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Die fünfzehnjährige Mina zieht mit ihren Eltern nach Lorenberg. Angeblich soll es in der Stadt spuken, aber Mina tut die Gerüchte als Hirngespinste ab. Sie findet Freunde in ihrer neuen Klasse und verliebt sich außerdem in Nevio, einen ihrer Mitschüler. Eine kurze Zeit lang führt sie ein ganz normales Leben, aber dann muss Mina feststellen, dass die Gerüchte über die Stadt womöglich doch wahr sind. Schon bald steht ihr Leben Kopf. Mina gerät in einen Strudel aus Ereignissen, die für sie lebensbedrohlich werden.
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Seitenzahl: 498
Veröffentlichungsjahr: 2022
Halber Vollmond
Britta Heinemeyer
Für Max
Halber Vollmond
Band 1 der Lorenberg-Reihe
Britta Heinemeyer
© 2022 Britta Heinemeyer
Lektorat: Carolin Ruthenbeck
Coverdesign von: Mink - the Drawing Researcher
(https://linktr.ee/Mink_tDR)
ISBN Softcover: 978-3-347-56387-2
ISBN E-Book: 978-3-347-56392-6
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Gefangen
Die Flamme in der bronzenen Schale tanzte vor ihren Augen, als wäre sie ein lebendiges Wesen, bereit dazu, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Mina wusste nicht, wie lange sie schon ins Licht starrte, aber es mussten Stunden sein, vielleicht sogar Tage. Als würde das Flammenwesen sie hypnotisieren. Es gab allerdings nichts anderes in dem Raum, was sie hätte ansehen können, also war es kein großes Wunder, dass ihr Blick an der Flamme hängen blieb.
Wenn Mina die Augen zusammenkniff, dann konnte sie fast die Arme und Beine des Wesens erkennen und ganz selten das Gesicht. Ihr war klar, dass sie kurz davor stand, den Verstand zu verlieren.
Nichts an der Flamme war besonders, aber sie war das Einzige, was Mina noch geblieben war. Die Flamme und der Schmerz, der sich ihres ganzen Körpers bemächtigt hatte. Längst versuchte sie nicht mehr, aus den silbernen Ketten zu entfliehen, die sie an der Wand festhielten. Schon vor einer Ewigkeit hatte sie einsehen müssen, dass sie diese ohne Hilfe nicht loswerden würde. Aber Hilfe war das Letzte, was sie erwarten konnte.
Die Flamme tanzte weiter, fast so, als würde sie Minas Bewegungsunfähigkeit verspotten. Tanzte und tanzte, sprühte vor Leben, während Mina sich mit dem Gedanken an ihren eigenen Tod arrangierte. Solange die Schmerzen aufhörten, war ihr mittlerweile alles recht.
Nur die Tatsache, dass sie die anderen mit in den Tod reißen würde, ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Daran wollte sie nicht denken, also starrte sie weiter in die Flamme, als könnte das ihren Gedankenfluss bremsen. Welche Ironie, dachte Mina. Mit einem Feuer hatte schließlich alles begonnen.
Brandnacht
Ein Sturm tobte durch die Stadt, heulte um die Häuser und erweckte den Eindruck, als bringe er das Ende der Welt mit sich. Als Mina es vor einiger Zeit gewagt hatte, ihr Fenster zu öffnen, hatte sie die Gießkanne der Nachbarn sehen können, die polternd die Straße hinunter wehte, gefolgt von einigen leeren Blumentöpfen. Mina hatte sich nicht einmal anstrengen müssen, das Fenster wieder zu schließen. Der Sturm hatte es ihr entgegen gedrückt, und sie musste nur den Hebel umlegen. In ihrem Zimmer unter dem Dach kam ihr das Jaulen des Windes besonders laut und bedrohlich vor, aber das war nichts im Vergleich zu dem Streit ihrer Eltern, der aus dem Wohnzimmer zu ihr hinaufdrang.
Sie hätte liebend gerne nur dem Sturm gelauscht, als ein weiteres geschrienes Wort ihrer Eltern hören zu müssen. Dabei schien nach dem letzten Umzug alles in Ordnung gewesen zu sein. Ihr Vater liebte seinen neuen Job und hatte versprochen, dass sie nicht mehr umziehen würden, bis Mina mit der Schule fertig war. Ihre Mutter genoss ihre freie Zeit, während sie in Ruhe nach einem Job suchte und zur Abwechslung mal nicht ihre unberechenbaren Launen zur Schau stellte, die seit dem Tod ihrer Schwester unerträglich geworden waren.
Die ersten zwei Wochen im neuen Haus waren wunderbar harmonisch gewesen, wovon mittlerweile nichts mehr zu spüren war. Mina hätte zu gerne gewusst, was der Grund für den Stimmungswandel war. Vielleicht lag es an Lorenberg. Immerhin war das Internet voll von seltsamen Geschichten in Bezug auf die Stadt. Angefangen bei mysteriösen Vermisstenfällen war alles dabei, was einen Horrorautor in helle Freude versetzt und zu einem neuen Bestseller geführt hätte. Die Vermisstenfälle fand Mina bedenklich, aber über die Geschichten von Geistern, die angeblich überall in der Stadt hausten, konnte sie nur mit den Augen rollen. Allerdings war nicht zu leugnen, dass sie jedes Mal ein seltsames Gefühl befiel, wenn sie das alte Stadtzentrum betrat, und daher verließ sie nur das Haus, um zur Schule zu gehen. Vermutlich hatte sie bloß zu viele dieser bescheuerten Geschichten gelesen, aber sie wollte ungern als weiterer Vermisstenfall in die Stadtgeschichte eingehen.
Mina seufzte. Ihre Eltern stritten noch immer lautstark und ihre eigenen Gedanken waren wieder nur mit Unsinn gefüllt. Sobald der Frühling anbrach, würde sicher alles anders werden. Es war der lange Schatten des Winters, der ihre Gedanken trübte. Mina brauchte etwas, dem sie die Schuld für das Verhalten ihrer Eltern geben konnte, weil sie keine andere Erklärung dafür fand außer den schlechten Einfluss einer Stadt, die angeblich von Geistern und anderen Monstern heimgesucht wurde. Ausgerechnet hier wollte ihr Vater auf jeden Fall bleiben. Zum ersten Mal hätte Mina nichts gegen einen weiteren Umzug einzuwenden gehabt.
Sie klickte sich durch einen Bericht über einen Vampir im Stadtpark, der insbesondere im Juni jeden Jahres aktiv sein sollte, und unterdrückte ein Gähnen.
Wenn wenigstens ihre neuen Klassenkameraden in Ordnung gewesen wären. Also, sie waren schon okay. Höflich. Nett. Aber es war nicht so, als könnte sie auch nur einen von ihnen als ihre Freundin oder ihren Freund bezeichnen.
Mina redete sich ein, dass es nicht an ihr lag, sondern weil sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt in die neue Klasse gekommen war. Mitten im Schuljahr und dann auch noch zu einer Zeit, in der die ganze Klasse verrückt nach dem Musical war. Als würden alle unter einem Zauber stehen. Etwas Derartiges hatte Mina noch nicht erlebt.
Ihr erster Tag in der Schule hatte wie sonst auch begonnen und sie es wie gewohnt gehasst. Ihr neuer Klassenlehrer hatte sie vorgestellt, Mina hatte unterbrochen und gesagt, dass sie bitte nicht Wilhelmina genannt werden wollte, und dann durften ihre Mitschüler Fragen stellen. An diesem Punkt war das übliche Ritual deutlich von Minas vorherigen Erfahrungen abgewichen.
Alles, woran die anderen interessiert gewesen waren, war die Frage danach, welche Rolle sie in dem Musical einnehmen würde. Schließlich war alles bis ins Detail geplant und eine neue Person konnte nicht ohne Weiteres eingefügt werden. Mina hatte vor der Klasse gestanden und keine Ahnung gehabt, wovon eigentlich die Rede war. Sie hatte sich aber über das Chaos gewundert, das ausbrach. Alle redeten wild durcheinander, ja schrien fast, bis ihr Klassenlehrer sie beruhigen konnte und sie sich darauf einigten, dass über Minas Rolle später entschieden werden würde. Verwirrt hatte sie Platz genommen und versucht, die teilweise feindlichen Blicke der anderen zu ignorieren.
Mina lauschte und klappte dann ihren Laptop zu. Ihre Eltern waren nicht mehr zu hören und sie wollte die Gelegenheit nutzen, um sich ein Glas Saft aus der Küche zu holen. Sie ging nur ungern nach unten, wenn ihre Eltern in Fahrt waren, weil sie das Gefühl hatte, selbst in der Küche war das Geschrei so laut zu hören, dass sie Gefahr lief, dadurch taub zu werden. Beim Verlassen ihres Zimmers stieß sie sich den großen Zeh an einem vollen Karton und unterdrückte einen Fluch. Geschah ihr recht. Sie hätte längst alles auspacken und in ihrem neuen Zimmer verstauen sollen, aber sie hatte sich bisher nicht dazu aufraffen können.
