Tausche Eis gegen deine Gedanken - Britta Heinemeyer - E-Book

Tausche Eis gegen deine Gedanken E-Book

Britta Heinemeyer

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Beschreibung

Für David steht ein Familienurlaub mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester an. Ein Albtraum für den Fünfzehnjährigen, der lieber mit seinem besten Freund Micha nach Barcelona geflogen wäre. Auch Elli hat sich die Ferien anders vorgestellt. Statt mit ihrem Vater nach Tunesien zu reisen, fahren sie nach Süddeutschland – zusammen mit Vanessa, der neuen Freundin ihres Vaters, von der Elli erst zwei Wochen vor Urlaubsantritt erfahren hat. Es dauert nicht lange, bis David und Elli sich in dem kleinen Feriendorf begegnen. Genervt von der Situation, in der beide feststecken, entsteht zwischen ihnen zunächst eine Zweckgemeinschaft, um ihren Familien zu entkommen. Allerdings stellen sie bald fest, dass sie gerne Zeit miteinander verbringen, und langsam wächst ihre Freundschaft. Diese könnte sogar zu mehr führen, wenn David nicht ein großes Problem hätte: Er will um jeden Preis vermeiden, dass Elli von seiner Depression erfährt. Und während der Sommer an ihnen vorüberzieht, werden Davids Tage immer dunkler.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 401

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Tausche Eis gegen deine Gedanken

Britta Heinemeyer

Britta Heinemeyer wurde 1986 in Gladbeck geboren. Nach dem Abitur zog sie nach Bückeburg, wo sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-Technischen Assistentin absolvierte.

2010 schrieb sie sich für Komparatistik und Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum ein. 2015 beendete sie die Rohfassung von Tausche Eis gegen deine Gedanken. Nach dem erfolgreichen Studienabschluss zog sie mit ihrem Mann nach England, wo sie an zwei weiteren Romanen arbeitete.

Seit 2021 lebt sie mit ihrem Mann und Hund Ponyo in den Niederlanden und schreibt ihren vierten Roman.

Weitere Informationen gibt es auf brittaheinemeyer.combritta_heinemeyer_autorin

Weitere Titel der Autorin:

Halber Vollmond (Band 1 der Lorenberg-Reihe)

Aura von Thalos Am Pass (Band 1 der Aura von Thalos Trilogie)

Tausche Eis gegen deine Gedanken

Britta Heinemeyer

© 2023 Britta Heinemeyer

Coverdesign von: Mink - the Drawing Researcher (https://linktr.ee/Mink_tDR)

Lektorat: Carolin Ruthenbeck

ISBN Softcover: 978-3-347-76387-6

ISBN E-Book: 978-3-347-76388-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Für Annki und Bernd

Z. bleiben wir immer

Spätsommer

Australien, denkt Elli und schließt die Augen. Auch wenn dort die Sonne so heiß brennt. Berlin. Die Chinesische Mauer, zumindest ein Teil davon. Dublin. Der Eiffelturm. Finnland, Heim von guten Metalbands. Die Pyramiden von Gizeh. Würde auch für P gehen, aber ihr sind sie zu G eingefallen.

Sie öffnet die Augen und sieht aus dem dreckigen Zugfenster, das den Staub des Sommers mit sich trägt. Es hat schon seit Tagen nicht geregnet und normalerweise würde sie sich über diese besonders langen, warmen Sommertage freuen. Aber nicht heute, denn was ist schon noch normal?

Hong Kong, führt sie in Gedanken die Liste weiter. Island, um den schwarzen Strand zu sehen und auf einem Island-Pony zu reiten. Japan, das Land der aufgehenden Sonne. Die Katakomben von Paris. London mit dem Big Ben und dem Tower und all den anderen Sehenswürdigkeiten. Machu Picchu, Rechtschreibung beachten. Die Niagarafälle. Auf kanadischer oder amerikanischer Seite?

Ein entgegenkommender Zug rast unvermittelt vorbei, aber Elli zuckt nicht einmal mit der Wimper. Sie sieht die Liste vor sich, nur die Liste. Sie könnte nachts aus dem Schlaf gerissen werden und diese trotzdem fehlerfrei aufsagen. Sogar rückwärts. Die Aufzählung ist zu ihrem Anker geworden. Sie wird alle diese Städte und Sehenswürdigkeiten und Länder besuchen. Eins nach dem anderen. Und am Ende wird alles gut.

Oslo. Prag. Quebec, weil sie eine Stadt mit Q brauchten. Rom. Stonehenge. Tokio, obwohl das mit Japan eigentlich doppelt gemoppelt ist. Ein Urwald, wie der Amazonas-Regenwald. Venedig. Washington, D.C. und von dort vielleicht noch ein Trip nach New York City, auch wenn N schon vergeben ist.

Elli holt das Skizzenbuch aus ihrer Umhängetasche und blättert zu einer bestimmten Seite. Im gleichen Moment klappt sie das Buch resolut zu und fragt sich, warum sie sich selbst so quält. Sie blinzelt, als ihr die Sonne genau ins Gesicht fällt. Die ganze Zeit ist es hell, ein ewig langer Sommer, und dennoch hat Elli das Gefühl, von einer Dunkelheit umgeben zu sein, die sie nicht freigeben will.

Xanten, der Yellowstone Park und Zürich, denkt sie. Hätte sie etwas ändern können? Sie würde viel dafür geben, um die Zeit zurückdrehen zu können und aus den finsteren Tagen wieder sommerhelle zu machen. Aber so sehr sie sich dies auch wünscht, die Zeit läuft unbarmherzig weiter.

Plötzlich kann sie nicht mehr richtig atmen, ein Gefühl, das ihr in den letzten Wochen allzu vertraut geworden ist.

Australien, beginnt sie erneut und hält ihre Tränen zurück.

Freitag

»Freust du dich auch schon so auf morgen?«, fragt Nele, während sie auf dem Bett auf und ab hüpft.

»Klar doch«, antwortet David und ringt sich seiner kleinen Schwester zuliebe ein Lächeln ab. »Aber jetzt hör auf mit dem Springen.« Wie immer ignoriert Nele ihn und hüpft weiter.

»Mama hat schon alle meine Sachen gepackt, aber sie sagt, ich darf nur eins von meinen Kuscheltieren mitnehmen, und Papa sagt, Mama hat recht!«, berichtet sie empört.

David zuckt mit den Schultern und tut so, als würde er sich einem Stapel Comics zuwenden. Da endlich hört seine Schwester auf zu springen und lässt sich theatralisch aufs Bett fallen, um seine Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. Sie seufzt tief. »Ich kann mich einfach nicht entscheiden!«

Nele liebt große Stofftiere, deshalb ist David nicht verwundert darüber, dass seine Mutter bestimmt hat, sie könne nur eins davon mit in den Urlaub nehmen. Er ist darüber dankbar, da er sich schon die ganze Fahrt lang eingequetscht zwischen riesigen Kuscheltieren gesehen hat.

»Wen hättest du denn am liebsten dabei?« Nicht, dass es ihn interessiert. Alles, was David will, ist etwas Ruhe zum Nachdenken, aber er bringt es nicht übers Herz, Nele aus dem Zimmer zu werfen.

»Entweder Herrn Kuschel oder Schnuffeline.«

Wenigstens hat sie es bereits geschafft, die Auswahl auf zwei einzuschränken.Das überrascht ihn dann doch.

