Handbuch Gender und Religion -  - E-Book

Handbuch Gender und Religion E-Book

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Beschreibung

Öffentliche Debatten zeigen die Relevanz von Religion für das Verständnis von Genderrollen, aber auch von Gendervorstellungen für das Erforschen von Religion: Auf der einen Seite bilden Geschlechtskategorien eine Grundlage für Religionen, auf der anderen bieten religiöse Traditionen Legitimierungen für die Bestimmung von Geschlecht. Das Handbuch widmet sich mit einem interdisziplinären Blick diesen komplexen Verknüpfungen.

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Seitenzahl: 934

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Anna-Katharina Höpflinger / Ann Jeffers / Daria Pezzoli-Olgiati (Hg.)

Handbuch Gender und Religion

Vandenhoeck & Ruprecht

Veröffentlicht mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2021 © 2021, 2008 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Max Rüedi (1925–2019), Radierung, 15. März 1985, 20 x 20 cm.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, StuttgartSatz: le-tex publishing services, LeipzigEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

UTB-Band-Nr. 3062 ISBN 978-3-8463-5714-9

Dieses Buch ist allen Kollegen und Kolleginnen gewidmet, die das Konzept von Gender in ihrer Forschung und Lehre mitbedenken.

Danksagung

Wie schon bei der ersten Auflage von 2008 ist das Handbuch Gender und Religion das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit zwischen den Herausgeberinnen, den Lektorinnen und den Autorinnen und Autoren. Der Kreis der Mitwirkenden wurde wesentlich erweitert, damit neue Konzepte, Themen und Fragestellungen aufgenommen und entfaltet werden konnten. Dieses Werk wurde hauptsächlich während der Corona-Pandemie geschrieben, was alle Phasen der Produktion erschwerte. Außerdem liegt es uns am Herzen, daran zu erinnern, dass dieses Buch im Jahr erscheint, in dem die Schweizer Frauen das 50-jährige Jubiläum der Möglichkeit begehen, aktiv an der Politik des Landes teilzunehmen. Die laufenden Debatten um die Bestimmung und die Rolle der Geschlechter in der Gesellschaft – von #metoo, gender pay gap, der Ehe für alle, der LGBTIQ+-Bewegungen bis hin zum Verhältnis von Pandemie und Genderdiskriminierung – haben die Zoom-Gespräche der Herausgeberinnen und den Entstehungsprozess des Buches stark geprägt.

Gerade in einer solchen zwiespältigen und anstrengenden Zeit haben alle konstruktiv mitgearbeitet und alles gegeben, damit das Handbuch pünktlich erscheinen konnte. Deswegen möchten wir uns ganz herzlich bei allen bedanken, die dieses Projekt mit ihrer großzügigen Arbeit ermöglicht haben. Ein ganz besonderer Dank geht an alle Autoren und Autorinnen, die ihre Texte revidiert oder neu für diese Auflage des Handbuches verfasst haben; an Prof. Dr. Pierre Bühler und PD Dr. Marie-Therese Mäder, die Einführungen zu einzelnen Teilen übernommen und uns damit geholfen haben, den roten Faden des Projektes nicht aus den Augen zu verlieren und zentrale Grundfragen hervorzuheben; an Caterina Panunzio, die alle Beiträge vereinheitlicht und mit Professionalität und Hingabe einige Texte vom Englischen ins Deutsche übersetzt hat; an Verena Eberhardt und Hannah Griese, die mit Aufmerksamkeit sowie kritischem Blick die Lektoratsarbeit übernommen haben; an Mirjam Wieser, die die Organisation des Projektes professionell gemeistert hat; an die Deutsche Stiftung Frauen- und Geschlechterforschung, die sich am Druck des Buches finanziell beteiligt hat; schließlich an Dr. Johanna Körner, Dr. Victor Wang und an den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die verlegerische Arbeit.

München und London, im März 2021

Anna-Katharina Höpflinger, Ann Jeffers und Daria Pezzoli-Olgiati

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Einführung

Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati

Gender als Grundkonzept der Religionsforschung

Teil I Religionswissenschaft als Vermittlung von Weltbildern

Pierre Bühler

Einleitung

Ursula King

Gender-kritische (Ver-)Wandlungen in der Religionswissenschaft. Ein radikaler Paradigmenwechsel

Daria Pezzoli-Olgiati

»Spieglein, Spieglein an der Wand…«. Rekonstruktionen und Projektionen von Menschen- und Weltbildern in der Religionswissenschaft

Kristina Göthling-Zimpel

»Schuld ist nur der Feminismus«. Antifeminismus und Antigenderismus in der gegenwärtigen Debatte

Rosalind Janssen

Genderarchäologie. Ihre Höhen und Tiefen

Teil II Grundkonzepte von Gender und Religion

Anna-Katharina Höpflinger

Einleitung

Dolores Zoé Bertschinger

Feminismus. Auf dem »religiösen Auge« blind?

Ann Jeffers

Ökofeminismus. Über die Ausbeutung von Frau und Natur

Janet Wootton

Frauenbewegungen in globalen Kontexten. Kritische Auseinandersetzungen mit »Feminismen«

Benedikt Bauer

»Where heaven and hell collide«. Intersektionen, Religion, Diskriminierungen und Potenziale

Claudia Jahnel

Körper und Religion. Jenseits von Somatophobie und Somatophilie

Christian Feichtinger

Neue und alte Denkwege. Masculinity und Religion

Stefanie Knauß

Queer. Das Konzept, das keines ist

Yasmina Foehr-Janssens

»Papa, Mama und die Kinder, das ist natürlich!«. Familienvorstellungen auf der Spur

Teil III Forschungsgeschichten der Religionswissenschaft

Daria Pezzoli-Olgiati

Einleitung

Valeria Ferrari Schiefer

»Sie wurde nach dem Bilde Gottes erschaffen«. Frauenfreundliche theologische Positionen in der frühneuzeitlichen Geschlechterdebatte

Ann Jeffers

»Sapere aude«. Elizabeth Cady Stanton (1815–1902) und die Woman’s Bible

Ulrike Brunotte

Jane Ellen Harrison (1850–1928). Gewendeter Kolonialdiskurs, Material Religion, Ritual und Suffrage

Caroline Widmer

Alexandra David-Néel (1868–1969). Eine Frau, die Grenzen überschreitet

Ansgar Jödicke

Mary Douglas (1921–2007). Symbolsystem und Sozialstruktur

Stefanie Knauß

Heide Göttner-Abendroth (geb. 1941). Eine kritische Vorstellung der Klassikerin der Matriarchatsforschung

Teil IV Gender und Religion in Tradierungsprozessen

Ann Jeffers

Einleitung

Ann Jeffers

Kosmologie und geschlechterspezifische Weltbilder. Beispiele aus der jüdischen Antike

Kristin Weingart

(Gefährliches) Vorbild. Rahab, die glaubenstreue Verführerin

Birgit Heller

Wissen, Weisheit und Geschlecht. Ambivalente Geschlechtskonstruktionen in Hindu-Traditionen

Martin Lehnert

Jenseits der Geschlechterpolarität? Religiöse Aspekte buddhistischer Auffassungen von sexueller Differenz

Bärbel Beinhauer-Köhler

Genderizing Fāṭima? Die Prophetentochter als Rollenmodell

Kocku von Stuckrad

Die Schekhina vom Sohar bis zu Madonna. Oder: Die Weiblichkeit Gottes als Ergebnis gesellschaftlicher Organisation

Theresia Heimerl

Dämoninnen und Vampirinnen. Religionsgeschichte und modern Transformationen

Teil V Gender, Religion und Medien

Marie-Therese Mäder

Einleitung

Susanne Lanwerd

Geschlecht, Religion und Ästhetik. Zur Faszination von Bildergeschichten

Anna-Katharina Höpflinger

»Mehr verschandelt als verwandelt«. Kleidung als Medium religiöser Geschlechterkonstruktion

Marie-Therese Mäder

Jüdin sucht Jude. Differenz und Geschlechterfrage im Dokumentarfilm MATCHMAKER (CH 2005) von Gabrielle Antosiewicz

Stefanie Knauß

Überall und nirgends. Geschlecht und Religion im Spielfilm

Verena Marie Eberhardt

Geschlechterrollen, Religion und Identität in Kinderliteratur. Intersektionale Perspektiven auf Ingrid Kötters Roman Die Kopftuchklasse

Natalie Fritz, Paola von Wyss-Giacosa

Die »Heilige Familie« nach Barilla oder warum jetzt auch die Drag Queen dazu gehört. Zur medialen Inszenierung von Familien- und Genderbildern, Religion und Essen

Baldassare Scolari

Kinder trotz allem. Gender und Religion in filmischen Ökoapokalypsen

Ausklang

Daria Pezzoli-Olgiati

The Handmaid’s Tale. Religion und Gender künstlerisch verdichtet

Autorinnen und Autoren

Einführung

Anna-Katharina Höpflinger, Daria Pezzoli-Olgiati

Gender als Grundkonzept der Religionsforschung

 

Meine Mutter, warum verargst du den lieblichen Sänger,

Dass er mit Liedern uns reizt, wie sie dem Herzen entströmen?

Nicht die Sänger sind die zu beschuldigen, sondern allein Zeus,

Welcher die Meister der Kunst nach seinem Gefallen begeistert.

Zürne denn nicht, weil dieser die Leiden der Danaer singet;

Denn der neuste Gesang erhält von allen Gesängen

Immer das lauteste Lob der aufmerksamen Versammlung,

Sondern stärke vielmehr auch deine Seele, zu hören.

