Handbuch Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit -  - E-Book

Handbuch Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit E-Book

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Beschreibung

Digitale Techniken sind längst in die Verwaltungspraxis eingezogen. Die Pandemie hat diesen Prozess noch forciert. Die Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen hat richtig Fahrt aufgenommen. Eigentlich ist dazu alles schon gesagt worden, es muss eigentlich nur noch realisiert werden. Genau hier liegt das Problem: Wie erreichen wir den barrierefreien Zugang und die digitale Teilhabe aller Gruppen der Bevölkerung zu öffentlichen Diensten und der Beschäftigten bei der Neugestaltung ihrer Arbeit? Dies ist leider nicht auf Knopfdruck, durch ein gutes Gesetz oder eine gute Verwaltungsvorschrift erreichbar. Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit erfordern einen Kulturwandel bei den Verwaltungsentscheidungen und den internen Prozessen. Die Entscheider*innen selbst und damit ihr konkretes Handeln sind gefordert. Digitale Teilhabe gelingt nur, wenn die Betroffenen zu Beteiligten werden und den Prozess der Digitalisierung aktiv mit gestalten. Diesen Entwicklungsprozess will das neue Handbuch unterstützen und die Beteiligten fit machen für diese Herausforderungen bei der Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Es zeigt praxisbezogen in den einzelnen Handlungsfeldern auf, wie die Umsetzung konkret geleistet werden kann. Umfassend dargestellt werden jeweils der rechtliche Rahmen, Ansätze zur Umsetzung in der neugestalteten digitalen Verwaltung, die Barrierefreiheit bei der elektronischen Kommunikation und Neugestaltung der Arbeit, Anwendungsbereiche der Digitalisierung und Bürgerbeteiligung. Das neue Handbuch leistet Hilfestellung im Prozess der Digitalisierung, behinderte Menschen als Expert*innen in eigener Sache einzubeziehen. Es stellt Fachleuten, Entscheider*innen und von Veränderungen Betroffenen in Politik und Verwaltung vertiefte Informationen zur digitalen Teilhabe und Barrierefreiheit bereit. Mitgliedern in Initiativen, Verbänden, Gewerkschaften und Interessenvertretungen bietet es eine Handlungsgrundlage für ihre Interessenwahrnehmung.

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HandbuchDigitale Teilhabe undBarrierefreiheit

von

Ulrike Peter

Leiterin der Zentralstelle für barrierefreie Informationstechnikder Freien Hansestadt Bremenzur Überwachung und Durchsetzung der digitalen Barrierefreiheit

Prof. Hans-Henning Lühr

Prof. h. c. für Verwaltungswissenschaften mit den SchwerpunktenVerwaltungsmanagement und eGovernment an der Hochschule Bremen,Leiter des Instituts für digitale Teilhabe an der Hochschule Bremen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Kommunal- und Schul-Verlag GmbH & Co. KG · Wiesbaden

Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany

Satz: metiTec Satzsystem, me-ti GmbH · Berlin

Druck: CPI books

ISBN978-3-8293-1662-0

eISBN978-3-8293-1629-3

Inhalt

Autor*innen-Vitae

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

1.Einführung

1.1Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik: Grundverständnis und Perspektiven

Arne Frankenstein

1.2Welchen Nutzen hat das Handbuch für teilhabeorientiertes Management und Führen im digitalen Arbeitsumfeld von Staat, Verwaltung und kommunaler Daseinsvorsorge? – Motivation und Ziele für ein Handbuch zur digitalen Teilhabe und Barrierefreiheit!

Henning Lühr

2.Die rechtlichen Grundlagen und ihre Umsetzung

2.1Die rechtliche Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit

Andreas Carstens

2.2Der Europäische Rechtsakt zur Barrierefreiheit – Regelungsgegenstand, Inhalt und Umsetzungsfragen

Dr. Joachim Steinbrück

2.3Selbsthilfe lohnt sich. Erfahrungen auf dem langen Weg zu digitaler Barrierefreiheit

Uwe Boysen

3.Verwaltungsmodernisierung: Barrierefreiheit organisieren!

3.1Verankerung der digitalen Barrierefreiheit im Alltag der öffentlichen Verwaltung

Ulrike Peter

3.2„Um digitale Barrierefreiheit umzusetzen, brauchen wir Diversity und Intersektionalität!“ – Gespräch zur Umsetzung von digitaler Barrierefreiheit aus diversity-orientierter intersektionaler Perspektive

Neele Fröhlich / Insa Sommer / Gülcan Yoksulabakan-Üstüay

3.3Inklusion am Arbeitsplatz – Sicherstellung von barrierefreien Arbeitsplätzen in der öffentlichen Verwaltung

Jessica Probe

3.4Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes in Bremen unter Berücksichtigung der Digitalen Barrierefreiheit

Michaela Meyer / Christian Jost

3.5Digitale Barrierefreiheit überwachen und durchsetzen – Interessengruppen in einem Flächenland

Cornelia Niklas

3.6Verständlichkeit als eine Frage der Haltung – Zum Einsatz der einfachen und der Leichten Sprache

Ulrike Bendrat

4.a11y: Barrierefreiheit in der Praxis

4.1Digitalassistenz für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf

Herbert Kubicek

4.2Anregungen aus der inklusiven Technologieentwicklung

Benjamin Tannert / Michael Lund

4.3Gebrauchstauglichkeit von Websites öffentlicher Verwaltungen

Ann-Kathrin Kennecke / Daniel Wessel / Moreen Heine

4.4Barrierefreie Dokumente

Kerstin Probiesch

4.5Online-Beteiligung aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen – Anforderungen und Barrieren

Irmhild Rogalla

4.6Es geht doch! Barrierefreie Webseiten und ein barrierefreies Redaktionssystem in einem: KOGIS – Das Content Management System für die Bremer Verwaltung

Isabella Schicktanz

Das Institut für digitale Teilhabe (IdT)

Autor*innen-Vitae

Ulrike Bendrat

Literatur- und Politikwissenschaftlerin, Journalistin, 2014 Quereinstieg in die Verwaltung der Freien Hansestadt Bremen: persönliche Referentin und stellv. Pressesprecherin der Senatorin für Finanzen, seit 2019 im „Kompetenzteam Bürger:innenservice und Kommunikation“ im Aus- und Fortbildungszentrum für den bremischen öffentlichen Dienst, Schwerpunkte einfache, verständliche Sprache und gendersensible Sprache.

Uwe Boysen

Jurist und Diplomsozialwissenschaftler. Vor seiner Pensionierung zuletzt Vorsitzender Richter einer Zivilkammer am Landgericht Bremen.

Von 1992 bis 2004 Zweiter Vorsitzender, sodann bis 2016 Vorsitzender des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS).

Andreas Carstens

War einige Jahre als Verwaltungsrichter tätig, ist Richter am Niedersächsischen Finanzgericht, Vertrauensperson der schwerbehinderten Richterinnen und Richter und Mitglied in der Fachgruppe Jura des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) e. V.

Arne Frankenstein

Jurist, seit 2020 Landesbehindertenbeauftragter der Freien Hansestadt Bremen, Vorsitzender des Landesteilhabebeirats der Freien Hansestadt Bremen, seit 2016 ordentliches Mitglied im Rundfunkrat von Radio Bremen, Lehrbeauftragter der Hochschule Fulda, Mitglied im Nutzerbeirat des Leibniz-Wissenschaftscampus „Postdigitale Partizipation“, Kommentator, Autor und Gutachter im Völkerrecht, Sozialrecht und Behindertengleichstellungsrecht.

Neele Fröhlich

Master of Public Administration, verschiedene Tätigkeiten in der bremischen Verwaltung. Seit 2021 persönliche Referentin der Senatorin für Kinder und Bildung der Freien Hansestadt Bremen.

Prof. Dr. Moreen Heine

Professorin für E-Government und Open Data Ecosystems an der Universität zu Lübeck. Sie ist außerdem wissenschaftliche Leiterin des Joint Innovation Labs, in dem Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft gemeinsam an konkreten Lösungen für E-Government und Open Government arbeiten.

Christian Jost

Diplom-Finanzwirt (FH), Stellvertretender Referatsleiter des Digitalisierungsbüros Bremen, Freie Hansestadt Bremen beim Senator für Finanzen, Abteilung 4 – Zentrales IT-Management, Digitalisierung öffentlicher Dienste, Referat 42 – Digitalisierungsbüro.

Ann-Kathrin Heike Kennecke, M. Sc.

Studium der Medieninformatik in Lübeck bis 2020, seit 2020 UX Expertin bei Capgemini.

Prof. Dr. Herbert Kubicek

Senior Researcher, ppa., Institutsleitung, Institut für Informationsmanagement Bremen GmbH (ifib).

Prof. Henning Lühr

Prof. h. c. für Verwaltungswissenschaften mit den Schwerpunkten Verwaltungsmanagement und eGovernment an der Hochschule Bremen, Leitung des Instituts für digitale Teilhabe an der Hochschule Bremen (gemeinsam mit Prof. Dr. Benjamin Tannert), External Expert of the European Institute of Public Administration (EIPA), Maastricht/NL, von 2003 – 2020 Staatsrat für Finanzen, Personal und Digitalisierung der Freien Hansestadt Bremen, Rechtsanwalt.

Michael Lund

Seit 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Digitale Medien in der Bildung der Universität Bremen. Vorher Mitarbeit bei der Entwicklung von online-Medien und Mitarbeit in medienpädagogischen sowie kulturpädagogischen Projekten mit jungen Menschen. Schwerpunkt ist die praktische Medienarbeit mit verschiedenen Zielgruppen, insbesondere Schüler*innen mit Migrationshintergrund und Schüler*innen mit besonderem Bedarf.

Michaela Meyer

Mitarbeiterin im Digitalisierungsbüro Bremen, Freie Hansestadt Bremen beim Senator für Finanzen, Abteilung 4 – Zentrales IT-Management, Digitalisierung öffentlicher Dienste.

Cornelia Niklas

Betriebswirtin (VWA); nach Tätigkeiten als Projektleiterin und Controllerin seit 2014 selbstständige Beraterin, Inhaberin der HLP Niklas Consulting. Seit 2000 Fachautorin mit Schwerpunkt Projektmanagement, Controlling und Risikomanagement.

Beratungstätigkeiten in Behörden seit 2014 (IT-Programm- und Projektmanagement, Projekte im Informationssicherheitsmanagement, Stakeholder- und Risikomanagement in Projekten.

Ulrike Peter

Seit 2019 Leiterin der Zentralstelle für barrierefreie Informationstechnik der Freien Hansestadt Bremen zur Überwachung und Durchsetzung der digitalen Barrierefreiheit. Langjährige wissenschaftliche Tätigkeit zu Barrierefreiheit und Ergonomie in der angewandten Informatik an der Universität Bremen. Zuletzt Auf- und Ausbau des Fortbildungsbereichs eines Bremer Behindertenhilfeträgers.

Jessica Probe

Medieninformatikerin (M.Sc.), seit 2019 Expertin für Barrierefreiheit bei Dataport.

Kerstin Probiesch

Seit 2008 selbstständige Beraterin für Digitale Barrierefreiheit. Fachbuchautorin, Invited Expert der WCAG-Arbeitsgruppe beim W3C (2011–2014), Sprecherin auf Konferenzen und Tagungen, u. a. Webkongress Erlangen. Autorin zahlreicher Artikel zu verschiedenen Themen der Barrierefreiheit.