»Soll ich einen von ihnen auswählen?« David hat noch gar nichts gepackt. Wenn seine eigenen Probleme bloß so simpel wären wie die von Nele, auch wenn es für sie natürlich eine wichtige Entscheidung ist, welches Stofftier mitdarf.

»Ja. Aber such den aus, den ich will«, verlangt sie, während sie wackelnd aufsteht, bereit dazu, mit ihrer Hopserei fortzufahren.

»Du weißt doch gar nicht, wen du willst.«

»Doch. Herr Kuschel soll mit.«

»Wenn das so ist, dann wähle ich …« Er zieht seine Entscheidung in die Länge und Nele schaut ihn gespannt an. Darüber vergisst sie sogar, mit dem Springen zu beginnen. »Herrn Kuschel. Am besten gehst du sofort in dein Zimmer und sagst es ihm.«

Erleichtert darüber, endlich zu einer Entscheidung gekommen zu sein, hüpft Nele vom Bett und läuft hinaus. David schließt hinter ihr die Tür, die sie wie immer offengelassen hat, und lehnt sich dagegen. Er fühlt sich erschöpft, dabei hat er an dem Tag gar nicht viel gemacht. Er weiß, dass er damit anfangen muss, seine Tasche zu packen. Und sein Leben in den Griff zu bekommen. Stattdessen läuft er langsam zum Bett und fällt mit dem Gesicht voran darauf. Er bleibt so lange liegen, bis er keine Luft mehr bekommt und den Kopf drehen muss. David lässt seinen Blick durch das chaotische Zimmer schweifen, dann schließt er die Augen und blendet es aus. Nur ein paar Minuten, bis er aufstehen und alles erledigen wird, was noch gemacht werden muss. Ganz sicher.

Eigentlich müsste er froh sein. Sechs Wochen lang keine Schule und damit ohne die Leute aus seiner Klasse. Zeit genug, positive Erfahrungen zu sammeln, um endlich die Erinnerungen an den Beginn des Jahres zu ersetzen. In den kommenden Wochen kann viel passieren, nein, muss viel passieren, weil es so für ihn nicht weitergeht.

»Positiv denken. Ab jetzt ändert sich alles«, sagt David still zu sich selbst, glaubt sich jedoch kein Wort.

Draußen schlägt eine Autotür zu. Nele singt lauthals in ihrem Zimmer. Die Nachbarskinder spielen Ball auf der Straße. Alles ist immer so laut. David rollt vom Bett, um Musik anzumachen, in der Hoffnung, damit die anderen Geräusche zu übertönen. Er steht im Chaos seines Zimmers, findet jedoch keine Motivation zum Aufräumen. Die eigentlich leicht zu bewältigende Aufgabe baut sich drohend vor ihm auf und verlangt nach Energie, die er am Ende des Tages nicht übrighat.

Sein Vater wirft ihm stets Faulheit vor, aber er versteht nicht, wie es in David aussieht. Oftmals verbraucht David seine gesamte verfügbare Energie eines Tages darauf, zu existieren. Alles, was darüber hinausgeht, bleibt daher häufig unerledigt. Es stört ihn selbst, aber er kann es nicht ändern.

Als seine Mutter zum Abendessen ruft, hat er weder seine Tasche gepackt noch sein Zimmer aufgeräumt, was in ihm ein schlechtes Gewissen auslöst.

Er schlurft in die Küche, wo er sich auf einen Stuhl fallen lässt, froh darüber, es bis dahin geschafft zu haben. Seine Eltern und Nele sitzen bereits am Tisch und zuerst läuft alles gut. Abgesehen davon, dass David keinen Hunger hat und lustlos an einem Brot herumkaut. Er isst nur, um zu verhindern, dass es wieder eine Diskussion über sein Essverhalten gibt, denn davon hatte er in der letzten Zeit mehr, als er ertragen kann. Er ist dankbar darüber, dass Nele aufgedreht von ihren Kuscheltieren erzählt und seine Mutter nicht darauf achtet, wie viel er isst. Das ist ungewöhnlich, da sie sonst auf alles einen Blick hat, was er oder seine Schwester machen. Vermutlich ist sie mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Reise. David kann das nur recht sein.

»Ich nehme Herrn Kuschel mit!«, verkündet Nele die Wahl ihres Stofftieres.

»Das klingt gut«, antwortet ihre Mutter, sichtlich erleichtert darüber, dass anscheinend keine weitere Diskussion über die Anzahl von Plüschtieren ansteht.

»Habe ich ihm auch schon gesagt. Herr Kuschel ist schrecklich aufgeregt.«

David starrt auf das Brot in seiner Hand, von dem noch viel zu viel übrig ist, als sein Vater beginnt, über die Abendplanung zu sprechen. Er will am nächsten Tag früh losfahren, um dem Ferienverkehr zu entgehen, daher möchte er nach dem Essen bereits Koffer und Taschen ins Auto bringen, damit es morgens schneller geht. Als er mitbekommt, dass David seine Sachen noch nicht gepackt hat, wird er ungehalten und schickt ihn auf sein Zimmer, damit er es sofort erledigt.

David legt die Reste seines Brotes auf den Teller und verlässt die Küche, ohne über Widerspruch nachzudenken.

»Willst du nicht wenigstens aufessen?«, ruft ihm seine Mutter hinterher, aber David tut so, als hätte er sie nicht gehört.

Durch den Flur, die Treppe hinauf und zurück in sein Zimmer. Der Weg hat sich für das, was er gegessen hat, überhaupt nicht gelohnt.

Er holt seine Sporttasche aus dem Schrank und stellt sie in die Mitte des Zimmers, nachdem er einige Shirts mit dem Fuß zur Seite geschoben hat. Sie ist zum Füllen bereit. Nur er ist es nicht. Unschlüssig dreht David sich im Kreis. Seine Mutter hat eine Liste mit Sachen geschrieben, die er auf jeden Fall einpacken soll. Als ob er das allein nicht könnte! Frustriert durchsucht er das Zimmer nach Klamotten, die sauber genug sind, um mit in den Urlaub zu können, und die ihm zumindest noch einigermaßen passen.

Es kommt ihm vor, als bräuchte er eine Ewigkeit, bis alle Dinge von der Liste in der Tasche und seinem Rucksack verstaut sind. Er geht sie noch einmal in Ruhe durch, um sich zu vergewissern, dass er nichts vergessen hat. An die Zahnbürste wird er am nächsten Morgen noch denken müssen. Er schultert seine Tasche und tritt auf dem Weg zur Tür auf ein Comicheft. Seufzend hebt David es auf und legt es auf den Schreibtisch, bevor er das Chaos für den Moment hinter sich lässt.

Im Flur schlüpft er in seine ausgetretenen Sneakers und verlässt das Haus. Das Auto steht vor der Garage und sein Vater ist bereits damit beschäftigt, einen Haufen Zeug einzuladen. Er wirkt genervt und David möchte sich so schnell wie möglich wieder aus dem Staub machen. Sein Vater besteht jedoch darauf, dass David ihm hilft, also muss er bleiben, Taschen und Koffer anreichen, annehmen und sich anhören, wie sein Vater darüber schimpft, dass seine Mutter immer zu viel einpackt. Eine ähnliche Rede hat David vor dem letzten Sommerurlaub gehört. Er würde seinen Vater gerne darauf hinweisen, dass dieser das nächste Mal packen kann, wenn ihn das alles so stört, aber er verkneift sich den Kommentar.

