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Carola Rackete

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Beschreibung

Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete traf die mutige Entscheidung, sich über das Verbot des italienischen Innenministeriums hinwegzusetzen und mit der Sea Watch 3 und 40 aus dem Mittelmeer geretteten Geflüchteten an Bord den Hafen von Lampedusa anzusteuern: So wurde die Kapitänin über Nacht weltweit bekannt – und zum Vorbild all jener, die nicht länger zusehen wollen, wie die Rettung von Menschenleben systematisch verhindert wird. In ihrem Buch erzählt sie, warum sie sich so bedingungslos für Menschlichkeit, globale Gerechtigkeit und Naturschutz einsetzt. Denn dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen, hängt unmittelbar mit der Klimakrise und der zunehmenden globalen Ungerechtigkeit zusammen. Wir müssen dringend handeln, denn es geht um nichts weniger als die gemeinsame Zukunft auf unserem Planeten. "Wir sind an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte: die Ökosysteme werden zerstört, das Klimasystem bricht zusammen. Schützen wir in einer solchen Welt nicht die Rechte anderer Menschen, gefährden wir auch unsre eigenen." Carola RacketeCarola Rackete ist durch ihren Mut und ihr entschlossenes Eintreten für ihre Werte das Vorbild für eine ganze Generation • Das Buch ist ein mitreißender Aufruf zum Eintreten für globale Gerechtigkeit und Umweltschutz, um den Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation zu verhindern • Carola Rackete spendet die Erlöse aus diesem Buch an den Verein borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen e.V., die sich für die Rechte Geflüchteter einsetzt. Mit ihrer Arbeit wendet sich die Organisation außerdem gegen die generelle Kriminalisierung von Menschen, die Geflüchteten helfen.

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Seitenzahl: 205

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Carola Rackete

Unter Mitarbeit von Anne Weiss

Handeln statt hoffen

Aufruf an die letzte Generation

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Carola Rackete traf als Kapitän der Sea-Watch 3 die mutige Entscheidung, sich über das Verbot des italienischen Innenministe-riums hinwegzusetzen, und brachte 40 aus dem Mittelmeer gerettete Menschen in den sicheren Hafen von Lampedusa. So wurde sie über Nacht weltweit bekannt – und zum Vorbild für alle, die nicht länger zusehen wollen, wie die Rettung von Menschenleben systematisch verhindert wird.

In ihrem Buch erzählt sie, warum sie sich so bedingungslos für Menschlichkeit, globale Gerechtigkeit und Naturschutz einsetzt. Dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen, hängt unmittelbar mit der Klimakrise und der zunehmenden globalen Ungerechtigkeit zusammen. Wenn wir nicht jetzt etwas gegen die Erosion der Menschenrechte, den Zusammenbruch unserer Ökosysteme und die Klimakrise tun, wird sich das Problem immer weiter verschärfen. Carola Racketes Aufruf gilt uns allen – der Generation, die mit ziemlicher Sicherheit die letzte ist, die etwas verändern kann: Wir müssen aufhören, auf andere zu hoffen, und stattdessen selbst handeln. Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als unsere Zukunft auf diesem Planeten.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Nachwort zur Taschenbuchausgabe

Danksagung

Literatur und weiterführende Internetadressen

Über die Autorinnen

Für alle Opfer des zivilen Gehorsams

Vorwort

von Hindou Oumarou Ibrahim, Umweltaktivistin aus dem Tschad

Wo sind denn die Männer? Wer ein Dorf in Ländern der Sahelzone besucht, wird oft bemerken, dass ausschließlich Frauen, minderjährige Jungen und alte Menschen zu sehen sind. Ist es ein Zeichen der wachsenden Selbstbestimmung der Frauen? Sind die Männer vielleicht drinnen in den Hütten und kochen das Essen? Oder alle unterwegs, um Wasser und Brennholz zu beschaffen? Sind sie einem Krieg zum Opfer gefallen oder einem Virus, das nur Männer im Alter von 15 bis 50 Jahren befällt?