Dr. Irmhild Rogalla

Mitglied des Leitungsteams Institut für Digitale Teilhabe der Hochschule Bremen, Wissenschaftliche Leiterin des Instituts für praktische Interdisziplinarität; Schwerpunkt der Tätigkeit: Forschung und Entwicklung zur digitalen Transformation.

Isabella Schicktanz

Regierungsdirektorin beim Senator für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen in der Abteilung „4 Zentrales IT-Management, Digitalisierung öffentlicher Dienste“, Leiterin für den Abschnitt IT-Basiskomponenten und zuständig für die Bereiche CMS/Internet, DMS und elektronischer Rechtsverkehr.

Insa Sommer

Diplom-Politologin, ist Referatsleiterin für Verwaltungskooperation und Verwaltungsmodernisierung in der Senatskanzlei der Freien Hansestadt Bremen.

Dr. Joachim Steinbrück

Tätigkeit als Richter am Arbeitsgericht Bremen von 1990 bis 2005, von 2005 bis 2020 Behindertenbeauftragter des Landes Bremen, Mitglied der Fachgruppe Jura des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), Mitglied des Landesmedienrates Bremen, Mitherausgeber der Zeitschrift Recht und Praxis der Rehabilitation.

Prof. Dr. Benjamin Tannert

Seit 2020 Professor für angewandte Medieninformatik, Institutsleitung des Instituts für digitale Teilhabe.

Dr. Daniel Wessel

Studium der Psychologie in Bonn, Promotion in Psychologie in Tübingen. Seit 2015 am Institut für Multimediale und Interaktive Systeme in Lübeck im Schnittbereich zwischen Psychologie und Technik. Schwerpunkte sind u.a. Nutzerforschung, eGovernment und Evaluationsmethoden.

Gülcan Yoksulabakan-Üstüay

Studium der interkulturellen Pädagogik (Dipl.), seit 1998 strategische Beraterin, Trainerin und Prozessbegleiterin im Bereich Diversity und Chancengleichheit, seit 2014 Referentin für Diversity beim Aus- und Fortbildungszentrum für den bremischen öffentlichen Dienst

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

Abbildung

ADA

Anträge Digital Abgeben

AG

Arbeitsgruppe

AGG

Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz

AGSV

Arbeitsgemeinschaft der Schwerbehindertenvertretungen

ArbStättV

Arbeitsstättenverordnung

ATAG

Authoring Tool Accessibility Guidelines, Richtlinien für CMS

BAG

Bundesagentur für Arbeit

Beschl.

Beschluss

BFSG

Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

BGAktFV

Verordnung über die elektronische Aktenführung bei den obersten Gerichten des Bundes in der Zivilgerichtsbarkeit und in den Fachgerichtsbarkeiten (Bundesgerichte-Aktenführungsverordnung)

BGG

Behindertengleichstellungsgesetz

BITV

Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung

BmB

Bürger*innen mit Behinderungen

BMAS

Bundesministerium für Arbeit und Soziales

BMFSFJ

Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend

BMI

Bundesministerium des Innern

BMJ

Bundesministerium der Justiz

BRAO

Bundesrechtsanwaltsordnung

BremBITV

Bremische Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung

BStrafAktFV

Verordnung über die technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen für die elektronische Aktenführung im Strafverfahren (Bundesstrafaktenführungsverordnung)

BVerfG

Bundesverfassungsericht

BYOD

Bring-your-own-device

CIO

Chief Information Officer

CMS

Contentmanagementsystem

Corporate Design

Einheitliches Erscheinungsbild, das das gesamte Spektrum von der Gestaltung der Kommunikationsmittel und dem Internetauftritt umfassen kann.

DBSV

Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband

d.h.

das heißt

DiGAV

Digitale Gesundheitsanwendungen – Verordnung

DMS

Dokumentenmanagementsystem

DÜ-BIT

Durchsetzungs- und Überwachungsstelle für Barrierefreiheit in der Informationstechnik

DVBS

Deutscher Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf

EAA

European Accessibility Act

eAktVO

eAkten-Verordnung

EGovG

Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung (E-Government-Gesetz)

EGVP

Elektronisches Gerichts- und Verwaltungspostfach

EN

Europäische Norm

ErwGr.

Erwägungsgrund

gem.

gemäß

GER

Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprache

GG

Grundgesetz

ggf.

gegebenenfalls

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz

GWB

Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

HTML

Hypertext Markup Language, eine Auszeichnungssprache zur Strukturierung elektronischer Dokumente auf Internetseiten, wie Texte mit Links oder Bildern

ICD

International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, Internationalen statistische Klassifikation der Krankheiten

i.S.d.

im Sinne des

i. S. v.

im Sinne von

Kap.

Kapitel

KOGIS

Kompetenzzentrum zur Gestaltung der Informationssysteme

LeiKa

Leistungskatalog (der öffentlichen Verwaltung)

lit.

Litera, Buchstabe

LRS

Lese- und Rechtschreibstörung

ODDF

Online Dienste Development Factory

o. J.

ohne Jahr

OSI

Online-Service-Infrastruktur

OZG

Onlinezugangsgesetz

RAVPV

Verordnung über die Rechtsanwaltsverzeichnisse und die besonderen elektronischen Anwaltspostfächer (Rechtsanwaltsverzeichnis- und -postfachverordnung)

RL

Richtlinie

Rn.

Randnummer

S.

Seite

s.

siehe

SDG

Single Digital Gateway

SGB

Sozialgesetzbuch

Sog.

Sogenannte(r, s)

SRV

Schutzschriftenregisterverordnung

Tab.

Tabelle

u.a.

unter anderem

UAbs.

Unterabschnitt

UN-BRK

UN- Behindertenrechtskonvention

URL

Uniform Resource Locator, eine eindeutige Ressource, also z.B. eine eindeutige Adresse im Internet

Usability

Nutzungsfreundlichkeit und Gebrauchstauglichkeit

UVgO

Unterschwellenvergabeordnung

UX-Design

User Experience Design, ganzheitlicher Ansatz aus Nutzungserfahrung (Usability) und weiteren ästhetischen und emotionalen Ansätzen (Joy of use)

VgV

Vergabeverordnung

W3C

World Wide Web Consortium

WCAG

Web Content Accessibility Guidelines, Richtlinien für barrierefreie Webinhalte

WHO

World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation

z.B.

zum Beispiel

ZMV

Zugänglichmachungsverordnung

ZPO

Zivilprozessordnung

Vorwort

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Leser*innen,

das digitale Leben – insbesondere auch im Internet – ist für uns alle viel selbstverständlicher geworden. Im Privatleben, im Beruf und auch unterwegs: Spätestens mit der Corona-Pandemie hat die Digitalisierung alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens erfasst. Sie bietet eine realistische Chance der Teilhabe, die vor einigen Jahren noch nicht denkbar gewesen wäre. Man stelle sich eine ähnliche Situation nur 20 Jahre zuvor vor: Ein Großteil unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wäre zum Erliegen gekommen, weil die technischen Möglichkeiten noch nicht so weit waren.

Allerdings, und das ist die Kehrseite, ist für zahlreiche Menschen mit Behinderungen in vielen Bereichen die Situation noch genauso wie vor 20 Jahren. Und zwar dann, wenn digitale Technologien und Anwendungen nicht barrierefrei sind. Wenn Internetseiten schlecht programmiert sind, sodass zum Beispiel Blinde oder Menschen mit Sehbehinderungen buchstäblich ins Leere laufen. Wenn Programme für Menschen mit motorischen Einschränkungen nicht anwendbar sind oder Filme und Videos für gehörlose Menschen unverständlich bleiben. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele. Ein großes Problem ist auch, wenn es zu wenige Informationen in Gebärdensprache oder in Leichter Sprache gibt. Neue Techniken, Anwendungen und Geräte sind nur dann für alle Menschen nutzbar, wenn sie konsequent barrierefrei konzipiert werden – und zwar von Beginn an. Sind sie es nicht, passiert das Gegenteil von Inklusion. Menschen werden ausgeschlossen.

Deswegen dürfen bei Prozessen der Digitalisierung zahlreiche Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden: So wie ein fertiges Gebäude im Nachhinein nur sehr schwer „barrierefrei gemacht“ werden kann, gilt dies auch für die Architektur einer Software oder einer Internetseite. Aus meiner Sicht ist es schlichtweg unprofessionell, digitale Strukturen mit Barrieren zu schaffen. Barrierefreiheit muss von Beginn an mitgedacht werden und darf nicht erst im Nachhinein aufgesetzt werden, dann wird es auch nicht umständlicher und teurer. „Design for all“ sollte die Devise sein. Dafür sollten übrigens Menschen mit Behinderungen mit in die Entwicklung einbezogen werden. So wirken sie als Expert*innen von Anfang an mit und Frust, Ärger und Unverständnis werden vermieden.

In dem Zusammenhang muss uns immer klar sein: Barrierefreiheit ist keine Frage von Luxus oder der Wunsch einer kleinen Gruppe. Allein in Deutschland leben knapp 13 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen. Barrierefreiheit – oder besser auch Zugänglichkeit – ist ein verbrieftes Recht, dass sich unter anderem aus Art. 9 der UN-BRK ergibt. Zugänglichkeit ist die Grundlage für die umfassende Information und Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger – egal ob mit oder ohne Behinderungen. Deswegen sind Inklusion und Zugänglichkeit auch die Grundlage unserer Demokratie.

Für öffentliche Stellen sind das Behindertengleichstellungsgesetz und die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) mittlerweile eindeutig: Sie sind verpflichtet, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Diese Verpflichtung sollte als Chance gesehen werden, Abläufe zu verbessern und zu vereinfachen, indem sie noch stärker aus der Sicht der Nutzenden gestaltet werden. Für das Ziel einer modernen und bürgernahen Verwaltung ist Zugänglichkeit ein unverzichtbares Qualitätsmerkmal. Hier können wir von anderen Staaten, zum Beispiel im skandinavischen Raum, noch viel lernen.

Dafür bietet dieses Handbuch eine großartige Orientierung und ich freue mich sehr, dass es vorliegt. Viele spannende und informative Beiträge zu ganz unterschiedlichen Aspekten bieten einen Einstieg und mehr in das Themenfeld. Wie können Internetseiten barrierefrei gestaltet werden? Wie sieht die Rechtslage aus? Wie lassen sich barrierefreie Dokumente gestalten und was ist bei der Digitalassistenz für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf zu beachten?

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

Ihr Jürgen Dusel

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen

1.Einführung

1.1Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik: Grundverständnis und Perspektiven

Arne Frankenstein

Literatur

Baer/Markard in von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl. 2018, Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Rn. 534 m.w.N.