Nicht Odysseus allein verlor den Tag der Zurückkunft

Unter den Troern, es sanken mit ihm viel andere Männer.

Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte,

Spindel und Webstuhl, und treib an beschiedener Arbeit

Deine Mägde zum Fleiß! Die Rede gebühret den Männern

Und vor allem mir; denn mein ist die Herrschaft im Hause!

Staunend kehrte die Mutter zurück in ihre Gemächer

Und erwog im Herzen die kluge Rede des Sohnes.

Als sie nun oben kam mit den Jungfrauen, weinte sie wieder

Ihren trauten Gemahl Odysseus, bis ihr Athene

Sanft mit süßem Schlummer die Augenlieder betaute.

Odyssee I,346–364

Zu Beginn ihres pointierten Essays Women and Power, A Manifesto evoziert die Philologin und Literaturwissenschaftlerin Mary Beard diese Szene aus der Odyssee, einem der unbestrittenen Klassiker der europäischen (Religions-)Geschichte.1 Die britische Autorin möchte damit auf das langjährige Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen im Zugang zu Macht hinweisen und ihre tiefe Verankerung in der Kulturgeschichte illustrieren.

Die Mutter Penelope ist von den Liedern des Barden betrübt und bittet deswegen um eine fröhlichere Art der Unterhaltung. Ihr Sohn, Telemachos, bringt sie zum Schweigen und weist sie in ihre privaten Zimmer zurück. Das Besingen der Heldentaten gebührt den Männern in den öffentlichen Räumen des Hofes, während sich die stille Arbeit mit Spindel und Webstuhl den Frauen geziemt: Kurz und bündig werden die Machtverhältnisse im Hause in Erinnerung gerufen. Die gebrochene Mutter folgt dem Befehl und legt sich weinend ins Bett, bis Athena ihr Ruhe durch den Schlaf beschert. Der Text arbeitet mit eindeutigen, dichotomen Kategorien: Telemachos, Hausherr, Zeus, Öffentlichkeit, Heldentaten, Erinnerung an den Krieg, Singen und Macht stehen auf der einen Seite; Penelope, die treue Ehefrau, Athena, private Räume, Produktion von Textilien, Schweigsamkeit, Erinnerung an den Ehemann, Weinen und Schlaf auf der anderen.

Die erste Fassung vom Handbuch Gender und Religion hat die Instrumente zur Verfügung gestellt, um einen solchen literarischen Text im Hinblick auf die Definition von Geschlecht und den damit verbundenen Rollen sowie die religiöse Legitimierung dieser Dichotomie zu untersuchen. Die vorliegende zweite und erweiterte Fassung ergänzt diesen Zugang mit weiteren Kategorien, die diese Dualismen und die damit vorausgesetzten Generalisierungen thematisieren und kritisch hinterfragen: Ausgewählte Beiträge aus der ersten Auflage wurden gründlich revidiert und aktualisiert; dazu kommen in etwa gleich viele neue Kapitel, die die Themen, Methoden sowie die theoretischen und hermeneutischen Reflexionen des letzten Jahrzehntes aufnehmen. Das Handbuch Gender und Religion wurde in der Erstauflage von 2008 als erstes deutschsprachiges Handbuch aus religionswissenschaftlicher Sicht zu diesem Themenbereich veröffentlicht. Es basierte auf einer Tagung, die 2006 stattfand, und reflektierte über Diskurse bezogen auf ein, damals wie auch heute noch, brandaktuelles Thema. Es war ein Versuch – und auch die erweiterte Neuauflage ist ein solcher – Impulse zu einer genderzentrierten Annäherung an die vielfältigen Felder und Fragen rund um Religion zu geben und zum Nachdenken sowie Weiterforschen anzuregen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wurde und wird nicht erhoben.

In der Einführung zu ihrem 2005 zusammen mit Tina Beattie herausgegebenen Buch Gender, Religion and Diversity beklagt Ursula King zu Recht die damalige Gender-Blindheit der Religionswissenschaft und die Religions-Blindheit der Gender-Studien.2 Seither hat sich jedoch einiges getan, auch im deutschsprachigen Raum: In den Jahren seit der Veröffentlichung der Erstauflage des Handbuchs hat sich die Forschung in diesem Themenfeld erweitert und etabliert. Verschiedene Überblicksdarstellungen, theoretische Reflexionen, aber auch religionshistorische und gegenwartsbezogene Studien zu Gender und Religion sind publiziert worden.3Die Genderforschung interagiert mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskursen und reagiert auf sie. Dies zeigt sich beispielsweise in neueren Beiträgen zu Gender, Religion und Nation und solchen zum Wechselspiel zwischen Migration, Religion und Geschlecht.4 Dennoch muss das Feld, gemessen an der Zentralität von Geschlecht in und für Religion, weiterhin ausgebaut werden.

In Anbetracht der vielfältigen neuen Forschungsimpulse, aber auch der gesellschaftlich-politischen Debatten der letzten Jahre, musste also das Handbuch Gender und Religion gründlich revidiert und erweitert werden. Die vorliegende Einleitung hebt die zentralen Aspekte hervor, die als Basis für das Gerüst dieses neuen Editionsprojektes gedient haben. Leitend war dabei die Frage, wieso Gender ein Grundkonzept der Religionswissenschaft ist und was es leisten kann. Im Folgenden gehen wir in drei Schritten vor: Erstens werden »Gender« und »Religion« als theoretische Konzepte umrissen, zweitens wird ihre Relevanz für die Erforschung von Religionen in Geschichte und Gegenwart diskutiert, und drittens wird auf die Rolle der Wechselbeziehung von Religion und Gender in öffentlich-medialen Diskursen eingegangen.

1 »Gender« und »Religion« als Konzepte der Religionsforschung

Geschlecht ist eng mit anthropologischen Reflexionen verbunden, es geht um die Frage des Menschenbildes und seinen Bezug zu einem bestimmten kulturellen Kontext. Geschlecht ist zunächst verbunden mit einem Körper im Sinne einer physisch-sinnlichen Existenz. Genauso relevant in diesem Zusammenhang ist der Leib, verstanden als subjektiv gespürte und interpretierte Physis, als Reflexion des Individuums über das körperliche Sein.5 Menschen sind in ihrer Körperlichkeit und Leibhaftigkeit soziale Wesen: Zum Physischen und Individuellen tritt also das Sozial-Kollektive als dritte relevante anthropologische Kategorie hinzu. Damit wird ersichtlich, dass Geschlechtskonzepte stets kultur- und zeitspezifisch ausgeformt werden, sie prägen Menschen und ihre Vorstellungen in unterschiedlichen Teilen der Welt verschieden. Global gesehen lässt sich eine große Bandbreite an Geschlechterkonzepten finden: Es gibt Menschen- und Weltbilder, in denen mehrere fluide Geschlechter eine Rolle spielen,6 andere, die durch stark binäre Differenzkonstruktionen gekennzeichnet sind, und dazwischen findet sich eine ganze Bandbreite an Konstellationen.

Geschlecht ist also etwas Körperliches, etwas Leibliches und wird kulturell bestimmt. Gehen wir von dieser Annahme aus, können wir umgekehrt argumentieren, dass soziale Ordnungen auch Ordnungen des Körpers sind.7 Die oben zitierte Szene aus der Odyssee ist ein Beispiel für diese enge Verbindung zwischen körperlichen und sozialen Ordnungen: In der angeführten Passage zeigt sich eine deutliche Trennung von sozialen Räumen für Frauen und für Männer, die verbunden werden mit spezifischen körperlichen Tätigkeiten. Die Frauen spinnen und weben in den Privatgemächern, die Männer feiern und singen in den öffentlich zugänglichen Orten. Die Zuweisung zu diesen unterschiedlich konnotierten Orten reproduziert Machtverhältnisse, wie die Verse, in denen der Sohn über seine Mutter bestimmt, prägnant zum Ausdruck bringen. Soziale Umgangsformen, Gestaltungsmöglichkeiten des Lebens und ordnende Klassifikationen von Orten, Tätigkeiten und Körpern sind also kultur- und zeitspezifisch. Sie sind aber wesentlich für die Frage, wer oder was der Mensch ist und wie das Verhältnis zwischen verschiedenen Geschlechtern zu begreifen sei.

