Halbzeitland - Gordon Müllenbach - E-Book

Halbzeitland E-Book

Gordon Müllenbach

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Beschreibung

Öjwind wird oft ohne Ziel, außer einer Zeitlang der Eingebung zu folgen, im Hier und Jetzt oder Dort und Später, mit Wegeslinien die natürlich fließenden Grenzen zwischen Intuition, den Momenten als einzige wirkliche Freiheit, und der Orientierungslosigkeit überquerend, dennoch neugeboren wieder empfinden, dass der Weg Übergang und Gelegenheit zur Reise bietet, Pilgerschaft gewährt und Station, Beginn verschafft und unanzüglich Begleitung wird. Öjwind begleitet den Weg, welcher ergiebig und ihm Sänfte für den optischen Wandel von Theorien und Lehrer erwiesener Erfahrungen wird. In einer Nähe, die Öjwind noch nicht ganz sein will, aber in der auch niemand anderes anwesender sein wird als er jetzt, wird er nun nicht mehr in Herden von Wölfen oder Einhörnchen erwachen, beim Aufstehen am Morgen nicht Schrat noch Drölver sein.

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Gordon Müllenbach

Halbzeitland

Eine Naufragie

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Halbzeitland

Endstation Kleinstadt

Übertyre durch das Oberstübchen

Auf der Arbeit ist nichts Gutes passiert

Achter Etagen

Beim Lichtkrieger

Endlich an Land!

Statischer Ausblick

Die berühmten fünf Worte zu viel zu der Ninja in der Bagdad-Bahn

Exposura

Impressum neobooks

Halbzeitland

gewidmet Bilal al-Abed

Graues Kanaan

“Unklar, durch was wir durchgehen,

Unwissend, wonach wir suchen,

Erleben wir, dem Gewicht eines ganzen Lebens

gewachsen zu sein.“

aus `Das Poetische Theater am Synapsenspalt´

„Wer die Kunst will, schafft die Zerstörung,

Und der große Morgen, der durch Zerstörung gebahnt,

Wird immer nur zu der Zukunft der anderen.“

aus `Mond-Seance - der Boskoop des

Diskontinuums´

Endstation Kleinstadt

Öjwind erschrickt milchbleich, als er aus dem Fenster blickt. Durch die Dunkelheit zieht eine schwere Dampflok und stampft unter Volldampf und mit lautem Hornpfeifen auf die Hängebrücke über der Straßenschlucht. Öjwind erschauert ziellos. Der ungeronnene Tross aus aufbrausendem Konstrukt töst scheppernd unter dem klaren Sternenzelt und flößt ihm eindringlich und unheilvolle Furcht ein.

Des Nachts gelangen Öjwind die unsichtbar gebliebenen Gestalten des Tages an den Türrahmen. Sie blicken hinein und gehen wieder. Wie zerschlagen, liegt Öjwind zwischen den Laken und hat die Finger beider Hände miteinander verschränkt, zu einem Symbol verhakt vor dem Gesicht.

Er steht auf und bepinkelt, nackt im Stehen, den weichen Velourteppich, was ihn allerdings schämt, wie er beim Aufreiben mit einem frischen Bettbezug bemerkt.

Fiebrig geht Öjwind zurück zu dem Futon. Eine leere Flasche auf dem Schreibtisch hat die Mütze des Tages auf dem Hals. Öjwind nickt kurz ein, erwacht aber, als er von einer Kerze träumt, welche die Matratze des Futons entzündet, auf welcher er gerade schläft.

Oh, und die Ahnungslose!

erinnert Öjwind sich,

Die eine Kerze entzündet und fragt, ob man nach der langen Fahrt nicht auf der Couch ausruhen möchte.

Er kreucht an das kleine Fenster des Zimmers, welches in einer Wohnung im Dachgeschoss liegt, welche er jeden Tag, ohne Fahrstuhl, hindurch acht Etagen und die letzten, geschmälerten Treppenstufen herauf, betritt. Der Mond scheint groß in den Raum. Öjwind kann den Stadtrand mit dem Wasserturm sehen,

Nein!