 

Natürlich nicht! Die Männer sind nur weg, weit, weit weg. Meist sind sie in afrikanische Städte gegangen, leben in Slums und versuchen irgendeine temporäre Arbeit zu finden. Einige sind unterwegs durch die Wüste Richtung Libyen, manche von ihnen sind die Sklaven von Menschenhändlern, manche sind sogar Helfer von Schleppern. Ein paar von ihnen befinden sich auf Rettungsbooten im Mittelmeer und ganz wenige in Flüchtlingslagern am Rand Europas. Sie wollen arbeiten und ihren Verwandten Geld für Nahrungsmittel nach Hause schicken. Die Männer möchten damit nur ihren Stolz wiedergewinnen, ihre Ehre. Denn in den meisten dieser Gemeinschaften ist ein Mann, der seine Familie nicht zu ernähren weiß, kein Mann mehr.

 

Wir alle wissen von den Folgen des Klimawandels. Sie sind inzwischen für alle sichtbar. Wir sehen, wie die Wälder verdorren und das Eis wegschmilzt. Doch eine der brutalsten Folgen des Klimawandels machen wir uns nicht bewusst: dass er Männer und Frauen um ihre Würde bringt.

 

Seit Beginn dieses Jahrhunderts ist die Durchschnittstemperatur in meinem Land, dem Tschad, um mehr als 1,5 Grad angestiegen. Für die meisten Länder Afrikas gilt das Gleiche. Unsere Bäume brennen. Unsere Wasservorkommen versiegen. Unsere fruchtbaren Äcker verwandeln sich in Wüste. Als Indigene Frau lebte und arbeitete ich mit meiner Gemeinschaft stets im Einklang mit der Natur. Die Jahreszeiten, die Sonne, Wind und Wolken waren unsere Verbündeten. Inzwischen sind sie zu Feinden geworden.

 

Hitzewellen mit Temperaturen von über 50 Grad über mehrere Tage hinweg bringen Männer, Frauen und das Vieh um. Überschwemmungen zerstören die Ernte. Veränderungen im Rhythmus der Jahreszeiten führen zu neuen Krankheiten für Mensch und Tier. Der Tschadsee, der einmal einen der fünf größten Süßwasserspeicher in Afrika darstellte, verschwindet vor unseren Augen. Als ich vor gut 30 Jahren geboren wurde, hatte der See eine Fläche von 10000 Quadratkilometern. Heute sind es nur noch 1250. In meiner Lebenszeit sind fast 90 Prozent verschwunden.

Der Klimawandel ist für die Sahelzone wie Krebs. Er ist eine Krankheit, die die Seen auslaugt, aber auch die Herzen der Männer und Frauen, die dort leben. Seit Jahrhunderten hatten Bauern, Fischer und Viehhirten harmonisch miteinander zusammengelebt. Heute jedoch stellt jeder Tropfen Süßwasser, jedes Fleckchen fruchtbares Land einen höchst begehrten Schatz dar. Für den die Menschen kämpfen und – manchmal – töten.

 

Der Klimawandel ist ein Virus, das der düstersten Seite der Menschheit den Boden bereitet. Gruppen wie Boko Haram und andere Terroristenzellen machen sich die Armut zunutze, um Jugendliche anzuwerben und Gemeinschaften gegeneinander aufzuhetzen. In den ersten Monaten des Jahres 2019 berichteten europäische Medien über grausige Massaker von Hirten an Bauern und Bauern an Hirten in Mali und Burkina Faso. Diese Menschen kämpfen um die letzten verbliebenen Ressourcen; Gruppen, die auf der extremen Armut eine Ideologie des Hasses errichten, stacheln sie dazu auf.