Für die Erfassung und Systematisierung dieser unterschiedlichen Kategorien, die Körper und Kultur zusammenbringen, sind konzeptuelle Reflexionen notwendig. Ein Konzept, das ins Zentrum dieser Fragen zielt, ist Gender. Gender ist dabei keine statische oder »natürlich« festgeschriebene Kategorie, sondern bildet einen offenen Rahmen – mit der Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal gesprochen ein travelling concept – der im Mittelpunkt unterschiedlicher Zugänge, Diskurse und Kontroversen steht.8

Der Terminus »Gender« ist ein Paradebeispiel eines solchen »wandernden Konzeptes«. Der Begriff entstammt der Linguistik. Von dort ist er ab Mitte der 1950er Jahre vom neuseeländischen Psychologen John Money und seinem Team im Zuge von Studien zur Intersexualität in die Psychologie eingeführt worden.9 In der Folge wird Gender in unterschiedlichen Disziplinen mit durchaus verschiedenen Semantiken und Zielen verwendet. Dabei zeigen sich spezifische Kristallisationspunkte der Fragerichtung:10 In feministischen Studien und den women studies wurden und werden androzentrische Sichtweisen aufgedeckt und die Perspektive auch auf Frauen und Kinder ausgeweitet. Damit konnten und können ungleiche Machtverhältnisse dargelegt werden.11 In solchen Zugängen nähert sich Gender Differenzkonstruktionen rund um Frauen an. Die einem solchen Zugang zugrunde liegende Binarität wurde und wird in der Folge jedoch nicht nur in queeren Theorien hinterfragt, sondern auch im globalen Feminismus, der auf intersektionale Verbindungen fokussiert und aufzeigt, dass Frau nicht gleich Frau ist.12 Somit wird Gender zu einer dynamischen Größe, die eng mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Prozessen, seien es Arbeitsbedingungen oder Zugang zu Bildung, zusammenhängt.13

Im Umgang mit Begriffen wie Sex, Geschlecht und Gender können unterschiedliche Spannungsverhältnisse beobachtet werden, die nicht zuletzt von der jeweiligen Sprache abhängig sind. John Money betonte beispielsweise die Spannung von Sex als biologischem Geschlecht und Gender als Geschlechtsverhalten; auf dieser Linie wird in der englischsprachigen Literatur geläufig Sex mit der biologischen Grundlage und Gender mit der sozialen Ausformung des Geschlechts assoziiert.14 Aber auch die Bezeichnung, Beschreibung und Klassifizierung der biologischen Grundlagen sind eine kulturelle Leistung und in diesem Sinne ebenfalls eine gesellschaftliche Konstruktion, ein Argument, das von Judith Butler vertreten wird.15 Im Deutschen artikulieren sich die Gestaltungsmöglichkeiten in der Triangulation von Gender – als Fremdwort –, Geschlecht und Sex. Ob man Gender und Geschlecht als Synonyme setzt oder Gender als Konstruktion von Geschlecht und Sex umreißt, variiert je nach Disziplin, Ansatz und Autor*in stark, auch in Abhängigkeit von der Rezeption der vielfältigen, hier nur konzis rekapitulierten Debatten im angelsächsischen Raum.

Für die Annäherung an diese Themen, die wir in diesem Handbuch vorschlagen, ist es wesentlich zu erkennen, dass Gender oder Geschlecht keine statischen Begriffe sind, sondern tatsächlich travelling concepts, die je nach Perspektive und Kontext anders verhandelt und verstanden sowie unterschiedlich debattiert werden. Gender kann beispielsweise sehr umfassend verwendet werden: Dies wird zum Beispiel ersichtlich in der Rezeption des Ausdrucks doing gender, den die US-amerikanischen Soziolog*innen Candace West und Don H. Zimmerman geprägt haben. Damit fokussieren sie nicht mehr auf die Frage, was Gender ist, sondern auf die Mechanismen der Konstruktion, Verhandlung und Veränderung im Umgang mit Geschlechtsdifferenzen in der Gesellschaft.16

Als Herausgeberinnen tendieren wir dazu, das Fremdwort Gender als Begriff der Theoriebildung in Abgrenzung zu politischen, medialen und/oder emischen Perspektiven zu verwenden. Dabei verstehen wir Gender als ein Konzept, mit dem wir kulturelle Ausprägungen von Körper und Leib im Hinblick auf Geschlechtsdiskurse und Aushandlungen von Geschlecht untersuchen können. Somit nehmen wir mit dem Konzept von Gender komplexe, kulturell verankerte Verflechtungen in den Blick, die für eine Untersuchung von Religion besonders relevant sind, und verzichten bewusst auf dichotome Konstellationen zwischen Gender, Geschlecht und Sex.

Allerdings wurde es aufgrund der unterschiedlichen Zugänge, Definitionen und Verwendung von Gender, Geschlecht und Sex, die nach- und nebeneinander existieren, in diesem Projekt den Autor*innen überlassen, ihr eigenes Verständnis dieser Konzepte einzubringen. Auch auf der formalen Ebene, die unserer Meinung nach stark mit der konzeptuellen verwoben ist, haben wir den Beitragenden die Herangehensweise an eine gendergerechte Sprache offengelassen. Die einzelnen Beiträge nähern sich also Geschlecht und Religion unterschiedlich und präsentieren somit in ihrer Gesamtheit eine aufschlussreiche Spannbreite von Zugängen. Diese Breite aufzuzeigen, ist eines der Ziele des Handbuchs.

In die gleiche Richtung bewegen wir uns mit dem zweiten, zentralen wandernden Konzept des Handbuchs: Religion. Das anfängliche Zitat ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die Odyssee ist ein über die Jahrtausende – eben auch in Mary Beards Manifesto – rezipiertes Buch. Sie vermittelt Vorstellungen und Erwartungen an Mensch und Umwelt, die je nach Zeit und Kontext neu interpretiert werden und doch von einem Entstehungskontext geprägt sind. In den angeführten Zeilen wird nicht nur eine spezifische Geschlechterordnung, sondern auch ein bestimmtes religiöses Weltbild vertreten. Dabei werden immanente und transzendente Dimensionen einerseits unterschieden – der Text setzt eine Trennung zwischen Gottheiten- und Menschenwelt voraus – und andererseits in Verbindung gebracht. Telemachos weist Penelope zurecht und sieht Zeus auf seiner männlichen Seite, während Athena der trauernden Mutter einen süßen Schlaf beschert.

Ein Transzendenzbezug ist maßgebend für die hier vertretene Annäherung an Religion und unterscheidet religiöse Symbolsysteme von anderen kulturellen Bereichen. Religion formt die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz, gibt dieser unscharfen Grenze eine Gestalt und vermittelt damit Ordnung und Sinn, die auch Geschlechterverhältnisse prägen. In dieser Orientierungsfunktion wurzeln Werte und Normen, die internalisiert, verhandelt, weitergegeben und transformiert werden. Mit einer beschreibenden und normativen Orientierungsleistung von Religion sind stets Machtverhältnisse gekoppelt: Religionen konstituieren Hierarchien und verfügen über autoritative Strukturen, die einerseits die jeweilige Bestimmung von Geschlecht prägen und andererseits davon beeinflusst sind. Religion als umfassendes Symbolsystem modelliert und legitimiert nachhaltig Differenzprozesse in den verschiedensten gesellschaftlichen Institutionen und Bereichen. Wie die Beiträge in diesem Band eindrücklich aufzeigen, sind religiöse Symbolsysteme grundlegend in der Aushandlung von Geschlechtsbestimmungen, -rollen, -zuordnungen und -funktionen. Dabei spielt Religion nicht nur eine Rolle in der Reiteration von Machtstrukturen, sondern auch in Transformations- und Subversionsprozessen. Auf diesen dynamischen Relationen gründen religiöse Identitäten, die in der Spannung zwischen Gemeinschaft und Individuum artikuliert werden. Religiöse individuelle Praxis findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie rezipiert, reproduziert oder hinterfragt Geschlechtervorstellungen und -regulierungen. Umgekehrt sind religiöse Gemeinschaften nicht unveränderliche, statische Größen, sondern Gruppen von Menschen mit einem Körper, einem Leib und damit auch einem Geschlecht. Menschen in ihrer Geschlechtlichkeit leben Religion, sie reflektieren sie, reproduzieren Narrative und Motive, aber auch Normen und Werte oder brechen sie. Religiöse Identität kann nicht von Genderidentität gelöst werden. Religionen als historische, phänomenologische Größen sind also eng mit spezifischen kulturellen Kontexten und deren Perspektiven auf Mensch und Welt verbunden. Wir gehen von einem kulturwissenschaftlichen Verständnis von Religion aus und verstehen sie als Teil von Kultur: Religion wird als komplexes und intermediales Kommunikationssystem umrissen, das die Welt symbolisch ordnet und damit Orientierung formt.17

Was der Mensch ist, wie sein Geschlecht sich auf alle immanenten und transzendenten Beziehungen, die das Leben ausmachen, auswirkt, gehört zu den fundamentalsten Fragen von Religion. Diese Dimensionen von Religion als Symbolsystem, ihre Medialität, ihre Weltbilder, Transzendenzkonzepte, Normativitätsvorstellungen, Tradierungsmechanismen und Identifikationsprozesse bilden die Leitlinien des vorliegenden Handbuchs.18

2 Gender als grundlegende Dimension religiöser Symbolsysteme

Gendervorstellungen und -rollen sind mit der Grundfrage der Anthropologie verbunden und werden also im Zusammenspiel mit vielfältigen Dimensionen von Religion geformt. Grundlegend für das Verhältnis von Religion und Gender sind zunächst die subjektive Wahrnehmung der Welt und die Interaktion mit einem vis-à-vis: Menschen nehmen die Welt wahr, sie verorten sich als Körper im Raum, sie kategorisieren und kommunizieren diese Wahrnehmungen durch unterschiedliche Medien wie mündliche Sprache, Texte, Bilder, Handlungen, sie systematisieren sie nach bestimmten Konzepten und formen durch diese und in diesen Prozessen Wirklichkeit.19 Teil dieser Wirklichkeitskonstruktionen sind auch Gendervorstellungen und Geschlechterrollen. Da diese oft mit existenziellen Fragen rund um Körper und Sein verknüpft sind, nehmen Geschlechterdifferenzierungen – und davon zeugen die Artikel im vorliegenden Handbuch – in zahlreichen religiösen Symbolsystemen eine zentrale Bedeutung ein. Gendervorstellungen können die basale Struktur religiöser Praktiken formen und religiöse Weltbilder prägen. Religionen können Genderhierarchien begründen und legitimieren, sie können beispielsweise durch Mythologien oder Kosmologien Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklären und erhärten. Religionen ermöglichen es aber auch, Geschlechterdifferenzen zu hinterfragen, zu nivellieren oder zu brechen. Dabei bieten Religionen, auch in stark binären und heteronormativen Geschlechtersystemen, oft beides: Einerseits werden Erhärtungen von Geschlechtsdifferenz propagiert, andererseits werden sie unscharf gemacht, kritisiert und verändert. Aushandlungen von Geschlechterbestimmungen spiegeln die Auseinandersetzung von dominanten und marginalisierten Machtdiskursen wider. Diesbezüglich stellen die biblischen Schöpfungsberichte im Genesisbuch ein eindrückliches Beispiel dar. Diese Narrative wurden im Laufe von Tausenden von Jahren in der Legitimierung und Delegitimierung theologischer Begründungen von Machtverhältnissen aufgenommen, debattiert, verfremdet. Diese Auseinandersetungen mit dem biblischen Mythos und seine Verwendung in der Bestimmung der Geschlechter und ihres gegenseitigen Verhältnisses, die ganze Bibliotheken füllt, ist heute noch voll im Gang. In europäischen Religions- und Kulturgeschichten wurden diese Narrative von Adam und Eva verwendet, sowohl um die ontologische Sündhaftigkeit der Frau zu propagieren und ihre Unterwerfung unter den Mann zu untermauern, als auch um die Gleichwertigkeit der beiden Geschlechter darzulegen.20