Auf dem Tisch im Nebenzimmer brennt eine Kerze und steht in einem vertrockneten Tannenkranz auf einem quadratischen Festdeckchen mit weihnachtlicher Motividria. Der Tisch ist schwarz und kniehoch.

Stundenlang hockt Öjwind in einer Lederjacke auf dem Tisch, deren Metallknöpfe er dabei abschneidet, und konzentriert sich an dem Licht der Kerze, kippt unabsent nach hinten um und liegt auf dem Boden wie frierendes Gelee in einem schweren Umhang,

Nur entweihende Sprachgewänder,

Öjwind steht auf und tritt ausgelaugt in den Flur der Wohnung. Er will in den anderen Raum, drüben, auf das Bett,

Denkbar, dass ich mich dann besser fühle!

Er nimmt den brennenden Kerzenstummel vom Tisch und tritt im zappendusteren Nassraum vor den Spiegel, kann aber das grimmig verkniffene Gesicht, welches sich ihm so verdichtet, Leben und Sein ausleuchtend, einflößt, nicht wiedererkennen,

Werd` ich den oder die wohl einmal, wenn auch später und ganz woanders, als Omen unter Omen kennen oder lieben lernen?

Albmemorativ und unbannbar für Fotopapier oder -pixel, gespiegelt von einer imaginativ futur-dynamischen Installation, steht Öjwind breitbeinig und mit dem Gesicht zur Mauer im Flur und legt die Hände erhoben an die Wand, bis er sich durchfilzt fühlt,

Sonnenbekämpfung!

Er geht in die Küche, setzt sich auf einen ausklappbaren Küchenstuhl und verknotet einige verwendete Teebeutel am Faden miteinander,

Nein, meine Hände zittern gar nicht!

bemerkt Öjwind pendulum-tarierend, inmitten das Geräusch des Kühlschranks abbricht, und die Nachkühlphase endet,

Was mich so verunsichert?

Öjwind weiß nicht mehr, was er eigentlich wirklich tarieren will,

Ehrfurcht!?

fragt er sich und zieht den Stecker von dem Kühlschrank aus der Dose, welcher in der Wohnung, bis soeben, Tag und Nacht, in zirkularem An- und Ausspringen zu hören gewesen ist,

Der wird jetzt doch endlich aus sein!

Aber, das allein kann Öjwind nicht so schubhaft durch die Nächte transformiert haben, auch keine Wasserader oder sonstigen elektro-energetischen Erdkalorien,

Emo-Nonsens!

ruft Öjwind aus und wirft sich auf das Lager in dem Raum neben der Küche,

Der Morgen beginnt.

Durch das Fenster scheint die aszendierende Sonne auf tigerhaft schattierte, handgroße Blätter einer Gummibaumpflanze auf einer Marmorsäule,

Die Sonne scheint,

dann,

die Sonne scheint auf zu gehen,

und,

macht nichts!

erinnert Öjwind, und einen Augenblick lang fällt ihm nichts Besonderes zu dem Schauspiel der Härte und brennenden Unliebe einer stellaren Ränke ein, die ihm das Kaleidoskop von Tag und Nacht durchlöchert und, Öjwind anstoßend, Zepter zugleich ist - er hält aufmal inne,

Die Regenbogen-Clownin?! - wo eigentlich ein Notausgang am Horizont! - wichtig wird den Weg richtig zu wählen, wenn ein wenig Inspiration aufglimmen soll! - und am besten, bevor die Schatten zu Schranken vergangenen Lebens werden, gehen wir ohne Ziel durch das heimatliche Städtchen, ich bin mir sicher, auf solchen Spaziergängen erwartet uns die in Gänze, heile Welt, die zu Grab schwingt, und wenn schon!

Öjwind beschließt,

Nirgends zu wohnen, in einem Land ohne Wege! - jetzt wird es abends!

und er zieht einen graphitgrauen Strich neben der Topfpflanze auf den Säulenmarmor.