Degener Die UN-Behindertenrechtskonvention, Grundlage für eine neue inklusive Menschenrechtstheorie, Vereinte Nationen 02/2010 S. 57 − 63

Eichenhofer Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht, Menschenrechtliche Forderungen an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2018

Frankenstein Das Menschenrecht auf selbstbestimmte Lebensführung als Wesensmerkmal einer inklusiven Gesellschaft, in Dietze/Gloystein/Moser/u.a. (Hrsg.), Inklusion – Partizipation – Menschenrechte: Transformationen in die Teilhabegesellschaft? 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Eine interdisziplinäre Zwischenbilanz, 2020, S. 121 − 129

Frankenstein Universelles Design und Zugänglichkeit der Arbeitsplätze, in Wansing/Welti/Schäfers (Hrsg.), Das Recht auf Arbeit für Menschen mit Behinderungen. Internationale Perspektiven, 2018, S. 227 − 245

Theben Barrierefreiheit, in Deinert/Welti (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 2. Aufl., Baden-Baden 2018, S. 124 − 132

Welti Zum Verständnis von Barrieren und Barrierefreiheit aus rechtswissenschaftlicher Sicht, in Schäfers/Welti, Barrierefreiheit – Zugänglichkeit – Universelles Design. Zur Gestaltung teilhabefördernder Umwelten, 2021, S. 9 − 22

Welti Rechtliche Grundlagen einer örtlichen Teilhabeplanung, in Lampke/Rohrmann/Schädler (Hrsg.), Örtliche Teilhabeplanung mit und für Menschen mit Behinderungen, 2011, S. 55 − 68

Welti/Groskreutz/Hlava/Rambausek/Ramm/Wenckebach (Hrsg.) Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. BMAS-Forschungsbericht 445, 2014

Welti/Groskreutz Betriebliche Barrierefreiheit als Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung, Arbeit und Recht 2016 S. 105 − 108

Übersicht

1.Teilhabe als gesellschaftliches Grundprinzip

2.Das Recht als Motor einer Entwicklung: Herstellung von Barrierefreiheit als Pflicht, um Teilhabe sicherzustellen

3.Barrierefreie Informationstechnik: Wo stehen wir aktuell? Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik

4.Effektivierung dringend erforderlich: Anforderungen an die weitere Entwicklung

1.Teilhabe durch barrierefreie Informationstechnik: Grundverständnis und Perspektiven

Teilhabe als gesellschaftliches Grundprinzip

Spätestens mit der Grundgesetzänderung im Jahr 1994, durch die das besondere Benachteiligungsverbot behinderter Menschen in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz (GG) als ausdrücklicher Bestandteil der Verfassung verankert wurde, hat sich ein Paradigmenwechsel im Umgang mit behinderten Menschen vollzogen, der mit der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 weitere inhaltliche Konkretisierungen erhalten hat. Das medizinische Modell von Behinderung, bei dem sich der Blick einseitig auf die gesundheitlichen Beeinträchtigungen als individuelles Defizit richtete, wird seitdem – rechtsverbindlich – durch das menschenrechtliche Modell von Behinderung ersetzt.1 Danach entsteht die Behinderung nicht zuvorderst durch die Beeinträchtigung, sondern durch gesellschaftliche Strukturen. Nicht, dass jemand blind ist, verursacht Aussonderung oder Benachteiligung, sondern die Diskriminierungen und die Vorenthaltung von Menschenrechten, die entstehen, wenn die Gesellschaft, um nur ein Beispiel zu nennen, keine Leitsysteme zur selbstbestimmten Orientierung blinder oder hochgradig sehbehinderter Menschen baut – oder keine digitalen Systeme, die mit entsprechender Technik gleichberechtigt genutzt werden können. Damit ist ein klarer Handlungsauftrag verbunden, dem der föderale Staat im Mehrebenensystem, in dem er sich organisiert hat, für alle2 behinderten Menschen nachzukommen hat.

Fürsorge als Prinzip des sozialen Rechtsstaats gilt heute als tradiert, weil es das Risiko der Entmündigung und Bevormundung in sich trägt.3 Ihr gegenüber steht die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe als Grundprinzip unserer Verfassung und, soweit es um behinderte Menschen geht, der UN-BRK. Denn Autonomie, Selbstbestimmung und die Freiheit, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilzuhaben und eigene Entscheidungen zu treffen, werden allgemein als Bestandteile der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) aufgefasst. Dieser Bezugsrahmen macht klar, dass die Berücksichtigung der Belange behinderter Menschen als Querschnittsaufgabe in allen Handlungsfeldern immer auch im Zusammenhang mit der Verwirklichung des höchstens Rechtsguts unserer Verfassung steht. Rechtmäßiges Verwaltungshandeln hat sich an ihr auszurichten.

2.Das Recht als Motor einer Entwicklung: Herstellung von Barrierefreiheit als Pflicht, um Teilhabe sicherzustellen

Warum ist Barrierefreiheit in diesem Zusammenhang so wichtig? Weil durch sie zu einem erheblichen Teil die volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe operationalisiert wird. Nach Art. 9 UN-BRK verpflichtet sich Deutschland, dass behinderte Menschen den vollen Zugang zur physischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Umwelt, zu Gesundheit und Bildung sowie zu Information und Kommunikation haben, damit sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.

Die Europäische Union (EU) hat im Jahr 2010 die UN-BRK ratifiziert. Insoweit nimmt sie am Anwendungsvorrang des EU-Rechts und dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung teil. Zudem hat die EU selbst die Weiterentwicklung des Rechts der Mitgliedstaaten durch eigene Rechtsakte bewirkt, so durch die VO EG 1107/2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und von Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität, durch die VO EU 1177/2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr, durch die VO 181/2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und durch die VO 1371/2007 über die Fahrgastrechte im Eisenbahnverkehr. Für den Bereich der digitalen Barrierefreiheit ist vor allem die Richtlinie 2016/2102 über den barrierefreien Zugang zu Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen zu nennen. Unter den Anwendungsbereich öffentlicher Stellen fallen dabei nicht nur Behörden im engeren Sinne, sondern auch privatrechtliche organisierte Rechtsträger, wenn sie zu dem Zweck gegründet sind, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nichtgewerblicher Art zu erfüllen. Damit bewirkt die Richtlinie, dass die Verpflichtung zur Barrierefreiheit mehr als zuvor in den privaten Bereich hineinwächst. Dass die Herstellung von Barrierefreiheit nicht dem öffentlichen Sektor allein überlassen ist, sondern die sukzessive Weiterentwicklung auch den privaten Bereich betreffen muss, soweit er öffentlich zugänglich ist oder genutzt wird (Art. 9 Abs. 2 lit. b UN-BRK), zeigt auch die EU-Barrierefreiheits-Richtlinie 2019/882 (European Accessibility Act). Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, Vorgaben zu machen, um Produkte und Dienstleistungen umfassend barrierefrei zu gestalten. So muss z.B. der gesamte Online-Handel barrierefrei werden, lediglich Kleinstunternehmen sind von dieser Verpflichtung nicht erfasst.4

Auf Grundlage dieser umfassenden Verpflichtungen sind im Bund und in den Ländern einfachgesetzliche Vorgaben ergangen, die das höherrangige Recht umsetzen. Sie finden sich in den Behindertengleichstellungsgesetzen und E-Government-Gesetzen des Bundes und der Länder, im Vergaberecht und vielen anderen einfachgesetzlichen Rechtsquellen.5

3.Barrierefreie Informationstechnik: Wo stehen wir aktuell? Errungenschaften und Herausforderungen der barrierefreien Informationstechnik

Wenn allein rechtliche Regeln schon ihre Durchsetzung bewirken würden, könnte man sich mit Forderungen an den Gesetzgeber begnügen und sich im Übrigen entspannt zurücklehnen. Allein: So ist es nicht! Recht ist immer nur so stark wie seine Durchsetzung. Wo könnte man dies besser sehen als in der der Herstellung von Teilhabe und Barrierefreiheit im digitalen Bereich?

Die Praxis zeigt, dass allenthalben nichtbarrierefreie Verfahren entwickelt, vergeben und an den Start gebracht werden. Das Problem betrifft alle digitalen Angebote:

–Fachverfahren, die behinderte Beschäftigte von der Nutzung im Rahmen ihrer dienstlichen Tätigkeit ausschließen oder Auszubildende an einer sachgerechten Vermittlung der Ausbildungsinhalte hindern. Die derzeitige Praxis zeigt, dass auch Fachverfahren, die an vielen Arbeitsplätzen eingesetzt werden, nicht barrierefrei sind und Anpassungen oft nicht in Aussicht stehen. Sicherlich ist zuzugestehen, dass es sich im Einzelfall um teils sehr spezifische Fachanwendungen handeln kann, zu denen es kaum oder keine Konkurrenzprodukte auf dem Markt gibt. Und trotzdem: Auch für diese Fälle müssen Lösungen, notfalls unter Zuhilfenahme föderaler Kooperationen, geschaffen werden, die einen Ausschluss behinderter Menschen verhindern.

–IT-Arbeitsplatzausstattung, zu der, wie sich gezeigt hat, nicht nur Textverarbeitung gehört, sondern zunehmend auch Video-Konferenzdienste, Messenger oder andere kollaborative Tools.

–Verfahren zum elektronischen Aktenverkehr: Weil diese Verfahren innerhalb der Kernverwaltung prinzipiell an allen Arbeitsplätzen zum Einsatz kommen (sollen), ist hier die Anforderung nicht nur im Hinblick auf die Barrierefreiheit, sondern auch in Bezug auf die Benutzbarkeit insgesamt als besonders hoch anzusehen.

–Anwendungen im Bereich des Bürgerservices, z.B. im Rahmen der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes (OZG).

–Mobile Applikationen, die zunehmend auch von der öffentlichen Verwaltung eingesetzt werden. Welchen Aufwand dabei die Nachsteuerung der Barrierefreiheit bedeutet, zeigt z.B. die Luca-App zur Kontaktnachverfolgung in der aktuellen Corona-Pandemie.

–Webauftritte, d.h. alle eigenen und projektbezogenen Homepages. Hierbei liegt die Herausforderung darin, die Webauftritte nicht nur einmalig beim Start, sondern dauerhaft und bei jeder nachträglichen Anpassung aufs Neue barrierefrei weiterzuentwickeln.

–Social-Media-Kanäle: einerseits bezogen auf die bereitgestellten Inhalte, die barrierefrei, also mit Bildbeschreibungen, ausreichenden Kontrasten, Untertiteln oder Transkripten gepostet werden müssen. Andererseits auch die gesetzliche Verpflichtung, auf die Verbesserung der Barrierefreiheit der Plattformen hinzuwirken.

Dass die Durchsetzung objektiver Verpflichtungen gerade dann schwierig ist, wenn sie die Rechte und Interessen von Minderheiten betrifft, die teilweise schlechten Zugang zu ökonomischen Ressourcen haben, ist bekannt.6 Umso entscheidender war es, Überwachungs- und Durchsetzungsstellen zu etablieren, die die objektiven Verpflichtungen systematisch und im Einzelfall überprüfen und ihre Einhaltung einfordern. Dass diese Kontrollmechanismen teilweise mit (individuellen und verbandlichen) Schlichtungs- und Klageverfahren kombiniert werden können, hilft ihrer Durchsetzungsstärke. Ihre Nutzung im deutschen Behindertenrecht ist aber nach wie vor schwach.7 Vor allem entsteht eine Befriedung aber nur nach einem vorangegangenen Konflikt. Es muss deshalb daran gearbeitet werden, (teure und Ressourcen bindende) Konflikte im Vorfeld zu vermeiden und Barrierefreiheit von Anfang an als wesentliches Instrument zur Verwirklichung gesellschaftlicher Teilhabe sicherzustellen.