 

Warum widerfährt uns das? Warum ist Mutter Erde so hart zu uns? In meiner Gemeinschaft ist niemandem bewusst, dass sich das Klima ändert, weil sich der Einsatz fossiler Brennstoffe anderswo auf der Welt auf das fragile Gleichgewicht des Klimas weltweit auswirkt. Da nur wenige Kinder die Möglichkeit haben, zur Schule zu gehen, können sie nicht verstehen, was den meisten von uns offensichtlich ist. Der Klimawandel ist die Folge eines Entwicklungsmodells, das einem (kleinen) Teil dieses Planeten Wohlstand bringt, aber einigen von uns auch jede Existenzgrundlage nimmt. Dabei lief in den vergangenen zehn Jahren erst der Trailer zu dem anstehenden Horrorfilm über unseren Planeten und die Menschheit. Und meine Leute sind stille Zeugen eines Problems, das sie nicht selbst verursacht haben.

 

Wer Lust hat auf eine Flasche Coca-Cola, findet sie überall in Afrika ziemlich leicht, selbst mitten in der Savanne, aber Strom findet man nahezu nirgends. Für Freunde warmer Softgetränke kein Problem. Nichts könnte meiner Ansicht nach den Zynismus dieses Entwicklungsmodells besser veranschaulichen. Selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts, im Zeitalter der Drohnen, der virtuellen Realität und künstlichen Intelligenz, hat die Hälfte der afrikanischen Bevölkerung keinen Zugang zu Strom. Und Elektrizität ist nicht das Einzige, was fehlt. Es fehlt grundlegend an Schulen, an akzeptablen Krankenhäusern, an Therapien und Impfstoffen für Krankheiten, die in der westlichen Welt als harmlos gelten.

 

Der Klimawandel ist selbstverständlich nicht die einzige Ursache für Armut. Doch er ist eine immer weiter schwächende Krankheit, die die Jugend Afrikas um ihre Zukunft bringt. Welche Hoffnung gibt es noch, wenn man sich aufgrund der Klimaveränderung bei der Aussaat fragt, ob wohl eine Flut oder eher eine Dürre deine einzige Einnahmequelle vernichten wird?

 

Was sollen Mütter oder Väter in der Sahelzone ihren Kindern antworten, wenn sie fragen, warum heute Abend wieder nichts auf dem Teller liegt? Ist es möglich, ihren Kindern zu sagen: »Keine Sorge, es gibt da dieses Übereinkommen von Paris, und wenn jeder seinen Teil dazu beiträgt, wird die Zunahme der globalen Erwärmung am Ende des Jahrhunderts vielleicht weniger als 2 Grad betragen«? Natürlich nicht. Solange wir also die Klimakrise nicht angehen und uns entscheiden, für diese Jugend eine Zukunft zu ermöglichen, wird es uns nicht möglich sein, die Verzweiflung in Hoffnung zu wandeln. Es wird uns nicht gelingen, diesen Gemeinschaften ein starkes Argument dafür an die Hand zu geben, warum sie ihre Männer davon abhalten sollten, sich auf die Migrationsrouten zu begeben.

 

Niemand sollte gezwungen sein müssen, sein Zuhause zu verlassen und sein Leben zu riskieren, weil er in seiner Heimat einfach keine Zukunft hat. Niemand verlässt gern seine Familie, seine Wurzeln, seine Identität. Wir dürfen niemals vergessen, dass kein Mensch als Migrant geboren wurde. Daher müssen wir aufstehen und deutlich sagen, dass wir diese Zukunft nicht wollen. Und dann Veränderungen umsetzen.

 

Unser Zeitfenster ist klein. Für Pessimismus ist da ebenso wenig Platz wie für Optimismus. Wir brauchen alle Zeit zum Handeln und für eine grundsätzliche Neuausrichtung unseres Umgangs mit dem Klimaproblem. Niemand wird es allein lösen können, aber jeder Beitrag ist mehr als willkommen. Als mich Carola um ein Vorwort für ihr Buch bat, sagte ich deshalb sofort zu. Nicht nur, weil sie eine der vielen ist, die tatkräftig an Lösungen für unsere Welt arbeiten, sondern weil sie auf ihre Art einzigartig ist, weil sie an globales Handeln und gemeinsame Verantwortung glaubt, weil sie Menschenleben rettet und dafür riskiert, ins Gefängnis zu gehen. Sie findet Lösungen und zählt zu den wenigen, die mit ihrem konkreten Tun für Nachhaltigkeit eintreten, für Recht und Gerechtigkeit im Dienst einer besseren Zukunft für alle. Ich empfehle Ihnen daher, ihr Buch zu lesen, es wird Sie bestimmt inspirieren.