An diesem Beispiel können drei Prozesse, die für einen Blick auf Gender als Dimension religiöser Symbolsysteme bedeutsam sind, verdeutlicht werden:

Erstens, Gendervorstellungen können nicht losgelöst von Traditionslinien betrachtet werden. Religionen interagieren mit Geschlechterordnungen nicht nur innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft, sondern auch über die Zeit hinweg: Religionen wie auch Gendervorstellungen unterliegen Tradierungs- sowie Diffusionsprozessen. Sie prägen die Weitergabe von religiösem Wissen, religiösen Praktiken und Vorstellungen; sie brechen sie und formen sie neu. Eine diachrone Vermittlung, gerade bezüglich Gender, geschieht manchmal auch über Religionsgrenzen hinweg. So haben beispielsweise antike griechische Vorstellungen wie sie im Odyssee-Zitat vorzufinden sind, die christliche Religionsgeschichte mitgeprägt. Religionen erschaffen bezüglich Gender in ihren synchronen und diachronen Ausprägungen ein komplexes Netzwerk, das in ständiger Aushandlung und Transformation ist. Gendervorstellungen und Geschlechterrollen verändern sich also entlang religiöser Traditionen.

Zweitens formen sich Gendervorstellungen in Religionen durch unterschiedliche Medien aus: Das oben genannte Narrativ von Eva und Adam wurde in der europäischen Religionsgeschichte so bedeutsam, weil es in einem heiligen Text präsentiert wird, aber auch, weil es in unterschiedlichsten medialen Formen bis heute immer wieder rezipiert wird. Textkommentare, Bilder, Filme, Werbung, Romane, Internetblogs und viele weitere Kommunikationsformen nehmen es auf, wiederholen und popularisieren es – und zwar so stark, dass heute ein Apfel (der wohlgemerkt in Genesis 3 gar nicht vorkommt) genügt, um Referenzen auf dieses Narrativ auszulösen.21Bestimmte Gendervorstellungen werden dabei redundant repräsentiert und formen Werte und Normen aus, die wiederum Identifikationsmechanismen von Gemeinschaften und Individuen auslösen können – und umgekehrt.22 Die Relation von Religion und Gender tangiert also im Zusammenspiel zwischen Medialität und Körper Ebenen der Produktion von Genderwissen, der Rezeption solcher Vorstellungen in synchroner und diachroner Perspektive, der Repräsentation und Inszenierung von Gender, der Normativität sowie die Dimension von Identität.23

Drittens spielt für Religion und Gender die Selbstreflexion innerhalb religiöser Gemeinschaften eine zentrale Rolle. Wiederum ist das biblische Narrativ von der Erschaffung des Menschen als Frau und Mann ein aufschlussreiches Beispiel dafür. Denn dieser Text wurde in verschiedenen Positionen und religiösen Traditionen verwendet, um Gendervorstellungen zu legitimieren oder zu hinterfragen. Die Selbstreflexion führt zu theologischen, aber auch zu politischen Überlegungen und zu Aktivismus. Klassikerinnen der Religionswissenschaft wie Elizabeth Cady Stanton sind ein prägnantes Beispiel für eine solche Veränderung, die durch ein kritisches Nachdenken und eine frauenspezifische Aneignung der biblischen Narrative angestoßen wird.24 Wissenschaftliche Konzepte entstehen aus diesen Reflexionen und formen sich durch sie weiter aus.

3 Gender und Religion als Gegenstand öffentlicher Debatten

Gendervorstellungen und -rollen sind also eng vernetzt mit religiösen Menschen- und Weltbildern. Sie wandeln sich mit der Transformation in religiösen Traditionen, sie breiten sich mit religiösen Gemeinschaften aus und regulieren Genderbilder auch in der heutigen, säkularisierten und pluralisierten Gesellschaft. Genderfragen waren und sind integraler Bestandteil gesellschaftlich-politischer Debatten: Das Frauenwahlrecht, der Zugang von Frauen zu Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, die Rolle der Frau in Familie und Arbeitswelt, die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper, der Kampf gegen sexuelle Übergriffe in ihrer ganzen Bandbreit (die #metoo-Kampagne ist hier zu nennen) sind nur einige der Diskussionsthemen, die seit der frühen Neuzeit verschiedene Länder, und zwar nicht nur der Nordhalbkugel, prägten. Feministische Bewegungen erlangten eine wichtige Bedeutung in diesen Emanzipationsbestrebungen.

Aufschlussreich für unseren Blick ist dabei die Rolle von Religion: Religion spielt bei zahlreichen Debatten um Gender eine maßgebende Rolle. Bei gesellschaftlichpolitischen Diskussionen beispielweise über Verhüllung (die am Körper von Frauen ausgeführt werden), über weibliche Genitalverstümmelung oder über das Priesteramt für Frauen in der römisch-katholischen Kirche geht es um Debatten über die Rolle von religiösen Traditionen im Umgang mit dem weiblichen Körper und der Frau. Religiöse Argumente können aber auch als Grundlage dienen, um gegen Emanzipationsbewegungen zu kämpfen: antifeministische und antigenderistische Bewegungen oder LGBTIQ+-feindliche Positionen zeigen dies deutlich auf. Gleichzeitig können religiöse Positionen jedoch auch Emanzipationsbestrebungen unterstützen, wie beispielsweise im globalen Feminismus, der religiös geprägt sein kann.25

Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, dass das Wechselspiel zwischen Religion und Gender die Welt verändernde gesellschaftlich-politische Debatten angestoßen hat und noch immer anstößt. Solche Debatten transformieren einerseits die religiösen Gemeinschaften selbst, die sich in diesen Diskursen positionieren und gegen Kritiken – entweder gegen den Vorwurf des Konservativismus oder der normativen Verwässerung – antreten müssen, die aber auch in sich plural sind, neue Sichtweisen in sich aufnehmen oder sich erweitern. Denn religiöse Gemeinschaften befinden sich in einem steten Wandel, der in Interaktion mit gesellschaftlich-politischen und den kulturellen Debatten betrachtet werden muss.

Andererseits haben solche Diskurse bezüglich Gender und Religion maßgebenden Einfluss auf gesellschaftliche Ansichten und Grundlagen: Sie beeinflussen die politischen Meinungsbildungen und Gesetzeswerke; sie tangieren medizinische Diskurse und das alltägliche soziale Zusammenleben. Und nicht zuletzt verändern diese Debatten die medialen Repräsentationen von Frau, Mann und anderen Geschlechtern.26 Die »Macht« der Medien – und auch der Unterhaltungskultur – darf für gesellschaftliche Debatten über Gender und Religion nicht unterschätzt werden. Mediale Diskurse formen alltägliches Wissen über Gender und bilden »Repräsentationsregime«, die durch Reiteration und Verbreitung von Stereotypen Vorstellungen und Praktiken prägen.27

Diese Relevanz des Zusammenspiels von Gender und Religion für öffentliche, politische und mediale Debatten, die wir hier nur mit wenigen Beispielen illustriert haben, hat für eine wissenschaftliche Beschäftigung verschiedene Implikationen, von denen wir zwei betonen möchten:

Erstens sind wir auch als Fachleute in einen sozialen Genderdiskurs und ein Genderregime eingebettet. Wir sind also als Lehrende und Forschende immer Teil dieser öffentlichen Debatten über Gender und Religion, sie prägen uns im Alltag und im Berufsleben maßgebend mit. Sie formen unsere Forschungsfelder und ermöglichen aufgrund ihrer Aktualität Finanzierungen von Projekten.

Zweitens versuchen wir, trotz aller Verfangenheit in Genderrollen, als Wissenschaftler*innen auch Distanz zu diesem Forschungsfeld zu generieren. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass wir ein metasprachliches Instrumentarium entwickeln und zur Verfügung stellen, um solche öffentlichen Debatten aufzugreifen. Ein solches Instrumentarium sollte geeignet sein, um synchrone und diachrone Prozesse zu erfassen, es erklärt Verbindungen zwischen historischen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen und Unsicherheiten. Des Weiteren hilft es, Zugänge zu Geschlechterfragen zeit- und kulturgeschichtlich zu kontextualisieren. Solche metasprachlichen Konzepte können dann wiederum Mittelpunkt öffentlicher Debatten werden, wie es beim Begriff »Gender«, zum Beispiel im Antigenderismus, geschehen ist.28 Damit wird Wissenschaft selbst wieder Teil dieser gesellschaftlichen Diskurse. Sie oszilliert zwischen Nähe und Distanz und sucht nach Reflexionsmöglichkeiten der eigenen Vorannahmen und Zugänge.