Die Einbeziehung behinderter Menschen als Expert*innen in eigener Sache, wie sie Art. 4 Abs. 3 UN-BRK von den Vertragsstaaten fordert, ist dabei von besonderer Bedeutung. Folgerichtig sehen der Durchführungsbeschluss EU 2018/1524 zur Bestimmung des Inhalts der Überwachung auf Staatenebene und § 5 der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) 2.0 die Mitwirkung im Ausschuss für Menschen mit Behinderungen und ihrer Verbände vor. Gerade auf der kommunalen Ebene muss Barrierefreiheit aber zur Realisierung der gemeindenahen Unterstützung Gegenstand partizipativer Teilhabeplanung werden.8 Außerdem ist neben dem Betriebsrat auch die Schwerbehindertenvertretung (§ 178 SGB IX) als wichtiges Organ landauf landab zu stärken, wenn sie ihre Aufgabe sachgerecht erfüllen und als Akteur qualifizierte Beiträge leisten soll. Sie kann in Dienstund Inklusionsvereinbarungen mit den Arbeitgebern (§ 166 SGB IX) auch Regelungen zur barrierefreien Arbeitsplatzgestaltung vereinbaren.9 Wichtig ist somit, dass die bestehenden Instrumente genutzt und eine qualifizierte Beteiligung dauerhaft sichergestellt ist. Hierfür müssen im eigenen Interesse der Kommunen die Voraussetzungen geschaffen werden. Sie beinhalten eine regelhafte Qualifizierung und die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Beratung im Streitfall.

Behinderten Menschen darf aber die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben nicht allein überlassen bleiben. Aus zwei Gründen:

Der erste Grund ist ein staatsorganisationsrechtlicher, denn Adressat der gesetzlichen Regeln ist die Exekutive. Sie muss die Verwirklichung von Barrierefreiheit und Teilhabe umsetzen und, dem rechtlichen Auftrag folgend, von Anfang an mitdenken. Das erfordert ein Bewusstsein sowie, davon abgleitet, konkrete Strategien, die für dieses Feld mobilisiert werden können. Zu alledem liefert dieses Handbuch wichtige Hinweise. Dabei wird eines klar: Die Herstellung von digitaler Barrierefreiheit ist weder besonders schwierig noch besonders teuer, wenn sie systematisch Eingang findet in Entscheidungen auf allen Ebenen. Sie dient dabei nach ihrer gesetzlichen Definition behinderten Menschen, gleichzeitig profitieren aber auch andere davon, nämlich dann, wenn sie zeitlich begrenzt oder situativ beeinträchtigt sind. Ohne es auf die Spitze treiben zu wollen: Kontraste helfen auch bei sommerlichem Lichteinfall in einem Büro, das nicht vollständig zu verschatten ist!

Der zweite Grund ist einer, der kürzlich in einer Studie der Aktion Mensch10 zutage trat: Behinderte Menschen, die täglich mit Barrieren und Benachteiligungen konfrontiert sind, lernen sich mit diesen zu arrangieren und entwickeln mitunter aufwändige Kompensationsmechanismen. Sie haben in vielen Bereichen des Lebens Benachteiligungen oder Stigmatisierungen erfahren und können dadurch gehemmt sein, für ihre Rechte bis zum Schluss einzutreten. Daraus folgt zuvorderst, dass behinderte Menschen ermächtigt und unterstützt werden müssen, sich selbst zu vertreten und für ihre Rechte einzustehen. Und zum anderen folgt daraus aber auch, dass die Entscheider*innen in der Verwaltung selbst die ihnen qua Funktion zukommende Entscheidungsmacht zugunsten gleichberechtigter Teilhabe umso gezielter einsetzen sollten.

Gleichsam, machen wir uns nichts vor, ist die Aufgabe, für die das vorliegende Handbuch seinen Leser*innen Unterstützung bieten möchte, eine (Dauer-)Herausforderung. Die Maßgabe, den beschriebenen Paradigmenwechsel zu vollziehen, muss sich immer und auch dann in der Praxis bewähren, wenn es schwierig wird. Das bedeutet, dass barrierefreie Lösungen auch dann anzustreben sind, wenn sie in ihrer Entwicklung länger dauern, wenn sie teurer sind und wenn sie auf allen Seiten (zunächst) höheren Aufwand darstellen. Als Beispiel kann auf die Einführung von Videokonferenzsystemen während der Corona-Pandemie verwiesen werden. An ihr konnte man erkennen, dass die Barrierefreiheit gegenüber anderen verbindlichen Kriterien wie dem Datenschutz oder zugunsten der Robustheit und Leistungsfähigkeit des Systems hintangestellt worden ist. Rechtlich wäre geboten gewesen, ein barrierefreies System einzusetzen. Nirgends ist das umfassend gelungen. Damit ist ein wesentliches Problem angesprochen: Die digitalen Angebote werden in der Regel nicht durch die Träger öffentlicher Gewalt entwickelt, sondern beschafft. Nach § 121 Abs. 2 GWB sind öffentliche Auftraggeber verpflichtet bei der Beschaffung von Leistungen, die zur Nutzung durch natürliche Personen vorgesehen sind, und bei der Erstellung der Leistungsbeschreibung die Zugänglichkeitskriterien für Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen. In der Praxis muss die Barrierefreiheit deshalb so früh wie möglich berücksichtigt werden

Erkenntnisse aus der Praxis der Überwachung zeigen, dass nicht nur auf allen Ebenen viele Mängel bestehen, sondern dass im Rahmen der Beseitigung dieser Mängel oft auch die Frage konkreter Zuständigkeiten für die verwaltungsinternen Prozesse geklärt werden müssen. Um Zuständigkeitsrangeleien zu vermeiden, erscheint es deshalb erforderlich, verwaltungsintern eine zentrale Steuerung mit Kompetenzen und Weisungsbefugnissen auszustatten. Dass eine eigentlich konsentierte Abhilfe an der Frage scheitert, wer für diese zuständig ist, ist rechtsstaatlich nicht tragbar.

4.Effektivierung dringend erforderlich: Anforderungen an die weitere Entwicklung

Damit die digitale Barrierefreiheit als universelles Gestaltungsprinzip in einer zunehmend digitalisierten Welt, deren Akteure permanent zwischen analogen, digitalen und hybriden Interaktionsformen wechseln, weiter verbessert wird und damit ihren Beitrag dazu leistet, gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft sicherzustellen, braucht es das systematische Zusammenwirken vieler Akteure.

Allen gemein sollte sein, sich an den Grundsätzen der gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen im Sinne der UN-BRK auszurichten. Auch die Gemeinden, Gemeindeverbände und die in Deutschland vielfältigen Träger der mittelbaren Staatsverwaltung in Sozialversicherungsträgern, Kammern, Hochschulen sowie anderen Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nehmen verstärkt, wenn auch nicht flächendeckend, in Aktionsplänen und im Satzungsrecht sowie durch Behindertenbeauftragte auf die Konvention Bezug. Das gilt es auszuweiten, um unter Beteiligung behinderter Menschen systematisch zu einer Weiterentwicklung der Umsetzung zu kommen.

Die Bewältigung der Corona-Pandemie zeigt, dass behinderte Menschen strukturell benachteiligt werden und unsere Gesellschaft nicht inklusiv ist. Die Herstellung digitaler Barrierefreiheit zeigt besonders deutlich, dass über 12 Jahre nach Inkrafttreten der UN-BRK in Deutschland noch dringender Verbesserungsbedarf besteht. Diese Forderung bezieht sich auf den Gesetzgeber, aber auch die Exekutive, die den Vollzug organisiert.

Im Zentrum der gesetzgeberischen Weiterentwicklungen sollte stehen, Barrierefreiheit als objektives Prinzip zur Vermeidung von Barrieren auch im privaten Recht substanziell zu verankern und zudem subjektiv einklagbare Rechtspositionen zu schaffen, mit denen Benachteiligungen, soweit diese zu keiner unverhältnismäßigen Belastung führen, auch im Klageweg verhindert werden. Im Zivilrecht fehlt es für das allgemeine Benachteiligungsverbot wegen einer Behinderung in § 1 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bislang an einer Normierung dieser Pflicht zu sog. angemessenen Vorkehrungen, sodass ungeklärt ist, wie weit subjektive Rechte gegen Anbieter von Waren und Dienstleistungen auf § 19 AGG gestützt werden können. Ein entsprechender Anspruch muss deshalb ausdrücklich ins AGG11, soweit noch nicht geschehen, in die Behindertengleichstellungsgesetze und ins neu zu schaffende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz des Bundes aufgenommen werden.

Viel zu oft bleibt unberücksichtigt, dass Barrierefreiheit in einem umfassenden Sinn alle Arten von Behinderungen meint und in einem noch weiteren, oben skizzierten Verständnis, das die UN-BRK zugrunde legt, Gestaltungen nach dem sog. Universal Design vorsieht. Der Gesetzgeber muss diesen Anspruch erfüllen, in dem er für alle Produkte und Dienstleistungen festschreibt, dass Gestaltungen zu wählen sind, die von Beginn so vielen Menschen wie möglich eine Nutzung ermöglicht und so weit wie möglich niemanden von der Nutzung ausschließen. Der Verpflichtung, Barrieren erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. sie systematisch abzubauen und hierbei auch die Prinzipien des Universellen Designs umzusetzen, kommt Deutschland bislang nur ungenügend nach.12 Dieser ganzheitliche Ansatz muss deshalb dringend weiterverfolgt werden.

Daneben muss die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben verbessert und effektiviert werden. Zentraler Baustein ist die Verankerung der Anforderungen an Inklusion und Teilhabe bereits in den Curricula der Schulen, der Verwaltungsausbildungen und der Studiengänge. Wenn es selbstverständlich ist, barrierefreie Inhalte zu produzieren, damit erfolgreiches Lernen auf allen Ebenen ermöglicht wird, dann wird es auch über den Lernort hinaus zum Standard – und nicht zur Sonderaufgabe, die nur mit hohem Aufwand zu erfüllen ist. Und letztlich ist es genau das, was durch die Verfassung und die UN-BRK vorgegeben ist: Behinderte Menschen sind gleichberechtigter Teil einer gemeinsamen Welt. Sonderwelten, die zu Ausgrenzung führen, sind zugunsten gleichberechtigter Wahlmöglichkeiten inklusiven Zusammenlebens zurückzudrängen.13 Oder um es mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sagen: Es ist zu gewährleisten, dass behinderten Menschen so weit wie möglich ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben führen können.14 Um daran im Bereich der digitalen Barrierefreiheit und weit darüber hinaus konsequent weiterzuarbeiten, gibt dieses Handbuch wichtige Impulse für die Praxis.

1Degener, VN 02/2010 S. 57 f.

2Auf die Art der Beeinträchtigung kommt es nicht an, vgl. anstatt vieler: Theben, S. 125.

3Baer/Markardin v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 3 Abs. 3, Rn. 534, jeweils m.w.N.

4Näheres hierzu vgl. Steinbrück in diesem Band.

5Umfassend hierzu vgl. Carstens in diesem Band.

6Welti 2021, S. 17.