Nach dem ersten Umzug hatte Mina ihre Sachen innerhalb eines Tages ordentlich in ihrem Zimmer verteilt gehabt. Aber je mehr Umzüge sie hinter sich brachte, desto unmotivierter wurde sie, was das Einrichten eines neuen Zimmers anging. Einige ihrer Kartons hatte sie seit Jahren nicht ausgepackt, sondern schleppte sie so, wie sie waren, von einem Haus ins nächste. Das musste aufhören. Sie würde alles auspacken. Vielleicht am Wochenende, denn schließlich hatte Mina nichts Besseres vor.
Sie schlich in die Küche und holte sich ein Glas Apfelsaft, bevor sie wieder die Treppe hinauf huschte und in ihrem Zimmer verschwand. Wenn ihre Eltern in Streitlaune waren, dann machten sie nicht davor halt, ihre schlechte Laune auch an Mina auszulassen, ohne dass diese sich etwas zuschulden kommen ließ. Darauf konnte sie gut verzichten und hatte gelernt, sich lautlos durch das Haus zu bewegen.
Als Mina ihren Saft auf dem Schreibtisch abstellte, ertappte sie sich dabei, wie sie ein Lied aus dem Musical summte. Genervt brach sie ab, auch wenn das Lied gut war. Einprägsam und wunderbar zum Mitsingen wie der Rest der Lieder. Das war nicht das Problem, das sie mit der ganzen Sache hatte. Vielmehr war es die Tatsache, dass sie die Probenzeit normalerweise versteckt hinter einem großen Karton zwischen den Requisiten verbrachte.
Mina machte ihre Musikanlage an, um die Gedanken ans Musical zu verdrängen, aber so richtig wollten sich diese nicht zum Schweigen bringen lassen. Was möglicherweise daran lag, dass am nächsten Tag zwei weitere Stunden Proben, oder eher Verstecken, auf sie warteten und sie darauf absolut keine Lust hatte.
Es war Rahel, ihre neue Sitznachbarin, gewesen, die sie in der ersten Pause aufgeklärt hatte, was es mit dem Musical auf sich hatte. Viola, Klassensprecherin und unangefochtene Anführerin der Klasse, hatte im Jahr zuvor einen beachtlichen Geldbetrag von ihrem verstorbenen Onkel geerbt. Davon hatte sie nicht nur einen sechswöchigen Traumurlaub in den Sommerferien zusammen mit ihrer Familie und ihren beiden besten Freundinnen, die ihr nie von der Seite wichen, gemacht, sondern beschlossen, auch im Schuljahr etwas davon haben zu wollen.
»Hat vermutlich geholfen, dass ihr Vater der Bürgermeister ist und die Schule neben dem Geld fürs Projekt auch noch eine ansehnliche Spende erhalten hat«, hatte Rahel erklärt. »Aber ich beschwer mich nicht. Die Proben für das Musical sind viel besser als normaler Musikunterricht, und außerdem lerne ich gerade, wie man Kostüme selber schneidert und das ist richtig cool«, hatte sie weiter ausgeführt, während ihre Augen zu leuchten begannen.
Nach und nach hatte Mina gelernt, dass die Klasse neben einer Schneiderin auch einen Gesangslehrer, der ihre Musiklehrerin unterstützte, einen Tanzlehrer und eine Bühnenausstatterin zur Seite gestellt bekommen hatte, um Violas Traum von Musical, das Ende des Schuljahres aufgeführt werden sollte, zu verwirklichen. Laut Rahel war die Klasse anfangs skeptisch gewesen, aber mittlerweile waren alle absolut begeistert und keiner wollte, dass Mina in ihr kleines Universum eindrang und ihnen möglicherweise etwas von ihrem Spaß stahl. Am einfachsten wäre es gewesen, sie zu den Musikern zu stecken, aber sie konnte kein Instrument spielen, also fiel diese Option weg. Sie war zu spät, um an einem Kostüm zu arbeiten, alle Rollen waren natürlich längst vergeben und so einigten sie sich letztendlich darauf, dass Mina bei den Kulissen helfen sollte. Aber keiner ihrer Mitschüler wollte seine Arbeit mit ihr teilen. Mina hatte das Gefühl, alle stünden in einem heimlichen Wettbewerb miteinander, wer den schönsten Baum, den besten Tisch oder den aufregendsten Vorhang zaubern konnte.
Um niemandem im Weg zu sein, hatte Mina begonnen, sich zwischen den Kulissen zu verstecken. Viola hatte sie dort recht schnell entdeckt, war jedoch mit dem Arrangement zufrieden gewesen. Nichts und niemand würde ihren Traum stören.
Pascal, der mit ihr zusammen Regie führte, hatte sogar Anweisungen gegeben, Mina in Ruhe zu lassen. Es war daher kein Wunder, dass sie sich Wochen später noch fühlte, als hätte sie keinen Platz in der Klasse. Sobald klar war, dass sie niemandem den Job stahl, waren die anderen plötzlich nett zu ihr gewesen, aber mehr als oberflächliche Gespräche fanden nicht statt. Nicht einmal mit Rahel, die an Violas Kostüm arbeitete und, wie Mina vermutete, mehr Zeit in dieses steckte, als sie zugeben wollte.
Mina konnte sich echt Besseres vorstellen, als auch am Nachmittag und Abend für Viola zu arbeiten, aber sie schwieg und verkroch sich während der Proben hinter ihrem Karton. Sie vermutete außerdem, dass die Lehrer wussten, dass sie nicht wirklich half, aber niemand sagte etwas. Ab und an trug Mina einen Stuhl von rechts nach links und zurück, wenn sie dachte, dass es mal wieder angebracht wäre. Insgeheim konnte sie das Ende des Schuljahres kaum erwarten. Leider war dieses noch Monate entfernt, und Mina hatte keine Ahnung, wie sie bis dahin ihre Nerven behalten sollte.
Wenn sie wenigstens nicht ständig die Lieder aus dem Musical im Kopf hätte! Sogar im Bett, als sie sich vor dem Schlafen auf ihr Buch konzentrieren wollte, geisterten die Songtexte durch ihren Kopf, bis sie frustriert ihren Reader zur Seite legte, das Licht löschte und sich die Decke über den Kopf zog. Als ob das helfen könnte.
Nach einer Weile nahm Mina ihren Reader wieder zur Hand und las, bis ihr die Augen zufielen.
Im nächsten Moment schrillte bereits der Alarm ihres Handys und sie patschte wild auf ihrem Nachttisch herum, um ihn auszustellen, bis ihr auffiel, dass das Geräusch nicht von ihrem Handy kam. Mina setzte sich im Bett auf und lauschte. Eine Sirene heulte durch die Nacht.
Sie sah auf ihr Handy und stellte fest, dass es gerade mal kurz nach Mitternacht war. Sie schlug die Decke zurück und stand vorsichtig auf, um sich an der Dachschräge nicht den Kopf zu stoßen. Dann öffnete sie das Fenster über ihrem Bett und warf einen Blick hinaus. Eisige Nachtluft schlug ihr entgegen und machte deutlich, dass der Frühling auf sich warten ließ.
Mina hatte erwartet, ein oder zwei Wagen mit Blaulichtern durch die Straßen fahren zu sehen, weshalb sie für einen Moment mit offenem Mund hinausstarrte und zu begreifen versuchte, was sich dort abspielte. Ein fast voller Mond überzog die Stadt mit silbrig-kaltem Licht. Im Kontrast dazu standen die leuchtend roten Flammen, die vom Rande des alten Stadtkerns in den Himmel loderten. Darüber stieg eine dunkle Rauchwolke auf, die sämtliche Sterne verdeckte. Die Szene vor ihr erinnerte Mina an eine mittelalterliche Darstellung von der Hölle und sie fragte sich, welches Gebäude brannte und ob bereits Menschen zu Schaden gekommen waren. Eine weitere Sirene heulte auf, und Mina folgte mit dem Blick den blauen Lichtern, die sich alle in Richtung des Höllenfeuers bewegten.
Eine Gänsehaut überzog ihre Arme, aber sie war sicher, dass diese nicht nur von der eisigen Kälte herrührte. Die Rauchwolke breitete sich weiter aus und erweckte den Eindruck, als würden sich Wesen in ihr tummeln, zum Feuer hinabtauchen und wieder hinauf in den Himmel steigen.
Mina rieb sich die Augen und starrte unverändert in die Nacht hinaus, unfähig dazu, ihren Blick von dem erschreckenden Anblick abzuwenden. Die erhöhte Hanglage ihres Hauses erlaubte ihr einen guten Ausblick, allerdings versperrten etliche Gebäude ihre Sicht und sie konnte nur ahnen, was dort brannte. In der Richtung lag ihr Gymnasium, und für einen Moment hatte Mina die wunderbare Vorstellung davon, dass es ihre Schule war, die dort brannte, und sie somit am nächsten Tag von den schrecklichen Proben befreit wäre.
Aber dann sah sie einen Schemen im Rauch aufsteigen und hätte geschworen, dass er sich ihr zuwandte und sie mit funkelnden Augen anstarrte. Mina lief es kalt den Rücken herunter. Mit einem Ruck schloss sie das Fenster und verkroch sich unter ihrer Bettdecke. Natürlich war da nichts gewesen. Bloß ein Teil des Rauchs und einige Funken, die wie Augen gewirkt hatten.