4 Inhalte und Aufbau des Handbuchs

In dieser Einleitung haben wir drei Dimensionen des Verhältnisses von Gender und Religion als wissenschaftliche Konzepte überblicksmäßig vorgestellt: die theoretische Dimension und ihre Verbindungen zu einer kulturwissenschaftlichen Annäherung an Religion; die Relevanz dieser Art von konzeptuellen Reflexionen für die Erforschung von religiösen Symbolsystemen, Gemeinschaften und Traditionen in unterschiedlichen Epochen und gesellschaftlichen Konstellationen, und schließlich wurde auf die enge Verbindung mit politischen und medialen Debatten hingewiesen. Die Komplexität der Erforschung von Geschlechtsbestimmungen, -rollen, -wertungen und ihrer Transformationen ergibt sich nicht zuletzt aus dieser Verflechtung von wissenschaftlichen, empirischen und öffentlichen Annäherungen an das Verhältnis von Gender und Religion und aus den vielfältigen, kontroversen und divergierenden Sichtweisen, die die involvierten Subjekte in diese verflochtene Konstellation einbringen.

Dieser Band kann diese Vielfalt nicht abdecken, sondern möchte mögliche Verfahren aufzeigen und mit relevanten Fallstudien dazu motivieren, sich in der Religionsforschung intensiv mit Gender zu beschäftigen. Die Beiträge folgen ausgewählten Leitfragen, die zu Beginn jedes Teils in einem einleitenden Text vorgestellt werden.

Wir steigen mit hermeneutischen Fragen der Religionsforschung ein und thematisieren die notwendige (selbst-)kritische Reflexion des Standpunktes, aus dem eine Analyse der Wechselwirkung von Gender und Religion betrieben wird. Es folgt die Auseinandersetzung mit Schlüsselkonzepten der Religionsforschung, die für das Verhältnis von Religion und Gender weiterführend sind. Im dritten, forschungshistorischen Teil werden ausgewählte Klassikerinnen der Erforschung von Religion mit Fokus auf den sozio-politischen und intellektuellen Kontext, in dem sie gewirkt haben, vorgestellt. Fallbeispiele aus unterschiedlichen religiösen Traditionen und Kulturen prägen die letzten zwei Teile des Handbuchs. Im vierten Teil ist die Aufmerksamkeit auf Tradierungsprozesse gerichtet, in denen das Verhältnis der Geschlechter artikuliert ist, während im fünften Teil das Augenmerk auf der Medialität von Religion und Mediatisierungsprozessen liegt. Das Buch wird mit einem Beitrag geschlossen, in dem Erkenntnisse aus allen fünf Teilen verbunden werden, um ein multimediales Werk zu untersuchen. Das von Margaret Atwood inspirierte dystopische Narrativ The Handmaid’s Tale inszeniert künstlerisch eine einzigartige Wechselwirkung von Gender und Religion – beide als wissenschaftliche, mediale und emische Konzepte verstanden. Die Religion in diesem Werk der speculative fiction bietet einen Rückblick auf die Religionsgeschichte, verbunden mit einer Reflexion über unsere Zeit und über Zukunftsszenarien, die Bedrohung und Hoffnung auf erstaunliche Weise verbinden.

Literatur

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1 Beard (2017), 3–5. Das Zitat übernimmt die Übertragung von Voß (2002), 450.

2 King (2005), 1–2.

3 Hier nur einige ausgewählte Studien seit der Veröffentlichung der Erstauflage des Handbuchs: Lanwerd/Moser (2010); Dahinden/Höpflinger/Lavanchy (2012); Elsas/Franke/Standhartinger (2014); Stollberg-Rilinger (2014); Knauß/Pezzoli-Olgiati (2015); Benthaus-Apel/Grenz/Eufinger/Schöll/Brücker (2017); Sammet/Benthaus-Apel/Gärtner (2017); Breitenbach/Rieske/Toppe (2019); Behrensen/Heimbach-Steins/Hennig (2019); Kulaçatan/Behr (2020).

4 Neuere deutschsprachige Studien zu Migration, Religion, Gender bieten beispielsweise: Dennerlein/Frietsch (2011); Kulaçatan/Behr (2020); Breitenbach/Rieske/Toppe (2019); zu Gender, Nation und Religion: Behrensen/Heimbach-Steins/Hennig (2019).

5 Zu den verschiedenen Konzepten von Körper und Leib siehe: Schaufler (2002), v.a. 15–77; für Körper, Leib und Geschlecht: Schaufler (2002), 79–112.

6 Beispiele dazu findet man u. a. in Rösing (2013).

7 Diese Perspektive ist geprägt von den Studien von Foucault, bahnbrechend waren diesbezüglich u. a. seine Untersuchungen des Wahnsinns von 1961 und seine Gefängnisstudie von 1975, siehe Foucault (2013) und (2017).

8 Mieke Bal (2002) versteht unter travelling concepts Konzepte, die zwischen Disziplinen, aber auch zwischen Diskursen, Zeiten und Kulturen wandern. Konzepte werden also in ihrer Prozessualität und Transformation untersucht.

9 Zunächst als gender role und gender identity. Siehe zu dieser Entwicklung Udry (1994), 561.

10 Siehe dazu Davis-Sulikowski/Diemberger/Gingrich/Helbling (2001).

11 Zum Beispiel MacCormack/Strathern (1980).

12 Dazu Crenshaw (1994) oder Auga/Guđmarsdóttir/Knauß/Martínez Cano (2014).

13 Siquans/Mulder/Carbonell Ortiz (2020).

14 Udry (1994), 561; West/Zimmerman (1987), 125–127.

15 Butler (1990).

16 West/Zimmerman (1987).

17 Siehe dazu z. B. Geertz (2003), 48; Stolz (2001), 33; Kippenberg/von Stuckrad (2003); Gladigow (2005).

18 Diese Kategorien haben wir bezüglich sichtbarer Religion untersucht. Siehe Fritz/Höpflinger/Knauß/Mäder/Pezzoli-Olgiati (2018).

19 Berger/Luckmann (1984).

20 Siehe Ferrari Schiefer (1998) und ihren Beitrag im vorliegenden Handbuch.

21 Siehe dazu Knauß (2015).

22 Siehe dazu mit Fokus auf sichtbare Religion: Fritz/Höpflinger/Knauß/Mäder/Pezzoli-Olgiati (2018).

23 Das Zusammenspiel der Ebenen Produktion, Rezeption, Repräsentation, Identität und Regulierung wurde ausgearbeitet von Stuart Hall und seinen Mitarbeitenden und visualisiert im sogenannten circuit of culture, einem Modell zur Erfassung kultureller Bedeutungsgenerierung, siehe DuGay/Hall/Janes/Mackay/Negus (1997).

24 Siehe den Beitrag von Ann Jeffers zu dieser »Klassikerin der Religionswissenschaft« im vorliegenden Handbuch.

25 Siehe den Beitrag von Janet Wootton zu globalem Feminismus im vorliegenden Handbuch.

26 Siehe Fritz/Höpflinger/Knauß/Mäder/Pezzoli-Olgiati (2018).

27 Der Begriff »Repräsentationsregime« (regime of representation) ist hier im Sinne von Stuart Hall (1997), 232 verwendet. Zu der Macht der Medien siehe die Beiträge in Teil V des vorliegenden Handbuchs.

28 Siehe den Beitrag von Kristina Göthling-Zimpel zu Antigenderismus im vorliegenden Handbuch.

Teil IReligionswissenschaft als Vermittlung von Weltbildern

Pierre Bühler

Einleitung

Sobald von Vermittlung die Rede ist, muss berücksichtigt werden, dass eine solche Vermittlung immer nur in einem ganz bestimmten Kontext Sinn macht. Auf diese Kontextbedingtheit hat ganz besonders und mit Nachdruck die Hermeneutik als Theorie der Auslegung und des Verstehens aufmerksam gemacht. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Definition der Religionswissenschaft als »Vermittlung von Weltbildern« in ihr das hermeneutische Moment hervorhebt, und um diesen hermeneutischen Aspekt soll es hier gehen. Alle vier Aufsätze, die diesen ersten Teil des Handbuchs ausmachen, enthalten denn auch, wie mir scheint, klare Ansätze zu einer hermeneutischen Reflexion der Religionswissenschaft.

Sowohl die philosophische als auch die theologische Hermeneutik haben sich intensiv mit dem Thema der Weltbilder, oder vielleicht üblicher in der Terminologie der hermeneutischen Tradition: mit dem Thema der Weltanschauungen, auseinandergesetzt. Dies kann ganz einfach bei Rudolf Bultmann belegt werden: Für seine Hermeneutik spielt das Thema der Weltanschauung eine entscheidende Rolle, auch in seinem Versuch, das Urchristentum religionsgeschichtlich in die antike Welt einzuordnen (eine neuere Beschäftigung dazu findet sich in Christian Berners Buch Qu’est-ce qu’une conception du monde?). Dabei setzt sich die Hermeneutik kritisch mit der Geschichtsvergessenheit der traditionellen Metaphysik auseinander, die ihre Weltanschauung als geschichtslose, objektive Wahrheit vertrat, ohne zu berücksichtigen, dass diese immer schon historisch und gesellschaftlich vermittelt ist. Die Hermeneutik hingegen betont die Geschichtlichkeit der Weltbilder oder Weltanschauungen und deshalb auch ihre Relativität, ihre Veränderlichkeit und dadurch ihre Interpretierbarkeit. Bultmanns heftig diskutiertes Programm der Entmythologisierung versucht über die Geschichtlichkeit der Weltbilder in Hinsicht auf unseren Umgang mit den biblischen Texten Rechenschaft abzulegen.

