Halte mich - Liebe mich - Lyanne Evans - E-Book

Halte mich - Liebe mich E-Book

Lyanne Evans

5,0

Beschreibung

Vincent Emilia ist seit Jahren meine beste Freundin. Seit ein paar Wochen ist sie so viel mehr. Sie ist meine große Liebe, aber sie will von meinen Gefühlen nichts wissen. In einem Moment schmiegt sie sich an mich und erwidert meine Küsse und im nächsten stößt sie mich weg, sagt, dass wir nicht zusammen sein können. Trotzdem glaube ich, dass wir eine Chance haben könnten, wenn da nicht Emilias Liste wäre, die ein tiefes Geheimnis birgt und unsere Freundschaft zu zerstören droht. Eine Geschichte über tiefe Freundschaft, zarte Liebe und das Glück, das nicht jedem im Leben gegönnt ist.

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Halte mich - Liebe mich

Emilias Liste

Lyanne Evans

Inhalt

Erklärung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Epilog

OBO e-Books

Erklärung

Die Frikandel ist eine niederländische Wurstspezialität, die optisch unserer Bratwurst ähnelt.

1

Emilias Liste

Emilias Liste

Auf einen Ball gehen

Einmal zum Meer fahren

Mir ein Tattoo stechen lassen

Geküsst werden

Sex haben

Am Strand schlafen

Einen Pinguin streicheln

Auf einem Motorrad mitfahren

In einem Heißluftballon fliegen

Eine Sternschnuppe sehen

Eine Flaschenpost schreiben und ins Meer werfen

Pinke strähnen färben

In ein Schwimmbad einbrechen

Einmal wie ein Star aussehen

Im Altenheim vorlesen

„Eine Liste?“, verwirrt schaue ich meine beste Freundin fragend an. „Und wofür soll die gut sein?“

Emilia verdreht die Augen. „Das habe ich dir doch gerade schon gesagt. Ich werde in vier Wochen achtzehn und bis dahin möchte ich sie abgearbeitet haben. Soll ich dir das etwa auch noch aufschreiben?“

Sie legt den Kopf schief, während ich noch immer ein wenig verdutzt bin. Wie kommt sie jetzt plötzlich auf diese merkwürdige Idee?

„Ansonsten geht es dir aber gut, ja? Ich meine, meinst du nicht, dass gewisse Dinge noch etwas mehr Zeit benötigen?“

Mein Blick wandert erneut über diese komische Liste, die sie in fein säuberlicher Schrift verfasst und auf ein buntes Blatt Papier geklebt hat. Ich wusste ja schon immer, dass sie verrückt ist, aber das ist selbst für ihre Verhältnisse etwas übertrieben.

„Ach, meinst du? Und was zum Beispiel?“

Nun bin ich derjenige, der die Augen verdreht. „Sex haben zum Beispiel. Was willst du tun? Dir jemanden für einen One-Night-Stand suchen? Dafür bist du doch gar nicht der Typ.“

„Und wieso nicht?“, fragt sie augenrollend. „Vielleicht stehe ich ja drauf?“

Ich lache auf. „Natürlich, deshalb bist du mit deinen siebzehn Jahren auch immer noch Jungfrau und wartest auf die große Liebe.“ Dann schüttle ich den Kopf. „Versuch fehlgeschlagen, Emilia.“

„Du wirst schon sehen!“, erwidert sie schnippisch und rutscht ein Stück nach vorn, um von dem Felsen zu springen, auf dem wir bereits eine ganze Weile lang sitzen. Hier oben auf der Halde, die in einem der schönsten Teile des Ruhrgebietes liegt, sind wir fast jeden Abend und schauen uns gemeinsam den Sonnenuntergang an. „Unterschätze mich nicht, Vincent!“

„Nicht doch, wie könnte ich einen laufenden Meter wie dich unterschätzen?“

Grinsend schaue ich ihr in die Augen und beobachte, wie sich ihre Stirn lustig in Falten legt. Das tut sie immer, wenn sie sich über mich ärgert und ihre blauen Augen kneift sie dabei zu winzigen Schlitzen zusammen.