Mina zog sich die Bettdecke über den Kopf und redete sich ein, dass sie gerade ganz sicher keinen Dämon gesehen hatte.
Überraschung am frühen Morgen
Als Mina das nächste Mal aufwachte, war es tatsächlich ihr Handyalarm, der sie weckte. Für einen Moment lag sie im Bett und starrte an die Zimmerdecke, bis sie sich mit einem Ruck aufsetzte. Der nächtliche Brand! Sie kämpfte sich aus ihrer Decke und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Sie hatte erwartet, Reste des Brandes zu sehen, vielleicht noch immer die große Rauchwolke, in der die Dämonen getanzt hatten. Stattdessen starrte sie hinaus in eine Nebelwand und konnte kaum das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite ausmachen.
Mit einem Gähnen schloss sie das Fenster und schlurfte hinunter in die Küche, wo ihre Mutter am Tisch saß, einen großen Becher Kaffee vor sich.
Daniela Franke war eine attraktive Frau. Groß, schlank, mit dunkelblauen Augen, die sie ihrer Tochter vererbt hatte, und langen, dunkelbraunen Locken, die zu Minas Bedauern nicht bei ihr durchgekommen waren. Bereits am Morgen war ihre Mutter geschminkt und hatte die Haare perfekt liegen. Selbst wenn Mina es gewollt hätte, könnte sie niemals um diese Uhrzeit so frisch und munter wie ihre Mutter wirken, weil sie absolut kein Morgenmensch war.
»Gestern Nacht hat es in der Stadt gebrannt«, sagte Daniela ohne Morgengruß. Mina grunzte. So viel hatte sie schließlich auch mitbekommen.
»Unter anderem ist dein Schulgebäude niedergebrannt«, führte ihre Mutter weiter aus und trank einen Schluck Kaffee. Mina nickte zustimmend und schickte sich an, einen Becher aus dem Schrank zu holen, als sie mitten in der Bewegung innehielt.
»Was?«, fragte sie ungläubig und drehte sich zu ihrer Mutter.
»Deine Schule ist niedergebrannt«, wiederholte Daniela betont langsam.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Glaubst du ernsthaft, ich würde mir so etwas ausdenken?« Jetzt klang ihre Mutter vorwurfsvoll.
Mina konnte nicht anders. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Zumindest heute würde sie vom Musical verschont bleiben. Sie konnte ihr Glück kaum fassen, auch wenn sie wusste, dass sie sich nicht über eine abgebrannte Schule freuen sollte. Sie konnte bloß nicht anders.
»Also ich finde das nicht erfreulich«, meinte Daniela, und Mina versuchte erfolglos, das Grinsen aus ihrem Gesicht zu verbannen. »Und außerdem dachte ich, dir gefällt deine neue Schule. Oder nicht?«
Mina zuckte mit den Schultern. Bisher hatte sie es vermieden, ihren Eltern mitzuteilen, wie genervt sie von ihrer Klasse war, in der ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nur freundlich waren, wenn sie sich hinter einem Karton versteckte.
»Ist schon okay«, sagte Mina daher ausweichend und setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen. »Was passiert jetzt?«
»Für heute fällt die Schule definitiv aus. Wie es morgen weitergeht, erfahren wir später, sagte mir Frau Kurz vorhin am Telefon.«
Mina sah die Sekretärin vor sich, wie sie Hunderte von Eltern anrufen musste, was sicherlich eine zeitaufwendige und langweilige Aufgabe war.
Mina füllte kochendes Wasser in ihren Becher und sog den Geruch von Pfefferminztee in ihre Nase. Dann holte sie das Toastbrot aus der Brotdose und steckte zwei Scheiben in den Toaster.
»Möchtest du auch?«, fragte sie ihre Mutter über die Schulter hinweg und war wirklich darum bemüht, nicht mehr zu grinsen.
»Nein, danke«, antwortete Daniela, die sich ihrem Handy zugewandt hatte. »Ich fahre nachher einkaufen. Brauchst du etwas?«
Mina überlegte, während sie ihre Toasts auf einen Teller legte und beide Scheiben dick mit Erdnussbutter bestrich.
»Ich glaube nicht«, sagte sie dann und setzte sich an den Tisch. Sie konnte nicht fassen, dass ihre Schule tatsächlich abgebrannt war. Was würde nun geschehen? Konnten sie auf die Schnelle ein anderes Gebäude auftreiben, in dem sie unterrichtet werden konnten? War wirklich alles niedergebrannt? Und warum hatte sie am Tag zuvor unnötig viel Zeit mit ihren Hausaufgaben verbracht?
Sie malte sich aus, wie Viola wohl reagiert hatte, als sie ihr die Neuigkeit mitgeteilt hatten. Vermutlich hatte sie gerade einen Heulkrampf, aber Mina verspürte kein Mitleid. Stattdessen überlegte sie, was sie mit ihrem freien Tag anstellen könnte, und entschloss sich dazu, endlich die letzten Kartons auszupacken.
Also stieg sie nach dem Frühstück motiviert die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, und die kahle Wand erinnerte sie daran, dass sie immer noch nicht alle Bilder aufgehängt hatte, wie es eigentlich der Plan gewesen war. Familienfotos vom oberen Ende der Treppe bis hinunter zum Flur. Allerdings hatte Mina keine Ahnung, wo der Rest geblieben war. Sie setzte die Suche nach den Bildern auf ihre Liste für den Tag und schlüpfte in bequeme Klamotten, bevor sie den Karton öffnete, an dem sie sich am Abend zuvor den Zeh gestoßen hatte.
»Schrott, Schrott, Schrott«, murmelte Mina vor sich hin, als sie Gegenstände aus dem Karton hervorholte und um sich herum ausbreitete. Sie blickte zu ihrem kleinen Mülleimer und machte sich dann auf den Weg zurück in die Küche, um sich einen größeren Müllsack zu besorgen. Lieber gleich zwei.
Sie fand Dinge, von denen sie nicht einmal mehr gewusst hatte, dass sie diese besaß. Altes Spielzeug, an dem ihr Herz nicht hing. Buchstützen, die ein Weihnachtsgeschenk gewesen waren, aber die Mina nie gemocht hatte. Filzstifte, die längst nicht mehr malten. Die Liste wurde länger und länger und am Ende war nichts in dem Karton gewesen, was sie behalten wollte. Sie legte die Sachen zurück, die es möglicherweise wert waren, gespendet zu werden, und stopfte den Rest in den Müllbeutel. Dann nahm sie sich den nächsten Karton vor. Und den nächsten. Ihr schlechtes Gewissen regte sich, weil sie das vor dem Umzug hätte machen sollen, anstatt alle Kartons mitzuschleppen. Zwischendrin brüllte Daniela, dass sie nun einkaufen fahren würde, und Mina brüllte ihre Zustimmung zurück.
Mit einem Seufzen wandte sie sich ihrem Bett zu, unter dem etliche Kisten lagerten. Sie schaute auf ihr Handy, aber wie gewöhnlich zeigte dieses keine Nachrichten für sie an. Mina war sicher, dass die Handys ihrer Mitschüler gerade heiß liefen, denn sicherlich musste die Katastrophe, die sich ihrem Musical in den Weg gestellt hatte, ausführlich besprochen werden. Es wunderte sie nicht, dass davon nichts bei ihr ankam.
Sie legte das Handy aufs Bett und sich selbst auf den Bauch davor, um nach den Kisten zu angeln. Sie war bei der zweiten angekommen, als ihr Handy klingelte. Mina steckte gerade halb unter dem Bett und verfluchte den Anrufer, der vermutlich ihre Mutter war. Wer konnte es sonst sein? Mina robbte unter dem Bett hervor und nahm den Anruf an, ohne groß auf das Display zu achten.
»Du hast ihn gesehen, nicht wahr? In der Rauchwolke«, sagte eine dunkle Männerstimme, die ihr unbekannt war, »aber er hat dich auch gesehen.«
Damit endete der Anruf und Mina starrte fassungslos auf das Handy in ihrer Hand, als würde es im nächsten Moment explodieren. Das konnte nur ein schlechter Scherz gewesen sein. Mit zitternden Fingern sah sie nach, ob die Nummer des Anrufers in ihrem Handy auftauchte, ohne wirklich daran zu glauben. Was sie überraschte, war die Tatsache, dass der Anruf überhaupt nicht in der Liste zu finden war. Als hätte sie sich das nur eingebildet. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken und sie schüttelte sich, als könnte sie damit das Gefühl der Beklemmung loswerden, das sie fest gepackt hatte.
»Aber er hat dich auch gesehen«, hatte die Stimme gesagt. Wer? Wer hatte sie gesehen, wie sie in der Nacht das Feuer beobachtet hatte?
Sie konnte nicht anders, sie kletterte auf ihr Bett und öffnete das Fenster. Der Tag war weiterhin trüb und wolkenverhangen. Ansonsten konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Mit einem Frösteln schloss sie das Fenster und ließ sich auf ihr Bett plumpsen. Eine Gänsehaut hatte sich auf ihren Armen ausgebreitet, und Mina beschloss, die Kisten in Ruhe zu lassen und duschen zu gehen.