1

Hören wir auf zu hoffen

Kurz vor Mittag, und noch immer sitzen wir hier fest. Das Geländer der Treppe, die hinauf zur Brücke führt, ist warm wie ein Heizungsrohr. Ich nehme zwei Stufen auf einmal. Oben halte ich einen Moment inne, fühle, wie ein Film aus winzigen Schweißperlen meine Haut überzieht. Kein Wind, die Luft steht. Es ist einfach zu heiß, um sich viel zu bewegen. Vor uns liegt der wärmste jemals gemessene Monat seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

Es ist Freitag, der 28. Juni 2019, der 20. Tag, seitdem wir aus dem Hafen von Licata in Sizilien abgefahren sind, um Menschenleben zu retten. Vor 16 Tagen haben wir 53 Menschen aus einem nicht hochseetauglichen Schlauchboot geborgen, knapp 50 Seemeilen vor der libyschen Küste – Männer, schwangere Frauen, Minderjährige, unter ihnen sogar zwei Kleinkinder. Einige medizinische Notfälle und besonders verletzliche Personen hat uns die italienische Küstenwache zwischenzeitlich abgenommen. Jetzt haben wir noch 40 Menschen an Bord, sie sind entkräftet und mutlos.

Wir hoffen, dass jemand uns sagt, was mit ihnen geschehen soll.

Aber uns läuft die Zeit davon.

Mit jeder Minute, die verstreicht, riskieren wir, dass ein weiterer Notfall tödlich ausgeht.

Vor uns liegt wie ein dünnes, schimmerndes Band die Küste der Insel Lampedusa, einer der südlichsten Punkte Europas, für uns der nächste sichere Hafen. Die Hitze lässt die Luft über dem Meer flimmern. In einer Stunde könnten wir im Hafen sein, wenn sie uns ließen. Stattdessen liegen wir fest und warten, dass die europäischen Staaten eine Lösung finden. Ich sehe übers Bootsdeck, wo die Schnellboote in Kränen gestaut sind, und auf das Hauptdeck weiter unten. Gegen die Sonne sind über die unteren Decks Zeltplanen gespannt, darunter liegen die Leute, die wir aus dem Schlauchboot geborgen haben, auf dem Boden.

Unser Schiff ist nicht dafür ausgelegt, aus Seenot gerettete Menschen lange an Bord zu behalten. Es gibt nur drei Toiletten, das Trinkwasser kann zwar aus Meerwasser aufbereitet werden, aber das geht sehr langsam, und auch mit dem Tank, den wir im Hafen gefüllt haben, reicht es bei so vielen Personen nur gelegentlich zum Duschen und Wäschewaschen. Und jeder, der dort unten auf dem Bootsdeck liegt, hat nur eine Decke. Bequem ist das nicht, entweder man legt sich drauf und friert nachts, oder man deckt sich zu und hat nach kurzer Zeit da Schmerzen, wo der Körper auf dem mit schwarzen PVC-Matten belegten Boden aufkommt.

Das weite Meer um uns herum glitzert, kleine Wellen brechen sich an unserem Bug. Die Sea-Watch 3 ist ein altes Offshore-Versorgungsschiff aus den Siebzigerjahren, sie wurde von der Ölindustrie genutzt, und bevor Sea-Watch sie mit Spendengeldern erwarb, war sie als Seenotretter für Ärzte ohne Grenzen unterwegs. Ein sperriger Kahn, der viel Pflege braucht.

Es tut seinen Dienst, aber ich mag das Schiff nicht sonderlich.