Neulich,

sagt Öjwind sich. Der Strich zu einem Neulich, einem N davon, einem erneuerlichen Anfang von einigem N,

/

Öjwind zieht sich an, kämmt die Haare und geht aus dem Zimmer, rennt aus der nachts schon, unbewusst geöffneten Eingangstür in den Hausflur der achten Etage.

Öjwind geht los, die Beachtung sonderweltlicher Innerstimmen aufgebend,

Innere Stimmen? - die gehören sowieso nicht zu mir!

sagt Öjwind zu sich.

Das Gefühl der Befreiung durchströmt Öjwind ganz oben, als er sich aufmacht, die Tür hinter sich schließt und das Sonnenlicht bemerkt, welches durch die Dachluken auf dem Hausflurboden leuchtet,

Solange ich gehe, bin ich!

In die Parterres angelangt, bekommt Öjwind Kopfschmerzen, darob vorn hinauszugehen, vorbei an einem Zeichen, einer Tür und durch einen kleinen Treppenflur, in welchem die Zeitungen mit den Wohnungs- und Stellenangeboten auf dem Boden liegen und der stets direkt auf den Entschluss zuläuft,

Nach dem Eingang links oder rechts - oder durch die Hintertür in das Freie?

In dem Flur vor einer Zeile Postkästen versunken, steht Öjwind und balettiert langsam im Sonnenlicht um seine Achse, empfängt zeitlupenhafte Projektile aus Mündungen, welche er nicht sieht und, Öjwind gesteht sich ein, welche ihn auch nicht durchsieben werden.

Auf dem Hinterhof spielen Kinder auf einer Hälfte des kleinen, mit einem braunen Holzlattenzaun von den Parkplätzen abgetrennten Feldes Fußball. Die andere Hälfte ist von einem rotweißen Bauband gesperrt, auf welcher der Versuch einer Rasenpflanzung ihren Werdegang vollzieht.

„Na, alles klar?“, ruft der Junge aus dem fünften ihm zu und gibt Öjwind die Hand,

Mir geht das prima, und selber?

Die Unbefangenheit wirkt erleichternd auf Öjwind, welcher anspruchslos nur der Ältere ist, was ihm der natürlichen Art von Respekt nahezukommen scheint, als der Junge merkt, dass nichts Weiteres sich entwickelt, wenn er nicht Initiative ergreift.

„Tschö, wir sehen uns!“, sagt der.

Öjwind genießt den Moment des Älter-Seins, den er ohne Dank hinnimmt, und geht durch die schmale Ein- und Ausfahrt in Richtung Straße weiter, schreitet an dem Hauseingang und dem anliegend aufgebrochenen Zigarettenautomaten vorbei,

Was ist das nochmal gewesen?

Als er weit von den Fenstern der Parterres entfernt ist, quert Öjwind die breite vielspurige Straße und blickt noch kurz zu den Fenstern,

Gehe ich jetzt überhaupt einen wichtigen Weg?!

Öjwind geht auf die große Eisenbahnüberführung zu, erblickt an einer Ampel noch auf Grün-Phase wartende Menschen und schreitet, in einiger Entfernung, an den Stehenden vorbei. Eine Frau auf einem Fahrrad rollt die leichte Neigung der abbiegenden Straße herab und fährt, zwar blickerwidernd, aber nicht zu einem Gruß motiviert, an ihm vorüber. Öjwind beschließt nach den grußlos gebliebenen Treffen,

Keinen Menschen mehr anlächeln oder ansprechen! - so denkt ein Bargehn!

Öjwind kommt in die Straße, in welcher die Redaktion liegt,

Die habe ich noch gar nicht aufgesucht!

Er betritt den hölzernen Vorraum der Zeitung, an welchen ein Kaffeehaus angekoppelt ist, und geht an dessen offener Eingangstür vorbei, in den entlegenen Teil des Gebäudes und in einen großen Raum,

Hm? - hinten in der Ecke steht der Bürotisch mit dem Gigabyte Mehr auf der Platte, - Volontariat habe ich heute also nicht.

