Wasserbecken. Wir standen in einem Freibad.

»Darauf habe ich seit Wochen gewartet!«, rief Kante und schlüpfte aus seinen Sachen. Nur noch in Unterhose, die um seine Oberschenkel schlackerte wie ein Wimpel im Wind, rannte er zum Sprungturm, eilte die Leiter empor und zeigte einen Kopfsprung, der jeden Schwimmlehrer begeistert hätte. Mehrere Leute pfiffen. Kante paddelte und grinste. Sein Iro hing ihm ins Gesicht. Er sah aus wie ein nasser Hund.

»Kommt schon! Alle rein!«, rief er und wühlte das Wasser auf. »Heute ist Waschtag!« Nach und nach folgten die meisten seinem Beispiel. Zombie schien sich nicht fürs Baden zu interessieren. Sie schlenderte um einen Kiosk, als suche sie nach einem Weg, hineinzukommen.

»Lust auf Eis?«, fragte ich. Die Angesprochene reagierte nicht.

»Ich meine ja nur«, räusperte ich mich. »Wegen dem Laden hier.« Weiter keine Reaktion.

»Hast du so was schon mal aufgebrochen?«, fragte ich, ehrlich interessiert. Jetzt drehte sich Zombie um. Schwarze Augen pfählten mich wie zwei Speere.

»Quatschst du Leute immer so voll, die du nicht kennst?«, sagte der Mund darunter.

»Nee«, sagte ich.