Während das heiße Wasser auf sie herabprasselte, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Es gab keinen Beweis dafür, dass der Anruf stattgefunden hatte. Auch wenn es ihr nicht passte, für den Moment nahm sie sich vor, die Sache zu ignorieren. Ihr fiel kein anderer Weg ein, damit umzugehen. Ganz sicher würde sie sich davon nicht verrückt machen lassen! Aber abschütteln konnte sie das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden, nicht. Da konnte sie sich noch so sehr einreden, dass alles in Ordnung war.
Fast war sie dankbar darüber, als ihre Mutter vom Einkaufen zurückkam, auch wenn Danielas Laune oftmals das Ebenbild von einer Partie russischem Roulette war und Mina nie sagen konnte, was sie erwischen würde.
Sie schob die Kisten zurück unter ihr Bett und trug die Beutel nach unten, die in den Müll sollten. Mina stellte diese neben der Haustür ab und ging in die Küche, in der ihre Mutter gerade mit der neuen Kaffeemaschine beschäftigt war.
»Ich hätte doch die andere nehmen sollen«, murmelte Daniela und rüttelte an der Maschine. Die Kaffeemaschine hatte von Beginn an ein stures Eigenleben entwickelt und war selten zu einer Kooperation bereit, was Mina nicht sonderlich interessierte, da sie keinen Kaffee trank, was jedoch ein riesiges Problem in Danielas Leben war.
Jedes Mal, wenn die Familie für einen neuen Job ihres Vaters umziehen musste, bekamen ihre Mutter und Mina ein funkelndes neues Spielzeug. Dieses Mal war es eine superteure, italienische Kaffeemaschine für Daniela und ein neues Mountainbike für Mina gewesen. Natürlich fand sie das Bike großartig, aber sie wäre lieber in ihrem alten Haus geblieben und hätte kein neues Fahrrad bekommen, aber weder ihr Vater noch ihre Mutter fragten bei bedeutenden Entscheidungen nach ihrer Meinung.
Mina nahm sich ein Glas Saft und setzte sich an den Tisch, während sie ihrer Mutter dabei zusah, wie diese den Stecker der Kaffeemaschine aus der Steckdose zerrte, um ihn kurz darauf mit Wucht wieder an seinen ursprünglichen Platz zu befördern. Dann drückte Daniela einen Knopf, und wie durch ein Wunder ging die Maschine an und gab einige gurgelnde Geräusche von sich, an die sich alle mittlerweile gewöhnt hatten.
Daniela wirkte genervt, was an sich nichts Neues war, aber Mina hatte den Eindruck, dass sich der Stresslevel seit dem frühen Morgen deutlich erhöht hatte.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie daher.
Daniela kippte Kaffeebohnen in die Maschine und selbst das wirkte aggressiv. Sie gab ein undefinierbares Geräusch von sich und drückte einen weiteren Knopf. Lautes Knirschen erfüllte die Küche. Wenn die Maschine Kaffee kochte, war es unmöglich, sich dabei zu unterhalten. Mina wartete geduldig ab, bis der Kaffee samt aufgeschäumter Milch im Becher war und ihre Mutter sich ebenfalls gesetzt hatte. Daniela umklammerte ihren Becher mit beiden Händen, als würde sie die Hitze gar nicht spüren können, was Mina bewundernswert fand.
»Ich habe mich doch um einen Job bei der Stadt beworben, erinnerst du dich?«
Mina schluckte den bissigen Kommentar herunter, der ihr auf der Zunge lag und darum bettelte, herausgelassen zu werden. Tagelang war Daniela ihr mit Jobangeboten auf die Nerven gegangen, hatte sie genötigt, Bewerbungen zu lesen, die immer fehlerfrei waren, und eigentlich nur Bestätigung für ihre Entscheidungen gesucht. Mina war es egal, welchen Job ihre Mutter annahm, wenn sie nur aus dem Haus ging, da sie absolut nicht für ein Leben als Hausfrau geeignet war. Daniela erledigte zwar das Nötigste, aber man merkte ihr an, dass sie es nicht leiden konnte. Auch wenn sie nach dem Umzug einige Tage lang ihre Freizeit genossen und nur für sich genutzt hatte, war mittlerweile deutlich, dass Daniela unglaublich langweilig war. Sie ging gerne zur Arbeit, und Mina hatte das Gefühl, es erfüllte sie weit mehr als ein Leben zu Hause es je könnte.
Das Problem war nur, dass ihre Mutter stets Jobs fand, die sie liebte, aber die nicht immer sonderlich gut bezahlt waren. Wenn ihr Vater also einen neuen Top-Job fand, dann musste Daniela ihren Job kündigen und in der nächsten Stadt einen neuen suchen. Das war jedes Mal so lange ein Drama in mehreren Akten, bis sie einen gefunden hatte, der ihr lag. Dann kehrte normalerweise ein wenig Ruhe in ihrem Haus ein. Aber so weit waren sie nach dem letzten Umzug noch nicht.
Anstatt ihre Mutter also daran zu erinnern, dass diese es ihr unmöglich machte, zu vergessen, dass sie auf Jobsuche war, nickte Mina bloß zustimmend.
»Morgen sollte ich das Gespräch haben. Vorhin bekam ich allerdings einen unerfreulichen Anruf. Bei dem Brand ist nicht nur deine Schule zu Schaden gekommen, sondern auch mehrere Gebäude der Stadtverwaltung. Unter anderem das Archiv, in dem ich angefangen hätte, wenn sie mich angestellt hätten.«
Für Mina hatte die Jobbeschreibung für das Stadtarchiv furchtbar langweilig geklungen. Es ging darum, das alte Ding zu überprüfen und zu sortieren, weil sich offensichtlich seit Jahrzehnten niemand mehr darum gekümmert hatte. Danach alles mit dem neuen Archiv zusammenführen und weitere stumpfe Büroarbeit. Öder ging es kaum, aber ihre Mutter war ganz begeistert gewesen. Allerdings gab es nun ohne Archiv natürlich keinen Job.
»Das ist ja blöd«, sagte Mina und war um Mitleid in ihrer Stimme bemüht. Das bezog sie allerdings eher auf sich selbst, denn ohne Job würde ihre Mutter immer unleidlicher werden.
»Das kannst du laut sagen.« Daniela starrte in ihren Kaffeebecher und schob den Milchschaum mit einem Löffel hin und her, bis er fast überschwappte. Das leise Knistern des Schaums, als dieser langsam zusammenfiel, und das Klicken des Löffels am Becher waren für einen Moment die einzigen Geräusche in der Küche. Ein paar aufmunternde Worte waren jetzt sicher angemessen, fand Mina, auch wenn sie dazu keine Lust hatte. Sie überlegte, ob sie ihrer Mutter von dem Wesen in der Rauchwolke und dem seltsamen Anruf erzählen sollte, entschied sich aber im gleichen Moment dagegen. Lieber versuchte sie es mit dem Aufmuntern.
»Du findest bestimmt einen anderen coolen Job.«
»Klar. Weil das so einfach ist!« Plötzlich schaltete etwas im Kopf ihrer Mutter um und Daniela begann, sich furchtbar über alles und jeden aufzuregen. Nach etwa fünf Minuten Monolog, in dem sie wieder all die Dinge aufzählte, die Mina eh schon wusste und nicht ändern konnte, klingelte zum Glück das Telefon, und Mina sah zu, dass sie sich schleunigst aus dem Staub machte. Sie bereute, überhaupt etwas gesagt zu haben. Immer wieder versuchte sie es mit ihrer Mutter, dabei müsste sie es doch eigentlich mittlerweile besser wissen.
Mina hüpfte in Gedanken versunken die Treppe hinauf und verschwand in ihrem Zimmer.
Zuallererst: Musik. Dann den Laptop hochfahren und sehen, was die Website der Stadt und die örtlichen Zeitungen über den Brand zu berichten hatten. Es gab bereits Fotos von dem Unglück. Ihre Schule war über Nacht zu einer Ruine geworden. Das Dach war eingestürzt, viele der Fenster hatten kein Glas mehr, die noch stehenden Wände waren mit schwarzem Ruß überzogen. Da war nichts mehr zu retten. Wie lange es wohl dauern würde, ein komplettes Schulgebäude neu zu bauen?
Über die Musik hinweg konnte sie ihre Mutter unten im Haus lärmen hören. Es war vermutlich gut, dass sie nichts über den Anruf gesagt hatte. Daniela hätte ihr eh nicht geglaubt. Mina war selbst nicht mehr überzeugt davon, dass dieser wirklich stattgefunden hatte. Wenn sie die Geschehnisse der Nacht und den Anruf ignorierte, würde sie diese irgendwann vergessen. Problem gelöst. Mina machte sich auf ihrem Laptop einen Film an und kuschelte sich unter ihre Bettdecke. Das war tausendmal besser als Proben für das Musical zu haben.
Während Mina ihre freie Zeit genoss, kamen Vertreter der vier Gymnasien von Lorenberg zu einem Treffen zusammen, an dessen Ende ein Plan stand, um den nun schullosen Schülern ihren Unterricht zu ermöglichen. Die anderen drei Gymnasien erklärten sich dazu bereit, Schüler aufzunehmen, bis eine bessere Lösung gefunden wurde. Mina erhielt dazu eine Mail, ihre Mutter erhielt eine Mail, und sie bekamen einen Anruf, um ganz sicher zu stellen, dass Mina wusste, wo sie am nächsten Tag aufzutauchen hatte.