Direkt gegenüber den Schreibtischen ist eine Fensterreihe, welche den Steingarten dahinter freigibt, in dem Frauen aus der Küche verschiedenes Gemüse putzen, um dieses kochfertig zu machen, aber ausgerechnet heute bekommt Öjwind keinen Teller Mittag ab,

Die aktuelle Versammlung ist verpasst, in der alles Weitere besprochen worden ist!

Und so, unvermutet zu spät gekommen, besetzen andere Straßenverkäufer Öjwinds eigentlichen Arbeitsplatz.

Hier ist ein Kommen und Gehen! - und alle sind dabei an den nächsten Themen zu schmieden,

ertappt er sich.

Die zeitnahe Ausgabe ist längst mit den Händlern unterwegs, und Öjwind beschließt, sich einen Weg in den Steingarten zu bahnen,

Eigentlich will ich in dem Trubel rechtzeitig aufgetaucht sein.

Öjwind betrachtet den Schieferplattenweg, welcher an der Balkontür neben der Fensterreihe zum Garten beginnt,

Die liegen ganz gerade verlegt und frisch dazu!

In der Mitte des Steingartens steht ein Eingang zu einem bunkerähnlichen und sehr flach gemauerten Bau, in welchem sich eine Treppe steil und schneckenförmig als Eleison in den Keller windet,

Eine Warze Beton und mitten im Steingarten, auf der ein paar Töpfe mit Pflanzen stehen!

Öjwind kann aus dem Stand auf den breiten Dachsockel, auf welchem die Schüsseln mit Geschältem abgestellt sind, hinaufspringen und hört aus einer geöffneten Hintertür ein angeregtes Kochen. In dem Küchenraum wird zwischen chromglänzenden Möbeln das Zubereitete hin- und hergetragen, in große Edelstahltöpfe versenkt. Von der Decke hängt, an unzähligen Haken jeglicher Größe, aller Art Gerät, welches beim Angestoßen-Werden leise klirrt. Dämpfe steigen aus den Pötten, quellen durch die Herdnischen und die Spülmaschinen laufen mit rotierendem Sprühgeräusch. Doch auch bei dem fortwährenden Betrieb in der Kantine des Cafés wird Öjwind nicht gebraucht,

Die Küche ist offensichtlich voll ausgelastet!

Öjwind, an der offenen Küchentür, löst sich von dem gastronomischen Spektakel,

Gegenwärtig droht kein Verhängnis, wenn wir an das Hoftor schlagen.

Gegenüber, in der Mauer, realisiert Öjwind ausgestoßene Steine, welche in einem großen Stahlcontainer aufgetürmt liegen, Schutt und Raum geben für ein komplettes Hoftor,

Kann ein Schmetterling mit seinem Flattern das Wetter der ganzen Erde beeinflussen? - aber wir sind offensichtlich nicht so chaotisch wie die Frühlingsboten mit ihren Stürmen!

Er geht zu dem Durchbruch und aus dem Steingarten, passiert den schuttgefüllten Container,

Wenn ich momentan nicht gebraucht werde, und auch nicht volontär, dann passiert der Tag, wenn, geschieht das Gegebene ereignisreich.

Öjwind fühlt die dorrenden Zenite, welche seit Urgedenken die Menschheit auszutrocknen suchen. Er glaubt,

Jetzt wird es Nachmittag, ich will an den Fluss gehen.

Öjwind biegt in den nächsten Straßeneingang, in welchem ihm unvermittelt eine Karnevalsmusik entgegen trommelt, die von weit aus dem Ende der Häuserschluchten heranschallt, und erreicht einen Umzug, als dieser in einer Nebenallee verschwindet, sieht schon einen der letzten Wägen, auf dessen Ladefläche eingespielt und schwarzvermummt Kostümierte unter Plastikplanen eine freie und unkomponierte Improvisation hervorjamen. Ein Mädchen an einem Megaphon zitiert Texte, welche sich Öjwind nicht gleich erschließen, und verkündet unentwegt die Namen von Feier- und Festtagen, welche, teils vorbei sind, teils, das Jahr über, noch gar nicht stattgefunden haben.