Wie steht es nun aber in Hinsicht auf »die Religionswissenschaft als Vermittlung von Weltbildern«? Könnte es sein, dass auch hier manchmal die Vermittlung als »blinder Fleck« behandelt wird, Weltbilder also auch objektiviert, als unmittelbare Wahrheit betrachtet werden? Zunächst muss hier zwischen der Religion selbst und der Religionswissenschaft unterschieden werden. Es ist klar, dass Religionen auf vielfältige Weise Weltbilder entwickeln und deren Vermittlung auch sehr unterschiedlich auffassen. Aufgabe der Religionswissenschaft wäre es dann, auf solche »Weltbilder der Religionen«, wie es beispielsweise der Religionswissenschaftler Fritz Stolz in seinem gleichnamigen Buch von 2001 formuliert, aufmerksam zu machen und sie also in diesem Sinne zu vermitteln. »Vermittlung« könnte hier also im Sinne von »Bekanntmachen, Auslegen« verstanden werden. Auf einer Metaebene gibt es aber noch ein anderes Vermitteln von Weltbildern in der Religionswissenschaft, das dieses Handbuch kritisch reflektieren will: das Vermitteln von Weltbildern, die sich mit den methodischen Voraussetzungen der Disziplin verbinden. Diese methodischen, epistemologischen Weltbilder können sich dann auch auf die Wahrnehmung der religiösen Weltbilder auswirken. Kritische Stimmen sagen sogar: Je weniger bewusst sie reflektiert werden, je stärker können sie sich auswirken!

Achtet man auf die Vermittlung dieser Weltbilder oder -anschauungen, wie es die Hermeneutik wünscht, stellt sich unmittelbar das Gefühl einer starken Ambivalenz ein. Weltbilder können sehr unterschiedlich wirken, erklärend oder verdunkelnd, befreiend oder erdrückend, öffnend oder verschließend. Paul Ricœur hat in seinem Werk L’idéologie et l’utopie von 1997 versucht, diese Ambivalenz mit dem Gegensatz von Ideologie und Utopie zu reflektieren: Ideologisch – hier im positiven Sinne zu verstehen – ist ein Weltbild, wenn es den gegebenen Zustand bestätigend aufnimmt und rechtfertigt, warum er so sein soll, wie er ist; utopisch hingegen ist ein Weltbild, das den gegebenen Zustand hinterfragt und subversiv eine Gegenwelt entwickelt.

Diese Polarität von bestätigenden und brechenden Weltbildern ließe sich leicht im Bereich der Religionen beobachten. Im vorliegenden Band wird diese Ambivalenz in den religionswissenschaftlich vermittelten Weltbildern zu thematisieren sein, und zwar indem die Gender-Perspektive als kritischer Maßstab angelegt wird. Es gehört zur Kontextbedingtheit der Hermeneutik, dass sie die Gender-Thematik noch relativ wenig aufgenommen hat. Eine bedeutende Ausnahme bildet die Hermeneutik, wie sie in den feministischen Theologien entwickelt wurde. Ein Beispiel hierfür wären ein Aufsatz mit dem Titel Die Bibel verstehen, den ich zusammen mit Elisabeth Schüssler Fiorenza veröffentlich habe, oder im religionswissenschaftlichen Kontext der Beitrag von Erin White von 1995 mit dem Titel Religion and the Hermeneutics of Gender.

In diesem Handbuch wird sie bewusst thematisiert, und zwar in diesem ersten Teil als hermeneutische Frage: Welches Licht wird auf die Weltbilder der Religionswissenschaft und deren Vermittlung geworfen, wenn man stärker, bewusster auf die Geschlechterdifferenz achtet? Welche dieser Weltbilder wirken ideologisch und welche utopisch? Wie löst man sich von erstarrten, einengenden Gender-Auffassungen? Wie entwirft man in Hinsicht auf religionswissenschaftliche Wahrnehmung der Gender-Thematik inspirierende Gegenwelten? An solchen Fragen arbeiten unsere vier Texte.

Ursula King steigt bei der Beobachtung ein, dass die Entdeckung der Gender-Perspektive einen radikalen Paradigmenwechsel in den Geistes- und Sozialwissenschaften ausgelöst hat, der sich nun, wenn auch verspätet, ebenfalls in der Religionswissenschaft breit auswirkt. Wie sich das auswirkt, wird unter drei Gesichtspunkten erörtert: die Frage nach den geschlechtsspezifischen Rollen, welche die Religionen in ihrer institutionellen Ausgestaltung Frauen und Männern zuweisen; die Frage danach, wie sich die Geschlechterdifferenz in der Symbolik und Metaphorik des religiösen Denkens und der religiösen Sprache niederschlägt; und schließlich die Frage, ob und wie in der religiösen Erfahrung geschlechtliche Spezifizierungen wahrnehmbar werden.

Daran anschließend macht U. King auf ein neues, heute stark bearbeitetes Gebiet aufmerksam, das der Spiritualität. Auf das prägnante Gendering the Spirit, das Durre S. Ahmed als Titel für ihr Buch von 2002 gewählt hat, anspielend, betont sie, dass die noch zu wenig beachtete Gender-Dimension zu einer neuen Bestimmung des Umgangs mit Geist und Transzendenz führt. So ist etwa zu beobachten, dass der Zugang zur Lese- und Schreibfähigkeit, zur »Literalität« (literacy), der den Frauen jahrhundertelang vorenthalten wurde, die Spiritualität stark verändert. Die Spannung zwischen Literalität und Oralität hat genderspezifische Aspekte, und der Durchbruch zu einem unabhängigen Lesen und Interpretieren der kanonischen Texte und zur Aneignung von Wissen über Religion ist für die Frauen als soziale Gruppe eine späte, auch jetzt noch nicht weltweit erreichte Errungenschaft (was Frau King mit verschiedenen Beispielen aus unterschiedlichen Erdteilen illustriert). Abschließend schlägt Ursula King vor, in diesem Sinne von einer »spirituellen Literalität« (spiritual literacy) zu sprechen, als Bezeichnung für einen neu zu entdeckenden Forschungszweig.

Einen anderen Weg geht Daria Pezzoli-Olgiati in ihrem Aufsatz: Einsteigend bei der berühmten Frage von Schneewittchens Stiefmutter: »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«, thematisiert sie die Optik der Religionswissenschaft, das heißt die optischen Hilfsmittel, die sie zum Betrachten ihres Gegenstandes braucht: »Brillen, Spiegel und Spiegelungen«. Im Unterschied zur Märchengestalt verfügt die Religionswissenschaft über keinen Spiegel, der einfach die Wahrheit sagt, obschon das vielleicht lange das Ideal der Disziplin war, das Ideal einer möglichst präzisen und objektiven Beschreibung bestimmter religiöser Sachverhalte. Doch die Autorin geht gerade davon aus, dass dieses Ideal in einer radikalen Krise steckt: Die hermeneutische und postmoderne Reflexion hinterfragt die Idee einer unbeteiligten, unparteiischen Distanz; zugleich setzen die gesellschaftlich-politischen Erwartungen die Religionswissenschaft unter Druck, sodass sie sich nicht mehr in einem Elfenbeinturm verschanzen kann.

Auch die Entdeckung der Gender-Thematik hat dazu beigetragen, dass man vermehrt darauf achtete, wie stark die Religionswissenschaft mit optischen Hilfsmitteln arbeitet. Das klassische Ideal einer objektiven Sicht wurde denn auch in diesem Kontext »als typisch androzentrisch entlarvt«, in Hinsicht sowohl auf die Ausblendung der Frauen in der Geschichte der Disziplin als auch auf eine gewisse Geschlechterblindheit in der empirischen Erforschung von religiösen Gemeinschaften.

In ihrem letzten Abschnitt schlägt die Autorin vor, das Dilemma aus einer wissenschaftsethischen und hermeneutischen Perspektive anzugehen, indem der Standpunkt, die Vorverständnisse, die Werte und Normen, welche die wissenschaftliche Einstellung regeln, kritisch reflektiert werden. Solche Regulierungen müssten, so die Autorin, in einer academic community ausgehandelt werden. Damit werden entscheidende methodische Spannungen thematisiert, die sonst nicht bewusst wahrgenommen werden.

Unter dem Titel Schuld ist nur der Feminismus befasst sich Kristina Göthling-Zimpel intensiv mit dem Phänomen des Antifeminismus. Sie beschreibt seine unterschiedlichen Facetten und untersucht die Faktoren, die es dieser heftigen Gegenbewegung erlauben, sich als eine Weltsicht zu etablieren. In Hinsicht auf die in den Gender Studies erforschte Genderfrage führt er zu einem Antigenderismus: Gender wird als Genderideologie abgestempelt. Einen besonderen Fokus legt die Autorin auf die Verbindung mit der Religion, aber immer eingebettet in die breitere gesellschaftliche Dimension. In diesem Sinne unterscheidet sie vor allem drei Spektren, aus denen heraus Antigenderismus, in Europa wie auch in den USA, betrieben wird: die Männerrechtsbewegung, die fundamental-christlichen Kreise und der politische Rechtspopulismus.