„Du bist ganz schön frech, Vincent Wagner!“, sagt sie energisch und stemmt die Hände in die Hüften. Ich schüttle lachend den Kopf. „Hast du sonst noch was zu meckern?“

„Ein Punkt fällt mir da definitiv noch ein, ja.“

Schnaufend pustet sie sich eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. „Komm schon, ich höre!“

„Na ja.“ Ich lehne mich zurück und stütze mich mit den Händen auf dem kalten Stein ab. „Das Tattoo zum Beispiel, das könntest du dir stechen lassen, wenn du schon achtzehn bist. Dann gibt es nämlich weniger Stress mit deiner Mutter und du bereust es vielleicht nicht irgendwann.“

„Himmel, Vince!“ Sie schnauft erneut auf, während ich mit einem Grinsen im Gesicht und dem Zettel in meiner rechten Hand ebenfalls hinunter auf den Boden springe und direkt auf sie zugehe. „Du bist schlimmer als meine Mutter. Wie alt bist du eigentlich?!“

Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und lege meine Stirn an ihre. „Anscheinend nicht nur zwei Jahre älter, sondern auch noch vernünftiger als du. Ich finde einfach, du solltest manche Dinge nicht überstürzen. Du hast doch noch so viel Zeit.“ Anschließend küsse ich sanft ihre Stirn und lasse sie wieder los.

„Was du nicht sagst.“ Sie wendet sich von mir ab und geht bis zum Ende des Weges, um ins Tal zu sehen. „Ich werde bald achtzehn, Vincent, und habe in meinem Leben noch nie einen Mann geküsst. Wie lange soll ich noch warten? Wer will denn schon eine blöde, alte Jungfer?“

Grinsend schüttle ich den Kopf und folge ihr. Direkt hinter ihr bleibe ich stehen und beuge mich zu ihr hinab. Der kleine Gartenzwerg ist mit seinen knapp 1,65m nämlich gut zwanzig Zentimeter kleiner als ich. „Ein Mann, der dich liebt, aber ich vermute mal, das möchtest du jetzt nicht hören. Stimmt’s?“, flüstere ich ihr ins Ohr.

„Ich bewundere deine schnelle Auffassungsgabe, lieber Vincent.“ Sie dreht sich zu mir um und streckt mir die Zunge heraus. „Also was ist? Arbeitest du sie mit mir zusammen ab oder muss ich mir jemand anderen suchen?“

„Hm …“ Unsicher betrachte ich ihre flehenden blauen Augen, die sich tief in mein Innerstes bohren und mir ein Nein so gut wie unmöglich machen. „Also schön, aber nur unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

Sie legt den Kopf ein wenig schief und ich spüre sofort, dass sie sich ihrer Sache sehr sicher ist.

„Wenn es um Punkt …“ Ich werfe einen kurzen Blick auf den Zettel. „Wenn es um Punkt Fünf geht, darf ich mitentscheiden, ob du dir den Richtigen ausgesucht hast.“

„Bitte was?“, fragt sie empört. „Ich lasse dich doch nicht bestimmen, mit welchem Mann ich schlafe. Spinnst du?!“ Ihr empörtes Gesicht entlockt mir ein amüsiertes Schmunzeln. „Vince!“, stößt sie wütend aus und schlägt mir vor den Brustkorb.

Ich lache, halte mir aber gleichzeitig die Stelle, die sie getroffen hat. „Nichts da, Vince“, sage ich dann aber ernst. „Entweder, du gehst auf diesen Kompromiss ein oder du kannst die Liste vergessen.“

„Pff, dann mache ich sie eben mit jemand anderem?“

„Das wirst du nicht, sonst hättest du vorher schon jemand anderen gefragt“, erkläre ich stichelnd. „Komm schon, Em, das ist nur eine klitzekleine Einschränkung.“ Nun lege ich den Kopf schief. „Also?“

Sie zuckt mit den Schultern und zieht den linken Mundwinkel hoch. „Also schön, aber wehe der Typ ist hässlich und hat Pickel!“

„Und eine Hornbrille, versteht sich.“

„Du bist ein Arsch!“

„Und du süß, wenn du dich aufregst.“

Sie grinst, dieses verrückte Huhn.

2

Träume und Wünsche

Am nächsten Morgen komme ich relativ zeitig aus der Schule. Mathe und Deutsch sind ausgefallen, und so ist es erst kurz nach 12:00 Uhr, als ich mein Elternhaus betrete. Da ich in der Einfahrt unser Auto nicht entdecken konnte, hege ich die Hoffnung, dass mein Vater ausnahmsweise mal nicht von zu Hause aus arbeitet und in der Kanzlei ist. Doch diese Hoffnung zerschlägt sich schnell, da er mich wenige Augenblicke später lautstark zu sich ins Büro ruft. Ich habe schon einen Fuß auf die Treppe gestellt, als ich noch einmal innehalte und leise aufseufze.