Sie beschließt ausdauernd, bei jedem erwähnten Feiertag zu sagen, dass dieser heute ausgerechnet wirklich nicht sei, und rezitiert erneut einen Festtagsnamen.

Die Jamenden intonieren ein festes Thema, welches sie repetieren und wippen mit ihren vermummten Körpern, von denen Öjwind nur die Augen sehen kann.

Die Sängerin psalmodiert, „Wegen der Wiedervereinigung vielleicht?“

Öjwind bemerkt eine Hundertschaft Beamteter mit Schlagstöcken und Großkalibrigem an den Gürteln, die, gezogenen Helms unter dem Arm, dem Wagen in scheinbar vorgeschriebenem Abstand hinterherzutrotten scheinen.

Der Jazzrock vom Planwagen wogt weiter.

„Nein!“, spricht das Mädchen in das Megaphon, „Auch nicht wegen des Führergeburtstags!“

Vielleicht Frühlingsbeginn!?

mutmaßt Öjwind.

„Kann ja wegen des Welt-Aids-Tages sein.“, vermutet sie singend.

Öjwind hört die Parola des Tages an ihm vorbeiziehen,

Weswegen eigentlich jetzt? - ich habe keinen Kalender zugegen!

Er läuft zügig an dem Umzug entlang zur Spitze und sucht an der Front eine Avantgarde mit beschriftetem Plakat zu erspähen, welches darüber Aufschluss geben kann. Doch, auch dort sind nur Wägen, aus welchen Musik und Rhetorik hervorbrechen. Von einem berichtet eine Stimme den Zuhörenden,

„…und des Krieg` sie essen, des Mut` sie stehlen. Der Polizeistaat und die Logik des Kapitals manifestieren weiterhin Unterdrückung und Ausbeutung!“

Die helle Stimme erklingt Öjwind eindeutig jünger, als die eines Erwachsenen, und er versucht zu sehen, wer spricht, aber auf dem Wagen, dessen Ladeflächen und Wandplanen komplett mit Zeitungen collagiert sind, kann er niemanden entdecken.

„Die Globalisierung bricht nicht mit den Grenzen alter, imperialer Strukturen. Die freie Migration hat die Monopole der Koexistenz von Privilegierten und Eliten, Etablierten und Vorrechtlern zu assimilieren. Statt traumatisierender Flüchterei - wirkliche Reisefreiheit für alle.“,

ruft die Stimme den Anwesenden zu,

„Wir haben uns in die Produktionsverhältnisse der Weltrevolution zu integrieren und mit der arbeitenden Bevölkerung zu solidarisieren. Der intellektuelle Staat verbrüdert sich gegenwärtig, doch nur mit der Vergangenheit, das Volk artikuliert seine Meinung, eh nur auf dem Fußballplatz. Ansonsten horten die kapital-dynamischen Klassen weiter, denn sie reich genug sind sich bedienen zu lassen. Das ist die Koexistenz der zufriedenen Herren, der zornigen Männer und grauen Eminenzen. Sammeln statt handeln! Scheren statt Akten! Archivieren statt machen! Bürokratien haben keine Hautfarbe, Parteien keine Konfession, Weltkultur muss nicht alteuropäisch sein, Lebensfreude kennt keine Historie!“,

erklingt die Stimme aus dem bedacht dahinziehenden Wagen. Öjwind weiß nicht weiter,

Das ist hier zu ergreifend!

Auf einem Transparent leuchtet ein Symbol, Öjwind merkt auf,

Zwei Männer oder ein Wesen mit, letztmöglich, einem Paar Frauenköpfen, hm? - ein siamesisches Krokodil, das in einem roten Fluss schwimmt, oder Geldeintreiberinnen mit Baseballkeulen vor kryptischen Bunkerrunen, keine Ahnung?!