Sein Vater wechselt das Thema und plötzlich wünscht David sich, dass sie noch übers Gepäck sprechen würden. »Ich verstehe nicht, warum du deine Tasche nicht eher packen konntest. Dieses ewige Aufschieben bis auf den letzten Drücker führt doch nur zu mehr Stress. Und dass es beispielsweise beim Lernen überhaupt nicht funktioniert, haben wir ja an deinem Zeugnis gesehen.«

»Ich weiß«, murmelt David. Er hat gehofft, dass dieses Gespräch nicht kommen würde, aber natürlich kann sein Vater das miserable Zeugnis nicht ignorieren.

»Ich verstehe ja, dass dieses Jahr schwer für dich war. Aber«, fährt sein Vater fort und David zuckt innerlich zusammen, als er das Aber hört. Gar nichts versteht sein Vater. Für diesen ist es an der Zeit, dass David wieder mit dem Leben klarkommt. Als wenn das so einfach wäre! »Ich hoffe sehr, dass du dich im nächsten Schuljahr mehr bemühst. Du weißt doch, wie wichtig eine gute Schulbildung für dein gesamtes Leben ist.«

David nickt. Früher ist ihm das Lernen leichter gefallen, aber in den letzten Monaten war in seinem Kopf kein Platz für neue Informationen. Da ist schon genug, worüber er nachdenkt, ohne sich auch noch mit Matheproblemen herumschlagen zu müssen.

»Versprichst du mir, dass das nächste Zeugnis wieder besser wird?«, fragt sein Vater, während er mit aller Macht einen Jutebeutel zwischen zwei Koffer zu stopfen versucht.

»Versprochen.«

Sein Vater fragt nicht, wie es ihm geht. Warum auch? Viel wichtiger als Davids Geisteszustand sind seine schulischen Leistungen.

Was für eine riesige Enttäuschung ich für ihn sein muss, denkt David, während er seinem Vater eine Tasche anreicht. Zumindest ist das Gespräch fürs Erste beendet und sein Vater hat gar nicht geschrien, was David dann doch als kleinen Erfolg ansieht.

Endlich ist alles eingeladen und der Kofferraum lässt sich sogar schließen, als sein Vater die Heckklappe mit Schwung zuknallt. Während dieser den Wagen in die Garage fährt, geht David zurück ins Haus. Bleibt ihm noch das Chaos in seinem Zimmer. Über das in seinem Kopf möchte er nicht nachdenken müssen.

Oben an der Treppe begegnet er seiner Mutter, die eine weitere Tasche in der Hand hält. Er hofft, dass diese nicht auch noch ins Auto soll, denn langsam wird der Platz zum Sitzen knapp. Mit Grauen denkt er an Neles großen Teddy, der noch in ihrem Zimmer ist.

»Ich freue mich, dass wir morgen alle zusammen in den Urlaub fahren«, sagt seine Mutter betont fröhlich. David bemüht sich um ein Lächeln. »Möchtest du gleich einen Film mit uns schauen?«

Aber er will lieber allein sein und seinem Vater aus dem Weg gehen, bevor diesem noch weitere Punkte einfallen, über die er dringend vor dem Urlaub mit ihm sprechen muss. David ist sicher, dass das Gespräch über seine Zensuren noch nicht ganz vom Tisch ist.

Zurück in seinem Zimmer betrachtet er resigniert das Chaos und wägt ab, was schlimmer sein wird: der Zorn seines Vaters, wenn David nicht aufräumt, oder das Aufräumen selbst. Seufzend beginnt er damit, Ordnung zu schaffen.

Zwischendurch stürmt Nele herein, um ihm gute Nacht zu sagen. Er trägt sie huckepack in ihr Bett. Sie möchte noch etwas vorgelesen bekommen, aber das übernimmt glücklicherweise ihre Mutter. David ist nicht sicher, ob er die Geschichte vom kleinen Biber einen weiteren Abend aushält.

Endlich ist sein Zimmer aufgeräumt und er lässt sich aufs Bett fallen. Es kommt ihm vor, als hätte er Stunden für die Arbeit gebraucht. Kurz überlegt er, noch ein wenig zu zocken, bevor er ins Bett geht, entschließt sich dann jedoch dagegen. Seine Müdigkeit ist zu groß und am nächsten Morgen muss er früh aufstehen.

Sobald er allerdings im Bett liegt, ist er wieder hellwach, während seine Gedanken wie Autos beim Autoscooter wild durch seinen Kopf rasen und von Zeit zu Zeit gegeneinanderstoßen, um das Durcheinander noch zu vergrößern.

Obwohl er das Fenster geöffnet hat, ist es unangenehm warm im Zimmer. Lange dreht David sich hin und her, versucht zu zählen, um sich zu beruhigen, nur um vom nächsten Gedankenautoscooter aufgerüttelt zu werden. Es ist spät, als er endlich Schlaf findet.

Samstag

Als der Alarm seines Handys klingelt, hat David das Gefühl, er wäre erst vor wenigen Minuten eingeschlafen. Am liebsten würde er sich noch einmal umdrehen und die Augen fest geschlossen lassen. Er überlegt, ob er sich erlauben kann, weitere fünf Minuten im Bett liegen zu bleiben, als seine Mutter klopft. Sie ruft durch die Tür, dass das Frühstück fertig ist. Während er sich aus dem Bett rollt, tröstet ihn der Gedanke daran, dass er im Auto weiterschlafen kann. Morgens aufzustehen ist das Allerschlimmste. Das und den Rest des Tages überstehen.

Beim Frühstück sitzt er still auf seinem Platz und hofft darauf, dass niemand ihn in ein Gespräch verwickelt. Zum Reden ist er um diese Uhrzeit nicht in der Lage, zumindest nicht, wenn er zusammenhängende Sätze bilden soll, die dann noch Sinn ergeben. Glücklicherweise plappert Nele fröhlich drauf los und lenkt die Aufmerksamkeit auf sich.

»Gehen wir heute schwimmen? Wie weit ist der See weg? Darf ich jeden Tag schwimmen?« Sie löchert ihre Eltern mit Fragen, ohne auf Antworten zu warten. Zwischendurch stopft sie sich munter Brot und Früchte in den Mund.

David isst einen Toast und lehnt einen weiteren ab, was seine Mutter zwar mit einem Blick, aber nicht mit Worten kommentiert. Er hätte am liebsten gar nichts gegessen. Dafür ist es nach seiner Auffassung viel zu früh, aber seine Mutter besteht jeden Tag darauf, dass er das Haus nur mit Frühstück im Magen verlassen darf.

Nachdem alle noch einmal im Bad gewesen sind, die letzten Sachen im Auto verstaut sind – was für David an ein Wunder grenzt – und seine Mutter dreimal zurück ins Haus gelaufen ist, um zu kontrollieren, ob alle Fenster geschlossen sind, der Herd aus ist und was sonst noch überprüft werden muss, fahren sie los. Nele hat Herrn Kuschel auf dem Schoß und winkt dem Haus zum Abschied. Die Aufregung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

David schließt die Augen und lehnt den Kopf zurück, aber obwohl er schlecht geschlafen hat, ist er jetzt hellwach, wenn auch todmüde. Er holt sein Handy aus dem Rucksack, stöpselt Kopfhörer ein und lässt seine Lieblingsband laufen, während er versucht, alles um sich herum auszublenden. Als das nicht funktioniert, öffnet er die Augen und starrt aus dem Fenster. Es dauert nicht lange und sie haben die Autobahn erreicht. Er linst zu seiner Schwester, die für ihre Verhältnisse erstaunlich ruhig ist. Nele scheint in ein ernstes Gespräch mit ihrem Teddy vertieft zu sein.