Daniela brüllte die Treppe hinauf, dass Mina in die Küche kommen sollte. Diese gehorchte ohne Protest, da sie nicht abschätzen konnte, in welche Richtung sich die Stimmung ihrer Mutter in den letzten Stunden bewegt hatte.
In der Küche kämpfte Daniela bereits wieder mit ihrer Maschine und Mina dachte darüber nach, dass es ihrer Mutter vielleicht ganz guttun würde, Kaffee nicht literweise zu trinken.
Das Gespräch über den erneuten Schulwechsel von Mina verlief halbwegs zivilisiert. Es gab allerdings auch nicht viel zu besprechen. Ihr blieb schließlich nichts anderes übrig, als sich am nächsten Tag auf den Weg zu ihrer neuen Schule zu machen.
»Kannst du dein Rad nehmen, oder soll ich dich fahren?«, fragte Daniela, und ihr Tonfall machte deutlich, dass ihre Tochter das Angebot besser ablehnte. Mina schaute sich die Strecke auf Google Maps an.
»Ist mit dem Fahrrad gar nicht so viel länger. Das ist schon in Ordnung«, sagte sie.
»Wirklich?«, fragte ihre Mutter, konnte allerdings ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken und versuchte dann, es in einem Husten zu verstecken.
»Ja, alles gut. Ich nehme mein Fahrrad.«
Wieder eine neue Schule. Die Erkenntnis setzte ganz langsam bei Mina ein. Wieder von vorne beginnen. Aber vielleicht gab ihr der Wechsel die Chance darauf, doch noch Freunde in dieser Stadt zu finden. Schlimmer als die vom Musical Besessenen konnte die neue Klasse nicht werden.
Sie sah sich ihren zugemailten Stundenplan an und flüchtete dann aus der Küche, als der Kampf ihrer Mutter mit der Kaffeemaschine zu eskalieren drohte. Mina fragte sich, wer wohl aus ihrer alten Klasse am nächsten Tag in derselben Schule wie sie auftauchen würde, dachte dann aber im gleichen Moment, dass es im Grunde egal war.
Zurück in ihrem Zimmer packte Mina ihren Rucksack um, nahm Bücher heraus und schob ihre Hefte für die Fächer am nächsten Tag hinein. Dann wählte sie ein Outfit und legte es auf ihren Stuhl. Ein erster Eindruck konnte Gold wert sein. Sie musste mit ihren Klamotten nur noch den Geschmack ihrer zukünftigen Mitschüler treffen, was ihr an den letzten drei Schulen nicht gelungen war. Möglicherweise lag das nicht an den anderen, sondern an ihrem Kleidungsstil. Es wäre großartig, wenn sie zumindest eine Freundin finden würde, mit der sie shoppen gehen konnte.
Ohne dass sie es wollte, übermannte Mina eine stetig anwachsende Nervosität. Sie war froh, als sie im Bett lag und ihr Auftauchen in der neuen Schule nicht mehr weit weg war. Sie musste nur die ersten Minuten überstehen, dann würde alles gut werden. Und sich Sorgen um die neue Schule zu machen, war besser, als darüber nachdenken zu müssen, ob es dort draußen vor ihrem Fenster tatsächlich jemanden gab, der sie beobachtete.
Schulwechsel
Als Minas Handyalarm klingelte, schoss sie aufgeschreckt in die Höhe und schlug instinktiv die Decke zurück. Sie war tief in einem Traum gewesen, und ihr Herz schlug viel zu schnell in ihrer Brust, als sie in die Realität gerissen wurde. Für einen winzigen Moment blitzte die Erinnerung an den Traum auf, dann verschwand sie und ließ Mina mit einem Gefühl der Leere zurück, als wäre da etwas Wichtiges, was sie nun verloren hatte.
Mina starrte an ihre Zimmerdecke und wartete darauf, dass sich ihr Puls beruhigte. Dabei dachte sie darüber nach, wie viele Schulen sie in ihrem fünfzehnjährigen Leben schon besucht hatte. Zu viele, entschied sie, rollte sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Dann in die Küche. Noch mal ins Bad und zurück in ihr Zimmer, wo sie sich darüber freute, dass sie ihr Outfit bereits am Tag zuvor bereitgelegt hatte. Sie schaffte es, das Haus zeitig zu verlassen, und war stolz darauf. Immerhin musste sie aufgrund des Schulwechsels nun noch eher los.
Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen und Mina zog ihre Mütze tiefer in die Stirn und den Schal bis über ihre Nase. Dann musste sie den Fahrradhelm über die Mütze zwängen, weil ihre Mutter jedes Mal ausrastete, wenn sie ihre Tochter dabei erwischte, ohne Helm auf dem Rad unterwegs zu sein. Mina war der Helm schrecklich peinlich, aber alles war besser, als den Zorn von Daniela auf sich zu ziehen.
Mina streifte ihre Handschuhe über und fuhr los. Sie musste aufpassen, nicht automatisch den Weg zu ihrer alten Schule zu nehmen, und war froh, als das neue Schulgebäude vor ihr auftauchte. Etliche Fahrradständer waren vor dem Hauptgebäude angebracht und sie suchte sich einen leeren davon aus, um ihr Rad anzuschließen.
»Dich kenne ich nicht«, sagte jemand hinter ihr, und Mina zuckte zusammen, wobei sie fast ihr Fahrradschloss fallen ließ. Sie hätte schwören können, dass da vor einer Sekunde noch niemand gewesen war.
»Bist du von der abgefackelten Schule?«
Mina klickte ihr Schloss zu, bevor sie aufsah.
»Gut kombiniert, Sherlock«, meinte sie und versuchte, an dem Jungen vorbei ins Gebäude zu kommen. Sie war durchgefroren und wollte nichts anderes, als in die Wärme gelangen, aber das schien ihn nicht zu interessieren. Der fremde Junge stellte sich ihr in den Weg, ein breites Grinsen im Gesicht. Er war etwa einen halben Kopf größer als Mina, was einiges hieß, da sie selbst nicht gerade klein war. Seine Haare hatten einen bräunlich-roten Ton und waren auf der linken Seite kurz rasiert, während sie mittig und auf der rechten Seite länger waren und wild von seinem Kopf abstanden. Das Bemerkenswerteste aber waren seine Augen. Das Linke war braun und das Rechte von einem dunklen Grün. Er musterte Mina aufmerksam und sie wandte den Blick ab. Er sah verdammt gut aus und das machte sie nervös.
»Netter Helm«, bemerkte er dann, während sein Grinsen noch breiter wurde. Wenigstens machte er ihr danach Platz.
Mina spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und sie ärgerte sich darüber. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Trotzdem sah sie zu, dass sie den Helm so schnell es ging abnahm.
Mina warf dem Jungen einen, wie sie hoffte, verächtlichen Blick zu und stiefelte zum Gebäude. Er folgte ihr, was sich nicht vermeiden ließ, da er offensichtlich auch zu dieser Schule gehörte.
»Wie soll ich dich nennen? Watson?« Das Grinsen schien in seinem Gesicht festgefroren zu sein. Er machte einen kleinen Hechtsprung an Mina vorbei, um ihr die Tür aufzuhalten.
»Mina«, antwortete sie und betrat das Gebäude. In der Eingangshalle war es wunderbar warm und vollkommen überfüllt, was Sinn ergab, da sie in der Mail angewiesen worden waren, sich vor dem Unterricht in der Halle zu versammeln.
»Und wie soll ich dich nennen, außer Sherlock?«, fragte Mina und drehte sich um, als sie keine Antwort erhielt, aber er war nicht mehr hinter ihr. Stattdessen stand da eine kleine Fünftklässlerin und sah sie verwirrt aus großen Augen an. Mina drehte sich schnell zurück und suchte die Halle ab, aber Sherlock war verschwunden. Stattdessen erblickte sie Pascal, der sein Handy am Ohr hatte und wild mit seiner freien Hand durch die Luft gestikulierte. Schien ein intensives Gespräch zu sein. Mina winkte ihm zu, aber er drehte sich demonstrativ um, was ihr einen Stich versetzte. Er hätte sie wenigstens begrüßen können.
Marie und Julia, ebenfalls aus ihrer vorherigen Klasse, standen abseits und hatten die Köpfe zusammengesteckt. Mina wollte lieber nicht stören.
Stattdessen sah sie sich weiter um. Ein großes Plakat hing an einer Wand neben ihr und schien Werbung für eine Tanzveranstaltung zu machen. Bevor Mina herausfinden konnte, worum es genau ging, tauchte eine schlanke Frau mittleren Alters auf und bat um Aufmerksamkeit. Sie hatte ihre teils ergrauten Haare zu einem festen Knoten auf dem Kopf gebunden und begutachtete die Schülermenge vor sich durch riesige Brillengläser. Sie stellte sich als Frau Sommer vor und war die Sekretärin der Schule.