Wieso bin ich nicht einfach noch mit den Jungs etwas essen gegangen?

„Vincent!“, erklingt seine laute und dunkle Stimme erneut.

Erwarten, dass er heute vielleicht bessere Laune hat als sonst, brauche ich vermutlich auch nicht.

„Ja, ich komme doch schon“, erwidere ich ebenso laut und begebe mich auf direktem Weg zu seinem Büro. Ich klopfe an, obwohl die Tür offen steht. Darauf besteht er. „Was kann ich für dich tun, Vater?“

Während er den Kopf hebt und mir direkt in die Augen sieht, legt er den edlen und teuren Kugelschreiber zur Seite, mit dem er zuvor noch einige Unterlagen unterschrieben hat. Sein Blick ist hart. Er mustert jeden einzelnen Zentimeter von mir.

„Setz dich“, fordert er mich auf, ohne mich zu begrüßen. „Ich denke, wir haben einige Dinge zu klären.“ Die Lippen aufeinandergepresst nicke ich, bin jedoch keinesfalls begeistert darüber, dass ich ihm schon wieder Rede und Antwort stehen muss. Ich hasse diese Gespräche, denn sie führen immer wieder zum selben Ergebnis. „Was ist? Brauchst du eine extra Einladung?“, fragt er wütend nach.

Ich schüttele den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.“ Bevor ich mich zu ihm an den Schreibtisch setze, stelle ich meine Schultasche neben mir auf dem Boden ab. Erst dann nehme ich auf einem der bequemen Stühle Platz, auf denen sonst normalerweise nur seine Klienten sitzen. „Worum geht es denn?“

Er schaut genervt zu mir auf und runzelt die Stirn. „Ich glaube nicht, dass du mir diese Frage jetzt gerade wirklich gestellt hast, oder? Ich denke, du weißt, worauf ich seit gefühlten Wochen warte und es ist an der Zeit, dass du mir die Unterlagen endlich zukommen lässt. Du möchtest doch sicherlich vermeiden, dass deine Bewerbung an der Universität abgelehnt wird. Oder sehe ich das etwa falsch?“

Wenn ich nicht geahnt hätte, worauf dieses Gespräch hinausläuft, wäre ich vermutlich bereits jetzt richtig sauer. Es ist immer dasselbe: Wenn er mich sieht, weist er mich darauf hin, dass ich die Bewerbung für mein Jurastudium noch immer nicht geschrieben habe, und das, obwohl er sich diese genauestens ansehen wollte. Da ist es ihm auch vollkommen egal, dass ich dieses Studium eigentlich gar nicht beginnen möchte. Denn für ihn steht schon seit ich ein Baby war fest, dass ich in seine und auch in die Fußstapfen meines Großvaters treten muss. Beide sind und waren die erfolgreichsten Anwälte der Stadt. Nur interessiert es leider niemanden, dass mich dieser Berufszweig nicht einmal ansatzweise anspricht.

„Vater, ich habe die Bewerbung noch nicht geschrieben, da bis dahin noch eine ganze Menge Zeit vergeht. Ich habe meine Abschlussprüfungen erst im Mai. Es reicht also vollkommen aus, wenn ich …“

„Schweig!“ Er schlägt mit der rechten Faust fest auf den Tisch, woraufhin ich auf der Stelle ruhig bin. „Ich bin immer noch derjenige, der hier bestimmt, was ausreicht oder nicht. Und ich habe dir bereits vor einigen Wochen gesagt, dass ich diese Bewerbung umgehend auf meinem Schreibtisch erwarte. Also was hast du daran nicht verstanden, Vincent?!“

Normalerweise müsste ich jetzt aufstehen, ihm die Stirn bieten und gehen. Doch das kann ich nicht. Denn selbst jetzt, mit neunzehn Jahren und durchaus in der Lage, gewisse Entscheidungen selbst zu treffen, habe ich zu viel Respekt vor ihm, als dass ich mich auch nur ansatzweise gegen ihn wehren würde. Mein Vater ist ein Choleriker und ihm ist schon des Öfteren die Hand ausgerutscht. Nicht nur mir gegenüber.