Davids Handy vibriert. Es ist eine Nachricht von Micha, seinem besten Freund. Die beiden kennen sich seit dem Kindergarten und waren zusammen in der Grundschule, aber nachdem Davids Familie ans andere Ende der Stadt gezogen war, konnten sie nicht zusammen aufs Gymnasium. Micha fand neue Freunde an seiner Schule, während David, der von Natur aus still und zurückhaltend ist, damals in der neuen Klasse keinen Anschluss fand. Das hat sich bisher nicht geändert und David bezweifelt, dass es zukünftig besser wird. Halt. So will er doch nicht mehr denken! Schließlich kann sich nach den Ferien einiges wandeln. Vielleicht kommen neue Mitschüler dazu und manchmal ändern sich Leute schließlich auch. Wie Lina. David seufzt, weil er darüber absolut nicht nachdenken will.

Lieber studiert er das Selfie, das Micha von sich und Julius am Flughafen gemacht hat. Die beiden grinsen breit in die Kamera, während sie auf ein Flugzeug im Hintergrund deuten. Sie sind auf dem Weg nach Barcelona und eigentlich hätte David derjenige sein können, der da vor dem Flieger steht. Michas Cousin ist zum Studieren in Barcelona, hat Micha für die Sommerferien zu sich eingeladen und gesagt, dieser könne ruhig einen Freund mitbringen.

Natürlich hat Micha als erstes David gefragt, aber seine Eltern haben abgelehnt. Das war sogar noch vor dem Vorfall und David kann nicht nachvollziehen, was seine Eltern dazu bewegt hat, ohne eine Diskussion Nein zu sagen. Daraufhin hat Micha ihren gemeinsamen Freund Julius gefragt und dessen Eltern hatten nichts einzuwenden.

David mag Julius, aber in diesem Moment im stickigen Auto ist er sauer auf ihn, weil Julius nach Barcelona fliegt und er nicht. Da er nie Selfies macht, kommentiert er das Bild nur mit einem grinsenden Smiley.

Es ist eng auf der Rückbank mit ihm, seiner Schwester, ihren Rucksäcken und dem riesigen Teddy. Zudem scheint auf Davids Seite die Sonne ins Auto, daher dauert es nicht lange, bis ihm unangenehm warm wird. Er bittet seinen Vater, die Klimaanlage kühler zu stellen, aber sofort protestiert Nele, dass ihr das zu kalt ist, also muss er sich mit der Hitze abfinden.

Nele schmiegt sich an Herrn Kuschel und ist in wenigen Minuten eingeschlafen. David beneidet sie darum, immer und überall schlafen zu können. Erneut schließt er die Augen und konzentriert sich auf seine Musik. Nicht an Micha denken, der jetzt im Flugzeug sitzt und auf die Welt hinabsieht. Nicht an Lina denken.

Nie wieder an sie denken. Einfach nur der Musik lauschen.

Obwohl sie früh losgefahren sind, geraten sie bald in stockenden Verkehr und kriechen langsam über die Autobahn. David ist froh, dass er am Abend zuvor daran gedacht hat, sein Handy zu laden. Die Musik seiner Eltern kann er nicht ausstehen und sein Vater weigert sich, Davids Playlists zu spielen.

Er betrachtet die Menschen in den Autos um sie herum. Ob sie auch alle in den Urlaub fahren? Die mit den bis zum Dach vollgepackten Fahrzeugen sicher.

Als Nele irgendwann die Augen aufschlägt und beschließt, genug geschlafen zu haben, steckt er sein Handy zurück in den Rucksack. Sie haben eine Teeparty mit Herrn Kuschel, denn Nele zaubert drei Puppentassen aus ihrem kleinen Rucksack hervor.

David hat das Gefühl, dass der Teddy gesprächiger ist als er, aber Nele scheint das nicht zu stören.

Die Stunden im Auto ziehen sich wie Kaugummi. David ist mehr als erleichtert, als sie endlich am Ferienort ankommen.

Seine Eltern haben einen Bungalow in einem Dörfchen gemietet, das fast nur aus Ferienhäusern besteht. Dazu gehören ein eigener See und Sportplätze. Davids Eltern haben ihre Tennisschläger eingepackt, ein Hobby, für das sie in den letzten Wochen kaum Zeit aufbringen konnten. Seine Schwester schwärmt seit Ewigkeiten davon, den Sommer im See zu verbringen. Nur David kann dem Gedanken an sportlicher Betätigung im Urlaub nichts abgewinnen. Das Leben ist anstrengend genug, da muss er sich nicht noch beim Sport verausgaben.

Nele und er warten im Schatten eines Baumes, während sich seine Eltern um den Bungalowschlüssel kümmern.

»Gehen wir jetzt schwimmen?«, fragt seine Schwester und hüpft auf der Stelle. Ihr scheint die Hitze absolut nichts auszumachen. Ihre Sandalen machen ein klatschendes Geräusch auf dem Asphalt.

»Ich weiß nicht. Bestimmt.«

»Mama hat mir zwei neue Badeanzüge für den Urlaub gekauft«, erzählt sie stolz.

»Wirklich?«, fragt David, obwohl er das längst weiß. Seine Schwester hat in den letzten Tagen von wenig anderem geredet. Seine Mutter hat ihm ebenfalls neue Badehosen gekauft und obwohl er seine Klamotten normalerweise selbst aussucht, ist er in diesem Fall dankbar. Er konnte sich vor den Ferien nicht aufraffen, um in die Stadt zu gehen, und ohne seine Mutter hätte er sonst keine passende Badehose für den Urlaub.

»Der eine Badeanzug hat Seepferdchen drauf«, plappert Nele weiter und hüpft und hüpft und hüpft.

David bekommt Kopfschmerzen. Zum Glück kommen seine Eltern in diesem Moment wieder. Seine Mutter wedelt mit einer Karte, auf der ein Häuschen markiert ist.

»Wir sind fast da«, ruft sie und alle klettern zurück ins mittlerweile unerträglich heiße Auto.

»Gehen wir jetzt schwimmen?«, fragt Nele erneut, während sie aufgeregt mit den Beinen wackelt.

»Möchtest du nicht erst etwas essen?«, fragt ihre Mutter zurück.

»Lieber schwimmen!«

»Zuerst werden die Koffer ausgepackt.« Ihr Vater hält vor einem schmucken kleinen Bungalow, der zitronengelb angestrichen ist. Kästen mit bunten Blumen hängen an den Fensterbänken, während die Fenster selbst mit weißen Läden versehen sind, die alle einladend offenstehen.

»Aber dann muss ich doch schon bald ins Bett!«, protestiert Nele, die keine Ahnung hat, wie spät es ist.

Letztendlich entscheiden sie sich dafür, dass Nele mit ihrer Mutter zum See vorgehen darf und David sich mit ihrem Vater um das Gepäck kümmert.

David muss sich ein Zimmer mit seiner Schwester teilen, aber da es seine Schuld ist, dass sie hier Urlaub machen und nicht in Italien, hatte er nicht gewagt, etwas dagegen zu sagen. Ein Hochbett, ein kleiner Tisch mit einem Stuhl und ein Schrank stehen darin.

»Ich schlafe oben!«, krakeelt Nele und rennt aus dem Zimmer, bevor er etwas erwidern kann.

David wirft seinen Rucksack auf das untere Bett. Ihm ist es egal, wo er schläft. Dann geht er zum Fenster und wirft einen Blick hinaus. Er kann über eine kleine, perfekt getrimmte Hecke zum Nachbarhaus sehen, das in einem ähnlichen Gelb erstrahlt, allerdings mit roten Fensterläden und farblich passenden Blumenkästen versehen ist.