»Ich werde jetzt eure Namen aufrufen. Bitte kommt dann zu mir und ich übergebe euch einem Schüler oder einer Schülerin eurer neuen Klasse, die euch zu eurem Raum begleiten werden.«
Mina wartete darauf, dass ihr Name genannt wurde, musste sich allerdings eine ganze Weile gedulden, weil Frau Sommer mit den unteren Klassen anfing und sich von dort nach oben arbeitete. Neben Pascal, Marie, Julia und Mina wurden zwei weitere Schüler aus ihrer vorherigen Parallelklasse aufgerufen. Mina hatte keine Ahnung, wie die beiden hießen, war sich aber sicher, sie öfter auf dem Schulhof mit einem Hacky Sack gesehen zu haben.
»Ihr seid vollständig«, sagte Frau Sommer, hakte die Namen auf ihrer Liste ab und gab dann einer Schülerin mit kurzen, blond gefärbten Haaren, die einen fast weißlichen Ton angenommen hatten, ein Zeichen.
»Folgt mir bitte«, sagt diese ruhig und führte sie einen Gang entlang. »Willkommen im Tollhaus«, redete sie weiter, den gleichen neutralen Tonfall nutzend. »Zu eurer Rechten liegt der Gang mit den Toiletten, die Treppe hinunter bringt euch zu den Laboratorien, auch Chemie-, Physik- und Bioräume genannt, die Sporthalle liegt gegenüber von diesem Gebäude und hier ist euer neuer Klassenraum. Ich wünsche allen einen angenehmen Aufenthalt.«
Die anderen sahen die Blonde mit skeptischem Blick an, aber Mina konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Die Blonde zwinkerte ihr zu, öffnete dann mit Schwung die Tür zum Klassenzimmer und ließ alle eintreten. Die anderen Schüler saßen bereits.
»Herzlich willkommen«, sagte die junge Frau am Lehrerpult. Sie hatte versucht, ihre dunklen Locken mit mehreren Haarspangen zu bändigen, war jedoch kläglich gescheitert. Sie war groß und dürr, trug modische Kleidung und sah aus, als kenne sie den Unterschied zwischen einer Playstation und einer Xbox. Sie war Mina auf Anhieb sympathisch.
»Ich bin Frau Mayer und ab heute bis auf unbestimmte Zeit eure neue Klassenlehrerin. Wir haben uns bereits um weitere Tische gekümmert, und wie ihr seht, wird es eng. Ich erwarte von allen, dass sie das Beste aus der Situation machen. Um das Kennenlernen ein wenig zu erleichtern, werden wir die Sitzordnung anpassen.«
Ein unwilliges Raunen ging durch den Raum.
»Keine Widerrede. Alle stehen auf und kommen nach vorne. Ich weise dann neue Plätze zu. Und um es ein bisschen unterhaltsamer zu machen, sagt ihr euren Namen, wenn ihr euch setzt, und etwas, das ihr mögt, was mit dem gleichen Buchstaben wie euer Name beginnt.«
Das Raunen wurde lauter. Mina begann krampfhaft nachzudenken. Wilhelmina lieferte ihr nicht den besten Buchstaben, um ein Wort damit zu finden. Wasser? Wer mochte Wasser nicht? Walzer tanzen? Wombats? Die waren zwar ganz drollig, aber so richtig gefiel ihr die Auswahl nicht. In Gedanken vertieft hatte sie bereits alle Namen derer verpasst, die wieder saßen. Ganz großartig.
»Watson«, sagte jemand leise neben ihr und sie zuckte zusammen. »Oder sollte ich Mina sagen?« Er grinste sie breit an.
»Yannik? Wenn du so freundlich wärst, dich neben Nevio zu setzen?«
Der Junge neben ihr nickte zustimmend. Das war also sein Name. Immer noch grinsend ging er zu seinem neuen Tisch.
»Ich heiße Yannik und ich mag Jodeln.«
»Das beginnt aber nicht mit deinem Anfangsbuchstaben.«
»Nee, aber wenn Sie was Besseres mit Ypsilon wissen, dann bin ich dankbar über jeden Vorschlag.«
Er ließ sich auf seinen Stuhl plumpsen, während sein Sitznachbar unmerklich seinen eigenen Stuhl von Yannik abrückte. Da war auf jeden Fall jemand, der keine Lust auf die neue Sitzordnung hatte. Nevio? Seltsamer Name. Was er wohl zu seinem Namen gesagt hatte?
»Wilhelmina?«
»Das bin ich«, sagte Mina und nahm sich vor, ab jetzt richtig aufzupassen. Und in dem Moment fiel ihr auf, wie einfach das blöde Namensspiel war. Frau Mayer deutete auf den Tisch hinter Yannik und Nevio, in der letzten Reihe. Mina lief los und sagte dabei: »Ich werde Mina genannt und ich mag Musik.« Ein Kinderspiel. Yannik drehte sich halb zu ihr um, aber sie versuchte, woanders hinzusehen. Auf den Tisch zum Beispiel.
»Kassandra, bitte setz dich zu Mina.«
»Hallo, mein Name ist Kassandra und ich mag Kasperletheater.«
Die Blonde ließ sich auf ihrem neuen Platz nieder und sagte leise: »Wie diese Schule hier.«
Dann blickte sie Mina an. Ihre Augen waren von einem strahlenden Hellblau, und über ihre Nase und die Wangenknochen zog sich ein breiter Streifen von Sommersprossen.
»Kannst mich Cassie nennen, wenn du magst.«
Mina nickte und lächelte dabei. Ein Junge namens Tim nahm auf ihrer anderen Seite Platz. Er hatte strubbelige braune Haare und trug eine große Hornbrille. Tim grinste sie freundlich an und holte dann seine Sachen hervor.
»Tut mir leid, dass du nicht neben deinen Freundinnen gelandet bist«, flüsterte Cassie, aber Mina zuckte nur mit den Schultern.
»Das sind nicht wirklich meine Freunde«, wisperte sie zurück, worauf Cassie fragend eine Augenbraue in die Höhe zog.
»Ich bin erst vor ein paar Wochen nach Lorenberg gezogen«, erklärte Mina rasch und schwieg dann, weil sich die allgemeine Aufregung gelegt hatte und der Unterricht begann.
Da sie hinter Nevio saß, hatte sie jede Menge Zeit, seinen Hinterkopf und Rücken anzustarren. Er trug seine honigblonden Haare zu einem Man Bun, eine Frisur, die sie bisher für bescheuert gehalten hatte. Mina war nicht sicher, ob sie ihm stand oder nicht, da sie ihn weder von der Seite noch von vorne sehen konnte. Anders als Yannik blickte Nevio stur geradeaus und drehte seinen Kopf kein einziges Mal. Er trug einen dunkelgrünen, dünnen Pullover, bei dem Mina nur vom Hinsehen kalt wurde.
Vom Unterricht hatte sie bisher kaum etwas mitbekommen, weshalb sie auf Cassies Heft schielte, um zu sehen, worum es ging, aber die war damit beschäftigt, ein Seeungeheuer zu zeichnen. Das war beeindruckend, half Mina jedoch nicht weiter. Sie versuchte es auf der anderen Seite bei Tim, konnte aber seine Schrift nicht entziffern. Sie probierte, Frau Mayer zuzuhören, aber ihre Gedanken wanderten munter ihrer eigenen Wege. Mina atmete erleichtert auf, als ein Klingeln das Ende der Doppelstunde verkündete und sie nicht einmal aufgerufen worden war.
»Bereit für Akt zwei?«, fragte Cassie und verstaute ihre Sachen in ihrer Tasche.
»Ich weiß nicht. Was erwartet mich da noch mal?«, fragte Mina und kramte nach dem Stundenplan.
»Bio. Los, komm.«
Mina beeilte sich, ihre Sachen ebenfalls in ihren Rucksack zu stopfen, und sprang auf.
»Und wie gefällt dir Lorenberg bisher?«, fragte Cassie, holte eine Packung Kaugummi aus ihrer Jackentasche und bot sie Mina an. Diese nahm eins, steckte es dann aber für später in ihre eigene Tasche.
»Ich weiß noch nicht. Ist ganz okay, denke ich.«
»Sehr diplomatisch.«
»Was soll ich sagen? Ich habe von der Stadt noch nicht viel gesehen.«
»Gibt hier auch nicht so viel. Der Aussichtspunkt ist ganz okay. Aber du warst bei dem Wetter sicher noch nicht da, oder?«, fragte Cassie.
Mina schüttelte den Kopf.
»Sobald es wärmer wird, können wir da mal zusammen hin, wenn du magst.«
»Klar.«
Cassies Offenheit überraschte Mina, aber gleichzeitig war sie unglaublich froh, dass diese sich die Mühe machte, mit ihr zu sprechen. Oftmals waren die ersten Tage in einer neuen Schule sehr einsam. Oder jeder hing auf ihr und löcherte sie mit teils unangenehmen Fragen. Nicht, weil sie Mina wirklich kennenlernen wollten, sondern weil ihnen langweilig war. Sie hatte bei Cassie nicht den Eindruck, dass sie aus Langeweile handelte.