„Es tut mir leid, Vater“, erwidere ich schließlich und stehe auf. „Ich werde deiner Bitte umgehend nachkommen. Verzeih die Verzögerung.“

Langsam senke ich den Kopf nach unten, um mich von ihm zu verabschieden, doch ein kurzer Blick in seine dunklen Augen verrät mir, dass er an einer Entschuldigung absolut nicht interessiert ist.

„Spar dir deine Ausflüchte und sieh zu, dass du fertig wirst, bevor ich dir Beine mache. Du solltest dir mal ein Beispiel an deinem Bruder nehmen!“

Innerlich verdrehe ich die Augen. Immer diese Vergleiche mit meinem ach so grandiosen Bruder. Dabei weiß ich, dass Marlon diesen ganzen Quatsch ebenso blöd findet wie ich. Nur hat er sich unserem Vater irgendwann gefügt und studiert nun schon seit gut zwei Jahren.

„Das werde ich. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest?“

Er nickt und ich nehme die Chance wahr, um so schnell wie möglich aus dem Büro zu verschwinden. Ich nehme meine Tasche vom Boden auf und begebe mich nach oben in mein Zimmer. Hier habe ich meine Ruhe. Hier kann ich tun und lassen, was ich möchte.

„Idiot!“, sage ich wütend zu mir selbst und werfe die Tasche in die hinterste Ecke des Zimmers. Anschließend werfe ich mich auf mein Bett und seufze schwer auf. „Man kann es ihm doch sowieso nie recht machen!“

Während ich mich mit dem Rücken an die Wand lehne, greife ich unter mein Kopfkissen und ziehe einen Zeichenblock hervor. Mit vor Wut zitternden Hände decke ich die erste Seite auf und betrachte eines meiner vollbrachten Werke: einen wunderschönen Hengst auf einer großen Weide, grasend in der Sonne. Mit einem weichen Bleistift habe ich jede Kontur liebevoll gezeichnet und schattiert. Stunden habe ich vor diesem wunderbaren Tier verbracht, so wie vor einigen anderen meiner auserwählten Modelle. Malen und Zeichnen ist mein Leben und ich würde alles dafür geben, später einmal etwas in dieser Richtung beruflich zu machen. Aber zurzeit sehe ich da nicht einmal den Hauch einer Chance. Solange ich meinen Vater nicht davon überzeugen kann, dass ich ein schlechter Anwalt wäre, muss ich mich meinem Schicksal wohl fügen.

Es ist besser so. Für alle.

Als plötzlich mein Handy vibriert, zucke ich kurz zusammen. Wenn ich in Gedanken bin, bin ich definitiv viel zu schreckhaft. „Wollen wir wetten, dass das Emilia ist?“, frage ich mich selbst und ziehe das Smartphone aus meiner Hosentasche. Relativ schnell stelle ich fest, dass es tatsächlich meine beste Freundin ist, die mir gerade eine Nachricht geschrieben hat. Neugierig, was sie wohl von mir will, öffne ich die App und verdrehe auf der Stelle die Augen. Diese kleine Nervensäge.

Hallo, Großer :) Und? Hast du dir schon überlegt, was wir zuerst machen? Ich bin schon gespannt!

Kopfschüttelnd tippe ich meine Antwort ein.

Nervi, dir ist schon klar, dass ich normalerweise noch in der Schule sitze und du mich nur zufällig erreichst? Und mal ganz davon abgesehen, hatte ich gerade ein ziemlich unschönes Gespräch mit meinem Vater. Ich kann also nicht gerade behaupten, dass mir heute danach ist, beispielsweise in ein Schwimmbad einzubrechen.

Es dauert keine Minute, da bekomme ich bereits eine Nachricht zurück.

Und ich bin der Meinung, dass das ganz und gar nach Ablenkung schreit. Komm schon, Vince. Wir können mir ja für den Anfang die Haare färben :)

Meinst du nicht, dafür ist eine deiner Freundinnen besser geeignet?

Ich seufze auf. Sie wird sich sowieso nicht davon abbringen lassen.

Vergiss es, Baby. Wir beide werden diese Liste abarbeiten und DU wirst mir gleich die Haare färben. Also los, mach dich auf den Weg. Ich warte mit Farbe und Chips!

Du nervst!

Ja, und genau deswegen liebst du mich.

Wie soll ich da noch widersprechen?