7Welti et al. 2014, S. 482 ff.

8Welti 2011, S. 55 ff.

9Welti/Groskreutz 2016, S. 105 ff.

10https://www.aktion-mensch.de/inklusion/barrierefreiheit/studie-digitale-teilhabe.htm.

11Eichenhofer 2018.

12Frankenstein 2018, S. 241.

13Frankenstein 2020, S. 227 ff.

14BVerfG, Beschl. der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30.1.2020 – 2 BvR 1005/18 -, Rn. 47 (Führhund-Entscheidung).

1.2Welchen Nutzen hat das Handbuch für teilhabeorientiertes Management und Führen im digitalen Arbeitsumfeld von Staat, Verwaltung und kommunaler Daseinsvorsorge? – Motivation und Ziele für ein Handbuch zur digitalen Teilhabe und Barrierefreiheit!

Henning Lühr

Literatur

Böhle Kommunales Personal- und Organisationsmanagement, München 2017

Greef Digitalpolitik, in Klenk/Nullmeier/Wewer (Hrsg.), Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, 2020

Hill Führung in digitalen Arbeitswelten, Verwaltung und Management 22/2016 (Heft 5) S. 241 – 249

IT-Planungsrat, Vorlage zu TOP 30 „Barrierefreiheit“ für die 34. Sitzung und Beschluss am 19. März 2021

KGSt, Schlüsselkompetenzen für kommunale Führungskräfte, Bericht Nr. 12/2017, 2017

Lühr/Böhle Integration, Interkulturelle Kompetenz, Inklusion, in Böhle, Kommunales Personal- und Organisationsmanagement, 2017

Rietdorf eHaushalt, in Lühr, Handbuch Finanzen und Haushalt in der Freien Hansestadt Bremen, Bremen 2020, S. 321 ff.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Was ist Daseinsvorsorge? 2006

Übersicht

1.Lernen im digitalen Alltag! Sensibilität, Fehlerkultur und Fehlermanagement

2.Warum noch ein Handbuch?

3.Wohin mit den guten Ideen? Vorschlag: Führungskräfte in den verschiedenen Ebenen als Verantwortliche und Ermöglicher*innen für Teilhabe und Barrierefreiheit im Prozess der Digitalisierung!

4.Anforderungen an ein teilhabeorientiertes Management und Führen im digitalen Arbeitsumfeld von Staat, Verwaltung und kommunaler Daseinsvorsorge

1.Lernen im digitalen Alltag! Sensibilität, Fehlerkultur und Fehlermanagement

„Herzlichen Glückwunsch, Sie haben den entscheidenden Fehler gefunden!“ Das war meine Reaktion als verantwortlicher Entscheider auf eine Ablehnung eines Antrags durch die zentrale Gesamtschwerbehindertenvertretung in Bremen.

Kurz zur Geschichte und dem Lernen im Alltag durch Umwege:

Ganz stolz hatten wir im Finanzressort in Bremen ein Projekt zum eHaushalt1 auf den Weg gebracht, mit dem Bürger*innen eine Teilhabe an Haushaltsaufstellung und -vollzug im Rahmen eines webbasierten Management-Informations-Systems ermöglicht werden sollte. Jetzt noch eben die formale Mitbestimmung und dann kann es losgehen. Das Risiko einer Ablehnung wurde als gering eingeschätzt, zumal Beschäftigte und Personalvertretung im Entwicklungsprozess unmittelbar beteiligt waren.

Gut gemeint ist aber leider oft nicht gut gemacht! Die Software entsprach nicht den Anforderungen eines barrierefreien Zugangs. Die Gesamtschwerbehindertenvertretung als Experten*innen in ihrer eigenen Sache hatten die Probleme erkannt, die Software war nicht barrierefrei.

Hier liegt genau das Problem: Trotz aller politischen Proklamationen der Teilhabe aller Menschen an digitalen Entwicklungen fehlt es an der Sensibilität, dies auch unaufgefordert nachhaltig einzubringen.

Bei traditionellen Entscheider*innen herrscht leider in vielen Fällen noch ein Grundverständnis vor, dass die sich aus der Beteiligung im sozialen Entwicklungsprozess der digitalen Gestaltung notwendige Barrierefreiheit fast wie einen „Beipackzettel für schwerverträgliche Medizin“ ansieht. Dass es doch um die Realisierung von Grundrechten, der demokratischen Teilhabe am und im digitalen Entwicklungsprozess, geht, wird im Eifer des Alltags nicht realisiert. Also: Wie vermeiden wir künftig Fehler?

2.Warum noch ein Handbuch?

Aber muss die Antwort in einem neuen Handbuch bestehen? Noch ein Handbuch? Für wen ist das Handbuch sinnvoll?

Betroffene, Interessenvertreter der Betroffenen, Entscheider*innen und Führungskräfte haben in einer digitalen Verwaltung durch Inklusion und Diversity ganz neue Herausforderungen!

Digitalisierung ist längst durch viele Verfahren in die Verwaltungspraxis eingezogen und verändert die Praxis im Alltag. Die Pandemie hat diesen Prozess noch forciert, die Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen hat dadurch richtig Fahrt aufgenommen.

Eigentlich ist dazu alles schon gesagt worden, es muss eigentlich nur noch realisiert werden, könnte man meinen. Genau hier liegt das Problem:

Wie erreichen wir den barrierefreien Zugang und die digitale Teilhabe aller Gruppen der Bevölkerung zu öffentlichen Diensten und der Beschäftigten bei der Neugestaltung ihrer Arbeit?

Dies ist leider nicht auf Knopfdruck oder geniale Regelungen, z.B. durch ein gutes Gesetz oder eine gute Verwaltungsvorschrift, erreichbar.

Digitale Teilhabe und Barrierefreiheit erfordern einen Kulturwandel bei den Verwaltungsentscheidungen und den internen Prozessen. Die Entscheider*innen und Führungskräfte selbst und damit ihr konkretes Handeln sind gefordert. Digitale Teilhabe gelingt nur, wenn die Betroffenen zu Beteiligten werden und den Prozess der Digitalisierung aktiv mitgestalten.

Diesen Entwicklungsprozess will das neue Handbuch unterstützen und die Beteiligten fit machen für diese Herausforderungen bei der Digitalisierung im öffentlichen Sektor. Es zeigt praxisbezogen in den einzelnen Handlungsfeldern, wie die Umsetzung konkret geleistet werden kann. Umfassend dargestellt werden jeweils der rechtliche Rahmen, Ansätze zur Umsetzung in der neugestalteten digitalen Verwaltung, die Barrierefreiheit bei der elektronischen Kommunikation und Neugestaltung der Arbeit, Anwendungsbereiche der Digitalisierung und Bürgerbeteiligung.

Das neue Handbuch leistet Hilfestellung im Prozess der Digitalisierung, behinderte Menschen als Experten*innen in eigener Sache einzubeziehen. Es stellt Fachleuten, Entscheider*innen und von Veränderungen Betroffenen in Politik und Verwaltung vertiefte Informationen zur digitalen Teilhabe und Barrierefreiheit bereit. Mitgliedern in Initiativen, Verbänden, Gewerkschaften und Interessenvertretungen bietet es eine Handlungsgrundlage für ihre Interessenwahrnehmung und -vertretung.

3.Wohin mit den guten Ideen? Vorschlag: Führungskräfte in den verschiedenen Ebenen als Verantwortliche und Ermöglicher*innen für Teilhabe und Barrierefreiheit im Prozess der Digitalisierung!

Für Inklusion muss die politische und gesellschaftliche Verantwortung von den Entscheider*innen im jeweiligen Arbeitsbereich wahrgenommen werden. Eine Verlagerung der Verantwortung auf die gesetzlich institutionalisierten Interessenvertretungen ist nicht möglich und wäre auch falsch, sie haben eine andere Funktion: unmittelbare Interessenwahrnehmung, Kontrolle der Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften und verantwortliche Mitarbeit bei der Entwicklung und Gestaltung von inhaltlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen und Strukturen für die Inklusion.

Der Ruf nach den Führungskräften ist immer sehr beliebt, wenn Veränderungen gesteuert und verantwortet werden sollen. Deshalb muss geklärt werden, wie diese den Prozess angehen können und welche Schlüsselkompetenzen für diesen Prozess benötigt werden, welche Führungsaufgaben in welchen Aufgabenfeldern gemeint sind und welche (zusätzliche) Rollen im „Incluion Leadership“ künftig von Führungskräften wahrgenommen sollen.

Die KGSt2 als Fachverband für kommunales Management hat die Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte gebündelt:

Ethische Kompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, eigene Einstellungen und Handlungen transparent und nachhaltig zu verfolgen und verantwortlich zu vertreten.

Persönliche Kompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, Führungsverantwortung zu übernehmen.

Strategische Kompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, das eigene Denken und Handeln auf langfristige Ziele auszurichten, Entwicklungen und Probleme frühzeitig zu erkennen, zu beurteilen und denkbare gemeinwohlorientierte Lösungen zu finden.

Soziale Kompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, Beziehungen zu Menschen situationsgerecht und zielgruppenadäquat aufzubauen und aufrechtzuerhalten.

Führungskompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, das eigene Aufgabenfeld zu gestalten und weiterzuentwickeln und im Umgang mit Bürger*innen, Beschäftigten der Verwaltung ein gemeinwohlorientiertes verantwortliches Führungsverhalten zu zeigen.

Persönlichkeitsentwicklungskompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, Potentiale und Motive der Beschäftigten zu erkennen, zu erhalten und zu fördern.

Diversity- und Inklusionskompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, eigene Vorurteile gegenüber anderen Menschen zu reflektieren, Unterschiede wertzuschätzen, Vielfalt zu fördern und unmittelbaren und strukturellen Diskriminierungen entgegenzuwirken.

Digitale Kompetenz

Bereitschaft und Fähigkeit, verantwortungsvoll steuernd, gestaltend und auf Teilhabe orientiert mit neuen Technologien umzugehen.

Aus diesen summarisch aufgeführten Schlüsselkompetenzen für Führungskräfte ergibt sich jeweils eine Bündelung durch ein Ineinandergreifen einzelner Kompetenzen, um der Funktion als Verantwortliche und Ermöglicher*innen für Teilhabe und Barrierefreiheit im Prozess der Digitalisierung gerecht werden zu können.

Diese Kompetenzen müssen auf die unterschiedlichen Entscheidungsfelder der Digitalisierung bezogen werden. Digitalisierung ist von einer Querschnittsaufgabe im deutschen Föderalismus zu einem eigenen Politikfeld3 geworden, das wie folgt ausdifferenziert:eGovernment als staatliche Gesamtstruktur im Mehrebenensystem des deutschen Föderalismus, jeweils konkretisiert in der konkreten Regierungs- und Verwaltungsorganisation mit entsprechenden Strukturen der IT-Governance in den verschiedenen Ebenen der Verwaltungen und Projekte.

−Digitalisierung öffentlicher Dienste beinhaltet wiederum eine Ausdifferenzierung in verschiedene Träger öffentlicher Aufgaben hin bis zur Durchführung einzelner Aufgaben von privaten oder sozialen Trägern, z.B. der sog. Sozialwirtschaft.