»Und hier ist die Crew«, sagte Cassie, als sie vor dem Bioraum angekommen waren. Zwei Mädchen, die von Frau Mayer soweit es ging auseinandergesetzt worden waren, grinsten ihnen entgegen.
»Ihr hättet ja ruhig vor der Klasse auf uns warten können«, meinte Cassie.
»Tut mir leid. Mussten dringend auf Toilette. Hey, musikliebende Mina. Ich bin Lilly, falls du gerade in dem Platzwechsel-Chaos nicht alles mitbekommen hast«, sagte die Rechte von ihnen.
Lilly überragte sie alle um eine gute Kopflänge. Sie trug ihre dunkelbraunen Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten und blickte Mina mit ihren dunklen Augen aus einem makellosen Gesicht heraus an. Alles an Lilly schrie nach Topmodel. Ihre Größe, ihr Aussehen und ihre Haltung. Mina kam sich neben ihr wie ein nasser Sack vor. Weiterhin lächelnd deutete Lilly auf das Mädchen neben sich.
»Und das hier ist Vivian.«
Vivian war von Kopf bis Fuß Goth. Ihre Haare waren schwarz gefärbt und verrieten nur am Ansatz, dass sie eigentlich dunkelblond waren. Diese hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht und reichten bis über ihre Schultern. Sie war stark geschminkt und alle ihre Klamotten waren schwarz, genauso wie ihr Rucksack.
»Was geht?«, fragte Vivian mit rauer Stimme, die gut zu ihrem Erscheinungsbild passte.
»Gerade? Nichts«, antwortete Mina wahrheitsgemäß. Vivian nickte und begann, an ihrer Nagelhaut zu zupfen. Es wunderte Mina nicht, dass auch Vivians Fingernägel schwarz lackiert waren.
»Wie ich sehe, hast du bereits die drei Schicksalsschwestern kennengelernt.« Yannik tauchte neben ihnen auf.
»Zieh Leine«, sagte Lilly gelangweilt, aber Mina konnte sehen, wie Vivian ihn genau musterte, auch wenn sie versuchte, ebenso uninteressiert wie ihre Freundin zu wirken.
»Da kommt der Schlächter«, murmelte Cassie kaum hörbar. Die Klasse wich zurück, um dem ankommenden Lehrer Platz zu machen. Er war etwa so breit wie hoch und hatte ein verkniffenes Gesicht. Mina war nicht sicher, warum Cassie ihn den Schlächter nannte, aber begriff bereits nach wenigen Minuten, dass Herr Fuchs keinen Spaß verstand.
Sie endete in einer Reihe mit Cassie, Vivian und Lilly. Die drei waren die ganze Stunde lang still, auch wenn sie ununterbrochen damit beschäftigt waren, sich Zettelchen zu schreiben. Ab und an sah Cassie zu Mina und blinzelte ihr zu, trotzdem kam Mina sich ausgeschlossen vor. Was Quatsch war, denn schließlich waren die drei sicher schon ewig befreundet, und nur weil sie jetzt auch in der Klasse war, hieß das ja nicht, dass sie Mina an allem teilhaben lassen mussten.
Ein merkliches Aufatmen ging durch die Klasse, als die Glocke ertönte und sie vom Schlächter befreite. Bio würde hier auf jeden Fall nicht zu Minas Lieblingsfach werden. Cassie scheuchte sie aus dem Raum, ohne ihr Zeit zu lassen, wenigstens ihren Rucksack ordentlich zu schließen.
»Doppelstunde Englisch, falls du dich gefragt hast, was gleich kommt«, sagte Cassie auf dem Gang. Mit Vivian und Lilly im Schlepp suchten sie sich einen Platz auf dem Schulhof, um die erste große Pause gemeinsam zu verbringen.
»Wie du vielleicht gemerkt hast, hatten wir gerade eine angeregte, wenn auch sehr stumme Diskussion darüber, was wir an diesem Wochenende machen wollen.«
Cassie holte einen Apfel aus ihrer Tasche und beäugte ihn kritisch. Vivian sah sich um und Mina fragte sich belustigt, ob sie nach Yannik Ausschau hielt. Lilly holte eine Lunchbox und eine Gabel aus ihrem Rucksack und begann munter, sich kalten Nudelsalat in den Mund zu schaufeln.
Mina holte ihr selbstgeschmiertes Käsebrot hervor. Als sie in die erste Klasse gekommen war, hatte ihre Mutter immer ein Essenspaket für die Schule gemacht. Brot und Obst, eine Flasche Schorle und eine kleine Süßigkeit. Damals schien die Welt noch in Ordnung. Aber bereits nach Minas Wechsel in die zweite Klasse hatte ihre Mutter entweder keine Lust mehr dazu gehabt, wollte ihre Tochter zu einem selbstständigen Menschen erziehen oder hatte einen ganz anderen Grund, den Mina bis heute nicht verstanden hatte. Auf jeden Fall musste sie sich ab diesem Zeitpunkt ihr Brot selbst machen, wenn sie etwas haben wollte.
»Du bist eingeladen, falls du dich wundern solltest, warum wir dir unsere Pläne mitteilen«, meinte Vivian und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Wollte sie denn gar nichts essen?
»Oder hast du schon etwas vor?«, fragte Lilly, musste ihre Frage jedoch wiederholen, weil sie beim ersten Mal den Mund voll hatte und keine von ihnen verstand, was sie ihnen mitteilen wollte. Mina schüttelte den Kopf.
»Traurig, aber besser für uns«, grinste Cassie, die endlich in ihren Apfel biss. Er schien ihr zu schmecken.
»Seid ihr sicher? Ihr kennt mich doch gar nicht«, wagte Mina einzuwerfen. Natürlich fand sie es großartig, endlich mal Pläne mit Freunden zu schmieden, aber das ging alles so schnell, dass in ihrem Hinterkopf Alarmglocken zu läuten begannen.
»Lilly fand, du hast so einsam ausgesehen in der Halle, als du darauf gewartet hast, in deine neue Klasse zu kommen. Da hatte sie direkt Mitleid«, erklärte Vivian.
Mina wollte kein Mitleid und außerdem hatte sie nicht verloren ausgesehen. Ihr war nur verdammt kalt gewesen und sie hatte darauf gewartet, was geschehen würde.
»Jetzt schau doch nicht so wütend!«, meinte Cassie und biss erneut in den Apfel.
Mina versuchte, ihre Mimik wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unglücklicherweise konnte man ihr ihre Emotionen meist problemlos vom Gesicht ablesen. Daran musste sie wirklich arbeiten.
»Du musst ja auch nicht, wenn du nicht willst. Wir dachten nur, du hängst ein Wochenende mit uns rum und wir sehen, ob wir uns verstehen. Wenn nicht, gehen wir uns ohne böses Blut nächste Woche in der Schule aus dem Weg. Und, was sagst du?«, fragte Cassie und sah Mina gespannt an, sodass diese den Eindruck hatte, die anderen wollten sie tatsächlich näher kennenlernen.
»Einverstanden. Aber kein Mitleid. Ich bin nicht verloren«, sagte Mina schneller, als sie denken konnte. Lilly lachte laut auf. Glücklicherweise war ihr Mund gerade mal leer.
»Du bist echt gut. Okay, kein Mitleid. Also eher ein Wolf als ein Schaf. Das passt mir.«
Mina musste unwillkürlich mitgrinsen. »Also, was ist denn jetzt der Plan?«, fragte sie dann. Eine Alarmglocke wollte absolut keine Ruhe geben, aber Mina war darum bemüht, diese zu ignorieren. Was sollte schon passieren? Sie würde mit den anderen herumhängen und wenn sie sich mochten, dann hatte sie gleich drei Freunde gefunden. Und wenn nicht, wäre das auch nicht der Weltuntergang.
»Samstagvormittag gehen wir shoppen. Ich brauche dringend neue Pullover«, sagte Lilly in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
»Und ich neuen Lesestoff. Warst du hier schon in der Bücherei? Nein? Lohnt auch nicht. Die Horrorabteilung ist der absolute Witz«, warf Vivian ein, bevor Lilly wieder das Wort ergriff.
»Danach fressen wir uns bei Cassies Mutter durch. Wird kein Problem sein, wenn sie für eine Person mehr kocht. Sie macht eh immer zu viel. Dann gehen wir zu mir und verbringen den Rest des Tages mit Filmen oder einer Serie. Wie klingt das?«
»Gut«, antwortete Mina und meinte es ehrlich. »Wo treffen wir uns?«
»Gib uns mal deine Handynummer, dann stecken wir dich in unseren Chat und schreiben dir den Treffpunkt.«
Sie waren gerade damit fertig, alle Nummern auszutauschen, als die Pause zu Ende war. Mina mochte Englisch und konnte dem Unterricht ohne Probleme folgen. In ihrem Magen hatte sich ein Glücksgefühl ausgebreitet, was sicherlich mit ihren Plänen fürs Wochenende zusammenhing. Im Gegensatz zu der ersten Unterrichtsstunde des Tages fühlte sie sich ruhiger und konnte sich besser konzentrieren. Yannik blickte ab und an verstohlen über seine Schulter zu ihr und grinste, aber Mina tat so, als würde sie es nicht sehen. Er musste ja nicht direkt merken, dass sie ihn ziemlich süß fand. Nevio saß wie in der ersten Stunde bewegungslos da und starrte geradeaus. Sein Stuhl war so weit es ging von Yanniks abgerückt und Mina fragte sich, was das Problem zwischen den beiden war.