Im Weiteren unterscheidet sie in Anlehnung an einen Artikel von Brigit Sauer mit dem Titel Anti-feministische Mobilisierung in Europa sechs Argumentationsmuster, die ins Spiel gebracht werden: die als von Natur gegeben erklärte Zweigeschlechtlichkeit (religiös begründet im römisch-katholischen Konservatismus wie auch in evangelikalen Kreisen); der Schutz der heterosexuellen Kleinfamilie, Keimzelle des Staates; das Kindeswohl im Elternrecht und in der Sexualerziehung; die Enthüllung von Gender als Genderideologie; eine religiös begründete, kolonialistische Gegenüberstellung von emanzipiertem Okzident und rückschrittlichem Orient; und schließlich ein gegen das Universitäre gerichteter Anti-Intellektualismus.

Nachdem K. Göthling-Zimpel gezeigt hat, wie sich dieser Antigenderismus dank Internet und in heftiger Reaktion auf Hashtags wie #aufschrei, #MeToo und #TimesUp, aber auch in Verbindung mit Phänomenen der »Mannosphäre« wie etwa die Vormachtstellung des Weißen Mannes, hat ausdehnen können, konzentriert sie sich auf die »Intersektionen von Religion, Gender und Race«. Das heißt: Sie zeigt auf, wie sich der Antifeminismus mit Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie verbindet und damit zum Vermittler von konservativen religiösen Normen wird.

Mit dem vierten Beitrag, Rosalind Janssens Darstellung der Höhen und Tiefen der Genderarchäologie, verändert sich die Perspektive nochmals. Es geht der Autorin darum, aufzuweisen, wie sich im Bereich der Archäologie das Interesse für Genderfragen trotz Widerständen progressiv durchgesetzt und dauerhaft etabliert hat. Aufgrund von drei Fallstudien wird das in zwei Richtungen entfaltet: Einerseits soll damit in den archäologisch erforschten Zeiten die patriarchale Vorherrschaft infrage gestellt und den oft stimmlos gebliebenen Frauen eine Stimme verliehen werden; andererseits gilt es, auch die Rolle der Frauen und die Bedeutung der Genderfrage in der Archäologie selbst als Disziplin hervorzuheben (etwa durch Verbesserung der Berichterstattung über Archäologinnen). Zugleich lässt sich beobachten, dass die neuere Genderarchäologie nicht mehr ausschließlich die Rollen und den Status von Frauen betont, sondern eine breitere Perspektive einnimmt, die eine »Einbeziehung von Frauen, Männern und anderen Geschlechtern in einen einzigen Untersuchungsrahmen« erlaubt, um ein Zitat von Elizabeth Brumfiel aus ihrer Studie von 2006 anzuführen.

Genderarchäologie setzt ihren Fokus auf Objekte, die mit Frauen verbunden sind, etwa in Hinsicht auf Befunde in Gräbern, aber auch aus der Arbeitswelt, z. B. der Welt des Backens. Damit ist ein Akzent auf Materialität gesetzt, denn gerade an solchem Material lässt sich die Frage von Geschlecht und Herrschaft und deren religiösen Begründungen neu aufrollen. In diesem Sinne sieht die Autorin darin eine große Chance, Genderarchäologie und Religion in Kombination zu bringen: Es könnte sich damit ein wichtiger Gegenpol zu hegemonialen Texten herausbilden, wie sie in religiösen Kontexten zu finden sind, etwa in der Bibel, aber auch anderswo. Damit kann sich eine fruchtbare Zusammenarbeit mit feministischen Bibelwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen ergeben.

Durch eine kleine Evaluation der vier Aufsätze möchte ich versuchen, einen bescheidenen Beitrag zu einer hermeneutischen Rechenschaft über das religionswissenschaftliche Arbeiten zu leisten. Ich hebe jeweils in jedem Beitrag ein Element hervor, das mir hermeneutisch fruchtbar zu sein scheint, um die Beiträge dann abschließend in einer Gesamtperspektive zu betrachten.

Bei Ursula King finde ich den Hinweis auf die Spiritualität sehr wichtig. Dass dieser Aspekt zum Bereich der religiösen Praxis gehört, darf als Selbstverständlichkeit gelten. Dass er aber auch in Hinsicht auf die methodischen Voraussetzungen der Religionswissenschaft mitzubedenken ist, scheint mir eine verheißungsvolle Forschungsperspektive zu enthalten. Damit könnte sich einiges im Selbstverständnis der Disziplin verändern. Dass U. King in dieser Spiritualität die Dimension der Literalität hervorhebt, finde ich ebenfalls hermeneutisch spannend, denn die Spannung von Literalität und Oralität begleitet mindestens seit der Reformationszeit die theologische Hermeneutik. Es wäre deshalb interessant, noch zu vertiefen, was »spirituelle Literalität« in heutiger Zeit konkret bedeuten könnte, und zwar in verschiedenen kulturellen Kontexten.

Der Aufsatz von Daria Pezzoli-Olgiati ist ganz stark von der optischen Metaphorik getragen, und das ist im Kern natürlich eine hermeneutische Metaphorik. Dass wir in unserer geistes- und sozialwissenschaftlichen, ja vielleicht sogar auch in der naturwissenschaftlichen Arbeit, ständig mit Brillen, Spiegeln und Spiegelungen zu tun haben, gehört zu den Grundeinsichten der Hermeneutik. Das führt dazu, dass man die wissenschaftlichen Grundprinzipien der Objektivität, der Distanziertheit, der Wertneutralität immer wieder kritisch hinterfragen muss, ohne natürlich einem besinnungslosen Subjektivismus freien Lauf zu lassen. Sehr schön bringt Daria Pezzoli-Olgiati die ständige Spannung von Distanz und Voreingenommenheit zum Tragen. In diesem Rahmen ergäbe sich mit Paul Ricœurs Kategorie der »distanciation« (auf Deutsch üblicherweise mit »Verfremdung« übersetzt) aus seinem Text La fonction herméneutique de la distanciation von 1986 die Möglichkeit einer hermeneutischen Vertiefung, die zeigt, dass man sich erforschte Wirklichkeiten immer nur über Distanz aneignen kann.

In Kristina Göthling-Zimpels Beitrag möchte ich die Kategorie der Intersektionalität, mit der sie im Schlussteil arbeitet, hervorheben. Diese Kategorie erlaubt ihr zu zeigen, wie der Antifeminismus seine Weltsicht aufbaut, indem er sich mit einer Reihe von weiteren polemischen Abgrenzungen in Religion und Politik zusammenfügt, wie Rassismus, Homophobie, Antisemitismus und Islamfeindschaft. An alldem ist dann eben, so der Vorwurf, der Feminismus schuld: Er hat all die Übel ausgelöst, gegen die man nun unablässig kämpfen muss. Weil die Phänomene nie isoliert bleiben, weiß die Hermeneutik darum, dass man auf solche Interdependenzen im breiten Umfeld achten muss. Es kann nicht nur um den Streit zwischen Feminismus und Antifeminismus gehen, sondern alle weiteren, damit zusammenhängenden Implikationen spielen mit hinein. Die Hermeneutik kann helfen, sich mit solchen komplexen Konstellationen auseinanderzusetzen.

Dass bei Rosalind Janssen Fortschritte der Genderforschung ausgerechnet in der Archäologie thematisiert werden, stiftet eine interessante Resonanz mit Paul Ricœurs Hermeneutik. In seinem Versuch über Freud (2004 bei Suhrkamp, 1965 in der französischen Originalversion) unterscheidet er zwei Grundausrichtungen der Interpretation. Die eine bemüht sich darum, dem Text zu seinem Ziel zu verhelfen, seinen Sinn möglichst klar zum Ausdruck zu bringen. Dieser Ausrichtung, die er deshalb teleologisch nennt, stellt er die andere gegenüber, die er in Anlehnung an die »Meister des Verdachts«, wie er Marx, Freud und Nietzsche nennt, als die Bemühung versteht, den Text zu hinterfragen, in ihm herauszufinden, was er verbirgt, was er verschweigt. Diese zweite Ausrichtung nennt er die archäologische. Damit entsteht, scheint mir, eine Entsprechung zur Genderarchäologie, die ja auch den Stimmlosen eine Stimme verleihen will, indem sie in Objekten, Artefakten, Utensilien einen Kontrapunkt zu hegemonialen, patriarchalen Texten sucht.

In den vier Aufsätzen ist relativ wenig explizit von den Weltbildern und deren religionswissenschaftlicher Vermittlung die Rede. Implizit jedoch ist die Thematik bei allen sehr präsent, und zwar als kritisches Ferment in Hinsicht auf die Rechenschaft über die komplexe Beziehung von Weltbild und Genderfrage. Alle sind sich der Ambivalenz der Weltbilder bewusst, die hier aufeinanderstoßen. Diese Ambivalenz könnte leicht dualistisch ausgeschlachtet werden, im Sinne der »-ismen«, auf die Daria Pezzoli-Olgiati hinweist. Demgegenüber scheint es mir wichtig, die Komplexität der Genderfrage zu betonen, wie das Ursula King macht. Das »engendering«, die »Eingeschlechtlichung«, ist hermeneutisch als ein umfassender Prozess zu verstehen, in dem auch die gesellschaftlich vermittelte Weltanschauung auf dem Spiel steht. Das wissen auch Kristina Göthling-Zimpel in ihrer Auseinandersetzung mit dem Antigenderismus und Rosalind Janssen in ihren Bemühungen um die Etablierung der Genderarchäologie. In dieser Hinsicht zeigt sich eine große Nähe zwischen den vier Beiträgen. Sie machen es auch dem Hermeneutiker zur stimulierenden Herausforderung, noch intensiver hermeneutisch über diesen Prozess nachzudenken.