3

Männer und Haare färben

„Sag mal, hast du keine grellere Farbe gefunden? Wenn du die drauf hast, erkenne ich dich aus zehn Kilometern Entfernung.“

Emilia lacht auf, während ich, die Unterarme auf meinen Oberschenkeln abgestützt, die kleine Dose mit der Farbe betrachte. Pink. Wieso ausgerechnet pink?

„Siehst du, alles hat seine Vorteile“, antwortet sie grinsend und greift nach einer weiteren Packung. „Und damit uns ja nicht langweilig wird, musst du die Strähnen vorher noch blondieren.“

Ich hebe eine Augenbraue und runzle die Stirn. „Bitte was? Emilia, ich weiß nicht einmal, wie man überhaupt Strähnen macht. Ich bin doch kein Friseur.“

„Schade eigentlich“, antwortet sie grinsend. „Dann wärst du nämlich schwul und bestimmt total süß.“

„Ich bin auch so süß.“ Ich strecke ihr grinsend die Zunge raus, woraufhin sie die Augen verdreht. „Was denn? Sieh mich an, mir kann keine widerstehen.“

„So so, ich bin also keine, hm?“ Dann wirft sie mir plötzlich etwas entgegen. Ich nehme es an mich und halte es hoch. „Zieh das an. Das dürfte dir passen.“

Auf meinem Kopf erscheint ein unsichtbares, großes Fragezeichen. „Äh, das ist dein Schlafshirt.“

„Äh!“, äfft sie mich amüsiert nach. „Ja und? Besser, als wenn du nachher mit rosa Tupfen auf deinem Designershirt nach Hause kommst. Also los. Avanti, avanti!“ Ich seufze auf und lasse mich nach hinten aufs Bett fallen. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? „Vince!“, schimpft sie mit empörter Stimme, woraufhin ich mich sofort aufsetze. Manchmal habe ich mehr Respekt vor ihr als vor meinem Vater.

„Habe ich erwähnt, dass du mich wahnsinnig machst?“

Sie steht direkt vor mir. Die Hände in die Hüften gestemmt, schaut sie mich eindringlich an, doch ihr Blick führt nur dazu, dass ich auf der Stelle leise lachen muss. Wenn sie nur wüsste, wie amüsant es ist, wenn sie sich so künstlich aufregt.

„Warum lachst du jetzt?“, fragt sie nun verwirrt, bevor sie mir das Shirt aus den Händen nimmt und mir leicht ins Gesicht schlägt. „Mann, Vince, du bist unmöglich!“

„Ich?“, möchte ich lachend wissen. „Wer ist denn hier diejenige, die keine Geduld hat?“ Dann packe ich sie und werfe sie neben mir aufs Bett, um sie zu kitzeln. Ihr lautes Geschrei erhellt den Raum. Sie wehrt sich mit Händen und Füßen. „Und? Hörst du jetzt endlich auf, die kleine Diva zu spielen?“ Ich kitzle sie weiter.

„Ja! Ich mache alles, was du willst, aber hör auf!“, antwortet sie kreischend und windet sich unter mir. „Vince, bitte!“ Ich lasse von ihr ab, während sie schwer atmend und erschöpft neben mir zur Ruhe kommt. Ihre Brust hebt sich viel zu schnell auf und ab und doch hat sie, ebenso wie ich, ein Lächeln auf den Lippen. „Das war gemein. Du weißt, wie empfindlich ich in der Hinsicht bin!“

„Ach nein?!“, frage ich gespielt überrascht. „Wirklich? Da wäre ich ja jetzt gar nicht drauf gekommen.“

„Boah, du!“ Sie steht auf und schlägt mir währenddessen mit der flachen Hand gegen die Schulter. „Los komm, damit wir fertig sind, bevor meine Mutter wieder nach Hause kommt. Wenn sie das Chaos sieht, das wir veranstalten, bekommt sie nur einen hysterischen Anfall.“

„Deine Mutter? Einen hysterischen Anfall? Von wegen. Sie setzt sich höchstens daneben und fragt, ob ich ihr auch Strähnchen mache.“

Nun bleibt sie stehen und dreht sich zu mir zurück. Ihr Kopf legt sich ein wenig schief. „Und das möchtest du riskieren? Zwei verrückte Weiber, denen du die Haare färben musst? Also wenn das so ist, dann kann ich sie ja anrufen und ihr sagen, dass wir extra auf sie warten.“

Ohne ihr zu antworten, stehe ich auf, greife nach ihrer Hand und zerre sie aus dem Zimmer in Richtung Bad. Das hätte mir noch gefehlt. Zweimal Haare färben, das würde ihr so passen.