Nele kommt zurück ins Zimmer und schmeißt ihre Klamotten auf den Stuhl. Sie trägt einen Badeanzug und David fragt sich, ob sie diesen die ganze Zeit schon unter ihrer Kleidung getragen hat. Er würde es ihr zutrauen.

»Ich bin so aufgeregt!«, brüllt Nele und flitzt los, um sich mit ihrer Mama auf den Weg zum See zu machen.

»Was du nicht sagst«, murmelt David und geht hinaus zum Auto, bevor sein Vater ungehalten werden kann. Zusammen tragen sie Koffer und Taschen in den Bungalow. Er räumt seine und Neles Sachen in den Schrank und legt seinen Kulturbeutel ins Bad. Seine Mutter hat bereits ein Handtuch für ihn mitgenommen, also muss David nur eine Badehose anziehen und seine normalen Shorts einpacken.

»Bist du fertig?« Sein Vater steht in der Tür und hat Jeans und Hemd gegen eine kurze Hose und Shirt getauscht. Er sieht direkt nach Urlaub aus.

Der See ist nur wenige Minuten zu Fuß von ihrem Bungalow entfernt. Trotzdem kommt David die Strecke unendlich lang vor, was vor allem daran liegt, dass er Angst hat, sein Vater könnte erneut ein Gespräch über seine Schulleistungen anfangen. Aber dieser schweigt und betrachtet versonnen die Häuser um sich herum. Dennoch fällt Davids Anspannung erst ab, als sie am See ankommen. Dort planscht Nele im seichten Wasser und winkt ihnen zu.

Ein Teil vom Seeufer wurde mit Sand zu einem Strandbereich umgewandelt, auf dem sogar einige Strandkörbe stehen. Ansonsten wächst Gras bis an den Rand des Sees und Bäume spenden natürlichen Schatten. Unter einem von ihnen hat es sich seine Mutter auf einer Decke bequem gemacht.

Nele kommt angerannt und zieht David mit sich. Sie springt, ohne zu zögern, wieder in den See. Er testet erst einmal mit einem Fuß. Das Wasser ist kühl, aber nicht zu kalt. Er hat keine Lust zu schwimmen, will jedoch auch nicht auf der Decke bei seinen Eltern bleiben, also folgt er seiner Schwester. Das Ufer ist flach und David muss eine ganze Weile durchs Wasser waten, bevor er einen richtigen Schwimmzug machen kann.

Außer ihnen sind noch einige ältere Personen am See und etliche Familien mit Kindern. Nele hält direkt nach Altersgenossen Ausschau.

Etwas entfernt von ihnen schwimmt eine hölzerne Plattform auf dem See und lädt zum Sonnenbaden ein.

»Mama hat gesagt, ich darf da nicht allein hinschwimmen. Dabei schwimme ich doch so gut«, beschwert sich Nele und paddelt wie ein kleiner Hund um David herum, der sich auf den Rücken gelegt hat und treiben lässt. Die Sonne strahlt aus einem wolkenlosen Himmel auf sie herab und er ist froh über die angenehme Wassertemperatur.

»Wir können morgen zusammen hinschwimmen.«

»Können wir nicht jetzt?«, bettelt sie, aber er hat keine Lust. Auch wenn Nele behauptet, gut schwimmen zu können, muss er trotzdem auf sie aufpassen. Das ist ihm gerade zu viel Verantwortung.

Zu seinem Glück kommt ihr Vater ebenfalls ins Wasser und Nele darf mit ihm zur Plattform schwimmen.

David treibt noch ein wenig vor sich hin, dann verlässt er den See.

»Saft oder Wasser?«, fragt seine Mutter, als er bei der Decke ankommt. David nimmt eine Flasche Wasser entgegen und setzt sich auf sein Handtuch.

»Willst du nicht schwimmen gehen?«

»Ach, dafür ist noch genug Zeit. Ich genieße erst einmal die Ruhe.« Seine Mutter blättert zufrieden in einer Zeitschrift.

David kann Nele sehen, wie sie von der Plattform ins Wasser springt, nur um direkt wieder hinauszuklettern und sich erneut in die Fluten zu stürzen. Ihrer Energie scheinen keine Grenzen gesetzt. Er legt sich auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, froh darüber, sich in den nächsten Minuten nicht bewegen zu müssen.

Micha und Julius sind jetzt in Barcelona, denkt er.

Seine Kopfschmerzen sind immer noch da. Ein dumpfer Schmerz, der sich überall in seinem Schädel ausgebreitet hat, unangenehm, aber nicht stark genug, um Schmerzmittel dagegen zu nehmen. David schließt die Augen und versucht sich zu entspannen. Grillen zirpen im Gras, werden jedoch von den menschlichen Gesprächen und Rufen am See übertönt.

Hätte Lina sich auch gewandelt, wenn er nicht weg gewesen wäre? Bestimmt. Sie hat ihr Aussehen und Verhalten in den letzten Monaten radikal verändert, bis von dem nerdigen Mädchen aus der Parallelklasse, mit dem er sich durch den Französischunterricht gequält hat, nichts mehr übriggeblieben ist. Sie hat sich nach den Osterferien weggesetzt und aufgehört, mit ihm zu sprechen. Lina hat jetzt einen festen Freund aus der Stufe über ihnen, wie die Mädchen aus ihrer Klasse, mit denen sie neuerdings befreundet ist. David kann sich noch gut erinnern, dass Lina sich über genau diese Mädchen lustig gemacht hat, aber nun ist sie eine von ihnen und für ihn unerreichbar geworden. Er vermisst sie unglaublich und es tut weh, dass sie nicht einmal mehr ein Lächeln für ihn übrighat.

David überlegt, ob er schwimmen gehen soll, um diese Gedanken aus seinem Kopf zu spülen, aber dann kann er sich nicht aufraffen und bleibt, wo er ist.

Neles Rufe bringen ihn dazu, die Augen zu öffnen. Sie kommt zu ihnen gerannt, ihr Papa dicht auf ihren Fersen. Nele quietscht, als er sie einholt, hochhebt und im Kreis dreht. Beide strahlen über das ganze Gesicht, aber David kann sich nicht mit ihnen freuen. Es ist Jahre her, seit sein Vater ihn mit einem solchen Lächeln angesehen hat.

Seine Eltern sprechen darüber, wie sie den Rest des Tages gestalten wollen. David zieht sich derweil seine Shorts und ein Shirt an. Er hat fürs Erste genug vom See mit all den glücklichen Menschen um ihn herum und ist dankbar, dass er seine Mutter begleiten kann, die zum Laden des Feriendorfes gehen möchte.

Nele darf mit ihrem Papa am See bleiben, was sie zu einem lauten Freudengeschrei animiert, das Davids Ohren unangenehm klingeln lässt.

Der Laden ist ebenfalls zu Fuß zu erreichen, also können sie das Auto beim Bungalow stehen lassen und laufen.

»Was möchtest du heute essen?« Seine Mutter steht vor dem Obst und betrachtet es mit gerunzelter Stirn.

David hasst solche Fragen, also zuckt er als Antwort mit den Schultern.

»Mach doch Neles Lieblingsessen«, schlägt er vor, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.

»Aber ich habe dich gefragt«, seufzt seine Mutter, während sie eine Wassermelone auswählt.

»Ich esse alles mit. Das weißt du doch.« David weicht ihrem Blick aus und starrt auf seine Sneakers.