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Ursula King

Gender-kritische (Ver-)Wandlungen in der Religionswissenschaft

Ein radikaler Paradigmenwechsel

1 Einleitung

In deutschen Publikationen ist sowohl der Begriff »Gender-Studien« als auch der Terminus »Geschlechterforschung« zu finden. Es ist erfreulich, dass dieses Handbuch den übergreifenden Titel Gender und Religion trägt, bezieht sich doch das englische Wort gender auf ein größeres semantisches Feld als das biologisch verstandene »Geschlecht«. Die neuen Perspektiven, revolutionären Erkenntnisse und kühnen Theorien, die seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Gender-Studien entwickelt worden sind, haben zu einem Paradigmenwechsel in den Sozial- und Geisteswissenschaften geführt. Noch wird er allerdings nicht von allen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wahrgenommen. Obwohl die Religionswissenschaft einige Pionierinnen auf dem Gebiet der Gender-Forschung besitzt, sind gender-spezifische Fragestellungen und Methoden in der Religionswissenschaft später als in anderen Wissenschaften akzeptiert worden.1 Noch gibt es Forschende, die keine gender-kritische Umwandlung ihres Bewusstseins vollzogen haben oder diese neue Denkrichtung bewusst pflegen.

Inzwischen sind jedoch selbst in der Religionswissenschaft so viele Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Gender-Studien zu finden, dass ein Überblick bereits nahezu unmöglich geworden ist. Das ganze Gebiet ist lange von nordamerikanischen und englischsprachigen Publikationen dominiert worden. Inzwischen gibt es jedoch wissenschaftliche Arbeiten über Gender und Religion in vielen Weltsprachen. Die Forschungsaktivität auf diesem Gebiet hat globale Dimensionen angenommen. Dies wird ersichtlich aus den langen Übersichtsartikeln, die sich in der zweiten, im Jahre 2005 erschienenen Ausgabe der internationalen Encyclopedia of Religion befinden und auf 125 Seiten 20 verschiedene Religionen der Welt aus der Gender-Perspektive behandeln.2 Es ist überwältigend, wie viele Frauen, aber auch einige Männer, in einer relativ kurzen Zeitspanne – seit der ersten Auflage dieses religionswissenschaftlichen Standardwerkes – religiöse Lehren und Texte aus geschlechtsspezifischer Perspektive kritisch untersucht haben. Ebenso bemerkenswert ist, wie viele Parallelen patriarchaler Unterdrückung und androzentrischen Denkens in den verschiedenen Religionen in vergleichenden Untersuchungen aufgedeckt worden sind.

Diese Forschungen stehen in starkem Gegensatz zur oft zu findenden »Gender-Blindheit« vieler Religionswissenschaftler; doch muss ebenfalls auf die oft vorhandene »Religionsblindheit« vieler säkularer Gender-Spezialisten hingewiesen werden. Ich spreche deswegen von einer »doppelten Blindheit«. Sie muss von beiden Seiten bekämpft werden. Außerdem möchte ich von Anfang an klar machen, dass Gender nicht einfach ein Synonym für Frauenforschung ist, obwohl es oft in diesem Sinne gebraucht wird. Gender bezieht sich auf Frauen und Männer, auf die gesamte Menschheit. Der Begriff muss also inklusiv verstanden werden.

Ich werde im Folgenden zunächst den Gender-Begriff erörtern. Danach folgen eine Beschreibung einiger Gender-Forschungsperspektiven in der Religionswissenschaft sowie eine kurze Skizze des brisanten Themas Gender und Spiritualität. Am Ende werden einige abschließende Betrachtungen gemacht.

2 Die verwirrende Komplexität des Gender-Begriffes

In den letzten Jahrzehnten haben sich Gender-Forschungen zum Teil auch in der Religionswissenschaft mit einer solchen Rapidität entwickelt, dass es für Neuanfänger(innen) auf diesem Gebiet recht schwierig ist, die vielen, hoch abstrakten Theorien, Standpunkte und Argumente zu begreifen. Sich hier Wissen und einen Durchblick zu verschaffen, kann mit einem Gang durch ein unbekanntes Labyrinth verglichen werden. Das Abenteuer lohnt sich, doch es geht nicht ohne Geduld, Entschlossenheit und Engagement. Persönliches Selbstverständnis und Identität werden mit auf die Reise genommen und unter Umständen stark verwandelt. Es ist also nicht ohne Risiko, sich auf diesen kritischen Weg zu begeben!

Warum? Weil Gender keine selbstverständliche, »natürliche« Kategorie ist, sondern sich auf gesellschaftliche und historische Konstruktionen bezieht, die erst einmal kritisch untersucht und erkannt werden müssen. Vor dem 20. Jahrhundert gab es die Kategorie Gender im analytischen und theoretischen Sinne überhaupt nicht. Ursprünglich diente der Begriff Gender in den Sprachwissenschaften zur geschlechtlichen Unterscheidung verschiedener Wörter. Die Sozialwissenschaften haben das Wort Gender als erste adaptiert und seinen Sinn auf die gesellschaftliche Differenzierung zwischen Männern und Frauen angewandt. Sie haben begonnen, Identitäts-, Autoritäts- und Machtunterschiede kritisch zu hinterfragen. Die kanadische Religionswissenschaftlerin Randi R. Warne (2000) spricht von der Notwendigkeit, dass unser Bewusstsein zuerst eine »gender-kritische Wendung« machen müsse, bevor wir die dynamischen Perspektiven der Gender-Beziehungen klar erkennen und kritisch evaluieren können.

Gender ist eine labile Kategorie. Sie besitzt keine klaren, definitiven Grenzen, sondern sie kann sich verändern und wechselnde Bedeutungen annehmen. Gender ist jedoch immer eine Kategorie, die mit dem Bestimmen verschiedener gesellschaftlicher Rollen zusammenhängt. Sie prägt persönliche Identität und Weltanschauung. Randi R. Warne (2001) und andere Autorinnen sprechen daher von engendering. Dies ist ein aktives Verb, das mit menschlichen Handlungen verbunden werden kann. Gender und Religion sind also nicht einfach zwei parallel zu behandelnde Substantive, die unabhängig voneinander existieren, lediglich verbunden durch das Wort und. Ganz im Gegenteil, beide sind ineinander eingebettet. Es ist deshalb oft schwierig, Gender in Religion zu identifizieren und klar herauszuarbeiten, zumindest solange das Bewusstsein nicht eine definitive gender-kritische Stufe erreicht hat.

Was in der Einleitung von Gender-Studien von Christina von Braun und Inge Stephan beschrieben wird, gilt auch für Gender-Studien in der Religionswissenschaft:

Geschlechterforschung zu studieren bedeutet, auf ein Fach und dessen Wissenskanon einen »Blick von außen« zu werfen. Das kann dazu führen, dass sich die Studierenden innerhalb der einzelnen Disziplin »fremd« fühlen. Andererseits gibt es kein anderes Studiengebiet, das so wie die Gender-Studien in alle Wissens- und Wissenschaftsbereiche hineinführt […] Der interdisziplinäre bzw. transdisziplinäre Ansatz der Gender-Studien bedeutet auch, dass es keine feste Methodik gibt. Die Gender-Studien greifen vielmehr die verschiedenen Methoden in den einzelnen Disziplinen auf, arbeiten mit ihnen, modifizieren sie und entwickeln sie so weiter, dass sie für die Gender-Fragestellungen produktiv gemacht werden können.3

Die Entwicklung der Gender-Studien ist mit einem zweifachen Paradigmenwechsel verbunden.4 Der erste Wechsel geschah, als sich Frauenstudien (Women’s Studies), die sich aus der historischen Frauenbewegung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten und hauptsächlich phänomenologisch deskriptiv und empirisch orientiert waren, in eine stärker kritisch reflektierte, feministische Orientierung umwandelten. Diese führte wissenschaftlich zu einem neuen Durchbruch und neuem Wissen. Der zweite Paradigmenwechsel folgte, als manche feministischen Ansätze als zu eng und einseitig erkannt und gender-kritische Theorien entwickelt wurden, die sich mehr inklusiv mit den verschiedensten Geschlechterrollen, -identitäten, -beziehungen und unterschiedlichen Machtpositionen von Frauen und Männern beschäftigten. Kritische Gender-Studien über Männer und Religion sind von feministischen Theorien mitbeeinflusst und haben neue Forschungsperspektiven entdeckt, die sich zum Beispiel mit dem Verständnis männlicher Identität, dem Verhältnis zwischen männlicher Sexualität und Spiritualität oder mit dem männlich überdeterminierten traditionellen Gottesbegriff im Judentum und Christentum auseinandergesetzt haben. Doch trotz allem Fortschritt sind Gender-Studien über Männer viel weniger weit entwickelt als solche über Frauen. Da letztere einen größeren gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Rückstand aufzuarbeiten haben, ist hier ein kritisches Gender-Denken viel notwendiger. Ein solches hat jedoch auch Konsequenzen für Männer. Dennoch kann es noch lange dauern, bis Männer den Vorsprung der Frauen auf dem Gebiet der Gender-Studien aufgeholt haben werden. Bis jetzt ist die Männlichkeit noch nicht in demselben Ausmaß wie die Weiblichkeit kritisch theoretisiert worden.

Wie steht es nun mit spezifischen Gender-Perspektiven in der Religionswissenschaft?

3 Gender-Perspektiven in der religionswissenschaftlichen Forschung