„Aua! Sag mal, geht das auch sanfter?“

Ich verdrehe die Augen, weil sie jetzt bereits zum gefühlt eintausendsten Mal jammert. „Was kann ich dafür, dass die Löcher in dieser Haube so klein sind? Das geht nun mal nicht besser.“ Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie diese Haube vorhin noch gefunden hat. Zuerst hieß es nämlich, ich müsse die Haare abteilen und in Alufolie wickeln. Das wäre ja Folter gewesen.

„Wie gut, dass du kein Friseur geworden bist. Die armen Ladenbesitzer wären nach drei Wochen bankrott gewesen.“

Während ich die letzte Strähne durch eines der Löcher ziehe, lache ich auf. „Ich muss feststellen, du bist heute richtig lieb zu mir. Wenn du so weitermachst, lasse ich dich mit diesem hübschen Hut hier sitzen und du kannst zusehen, wie du allein klarkommst.“ Ich beuge mich seitlich zu ihr herunter, um ihr die Zunge herauszustrecken.

„Das würdest du dich gar nicht wagen“, erklärt sie mir schmunzelnd.

„Ach nein?“ Nun erhebe ich mich und stelle mich direkt vor sie.

Sie schaut zu mir auf. „Nein, weil du mich viel zu lieb hast und genau diese Art an mir magst. Also hör auf zu jammern und fang endlich an, sonst musst du in der Badewanne schlafen.“

„Aye, aye, Sir!“, gehorche ich grinsend und salutiere. „Ihr Haar ist in weniger als einer halben Stunde frisch blondiert!“

„Das will ich für Sie hoffen, Soldat, ansonsten werden Sie auf das heutige Abendessen verzichten müssen. Es gibt Ihr Lieblingsessen – Meeresfrüchtepizza mit extra Tintenfischbeinchen!“

„Um Himmels willen, das wäre die Höchststrafe!“ Ich lache auf und stütze mich mit den Händen auf den Armlehnen des Stuhles ab, bevor ich meine Stirn leicht gegen ihre fallen lasse. „Können wir uns darauf einigen, dass ich zur Belohnung eine Salamipizza bekomme?“, frage ich grinsend, während ich ihr in die blauen Augen sehe.

„Du bekommst sogar zwei, wenn du möchtest“, antwortet sie ernst und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

Und wie lieb ich sie habe.

„Na, ihr zwei? Habt ihr Spaß?“

Emilias Mutter steht plötzlich in der Badezimmertür, woraufhin ich mich aufrichte und zu ihr umdrehe. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und lächelt leicht. Glücklich sieht sie aber irgendwie nicht aus.

„Ich weiß nicht, ob man das Spaß nennen kann. Deine Tochter treibt mich eher in den Wahnsinn.“

„Ach, bla bla.“ Emilia verdreht die Augen und steht auf. „Ich bin lieb wie immer“, sagt sie stolz und drückt ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Wie war die Arbeit?“

Sie zuckt mit den Schultern. „So wie immer. Ein bisschen anstrengend, aber so weit in Ordnung“, erklärt sie uns und zeigt anschließend auf Emilias Kopf. „Was wird das, wenn es fertig ist?“

„Vincent färbt mir pinke Strähnen“, antwortet sie stolz und wirft mir ein Grinsen zu.

„Pink? Wieso pink?“, fragt sie entsetzt, woraufhin ich auflache.

„Siehst du? Genau das habe ich auch gefragt. Allerdings war ich eigentlich der Meinung, dass dir der Gedanke gefällt, Julia, und du dich neben sie setzt.“

„Um Himmels willen!“, gibt sie lachend zurück und hebt abwehrend die Hände. „Ich werde mir in meinem Alter die Haare sicherlich nicht mehr pink färben. Hinterher sagen sie in der Geschlossenen noch, ich wäre verrückt.“

Emilia lacht auf. „Das wissen sie auch so, dafür musst du nicht erst mit pinken Haaren erscheinen.“ Dann küsst sie sie erneut. „Bist du so lieb und machst uns Beiden zwei Salamipizzen? Wenn wir hier fertig sind, haben wir bestimmt einen Bärenhunger.“