−Digitale Daseinsvorsorge

4

. Auf der kommunalen Ebene als plattformorientierte digitale Dienstleistungserbringung im Zusammenspiel von Verwaltung, öffentlichen und privaten Unternehmen und Institutionen der Zivilgesellschaft.

Die Skizzierung der Teilfelder ist zunächst zwar noch von einem hohen Abstraktionsgrad gekennzeichnet, Verantwortlichkeiten für Entscheidungen und konkrete Führungsaufgaben in Politik, politisch-administrativen Institutionen im föderalen System, wie z.B. des IT-Planungsrats, und in Verwaltungen lassen sich aber konkretisieren.

Dazu sind eine klare inhaltliche Positionsbestimmung und ein neuer strategischer Ansatz erforderlich, um proaktiv im Politikfeld „eGovernment/Digitalisierung öffentlicher Dienste/Digitale Daseinsvorsorge“ digitale Teilhabe und Barrierefreiheit mit klarer Führungsverantwortung und neuen Impulsen5 voranzubringen. Gerade auch im Hinblick auf die Nachnutzung von entwickelten OZG-Anwendungen hat der IT-Planungsrat neben der Bekräftigung inklusiver Ausrichtung der neugeschaffenen Formen und Verfahren der digitalen Verwaltung eine arbeitsfähige Kooperation zwischen den Ländern im Rahmen der „Föderalen IT-Kooperation“ durch einen Beschluss vom 19.3.2021 auf den Weg gebracht.6 Zur Positionsbestimmung:

Nur wenn die Themen Barrierefreiheit und Teilhabe noch stärker besetzt und akzentuiert werden, besteht die Chance einer Realisierung im Alltag. Es darf nicht auf der Ebene eines „Schönwetterthemas“ („Tun wir heute mal „was Gutes“) verbleiben.

Inklusives und diverses Handeln erfordern zunächst auch eine Änderung der Problemwahrnehmung im Alltag: „Behindert ist Mann/Frau/divers nicht, behindert wird Mann/Frau/divers!“

Die Schwierigkeiten liegen dabei im Verhalten gegenüber Menschen mit Handicaps, das oft durch eine zurücksetzende und deklassierende Fürsorgementalität („Wer ist hier behindert? Welche Rücksichten müssen wir nehmen? Haben Sie ihren Ausweis dabei?“) geprägt ist. Hier muss eine menschenwürdige Gleichbehandlung als Grundorientierung aufgebaut werden und in konkretes wertschätzendes Verhalten umgesetzt werden. Inklusion darf nicht zum Bindestrichthema werden, quasi nur ein Beipackzettel für die bittere Medizin des Alltags, wo gerade nicht alles funktioniert. Inklusion ist ein eigenes Politikfeld, das jeweils erhebliche Verflechtungen mit anderen Feldern hat, z.B. hier mit der Digitalisierung. Deshalb müssen jeweils alle Handlungsmöglichkeiten in der Teilhabe ausgeschöpft werden.

Das erfordert auch ein gesellschaftspolitisches und juristisches „Geraderücken“ des Behinderungsbegriffs, der leider viel zu oft noch durch einen „Vermessungsvorgang (Was kann der/die Behinderte, was kann er nicht? Wie hoch ist der Grad der Behinderung?)“ geprägt ist. Hier muss gegengesteuert werden. Leitformel soll dabei vielmehr sein:

Akzeptierendes regelgebundenes Nebeneinander muss zum Miteinander auf Augenhöhe werden! Bei Behindertenpolitik geht es nicht um Mitleid, nicht um soziale Anteilnahme. Integration und Barrierefreiheit müssen aufgehen in einem umfassenden Anspruch auf demokratische Teilhabe.7Dabei sollen behinderte Menschen als Experten*innen ihrer eigenen Sache sein.

Bei Planungs-, Entwicklungs- und Umsetzungsprozessen in IT-Projekten muss die digitale Teilhabe und Barrierefreiheit schon beginnend bei den Vorüberlegungen, Planungen und im Design-Thinking-Prozess einbezogen werden. Hier sind die Verantwortlichen der IT-Governance gefordert.

Nach dieser Positionsbestimmung ist eine Differenzierung der Führungsaufgaben erforderlich. Es wird kaum möglich sein, einen für alle Entscheidungsbereiche übergreifenden situationsgerechten Führungsansatz zu entwickeln. Hier muss daher aufgabenbezogen und im konkreten sozialen Handeln differenziert werden. Dies muss abgestuft in Zielvereinbarungen als Instrument für die Ausgestaltung der Führungsaufgaben differenziert werden. Dann ist es letztlich egal, ob politische Entscheidungen vorbereitet werden, Vorschriften erarbeitet, konkrete Projekte durchgeführt oder in einer Alltagssituation konkrete Führungsaufgabenbewältigt werden müssen. Entscheidend ist das Menschenbild, d.h., ohne Einschränkungen und Vorbehalte die Menschenwürde und das Anderssein zu akzeptieren.

Inklusion und Diversity werden dann der Gradmesser für die Humanität einer Gesellschaft! Praktizierte Staatskunst besteht nach Aristoteles eben genau darin, die Wohlfahrt für alle in der Gesellschaft zu gewährleisten.

4.Anforderungen an ein teilhabeorientiertes Management und Führen im digitalen Arbeitsumfeld von Staat, Verwaltung und kommunaler Daseinsvorsorge

Die grundlegenden Aufgaben müssen in konkrete Ansatzpunkte für die Rekrutierung, das Coaching und die Entwicklung und Qualifizierung der Führungskräfte und in Zielvereinbarungen operationalisiert werden:

−Bereits bei der Rekrutierung oder Entwicklung von Führungskräften sind Kenntnisse, Verständnis und Haltung zu Inklusion und Diversity maßgebliche Entscheidungsgrundlagen.

−Inklusion und Diversity sind Gestaltungsansätze für die Entwicklung und Qualifizierung der Führungskräfte.

−Inklusion und Diversity als Gegenstand von Zielvereinbarungen sind ein Verhaltenskodex.

1Rietdorf 2020, S. 321 ff.

2KGSt, Schlüsselkompetenzen für kommunale Führungskräfte, S. 7 ff.

3Greef, S. 463.

4Zum Begriff der Daseinsvorsorge: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Was ist Daseinsvorsorge? Berlin 2006.

5Hill, S. 243 ff.

6IT-Planungsrat, 34. Sitzung vom 19.3.2021.

7In der UN-Behindertenrechtskonvention sind die grundlegenden Rechte der Menschen mit Beeinträchtigungen festgelegt.

2.Die rechtlichen Grundlagen und ihre Umsetzung

2.1Die rechtliche Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit

Andreas Carstens

Literatur

Bogenschütz Mehr Barrierefreiheit durch die Europäische Union, BWGZ 2019, S. 315 – 316

Boysen/Steinbrück Vom European Accessibility Act zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Teil I – IV, 2021, in: www.reha-recht.de

Bühler/Scheer Barrierefreie Informationstechnik, in Degener/Diehl (Hrsg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, 2015, S. 197 − 203

Carstens Barrierefreie Informationstechnik, in Brockmann/Deinert/Luik/Welti (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2021

Carstens Barrierefreie Dokumente, in Brockmann/Deinert/Luik/Welt (Hrsg.), Stichwortkommentar Behindertenrecht, 3. Aufl. 2021

Carstens Barrierefreiheit der digitalen Verwaltung, in Lühr/Jabkowski/Smentek (Hrsg.), Handbuch Digitale Verwaltung, 2019, S. 185 – 211

Carstens Grundlagen für eine barrierefreie IT in der Justiz, in Kerkmann/Lewandowski (Hrsg.), Barrierefreie Informationssysteme, 2015, S. 177 – 215

Carstens Modernisierung des Vergaberechts – nicht ohne Barrierefreiheit, ZRP 2015 S. 141 – 144

Dau/Düwell/Joussen Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, 6. Aufl. 2021, Kommentierung zu §§ 12ff. BGG

De Oliveira Barrierefreiheit umsetzen: Ein Leitfaden für Behörden, Unternehmen und NGO’s, 2018

De Oliveira Barrierefreiheit im Internet, 2013

Denkhaus/Richter/Bostelmann E-Government-Gesetz/Onlinezugangsgesetz, Kommentar, 2019

Fuchs/Hirsch/Ritz SGB IX – Kommentar zum Recht schwerbehinderter Menschen, 7. Aufl. 2021

Grießmann Barrierefreiheit von PDF-Dokumenten sicherstellen, in Kerkmann/Lewandowski (Hrsg.), Barrierefreie Informationssysteme, 2015, S. 140 – 176

Hellbusch Mit barrierefreiem Webdesign zu einer besseren User Experience, in: Maaß/Rink (Hrsg.), Handbuch Barrierefreie Kommunikation, 2019, S. 507 – 526

Hellbusch/Probiesch (Hrsg.) Barrierefreiheit verstehen und umsetzen – Webstandards für ein zugängliches und nutzbares Internet, 2011

Hellbusch/Bühler (Hrsg.) Barrierefreies Webdesign – Praxishandbuch für Webgestaltung und grafische Programmoberflächen, 2005

Kirch Für alle gemacht – eine verpflichtende Koordinate öffentlicher Beschaffung, VergabeR 2017 S. 234 – 240

Klemm Barrierefreie Websites – eine öffentlich-rechtliche Betrachtung, Dissertation, 2018

Lemke Keiner muss draußen bleiben. Die Windows Presentation Foundation unterstützt das Entwickeln barrierefreier Software. Software für jedermann mit C# und WPF Frontend barrierefrei, 2020, S. 44 – 46 (Download: www.dotnetpro.de; dnpcode A2001Barrierefrei)

Maaß/Rink (Hrsg.) Handbuch Barrierefreie Kommunikation, Kommunikation – Partizipation – Inklusion, 2019

Morsbach Barrierefreiheit im Internet. Eine Anleitung für Redakteure und Entscheider, 2018

Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben Sozialgesetzbuch IX, Kommentar, 14. Aufl. 2020, Kommentierung zu §§ 12ff. BGG

Picker Barrierefreiheit im Internet. Die Internetpräsenzen der Kreise und kreisfreien Städte in Schleswig-Holstein mit Blick auf die besonderen Belange blinder und stark sehbehinderter Menschen. Eine Überprüfung mit blindentechnischen Hilfsmitteln, Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung Altenholz, Bachelor-Arbeit, 2017

Posselt/Frölich Barrierefreie PDF-Dokumente erstellen: Das Praxishandbuch für den Arbeitsalltag – Mit Praxisbeispielen zur Umsetzung in Adobe InDesign und Microsoft Office/Libre Office, 2019

Reidt/Stückler/Glahs, Vergaberecht, Kommentar, 4. Aufl. 2018

Roggenkamp Barrierefreies E-Government, NVwZ 2006 S. 1239 – 1244

Rott Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, Teil I – III, 2021, in: www.reha-recht.de

Schlegel/Voelzke in jurisPK-SGB V, 4. Aufl. 2020

Sorge/Krüger E-Akte, elektronischer Rechtsverkehr und Barrierefreiheit, NJW 2015 S. 2764 – 2767

Spiolek (Hrsg.) Gemeinschaftskommentar zum Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, 94. Erg.-Lfg., Mai 2018