Letztendlich kaufen sie viel mehr als geplant und er denkt darüber nach, dass das Auto ganz nützlich gewesen wäre, während er die vollen Taschen zum Bungalow schleppt.

Seine Mutter hat sich für Spaghetti mit Tomatensoße entschieden, weil sie das alle gerne mögen und weil es einfach zu machen ist.

»Ich habe schließlich auch Urlaub«, erklärt sie, während sie damit beschäftigt ist, die Einkäufe im Kühlschrank, Eisfach und in den Schränken zu verstauen.

Das Essen kocht bereits, als Nele mit ihrem Papa an der Hand vom See zurückkommt. Sie ist völlig aufgedreht und erzählt ihrer Mama, dass sie schon Freunde gefunden hat. Diese lässt sich von Nele alles genau berichten, ein Auge bei den Nudeln auf dem Herd.

David weicht seiner hüpfenden Schwester aus und geht ins Bad. Als er mit Duschen fertig ist, steht das Essen auf dem Tisch. Davids Mutter hat den Gartentisch gedeckt und Sitzkissen für die Stühle gefunden.

»Hier ist es voll cool«, sagt Nele und schlürft Spaghetti.

David betrachtet den großen Haufen Nudeln auf seinem Teller und weiß nicht, wie er ihn schaffen soll. Seine Eltern und Nele nehmen bereits nach, als er immer noch vor seinem ersten Teller sitzt und langsam einen Anflug von Übelkeit verspürt. Wann ist Essen ein so großes Problem für ihn geworden?

»Was machen wir morgen?«, fragt seine Schwester, den Mund voller Spaghetti. Die Tomatensoße hat Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.

»Nicht mit vollem Mund sprechen«, rügt ihr Papa automatisch.

Nele schluckt und stellt die Frage noch einmal, obwohl alle sie bereits beim ersten Mal verstanden haben.

Der perfekte Ferientag für David? Im Bett liegen bleiben und darauf warten, dass der Tag vorbeigeht.

»Wenn das Wetter gut ist, können wir wieder zum See gehen«, schlägt seine Mutter vor und alle sind einverstanden. Besonders Nele freut sich über diese Entscheidung. David hat nichts einzuwenden, weil ihm keine bessere Alternative einfällt. Er kann sich gut vorstellen, was sein Vater dazu sagen würde, wenn David anbrächte, dass er lieber im Haus bleiben möchte. Schweigend isst er die letzten Nudeln und ist erleichtert, als der Teller endlich leer ist. Zum Nachtisch gibt es Schokoladenpudding, aber glücklicherweise sagen seine Eltern nichts, als er seine Portion ablehnt.

Nach dem Essen hilft er beim Abwasch, weil der Bungalow keine Spülmaschine hat, und dann spielen sie alle einige Runden UNO. Danach ist es Zeit für Nele, ins Bett zu gehen, was ihr überhaupt nicht passt.

David beschließt, die Gegend zu erkunden, um seine Ruhe zu haben, denn Nele protestiert lautstark gegen das Schlafengehen.

»Aber ich bin noch gar nicht müde!«, meckert sie. Er schlüpft in seine Sneakers. »Es sind doch Ferien!«, ruft seine Schwester.

David öffnet die Haustür. Seine Mutter fragt, ob er die Karte der Ferienanlage möchte. Die Türklinke noch in der Hand wirft er einen Blick darauf und lehnt ab, denn groß ist das Dörfchen nicht. Eine breite Straße führt durch die Mitte, von der schmalere Straßen und kleinere Wege abgehen. Falls er sich verlaufen sollte, muss er nur die Hauptstraße wiederfinden und sich von dort orientieren.

»Bis später!«, sagt seine Mutter, nimmt die Karte zurück und macht sich dann an die Aufgabe, Nele einzufangen, die schreiend im Elternschlafzimmer verschwunden ist.

David verlässt den Bungalow und wandert ziellos umher, dankbar darüber, dass es endlich etwas kühler wird. Gelegentlich trifft er auf andere Urlauber, die ihn alle freundlich grüßen. Schon bald entdeckt er einen Basketballplatz, auf dem einige Jugendliche spielen, aber er dreht um und nimmt einen anderen Weg. Er ist furchtbar schlecht im Basketball und würde eh nicht den Mut aufbringen, die anderen anzusprechen. Er findet einen abseits gelegenen Spielplatz am Rande des Dorfes, auf dem nur eine Sandkiste und zwei Schaukeln stehen. Auf einer davon lässt er sich nieder.

Er erinnert sich daran, dass auf der Karte des Dorfes noch ein großer Spielplatz verzeichnet ist. David hat die Hoffnung, dass außer ihm niemand den kleinen nutzen wird. Er braucht einen Ort, an den er sich zurückziehen und an dem er allein sein kann. Der Bungalow ist dafür zu klein und da er sich mit Nele ein Zimmer teilen muss, hat er keinen Raum für sich.

Er bleibt lange auf der Schaukel sitzen und obwohl er am liebsten über nichts nachdenken möchte, rasen seine Gedanken wie Schnellzüge durch seinen Kopf. Der Urlaub, normal sein, Micha, Julius, Lina, dazugehören, seine Klasse, seine Familie, seine letzte Sitzung. Wenn er wenigstens einen Gedankengang vernünftig zu Ende bringen könnte. Aber ständig drängen sich die nächsten Gedanken dazwischen, verwirren ihn und manchmal blitzt einer nur kurz auf und ist verschwunden, bevor David ihn fassen kann. Gerne würde er seine Gedanken aus dem Kopf schütteln und bloß Leere zurücklassen.

Als er zum Bungalow zurückläuft, prägt er sich den Weg zum Spielplatz ein. Er ist überzeugt, dass er nicht das letzte Mal dort gewesen sein wird.

Sonntag

Elli liegt im Bett und denkt nach. Sie hat die tiefroten Vorhänge am Abend zuvor nicht ganz geschlossen und so fällt ein Sonnenstrahl ins Zimmer, als würde er es teilen. Elli findet, dass der gespaltene Raum wunderbar ihre Gefühlslage widerspiegelt. Natürlich ist sie überglücklich. Gar keine Frage. Und genau das wird sie in den nächsten drei Wochen präsentieren. Ein breites Lächeln und viel zustimmendes Nicken. Niemand muss wissen, dass ihr das alles zu schnell geht und Vanessa zwar einen netten Eindruck macht, aber dieser schließlich täuschen kann. Sie könnte Nein sagen, ganz theoretisch. Praktisch ist das undenkbar. Elli seufzt und dreht sich im Bett. Die Latten knacken auf beunruhigende Weise. Bereits nach einer Nacht vermisst sie die Bequemlichkeit ihres eigenen Bettes.

Sie könnte aufstehen, um zu ihrem Dad und Vanessa in die Küche zu gehen, aber darauf hat sie keine Lust. Mit Grauen denkt sie an die Autofahrt des Vortages. Vanessa hatte unaufhörlich Fragen gestellt und Elli war gezwungen gewesen, sich in ihrem Sitz nach vorne zu beugen, um nichts zu verpassen. Selten war eine Autofahrt so unentspannt gewesen. Natürlich musste sie den Beifahrersitz räumen und war auf den Rücksitz verbannt worden, auf dem sie seit ewigen Zeiten nicht mehr gesessen hat. Sie durfte nicht mal entscheiden, welche Musik sie hörten. Aber sie hat alles stillschweigend hingenommen, sich nach vorne gelehnt und die Fragen von Vanessa beantwortet, auch wenn sie lieber aus dem Fenster gesehen hätte.