„Aber natürlich“, erwidert sie und streichelt Emilia liebevoll über den Kopf. „Dann bis gleich, ihr beiden Chaoten.“

„Bis gleich, Mama.“

4

Marlon

Emilias Liste

Auf einen Ball gehen

Einmal zum Meer fahren

Mir ein Tattoo stechen lassen

Geküsst werden

Sex haben

Am Strand schlafen

Einen Pinguin streicheln

Auf einem Motorrad mitfahren

In einem Heißluftballon fliegen

Eine Sternschnuppe sehen

Eine Flaschenpost schreiben und ins Meer werfen

Pinke Strähnchen färben

In ein Schwimmbad einbrechen

Einmal wie ein Star aussehen

Im Altenheim vorlesen

Später am Abend sitze ich, mit einem Stift und meinem Zeichenblock in den Händen, auf meinem Bett und denke über alles Mögliche nach. Allem voran natürlich Emilias Wunschliste, die mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Ich meine, es ist ja großartig, wenn sie sich so viele Dinge vorgenommen hat, aber das alles in nicht einmal mehr als vier Wochen? Und warum alles bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag? Wieso will sie manche Dinge so schnell überstürzen?

Sex haben …

Geküsst werden …

Das zum Beispiel sind zwei so wichtige Sachen, die sie sich für den Richtigen aufheben wollte und jetzt plötzlich muss das alles innerhalb der nächsten achtundzwanzig Tage sein?

Seufzend schüttle ich den Kopf und widme mich wieder meiner Zeichnung. Bereits seit einer Stunde versuche ich, das Gesicht des kleinen Jungen vernünftig hinzubekommen, aber es will mir einfach nicht gelingen.

Plötzlich klopft es an der Tür. „Herein“, rufe ich mit unsicherer Stimme, in der Hoffnung, dass es nicht wieder mein Vater ist, der genervt nach dieser blöden Bewerbung verlangt. Als sich dann jedoch die Tür öffnet, wird das Grinsen auf meinen Lippen immer breiter. „Marlon, was machst du denn hier?“, frage ich ehrlich überrascht und springe vom Bett auf, um meinen Bruder zu umarmen. „Mutter hat gar nicht erwähnt, dass du vorbeikommst.“

„Das liegt vermutlich daran, dass sie es gar nicht wusste“, erwidert er direkt und zieht mich in seine Arme. „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Ist so weit alles in Ordnung?“

Ich zucke mit den Schultern, während ich mich von ihm löse und ihn anschließend ansehe. „Nur das Übliche, du weißt ja.“ Dann fordere ich ihn mit einer Handbewegung auf, sich auf meinen Schreibtischstuhl zu setzen. „Vater kann es einfach nicht lassen.“

Er nickt wissend und nimmt anschließend wie gewünscht Platz. Ich selbst setze mich wieder zurück aufs Bett. „Er lässt dich also immer noch nicht mit dem Studium in Ruhe“, stellt er ruhig fest.

Ich nicke ebenfalls. „Seit Wochen geht er mir damit auf die Nerven und jeder Versuch, ihm klarzumachen, dass ich keine Lust habe, Jura zu studieren, scheitert. Ich weiß ehrlich gesagt schon nicht mehr, was ich noch machen soll.“

„Na ja, was soll ich sagen?“ Er legt die Unterarme auf seinen Oberschenkeln ab und verschränkt die Hände ineinander. Sein dunkles Haar hängt ihm lässig in die Stirn. „Du weißt selbst, dass er diesen Druck auch bei mir ausgeübt hat und ich habe am Ende klein beigegeben. Aber weißt du, es gibt Schlimmeres, als Jura zu studieren, das kannst du mir glauben.“

„Ja, natürlich gibt es Schlimmeres“, bestätige ich ihn und setze mich in den Schneidersitz. „Nämlich, in ein paar Jahren in diesem schrecklichen Beruf zu arbeiten. Marlon, du kannst mir doch nicht erzählen, dass du glücklich mit diesem Gedanken bist. Im Grunde wünschst du dir doch etwas ganz anderes.“

„Vincent …“ Er fährt sich durch das schwarze Haar. „Du weißt genauso gut wie ich, dass es hier nicht um unsere Wünsche geht. Wir wurden beide so erzogen, dass wir irgendwann in die Fußstapfen von Großvater und Vater treten. Da gibt es keine Diskussion um wollen oder nicht wollen. Ich habe es so hingenommen und das solltest du auch.“

Innerlich seufze ich auf, weil ich weiß, dass es auch jetzt keinen Sinn macht, weiter über dieses Problem zu reden. Marlon ist in dieser Hinsicht mindestens so verbohrt wie unser Vater.