Öjwind schwenkt in einen kleinen Park, der ihn rettend mit einem Sandweg einlädt, und setzt sich auf eine verwitterte Holzbank, fühlt sich wie betulich erwacht, auf dem Schloss einer totalitär mystagogischen Halbgottheit, die dem Volk Demokratie gewähren will, während die Sambatrommeln des Umzugs allmählich verklingen, und im Park bunt Jogger und Joggerinnen Runde um Runde zu drehen beginnen, die reihenweise und sich unterhaltend an Öjwind entlang laufen, sich in die hinteren Gehwege des Parks entfernen und, ihrer scheinbar immer neuformierend, zurückkehren

Ein eindeutig älterer Mann setzt sich neben Öjwind und knistert bedeutungsvoll mit einer Plastiktüte, aus welcher er eine Dose hervorzieht, faltet die Tüte vorsichtig und legt diese knisternd auf die Bank.

Eine bunte Gruppierung Joggende trabt heran. Öjwind erzittert an der beginnenden Abendkühle.

Die Dose öffnet sich geräuschvoll.

Öjwind steht auf und beschließt, zu Aris Imbiss zu gehen,

Der Tag ist gelaufen, passiert sozusagen, vielleicht kann ich bei Ari jedenfalls ruhig nachdenken.

Auf dem Weg begegnet Öjwind einem ihm vertraut erscheinenden Menschen, der vor den Ruinen eines Hauses steht und eine Reihe von Weichplastik- und Wachs-Ohrstöpseln in den Händen hält, welche er sich aus den Ohren gezogen zu haben scheint.

Noch versenkt von der Abwägung, statt Aris Imbiss, lieber den Einkaufsladen an der Ecke aufzusuchen, überlegt Öjwind nun,

Ob vor oder hinter ihm entlang? - oftmals entscheiden solche Feinheiten über das Gelingen einer Begegnung.

Öjwind erscheint das von außerordentlicher Wichtigkeit. Rastlos im Abwägen nähert er sich dem Menschen auf einigen Schritten, als der ihn unvermittelt anblickt. Öjwind hält es augenblicklich für ratreich, einen

Guten Abend!

zu wünschen, um der Höflichkeit der Begegnung zu entsprechen. Die Entgegnung stellt sich als eine günstige heraus, auch wenn Öjwind, und zu dem Abend überhaupt, kein weiterer guter Gedanke einfällt. Jener entgegnet ihm nicht und hinterlässt Öjwind die Befremdung, gegrüßt zu haben.

Nach verlegenem Weitergehen, als Öjwind vor Aris Imbiss Halt macht, streift ihn eine Ahnung. Er tritt ein und bestellt,

Einen Tee und Pommes zum Mitnehmen, bitte!

und beginnt, Ari bei der Arbeit zuzusehen.

Ari vollzieht einen Turnus schneller, geübter Griffe, geht kurz in die hintere Küche, um etwas Besonderes zu holen, erscheint aber sogleich wieder zurück.

Die restlichen Plätze sind, unter Ausnahme zweier Mädchen, die offenbar kichernd ihre ersten Zigaretten rauchen und eines alten Mannes, der stoisch über einer Flasche Bier in eine Zeitung blickt, leer. Ari dreht sich um und ruft die albernden Mädchen zu sich, die schnell die Zigaretten ausmachen und schüchtern an den Tresen treten, gibt ihnen deren Bestellung, kassiert und dreht sich wieder an den Herd, als die Mädchen den Imbiss lachend verlassen.

Öjwind bemerkt die Regale, welche unterhalb der Decke angebracht sind, in denen zerlesene Buchexemplare, große Bildbände und Romane stehen. Er zögert und fragt,

Ob ich mir die Bücher ́mal ansehen und in das eine oder andere hineinlesen darf?

Ari wendet sich um, kommt hinter der Theke hervor und geht mit Öjwind zusammen zu den Regalen, fordert ihn auf, sich die Bücher anzusehen und, wenn Öjwind Geduld habe, darin zu lesen.