Die neue Freundin von ihrem Dad ist übermäßig um ihre Zuneigung bemüht, was Elli nachvollziehen kann.

Trotzdem wünscht sie sich, Vanessa würde kürzertreten und nicht versuchen, in den ersten vierundzwanzig Stunden alles herausholen zu wollen.

Es klopft an der Tür und ihr Dad ruft, dass das Frühstück fertig ist. Widerwillig rollt Elli sich aus dem Bett und tapst barfuß ins Bad.

»Bin gleich da!«, ruft sie Richtung Küche, bevor sie die Badezimmertür hinter sich schließt.

»Du schaffst das«, sagt sie zu ihrem Spiegelbild. »Du bist eine großartige Schauspielerin. Du wirst den Rest des Tages lächeln und absolut liebenswürdig sein!«

Dann schneidet sie eine Grimasse und streckt sich die Zunge raus, bevor sie in die Küche geht. Vanessa hat Brötchen aufgebacken, Rührei gemacht und eine Schüssel mit frischen Obststücken auf den Tisch gestellt.

»Das sieht toll aus!«, sagt Elli und nimmt Platz.

»Danke. Du musst mir nur noch sagen, was dein Lieblingsobst ist«, sagt Vanessa, während sie sich und Ellis Dad Kaffee einschenkt.

»Schokolade«, antwortet Elli, ohne eine Miene zu verziehen, bevor sie wieder aufsteht, um sich einen Kakao zu machen.

Vanessa lässt ein helles Lachen erklingen.

So lustig war das nun wirklich nicht, denkt Elli, schüttet Kakaopulver in die Milch, und setzt sich wieder.

»Wir wollen gleich eine Runde Tennis spielen«, sagt ihr Dad. »Ist das für dich in Ordnung?«

»Du kannst natürlich auch mitkommen«, schiebt Vanessa schnell hinterher.

»Nein, danke. Ich warte lieber hier auf euch.«

Tennis ist so ziemlich das Letzte, an dem Elli Spaß hat.

»Wenn wir zurück sind, können wir zusammen zum See gehen. Wie klingt das?«, fragt ihr Dad.

»Super!«, antwortet Elli grinsend.

Natürlich lassen die beiden sie direkt am ersten richtigen Ferientag allein. Das fängt schon gut an. Nicht, dass sie Alleinsein nicht gewohnt ist. Ihr Vater arbeitet viel, und Überstunden sind bei ihm eher die Norm als eine Ausnahme. Aber gerade deshalb hat Elli darauf gehofft, dass sie im Urlaub mehr Zeit füreinander haben.

»Was wirst du machen, während wir unterwegs sind?«, erkundigt sich Vanessa. Elli zuckt mit den Schultern.

»Vielleicht lese ich mein Buch weiter.«

Vanessa will wissen, was sie gerade liest. Das Frühstück artet zu einer Fragerunde aus, die Elli an ein Verhör erinnert.

Fast ist sie erleichtert, als ihr Dad und Vanessa sich verabschieden und in Richtung der Tennisplätze abziehen.

Elli schmiert sich großzügig mit Sonnencreme ein, um ihre blasse Haut zu schützen. Dann stellt sie eine Gartenliege in den Schatten des Ahornbaumes, der am Ende des Gartens wächst, holt ein Sitzkissen und macht es sich mit ihrem Reader bequem. Aber obwohl ihr Buch spannend ist, kann sie sich nicht darauf konzentrieren.

Sie hätte ahnen müssen, dass etwas faul ist. Normalerweise sprachen ihr Dad und sie früh darüber, wo sie den Sommer verbringen wollen. Aber dieses Mal war ihr Dad schrecklich geheimnistuerisch gewesen und hatte gesagt, das Urlaubsziel würde sie erst kurz vorher erfahren. Natürlich hatte sie versucht, mehr herauszufinden, aber ihr Dad blieb stoisch und schwieg. Da war er längst mit Vanessa zusammen, aber das hielt er zu dem Zeitpunkt nicht für erwähnenswert. Erst zwei Wochen vor dem Urlaub hat er verkündet, wo es hingehen soll und dass seine neue Freundin mitkommen wird, um zu testen, ob sich alle verstehen. Der ganze Urlaub ist ein Probelauf, denn wenn Elli mit Vanessa klarkommt, wird diese nach den Ferien bei ihnen einziehen.

Allerdings glaubt Elli nicht, dass sie etwas gegen diesen Plan sagen kann, denn ihr Dad ist völlig vernarrt in seine Freundin. Außerdem mag Elli Vanessa ja auch. Ein bisschen. Es wäre nicht schlecht, nicht mehr allein für den Haushalt verantwortlichzu sein, auch wenn das nicht das ausschlaggebende Argument sein sollte. Elli wünscht nur, ihr Dad wäre die Sache anders angegangen und hätte ihr schon eher von seiner Freundin erzählt. Monate eher, weil Elli dann Zeit gehabt hätte, die beiden davon abzubringen, in dieses bescheuerte Feriendorf zu fahren. Letztes Jahr haben sie noch von Tunesien oder Marokko gesprochen, und nun das. Sie nimmt sich vor, gleich am See nach Leuten in ihrem Alter zu suchen, denn drei Wochen nur mit ihrem Dad und Vanessa werden sie sonst um den Verstand bringen, so wie die beiden sich ständig anschmachten.

Elli legt ihren Reader zur Seite und nimmt sich ein Eis aus der Küche. Als sie dieses gegessen hat, fühlt sie sich nicht besser und überlegt gerade, ein zweites Eis zu holen, als ihr Dad und Vanessa vom Sportplatz zurückkommen.

»Ich kann es kaum erwarten, in den kühlen See zu hüpfen«, schwärmt Vanessa. Ihr Tennisrock ist verboten kurz und stellt ihre ewig langen, gut gebräunten Beine vorteilhaft zur Schau. Selbst wenn Elli es versucht, bleibt sie doch immer kalkweiß. Oder sie wird krebsrot. Lange Zeit hat sie das nicht gestört, aber seit Vanessa ihr permanent mit ihrem perfekten Körper vor der Nase herumspringt, macht Elli sich ernsthaft Gedanken über ihr Aussehen. Als ob es nicht schon genug gibt, über das sie nachgrübeln muss!

»Schon eine Idee, was wir heute Abend schauen?«, fragt ihr Dad, als sie sich auf den Weg zum See machen. Er ist ein großer Filmliebhaber und hat diese Vorliebe an seine Tochter weitergegeben. Was bedeutet, dass er extra seinen Laptop mitgebracht hat, damit sie über diesen auf ihre Streamingdienste zugreifen können, denn der Fernseher im Bungalow ist dafür nicht ausgestattet.

»Wird darüber abgestimmt?«, will Vanessa wissen.

»Meistens wechseln wir uns mit dem Aussuchen ab.«

»Aber jeder hat ein Veto, wenn man den ausgesuchten Film absolut nicht schauen will«, fügt Elli hinzu, während sie darüber nachdenkt, in welcher Stimmung sie am Abend wohl sein wird. Definitiv keine Romanze. Vielleicht ein Thriller? Um Interesse an Vanessa zu zeigen, fragt Elli höflich nach ihrem Lieblingsfilm.

»Ach, weißt du, ich habe gar keinen. Ich war noch nie ein großer Filmfan.«

»Gehst du denn ins Kino?«, fragt Elli und fürchtet sich bereits vor der Antwort, denn sie selbst liebt es, Filme im Kino zu sehen.