Tabbara Barrierefreiheit für elektronische Produkte und Dienstleistungen – das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz, NZS 2021 S. 497 – 502

Warnke Inklusion im Alltag: Wie Sie an Bildschirmarbeitsplätzen Barrieren für sehbeeinträchtigte Mitarbeiter abbauen, in Praxishandbuch Arbeitssicherheit & Gesundheitsschutz im Betrieb, Stand 2013; Stichwort: Sehbeeinträchtigung

Welti Barrierefreiheit als Rechtsbegriff, DÖV 2013 S. 795 – 801

Welti Rechtliche Voraussetzungen von Barrierefreiheit, NVwZ 2012 S. 725 – 730

Wenckenbach/Welti Barrierefreier Zugang zu Waren und Dienstleistungen – ein Recht und seine Durchsetzung, VuR 2015 S. 209 – 216

Übersicht

1.Einleitung

2.Handlungsfelder der digitalen Barrierefreiheit

2.1Websites und mobile Anwendungen

2.1.1Inhalt und Umfang der Verpflichtung zur Barrierefreiheit

2.1.1.1Einzuhaltende Standards

2.1.1.2Höchstmögliches Maß an Barrierefreiheit

2.1.1.3Deutsche Gebärdensprache und Leichte Sprache

2.1.1.4Ausnahmen bei Unverhältnismäßigkeit

2.1.1.5Ausnahmen für bestimmte Inhalte

2.1.2Instrumente zur Sicherstellung von Barrierefreiheit

2.1.2.1Erklärung zur Barrierefreiheit

2.1.2.2Feedback-Mechanismus

2.1.2.3Durchsetzungsverfahren

2.1.2.4Überwachungsstellen

2.1.2.5Berichtspflicht

2.1.3Verwaltungsportale

2.2eGovernment, eJustice und eHealth

2.2.1eGovernment

2.2.2eJustice

2.2.3eHealth

2.3Elektronische Akten und elektronische Vorgangsbearbeitung

2.3.1Rechtliche Verpflichtungen

2.3.2Standards zur Barrierefreiheit

2.4Elektronische Dokumente und Formulare

2.4.1Rechtliche Verpflichtungen

2.4.2Standards zur Barrierefreiheit

2.5Elektronische Signatur und eIdentifikation

3.Ausschreibungs- und Vergabeverfahren

3.1Barrierefreiheit als Merkmal der Leistungsbeschreibung

3.2Auswahlentscheidung und Zuschlagskriterien

3.3Unterschwellenvergabeordnung

3.4Barrierefreiheit für alle Nutzer

3.5Barrierefreie eVergabe

4.Qualitätssicherung und Gutachten

5.Ausblick

1.Einleitung

Die Barrierefreiheit moderner Informations- und Kommunikationstechnologien ist eine grundlegende Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in einer digitalen Welt.

Die Barrierefreiheit digitaler Informations- und Kommunikationsformen setzt voraus, dass digitale Angebote, Dienste und Inhalte auch für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen und Einschränkungen zugänglich und nutzbar sind. Blinde Menschen lassen sich den Inhalt von Websites, Programmen und elektronischen Dokumenten mithilfe einer Sprachausgabe vorlesen oder über eine Braillezeile in Blindenschrift ausgeben. Hierzu muss der Screenreader auf die Inhalte zugreifen können und eine sinnvolle Lesereihenfolge gewährleistet sein. Für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sind klare und deutliche Schriften und gute Kontraste wichtig. Auch dann, wenn Browser und mobile Endgeräte wie Tabletts und Smartphones eigene Zoomfunktionen zur Verfügung stellen, muss es möglich sein, die Schriftgröße individuell einzustellen. Eine Tastaturbedienbarkeit ist nicht nur für blinde und sehbehinderte Menschen erforderlich, sondern beispielsweise auch für Nutzer, die aufgrund von motorischen Einschränkungen ein Programm nicht mit einer Maus bedienen können. Audioinformationen, die für Menschen mit Hörbeeinträchtigungen nicht zugänglich sind, müssen auf andere Weise wahrnehmbar sein, etwa indem für Videos Untertitel angeboten werden. Informationen in Leichter Sprache oder in Deutscher Gebärdensprache erleichtern Menschen mit Lern- oder Hörbeeinträchtigungen den Zugang.1 Den Dienststellen und Behörden der Verwaltung bietet eine barrierefreie Gestaltung zugleich den Vorteil, dass sie mit ihren Informationen und Dienstleistungen einen deutlich größeren Kreis an Nutzern erreichen.

Der Beitrag beschreibt die gesetzlichen Vorschriften, die zur Barrierefreiheit verpflichten, und erläutert die hierbei anzuwendenden Standards. Ein eigener Abschnitt zeigt auf, worauf in einem Ausschreibungs- und Vergabeverfahren zu achten ist. Ein weiterer Abschnitt benennt Anforderungen zur Qualitätssicherung und für die Erstellung von Gutachten, bevor der Beitrag mit einem Ausblick auf die weitere Entwicklung zur digitalen Barrierefreiheit endet.

2.Handlungsfelder der digitalen Barrierefreiheit

Digitale Angebote, Dienste, Anwendungen und Inhalte sind barrierefrei, wenn sie auch für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.2 Dies schließt den Einsatz behinderungsbedingt notwendiger assistiver Technologien (wie z.B. Screenreader, Screenmagnifier oder Möglichkeiten der Steuerung über Spracheingabe) nicht aus, macht es aber erforderlich, dass die assistiven Technologien über vorhandene Schnittstellen uneingeschränkt unterstützt werden. Digitale Informations- und Kommunikationsformen sind daher nur dann barrierefrei, wenn Menschen mit Behinderungen hierzu einen umfassenden Zugang haben und deren Inhalte auffinden und uneingeschränkt nutzen können.3

Die in Deutschland seit März 2009 als geltendes Recht im Rang eines Bundesgesetzes zu beachtende UN-Behindertenrechtskonvention4 verpflichtet deshalb dazu, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zu ergreifen, um Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu und eine selbstbestimmte Teilhabe an allen modernen Informationsund Kommunikationstechnologien sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die elektronisch bereitgestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu ermöglichen sowie vorhandene Zugangshindernisse und -barrieren zu beseitigen (Art. 4 lit. a i. V.m. Art. 9 Abs. 1 UN-BRK). Hierzu gehört auch, dass für die Allgemeinheit bestimmte Informationen Menschen mit Behinderungen in Formaten zur Verfügung stehen, die für sie zugänglich und nutzbar sind (Art. 21 UN-BRK).

Die Verpflichtung zur digitalen Barrierefreiheit wird von der Rechtsordnung durch zahlreiche Vorschriften konkretisiert, die mit Leben zu füllen sind.

2.1Websites und mobile Anwendungen

Das Behindertengleichstellungsgesetz verpflichtet die öffentlichen Stellen des Bundes in § 12 a Abs. 1 Satz 1 BGG, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten. Zu den Websites gehören neben den Auftritten und Angeboten im Internet auch die Inhalte und Informationen für Beschäftigte im Intranet. Mobile Anwendungen sind Anwendungen für mobile Endgeräte wie Tabletts und Smartphones. Außerdem stellt § 12 a Abs. 8 BGG klar, dass grundsätzlich auch die Angebote öffentlicher Stellen im Internet, die auf Websites Dritter (beispielsweise in sozialen Netzen) veröffentlicht werden, barrierefrei zu gestalten sind. Inhaltlich gleichlautende Vorschriften, die die öffentlichen Stellen in den Ländern (von der Landesverwaltung bis zu den Kommunen) verpflichten, enthält auch das Landesrecht.

Zu den öffentlichen Stellen, die durch § 12 Nr. 1 BGG zur Barrierefreiheit ihrer Websites und mobilen Anwendungen verpflichtet werden, gehören alle Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Bundesverwaltung einschließlich der bundesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts (§ 1 Abs. 1a Nr. 1 BGG); außerdem Beliehene, die unter der Aufsicht des Bundes stehen (§ 1 Abs. 1a Nr. 2 BGG) und sonstige Bundesorgane (§ 1 Abs. 1a Nr. 3 BGG) und damit auch der Bundestag und die Bundesgerichte.5 Darüber hinaus erweitert § 12 Nr. 2 BGG den Kreis der Verpflichtungsadressaten auf sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts. Zu den öffentlichen Stellen, die zur Barrierefreiheit ihrer Websites und mobilen Anwendungen verpflichtet sind, können danach auch juristische Personen des Privatrechts gehören, wenn sie überwiegend vom Bund finanziert werden, hinsichtlich ihrer Leitung oder Aufsicht dem Bund unterstehen oder ein Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan haben, das mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die durch den Bund ernannt worden sind. Der Kreis der öffentlichen Stellen, die zur Barrierefreiheit verpflichtet werden, ist daher weit gefasst.

Das BGG wurde durch Gesetz vom 10.7.20186 teilweise neu gefasst und ergänzt. Seither sind die Vorschriften zur Barrierefreiheit der Informationstechnik in den §§ 12 – 12 d BGG geregelt. Weitere Einzelheiten ergeben sich aus der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) vom 12.9.20117, die durch Änderungsverordnung vom 21.5.20198 weitgehend neu gefasst wurde. Hierdurch wurde die Richtlinie (EU) 2016/2102 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016 über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen9 für den Bereich des Bundes in das innerstaatliche Recht übernommen. Das BGG verpflichtet die Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Bundesverwaltung bereits seit dem Jahr 2002 zur Barrierefreiheit ihrer Auftritte und Angebote im Internet10 und seit dem Jahr 2016 zur Barrierefreiheit ihrer mobilen Anwendungen sowie der Informationen für Beschäftigte im Intranet11. Durch die RL (EU) 2016/2102 neu in das Gesetz aufgenommen wurde – neben Mechanismen, die sicherstellen sollen, dass die Vorgaben zur Barrierefreiheit tatsächlich umgesetzt und eingehalten werden – insbesondere eine konsequente Ausweitung der Verpflichtung zur Barrierefreiheit auf alle öffentlichen Stellen.12

Auch die Behindertengleichstellungsgesetze der Länder wurden zur Umsetzung der RL (EU) 2016/2102 novelliert. Seither ergibt sich die Verpflichtung zur Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen für die öffentlichen Stellen in den Ländern aus folgenden Vorschriften:

Baden-Württemberg

: § 10 Landes-Behindertengleichstellungsgesetz (LBGG); §§ 1ff. L-BGG-DVO.

Bayern

: Art. 14 Bayerisches Behindertengleichstellungsgesetz (BayBGG); §§ 1ff. BayEGovV.

Berlin

: §§ 1ff. Barrierefreie-IKT-Gesetz Berlin (BIKTG Bln).

Brandenburg

: § 9 Brandenburgisches Behindertengleichstellungsgesetz (BbgBGG); §§ 1ff. BbgBITV.

Bremen

: §§ 12 ff. Bremisches Behindertengleichstellungsgesetz (BremBGG).

Hamburg

: § 11 Hamburgisches Behindertengleichstellungsgesetz (HmbBGG); §§ 1ff. HmbBITVO.

Hessen

: § 14 Hessisches Behinderten-Gleichstellungsgesetz (HessBGG); §§ 1ff. HVBIT.