„Und, wie läuft es sonst so?“, versuche ich, das Thema zu wechseln. „Wie geht es Lenja?“

„So weit läuft alles normal. Lenja geht es gut, nur die Arbeit im Altenheim schlaucht sie etwas.

„Ja, das denke ich mir. Emilias Mutter arbeitet auf der geschlossenen Psychiatrie und ist auch jedes Mal geschafft. Ich glaube, ich möchte weder den einen, noch den anderen Job übernehmen.“

„Oh, ich auch nicht. Das wäre nichts für mich. Absolut nicht“, stimmt er ehrlich zu und lächelt. „Apropos Emilia. Wie geht es ihr denn?“

„Gut so weit, auch wenn ihr der achtzehnte Geburtstag gerade ein wenig zu Kopf zu steigen scheint.“ Ich muss lachen und gleichzeitig den Kopf schütteln.

„Wie meinst du das?“, fragt Marlon verwirrt, woraufhin ich abwinke.

„Ach, sie hat eine Liste mit Dingen erstellt, die sie noch vor ihrem Geburtstag erleben möchte“, erkläre ich und beuge mich vor, um besagte Liste aus meiner Nachttischschublade zu holen. Danach lehne ich mich wieder zurück an die Wand und betrachte die einzelnen Punkte. „Etwas verrückt, wenn du mich fragst.“

„Ach, warum? Das ist doch eine großartige Idee und bestimmt eine lustige Sache.“

„Sicher“, erwidere ich und lege den Zettel auf meinen Oberschenkeln ab. „Aber nicht, wenn der Geburtstag schon in vier Wochen ist.“

„Oh.“ Er lacht auf. „Na ja, es kommt darauf an, wie anspruchsvoll die Wünsche sind.“

„Hör bloß auf“, sage ich lachend. „Du weißt ja, Emilia ist speziell, allerdings …“ Erst jetzt fällt mir ein, dass es sogar einen Punkt gab, bei dem sie gerne etwas im Altenheim machen möchte. Ich suche nach genau diesem Wunsch und siehe da, Punkt Fünfzehn: im Altenheim vorlesen. Grinsend hebe ich den Kopf. „Marlon, ich glaube, ich habe ein Attentat auf deine Freundin vor.“

5

Hänsel und Gretel

Zwei Tage später stehe ich, mit einem dicken Buch unter dem Arm, vor Emilias Wohnungstür. Marlon hat, direkt nachdem ich ihm von Emilias Wunsch erzählt habe, seine Freundin angerufen und sie gefragt, ob es möglich ist, dass ich mit ihr zusammen vorbeikomme, und Emilia den Leuten etwas aus einem Buch vorliest. Lenja war sofort Feuer und Flamme von der Idee und hat es mit ihrer Vorgesetzten besprochen. Und siehe da: In gut einer Stunde sitzen wir zusammen mit den alten Leuten im Aufenthaltsraum und lauschen den wunderschönen Geschichten aus diesem Buch. Ich bin mir sicher, dass Emilia sich tierisch darüber freuen wird. Jetzt muss ich sie nur noch davon unterrichten, dass sie sich sofort fertig machen muss, damit wir loskönnen.

Mit einem Lächeln im Gesicht betätige ich die Türklingel, denn wider Erwarten freue ich mich sehr auf diesen Nachmittag. Oder vielleicht auch darauf, dass ich Emilia gleich eine große Freude bereiten kann.

„Vincent, was machst du denn hier?“, begrüßt mich Emilias Mutter ein wenig merkwürdig, nachdem sie die Tür geöffnet hat. Warum, bemerke ich wenige Momente später, als ich ihr in die Augen sehe – sie hat geweint. „Entschuldige, bitte, ich …“ Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. „Komm doch herein.“

Doch statt ihrer Bitte Folge zu leisten, bleibe ich wie angewurzelt stehen. „Hör zu, wenn ich ungelegen komme, dann …“

„Nein, nein“, unterbricht sie mich und lächelt leicht. „Komm ruhig herein. Emilia und ich hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.“