Den Rest des Schultages verging für Mina überraschend schnell. Sie verabschiedete sich von den drei Mädels und war gerade dabei, ihr Fahrrad aufzuschließen, als jemand sie an der Schulter berührte. Mina drehte sich um und erwartete halb, Yannik hinter sich zu sehen, aber es war Lilly, die vor ihr stand. Mina sah sie verwundert an.
»Du traust dem Ganzen immer noch nicht, oder? Ich kann es in deinen Augen sehen.«
Das war jetzt schon merkwürdig formuliert, fand Mina und zuckte vage mit den Schultern.
»Es hilft dir sicher auch nicht, dass ich es gerade nicht erklären kann. Aber wir haben keine bösen Absichten. Glaubst du mir das?«
»Niemand mit Bommelmütze kann böse Absichten haben«, sagte Mina. Lilly hatte sich gegen die Kälte mit einer hellblauen Mütze mit pinkem Pompon gewappnet.
»Ich mag deine Einstellung«, sagte sie und wackelte mit dem Kopf, sodass der Pompon sich ebenfalls hin und her bewegte.
»Ich sehe dich dann morgen«, sagte sie, winkte und hüpfte mehr davon, als dass sie lief.
Mina setzte ihren Helm auf und stellte sicher, dass sie gut eingepackt war, bevor sie sich aufs Rad schwang und nach Hause fuhr. Dabei fühlte sie sich so gut wie schon seit Wochen nicht mehr. Die Euphorie eines freien Falls. Fragte sich nur, ob am Ende ein riesiges Trampolin auf sie wartete, oder ob Mina mit Karacho auf den Erdboden aufschlagen würde.
Wann ist endlich Wochenende?
Cassie hatte Mina in die WhatsApp-Gruppe eingeladen, die sie mit Vivian und Lilly teilte. Es war ein Wunder, wie viel die drei sich zu erzählen hatten, nachdem sie bereits einen großen Teil des Tages zusammen in der Schule gewesen waren. Mina hielt sich zurück, was die anderen nicht zu stören schien. Sie hatte sich vorgenommen, die ganze Sache ruhig anzugehen.
Nichtsdestotrotz fragte sie ihre Eltern beim Abendessen, ob sie den Samstag mit Leuten aus ihrer neuen Klasse verbringen durfte. Ihre Eltern hatten nichts dagegen einzuwenden, aber natürlich musste Mina dann genau erklären, um wen es sich bei ihren neuen Freundinnen handelte. Zumindest wollte ihre Mutter alles wissen. Ihr Vater hatte sein Tablet neben sich und war mehr damit als mit seiner Familie beschäftigt. Wenigstens stritten sich ihre Eltern nicht, was Mina begrüßte.
»Und der Schulweg ist in Ordnung?«, fragte Martin unvermittelt und überraschte sie damit.
»Ja. Ist kein Problem.«
»Ist mit dem neuen Rad alles okay?«
»Alles gut. Ich mag es echt gerne.«
Ihr altes Fahrrad hätte es auch getan, aber tatsächlich fand Mina Gefallen an dem Mountainbike. Sie hatte sich bereits Routen über die Hügel der Stadt herausgesucht, die sie fahren wollte, sobald es wärmer wurde.
»Das ist gut«, sagte ihr Vater und spießte eine Tomate von seinem Teller auf, bevor er sich wieder seinem Tablet zuwandte.
Wann hatte die Kommunikation an ihrem Tisch so rapide abgenommen? Früher hatte es eine Zeit gegeben, in der die Familie beim Abendessen wild diskutiert und vor allem gelacht hatte. Lag es an ihr? Trug jemand die Schuld? Konnte Mina etwas ändern, um es besser zu machen? Ihr fielen bloß beim besten Willen keine Themen ein, die ihre Eltern länger als ein paar Sätze in ein Gespräch verwickelt hätten. Sie drifteten langsam auseinander, als säßen sie in unterschiedlichen Booten, die alle von einer anderen Strömung erfasst worden waren. So sehr Mina es wollte, sie konnte nicht genug rudern, um zu ihren Eltern zurückzukehren. Diese Gedanken vertrieben ihren Appetit und sie stocherte lustlos auf ihrem Teller herum, bemüht darum, sich ihre Stimmung nicht anmerken zu lassen.
Nach dem Essen verschwand ihr Vater in seinem Arbeitszimmer und ihre Mutter setzte sich vor den Fernseher. Mina hätte gerne Zeit mit ihr verbracht, aber sie konnte die Serien nicht ausstehen, die Daniela sich stundenlang anschaute, also ging sie in ihr Zimmer, folgte dem Chat der Mädels für eine Weile und schaute dann ihre Serie weiter. Zumindest war sie wegen des nächsten Schultags nicht mehr nervös.
Mina verbrachte eine ruhige Nacht und machte sich am Morgen pünktlich auf den Weg zur Schule. Sie stellte ihr Fahrrad an der gleichen Stelle ab wie am Tag zuvor und dachte dieses Mal daran, ihren Helm direkt abzunehmen und an den Rucksack zu hängen.
Zwischen der Reihe aus Fahrradständern und dem Schulgebäude stand ein massiver Baum, der selbst ohne Blätter imposant wirkte. Das war allerdings nicht, was ihre Aufmerksamkeit weckte. Nevio stand mit dem Rücken an den rauen Stamm des Baumes gelehnt und starrte scheinbar ins Nichts. Erst als sie näher kam, was sich nicht verhindern ließ, weil er neben dem Eingang stand, wandte er ihr den Blick zu und für einen Moment vergaß Mina zu laufen. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, fing sich glücklicherweise und lief mit hochrotem Kopf weiter. Nevio verzog keine Miene. Mina war nicht mal sicher, ob er tatsächlich sie angesehen hatte. In ihrem Kopf war nur Platz für seine Augen. Sie waren von einem derart hellen Grün, dass sie fast gelblich wirkten, und so intensiv, als könnten sie direkt in ihre Seele blicken. Mina atmete einige Male tief ein und aus. Noch nie hatten Augen sie in diesem Maße in den Bann gezogen. Nicht einmal die unterschiedlichen Augen von Yannik hatten eine solche Wirkung auf sie gehabt.
Mina erreichte die Tür und drückte erfolglos, bis ihr wieder einfiel, dass sie ziehen musste, um ins Gebäude zu kommen. Am liebsten wäre sie umgedreht und hätte sich vor Nevio gestellt, um die nächsten Stunden damit zu verbringen, in seine Augen zu sehen und jeden Zug seines Gesichts auswendig zu lernen. Sie rempelte eine ältere Schülerin an und die motzte direkt los, was Mina halbwegs in die Realität zurückholte. Sie murmelte eine Entschuldigung und die andere Schülerin zog naserümpfend ab.
Was war denn los mit ihr? Mina schüttelte den Kopf, als würde sie dadurch klarer denken können. So etwas war ihr noch nie passiert. Und es war vollkommen verrückt. Vielleicht war sie noch müde, sodass ihre Sinne ihr einen Streich spielten. Ja, genau, sicher hatte sie nur vor sich hingeträumt. Schließlich konnte ein einziger Blick in das Gesicht eines anderen Menschen nichts entscheiden, oder?
»Weißt du nicht mehr, wo das Klassenzimmer ist?«
Mina gefror auf der Stelle zu einem soliden Eisklotz. Seine Stimme war warm und melodisch. Sie wünschte, Nevio würde weitersprechen, aber er schien auf etwas zu warten. Eine Antwort! Er wartete auf eine Antwort von ihr. Mina atmete tief ein und befahl sich selbst, mit dem Unsinn aufzuhören und sich zusammenzureißen. Sie drehte sich zu Nevio und wollte ihm mitteilen, dass sie noch wusste, wo sie hinmusste, aber bei dem Anblick seiner Augen stockte ihr der Atem und sie brachte nur ein unverständliches Gemurmel heraus. Schlimmer konnte es nicht mehr werden.
»Geht es dir gut?« Er hob seine sanft geschwungenen Augenbrauen, die den gleichen honigblonden Farbton wie seine Haare hatten.
»Kalt«, brachte sie hervor, »mir ist nur kalt.«
»Okay. Wollen wir?«
Wollen wir was?, dachte Mina verwirrt.
Er deutete auf den Gang vor ihnen und sie nickte. Zum Klassenraum gehen. Natürlich. Schließlich waren sie in der Schule. Ihre Gedanken purzelten durcheinander wie Wäsche in einem zu hohen Schleudergang.
»Du heißt Mina, richtig?«
»Ja. Und du bist Nevio.« Mehr eine Feststellung als eine Frage, immerhin war sie vollkommen sicher, dass er so hieß. »Ein ungewöhnlicher Name.«
»Sagt das Mädchen namens Wilhelmina«, lachte er und für einen winzigen Moment stand Mina nicht mehr in der Eingangshalle der Schule, sondern auf einer sonnendurchfluteten Waldlichtung. Ein Bach gluckerte auf