„Dafür stehen sie ja hier,“, sagt Ari, „auch wenn selten ein Gast, hinter der scheinbaren Zier, den Wert anerkennt.“

Öjwind dankt und fängt an, die Buchrücken zu studieren und entdeckt einen Bildband über Pablo Picasso, welchen er herauszieht.

Das Buch zeigt eine Ausstellung des Künstlers in dessen Heimatstadt. Angeregt blättert er in einem Band, welcher Skulpturen zeigt, und verharrt über einer Abbildung, die ein auf langstieligen Beinen stehendes, in Gold gegossenes Pferd darstellt.

Von dem Nachbartisch ertönt eine Stimme zu Öjwind herüber, „Sehen Sie, ich bin Arzt in einem Krankenhaus. Ich schneid` die Leute auf, hol` etwas aus ihnen hervor oder pack` etwas and`res hinein, - und dann näh` ich sie wieder zu. Feierabends sitz` ich hier gelegentlich und trink` Kaffee oder rauch` eine Pfeife. - Was gibt ´s denn noch zu erzählen? Wir haben die Schwerkraft. Eine Tasse fällt auf den Boden, auch wenn Sie auf dem Kopf stehen, und falls Sie Ihren Finger zwischen die Tür legen, tut der Finger weh.“

Er trinkt einen Schluck, und bevor Öjwind etwas erwidern kann, sagt er, „Eine Kette ist immer so stark wie das schwächste Glied.“

Öjwind schaudert, er will der Stärkste, der Erste und der Schönste sein.

„Gucken Sie sich die Leute, gegenwärtig, trotzdem genau an. Die laufen ein Leben lang wie die Hamster in den Käfigen und sind blind wie die Schleichen, können sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Ehefrau oder ihres Ehemannes erinnern noch wissen sie von der Maserung auf der Tapete zu Haus. Das ist doch die Wirklichkeit, oder?!“

Ihm geht die Pfeife aus, und er beginnt diese nachzustopfen. Öjwind schweigt, während der Alte nochmals murmelnd sagt, „So ist doch die Realität.“, seine Zeitung aufnimmt und sich darin vertieft.

Ari ruft von seinem Tresen, ob Öjwind hier oder außer Haus essen wolle? Öjwind steht am Tisch des Arztes auf, wünscht einen,

Schönen Abend noch,

und geht zu dem Tresen,

Zum Mitnehmen, bitte!

Ari packt die Bestellung in Zeitungspapier ein und überreicht sie Öjwind.

Draußen erblickt er den pressanten, immer noch vor den Ruinen des verfallenen Hauses sich aufstellenden Herrn auf der anderen Straßenseite, geht hinüber und fragt ihn mutig nach seinem Befinden. Der glotzt, als ob er knurren wolle, Öjwind an und winkt nach dem Paket, der es ihm nun, unüberlegt und widerstrebend hinhält, entreißt es Öjwind und knurrt ihn so laut an, dass Öjwind davonläuft.

Außer Atem erreicht Öjwind die Eingangstür seiner Mietskaserne.

Fußball spielen wird´s gewesen sein,

erinnert Öjwind, als er durch die Eingangstür hineintritt und an den Zeitungen, dem Zeichen und der kleinen Treppe hinunter zum Hof vorbei ist, in dem die Kinder auf ihrer Rasenhälfte wieder Tor spielen,

In die Wohnung gekommen, zündet Öjwind eine achte Kerze an. Gleichgültigkeit durchzuckt ihm neuralgisch die Schlüsselbeine,

Woandershin hab` ich den Horror, aber ewiglich den Koffer auf das Bett werfen und Für-die-Reise-Packen spielen?

Die Nachbarn rufen sofort, „Feuer!“, als Öjwind bei noch offener Wohnungstür einige Zettel in einer ofenfesten Glasschale verbrennt. Aber er kann die aufgeregte Nachbarfamilie wieder beruhigen.

Nachts hat Öjwind einen Traum.