Mecklenburg-Vorpommern

: § 13 Landesbehindertengleichstellungsgesetz (LBGG M-V); §§ 1ff. BITVO M-V.

Niedersachsen

: §§ 9ff. Niedersächsisches Behindertengleichstellungsgesetz (NBGG), §§ 1ff. NBITVO.

Nordrhein-Westfalen

: §§ 10ff. Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen (BGG NRW); §§ 1ff. BITV NRW.

Rheinland-Pfalz

: § 10 Abs. 1 Landesinklusionsgesetz (InklG RP), §§ 1 ff. BITVRP.

Saarland

: §§ 12 ff. Saarländisches Behindertengleichstellungsgesetz (SBGG), §§ 7ff. SBGVO.

Sachsen

: §§ 1ff. Barrierefreie-Websites-Gesetz (BfWebG).

Sachsen-Anhalt

: §§ 16 ff. Behindertengleichstellungsgesetz Sachsen-Anhalt (BGG LSA); §§ 1ff. BGGVO LSA.

Schleswig-Holstein

: §§ 12 ff. Landesbehindertengleichstellungsgesetz (LBGG SH); §§ 1ff. BfWebV SH.

Thüringen

: §§ 1ff. Thüringer Gesetz über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen (ThürBarrWebG); §§ 1ff. ThürBITVO.

Auch nach dem Landesrecht ist der Kreis der öffentlichen Stellen aufgrund der Vorgaben der RL (EU) 2016/2102 weit gefasst. Zur Barrierefreiheit ihrer Websites und mobilen Anwendungen verpflichtet werden neben den Dienststellen und sonstigen Einrichtungen der Landesverwaltung (z.B. § 10 a Abs. 1 BGG NRW, § 16 Abs. 1 Nr. 1 BGG LSA, § 12 Abs. 1 LBGG SH), einschließlich der landesunmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, auch die Parlamente (vgl. § 9 Abs. 1 Nr. 1 HessBGG, § 1 Abs. 2 SBGG) und Gerichte (z.B. § 2 Abs. 2 Nr. 1 InklG RP, § 1 Abs. 1 Nr. 1 BfWebG Sachsen)13 sowie die kommunalen Gebietskörperschaften (Städte, Gemeinden, Landkreise). Damit sind nunmehr in allen Bundesländern auch die Kommunen verpflichtet, ihre Websites und mobilen Anwendungen barrierefrei zu gestalten (z.B. § 9 Abs. 1 Nr. 1 NBGG sowie § 9 Abs. 3 BbgBGG, § 14 Abs. 2 HessBGG und § 1 Abs. 1 BfWebG Sachsen).14 Hinzu kommen die sonstigen öffentlichen Stellen, die dem Landesrecht zuzuordnen sind. Dazu gehören beispielsweise auch Krankenhäuser sowie Unternehmen des öffentlichen Personennahverkehrs, die als juristische Person des Privatrechts von öffentlichen Stellen betrieben werden (§ 9 Abs. 1 Satz 4 NBGG).

Die Regelungen gelten seit dem 23.9.2019 für Websites öffentlicher Stellen, die nicht vor dem 23.9.2018 veröffentlicht wurden, seit dem 23.9.2020 für alle übrigen Websites öffentlicher Stellen und seit dem 23.6.2021 für mobile Anwendungen öffentlicher Stellen.

2.1.1Inhalt und Umfang der Verpflichtung zur Barrierefreiheit

Die gesetzlichen Regelungen zur Barrierefreiheit von Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen dienen dem Ziel, eine umfassend und grundsätzlich uneingeschränkt barrierefreie Gestaltung moderner Informations- und Informationstechnik zu ermöglichen und zu gewährleisten.15 Informationen und Dienstleistungen öffentlicher Stellen, die elektronisch zur Verfügung gestellt werden, sowie elektronisch unterstützte Verwaltungsabläufe, mit und innerhalb der Verwaltung, sind für Menschen mit Behinderungen barrierefrei zugänglich und nutzbar zu gestalten (§ 1 Abs. 2 BITV 2.0).

Die Verpflichtung zur barrierefreien Gestaltung von Websites umfasst sowohl die Auftritte und Angebote im Internet als auch die Informationen für Beschäftigte im Intranet (§ 12 a Abs. 1 Satz 1 BGG, § 2 a Abs. 1 Satz 4 BITV 2.0). Mobile Anwendungen sind Programme für mobile Endgeräte wie Smartphones und Tabletts (§ 2 a Abs. 2 Satz 1 BITV 2.0). Barrierefrei zu gestalten sind alle Inhalte von Websites und mobilen Anwendungen. Hierzu gehören neben den textuellen und nicht textuellen Informationen in unterschiedlichen Formaten (Dokumente, Video und Audio) sowie Dokumenten und Formularen zum Herunterladen auch alle Funktionen, die eine beidseitige Interaktion ermöglichen, beispielsweise zum Ausfüllen digitaler Formulare oder zur Durchführung von Authentifizierungs-, Identifizierungs- und Zahlungsprozessen (§ 2 a Abs. 1 Satz 2 u. 3, Abs. 2 Satz 3 BITV 2.0).16 Die Umsetzung der RL (EU) 2016/2102 in das innerstaatliche Recht dient damit zugleich der Umsetzung von Art. 9, 21 und 27 UN-BRK.17

2.1.1.1Einzuhaltende Standards

Nach § 12 a Abs. 2 BGG hat die barrierefreie Gestaltung nach Maßgabe der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung und, soweit diese keine Vorgaben enthält, nach den anerkannten Regeln der Technik zu erfolgen. Die zur barrierefreien Gestaltung anzuwendenden Standards werden durch § 3 Abs. 1 bis Abs. 4 der BITV 2.0 näher bestimmt.

Aus § 3 Abs. 2 BITV 2.0 ergibt sich die Verpflichtung, zur barrierefreien Gestaltung die Standards der europäischen Normungsinstitutionen zu beachten, deren Referenz im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde. Hierzu nimmt die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung in § 3 Abs. 2 Nr. 1 BTIV 2.0 Bezug auf harmonisierte Normen18 der europäischen Normungsinstitute. Harmonisierte Normen19 sind Standards, die von den europäischen Normungsinstituten im Auftrag der EU erarbeitet wurden.20 Sie sind nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 BITV 2.0 zur barrierefreien Gestaltung verbindlich zu beachten, sobald eine Referenz auf diesen Standard im Amtsblatt der EU bekannt gemacht wurde. Die europäischen Normungsinstitute haben im März 2021 den europäischen Standard EN 301 549 „Accessibility requirements for ICT products and services“ in der Version 3.2.1 veröffentlicht.21 Hierzu wurde mit Durchführungsbeschluss (EU) 2021/1339 vom 11.8.202122 eine Referenz im Amtsblatt der EU bekannt gemacht, sodass die Anforderungen der EN 301 549 (V3.2.1) auch nach der BITV 2.0 zu beachten sind. Der aktualisierte Standard ersetzt damit die EN 301 549 in der Version 2.1.2 vom August 2018, der bisher zur barrierefreien Gestaltung zugrunde zu legen war. Eine deutsche Übersetzung der EN 301 549 in der Version 3.1.2 wurde im Februar 2020 als DIN EN 301 549 „Barrierefreiheitsanforderungen für IKT-Produkte und -Dienstleistungen“ veröffentlicht.23 Der DIN e.V. hat angekündigt, eine deutsche Übersetzung der Version 3.2.1 als DIN EN 301 549 zu veröffentlichen. Zu erwarten ist, dass bei künftigen Aktualisierungen des Standards EN 301 549 zeitnah auch die Referenz im Amtsblatt der EU aktualisiert wird.

Der Standard EN 301 549 (V3.2.1) enthält Anforderungen an die Barrierefreiheit von Websites (Internet und Intranet) in Kapitel 9, Anforderungen an die Barrierefreiheit von elektronischen Dokumenten in Kapitel 10 und Anforderungen an die Barrierefreiheit von Software (einschließlich der mobilen Anwendungen) in Kapitel 11, die zusammen mit Anforderungen aus anderen Kapiteln des Standards zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen zu beachten sind. Eine Auflistung der nach den EU-Vorgaben mindestens einzuhaltenden Anforderungen enthält der Standard EN 301 549 (V3.2.1) in seinem Annex A in Tabelle A.1 für Websites und in Tabelle A.2 für mobile Anwendungen. Anforderungen an die Barrierefreiheit von Websites formulieren auch die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG 2.1), die vom W3C im Juni 2018 veröffentlicht wurden.24 Sie enthalten insgesamt 78 prüfbare Erfolgskriterien, davon 30 mit der Konformitätsstufe A, 20 mit der Konformitätsstufe AA und 28 mit der Konformitätsstufe AAA. Der europäische Standard EN 301 549 (V3.2.1) beruht zu einem großen Teil auf den Erfolgskriterien der WCAG 2.1. Dennoch gibt es wichtige Unterschiede. Der europäische Standard EN 301 549 (V3.3.1) geht teilweise über die WCAG 2.1 hinaus, indem er im Annex A Anforderungen zur Barrierefreiheit auflistet, die in den WCAG 2.1 nicht enthalten sind. Teilweise bleibt er hinter den WCAG 2.1 zurück, da die Erfolgskriterien der WCAG 2.1 mit der Konformitätsstufe AAA darin fehlen.25 Darüber hinaus hat das W3C mit den Authoring Tool Accessibility Guidelines (ATAG 2.0)26 und den WAI Accessible Rich Internet Applications (WAI-ARIA 1.1)27 weitere Richtlinien zur Barrierefreiheit veröffentlicht, die zur barrierefreien Gestaltung zu berücksichtigen sind.

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BITV 2.0 sind Websites und mobile Anwendungen öffentlicher Stellen barrierefrei zu gestalten. Neben der Verpflichtung, hierzu die Anforderungen aus den europäischen Standards zur Barrierefreiheit einzuhalten, deren Referenz im Amtsblatt der EU bekannt gemacht wurde, statuiert § 3 Abs. 2 BITV 2.0 eine Konformitätsvermutung. Danach besteht (nur) eine gesetzliche Vermutung, dass Websites und mobile Anwendungen barrierefrei sind, wenn die Anforderungen aus dem Standard EN 301 549 in seiner jeweils verbindlichen Fassung eingehalten werden (Beweislastumkehr). Dementsprechend stellt § 3 Abs. 3 BITV 2.0 klar, dass Websites und mobile Anwendungen ergänzend nach dem Stand der Technik barrierefrei zu gestalten sind, soweit die einzuhaltenden europäischen Standards keine Vorgaben enthalten oder Nutzeranforderungen28 durch die Standards nicht abgedeckt sind.29 Insbesondere zur barrierefreien Gestaltung von Dokumenten und Formularen im Format PDF ist daher auch der Standard DIN ISO 14289 − 1 (PDF/UA-Standard)30einzuhalten.31

Für Normanwender ist es mitunter schwierig zu erkennen, welche Anforderungen zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen jeweils zu beachten sind. Zu prüfen ist nicht nur, ob und welche Referenzen im Amtsblatt der EU veröffentlicht wurden und ob weitere Nutzeranforderungen zu beachten sind. Die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung sieht deshalb in § 3 Abs. 5 BITV 2.0 vor, dass die Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit von Informationstechnik in ihren Web-Auftritt32