»Nicht wirklich. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal im Kino war.«

Vanessa schüttelt ihre erdbeerblonden Haare und bindet sie dann zu einem losen Zopf.

»Es kann ja nicht jeder so filmbegeistert sein wie wir«, sagt ihr Dad und greift nach Vanessas Hand. Elli nickt lächelnd. Etwas Besseres fällt ihr dazu nicht ein.

Stattdessen entwickelt sie ein reges Interesse an ihren Flipflops, das bis zum See anhält. Sie ist überrascht davon, wie schön es dort ist. Besonders der Bereich mit den bunten Strandkörben gefällt ihr sofort.

Glücklicherweise hat sie ein Skizzenbuch und Buntstifte eingepackt.

Vanessa breitet eine Decke aus, sodass diese halb im Schatten eines Baumes und halb in der Sonne liegt. Elli hat ihren Badeanzug bereits im Bungalow unter die Kleidung gezogen, also muss sie nur aus Shirt und Hose schlüpfen. Vanessa trägt einen knappen Bikini. Was auch sonst.

»Bereit?«, fragt diese und deutet in Richtung des Sees.

»Ich creme mich lieber noch einmal ein. Geht ihr ruhig vor«, sagt Elli und kramt demonstrativ in ihrer bunten Umhängetasche. Ihr Dad wartet nicht, sondern läuft mit Vanessa zum Wasser. Elli redet sich ein, dass er nur eine Abkühlung nach dem Tennisspielen braucht. Er macht es sicher nicht, weil er Vanessa ihr vorzieht.

Zumindest gibt ihr das die Möglichkeit, sich in Ruhe umzusehen. Sie lässt sich auf die Decke fallen und schmiert sich Sonnencreme auf die Arme, während ihr Blick über das Panorama vor ihr wandert. Links von ihr liegt der Sandbereich mit den Strandkörben, die, soweit Elli das erkennen kann, alle belegt sind. Dahinter kann sie eine Bude und ein Häuschen sehen, in dem sich vermutlich Toiletten und eine Umkleide befinden. Auf der hölzernen Plattform im See tummeln sich etliche kleine Kinder mit ihren Vätern und einem Jungen, von dem sie schätzt, dass er etwa in ihrem Alter sein müsste. Ein kleines blondes Mädchen zieht an seinem Arm. Elli kneift die Augen zusammen, um besser sehen zu können, aber die Plattform ist zu weit weg, um Details zu erkennen.

Sie wendet den Blick von dem Trubel auf der Plattform zu dem abgesperrten Bereich des Sees, in dem man mit Ruder- oder Tretbooten fahren kann. Diese sind alle in unterschiedlichen Farben angestrichen und strahlen in der Sonne.

Eins ist auf jeden Fall sicher: Besonders viele Jugendliche gibt es im Feriendorf nicht. Elli sieht ältere Paare und Familien mit kleinen Kindern, aber nur eine Gruppe von Mädchen im Strandbereich und einige Jungen in ihrem Alter, welche nun die Plattform übernommen haben und sich gegenseitig ins Wasser schubsen. Und der Junge, der zuvor mit den Kindern auf der Plattform gewesen ist. Sie hat ihn aus den Augen verloren, während sie sich umgesehen hat.

Ihr Dad kommt aus dem See und schenkt ihr ein breites Lächeln. Er sieht unglaublich glücklich aus und Elli kann nicht anders als zurückzugrinsen.

»Vanessa fragt, ob du eine Runde mit ihr schwimmen möchtest«, sagt er und greift nach einem Handtuch.

»Klar. Aber danach will ich ein Eis.«

»Das lässt sich wohl einrichten«, lacht ihr Dad.

Vanessa wartet am Ufer auf sie. Elli muss erst einmal vorsichtig die Wassertemperatur mit einem Fuß testen, bevor sie zusammen losschwimmen können.

»Kann ich dich etwas fragen?«

Machst du das nicht die ganze Zeit, denkt Elli, aber laut antwortet sie: »Sicher.«

»Warum nennst du Rüdiger eigentlich Dad und nicht Papa oder so?«

Das würde Elli lieber nicht mit Vanessa diskutieren, aber sie kann schlecht nichts dazu sagen. Innerlich seufzt sie und überlegt, unterzutauchen, um dem Gespräch zu entkommen. Aber spätestens, wenn sie Luft braucht, wird Vanessa sie einholen, also versucht sie es erst gar nicht.

»Daran ist Judy schuld.«

»Wer ist Judy?«

Vanessa schaut interessiert zu ihr herüber, während sie mit kräftigen Zügen das Wasser teilt. Elli bemüht sich, nicht den Anschluss zu verlieren. Mit Vanessa scheint sich alles in einen Wettbewerb zu verwandeln.

»Die Ex-Freundin von Dad«, erklärt Elli und lässt unausgesprochen, wie wichtig Judy in ihrem Leben war, bevor sie ihre Koffer packte und zurück in ihre Heimat zog. »Sie ist Australierin und das hat dazu geführt, dass ich nicht Papa sage, sondern Dad.«

»Verstehe.«

Glücklicherweise belässt Vanessa es dabei. Elli hat keine Lust, die ehemalige Freundin ihres Dads mit seiner aktuellen Freundin zu diskutieren. Zumal sie Judy immer noch vermisst, auch wenn diese schon seit Jahren nicht mehr Teil ihres Lebens ist.

»Gefällt es dir hier?«, fragt Vanessa stattdessen. Ellis Arme werden bereits lahm.

»Am See?«

»Auch. Magst du den Bungalow?«

»Ja. Ist schön hier.«

»Ich war ehrlich gesagt etwas beunruhigt, dass es dir hier nicht gefallen würde. Rüdiger hat mir erzählt, dass ihr über Tunesien als Urlaubsziel nachgedacht habt.«

»Oder Marokko. Aber die Länder laufen nicht weg«, sagt Elli diplomatisch und wünscht sich nichts lieber, als mit einem Eis auf der Decke sitzen zu können, ohne mit Vanessa reden zu müssen.

»Du bist mir also nicht böse?« Vanessa klingt ernstlich besorgt über die Tatsache, dass Elli sauer auf sie sein könnte.

»Überhaupt nicht«, antwortet Elli und versucht zu grinsen, ohne lauthals nach Luft zu schnappen. Sie hat sich bisher für eine gute Schwimmerin gehalten, aber Vanessa belehrt sie eines Besseren. Glücklicherweise bewegen sie sich zurück in Richtung des Ufers.

Kurz darauf wickelt Elli sich in ein Handtuch, bevor sie ins Gras fällt. Sie findet, dass sie sich auf jeden Fall ein Eis verdient hat, und wird losgehen, um eins zu kaufen, sobald sie wieder vernünftig Luft holen kann. Mit geschlossenen Augen genießt sie die Sonne, während sich ihre Atmung beruhigt. Sie schielt zu Vanessa. Diese hat sich ebenfalls ein Handtuch umgelegt und sitzt eng an ihren Dad gelehnt. Keine Spur von Erschöpfung. Elli kann sich denken, was gleich passieren wird. Sie kneift die Augen zu, aber das hilft nur bedingt. Deutlich ist zu hören, wie sich die beiden küssen.

»Ich gehe mir ein Eis kaufen. Möchtet ihr auch?« Elli springt auf, bereit dazu, die Flucht anzutreten. Ihr Dad reicht ihr Geld und bittet um ein Eis mit Schokolade. Vanessa möchte nichts.