Eigentlich wäre ich auch gar nicht hier. In diesem Jahr war ich nicht eingeplant für eine Mission, wie die Einsätze zur Seenotrettung genannt werden. Ich bin einige Jahre zur See gefahren, hauptsächlich als Nautiker auf großen Forschungsschiffen in den Polargebieten und auch mit Greenpeace, habe dann Naturschutzmanagement studiert und wollte mich nach dem Abschluss auf den Naturschutz konzentrieren. Ich hatte noch nie eine große Leidenschaft für die Seefahrt, es schien mir nach einigen Jahren in dem Beruf auch wichtiger, mich um den Erhalt unserer Biosphäre zu kümmern. Allerdings kamen mir die Kenntnisse aus der Schifffahrt weiterhin zupass, um für Sea-Watch und andere Seenotrettungs-NGOs das zu tun, was ich für essenziell halte: Leben zu retten.

Als die Mail kam, dass der Kapitän einer bevorstehenden Mission ausgefallen sei, arbeitete ich seit einiger Zeit als Trainee in einem Naturschutzprogramm in Schottland. Wir sammelten Daten über Schmetterlinge, setzten Wanderwege instand, topften zuletzt bei strömendem Regen im Gewächshaus drei Tage lang Waldkiefersetzlinge um.

Schön war es dort: die schroff abfallenden Berghänge, deren Kuppen Hauben aus dunklem Moos tragen. Der Geruch der Wiesen und des Regens, der sich mit dem Duft der zarten Blüten und dem Harz der Nadelbäume mischt. Abends die lang gezogenen Laute der Sterntaucher über dem nebligen See, wie sie nacheinander rufen. Die Luft so klar und würzig, dass ich am liebsten rund um die Uhr draußen gewesen wäre.

Im Grunde wollte ich nicht weg. Trotzdem, es war ein Aufruf, der an alle gerichtet war, die auf der Kontaktliste für Notfälle standen. Auf dieser Liste stehen alle, die einspringen könnten, wenn ein geplantes Crewmitglied kurzfristig ausfällt. Freiwillige, die ungelernt einen Posten ausüben, findet man nicht so schwer wie Fachpersonal fürs Schiff oder medizinisches Personal, denn das ist knapp.

Ich ahnte: Das wird schwer, so kurzfristig Ersatz zu finden. Und ein Telefonat mit dem Einsatzleiter ergab, dass wirklich niemand da war, der das Schiff hätte übernehmen können. Wenn ich es nicht tat, würde es trotz vollständiger Besatzung nicht auslaufen können. Ich sah mich in der Verantwortung zu handeln und packte meine Sachen.

Jetzt liege ich also hier mit dem Schiff vor Anker in der schwülen Hitze Südeuropas. Über das Schwappen der Wellen hinweg höre ich nur Gesprächsfetzen, sonst ist alles ruhig. Immer wieder bin ich mit der Crew durchgegangen, was uns noch möglich ist zu tun, auch mit dem Team von Sea-Watch an Land, das aus sehr vielen Freiwilligen und wenigen Angestellten besteht, die hauptsächlich in Berlin, aber auch in Amsterdam, Rom und Brüssel und anderswo sitzen. Dieses Team kümmert sich um die Logistik, die Medienarbeit und die interne Kommunikation genau wie um die Rechtsberatung und die politische Arbeit. Es hält die Kontakte an Land zu weiteren Organisationen und politischen Akteuren, und es informiert und berät uns auf dem Schiff über die aktuellen Entwicklungen.

Zwei Wochen lang saßen wir in internationalen Gewässern fest. Über unser unzuverlässiges Internet an Bord habe ich die zuständigen Stellen in Rom und Valletta per Mail um Unterstützung gebeten, auch das Hauptbüro der Küstenwache in Den Helder, weil die Sea-Watch 3 unter niederländischer Flagge fährt. Über das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland haben wir auch Spanien und Frankreich um Hilfe ersucht.

Die italienische Küstenwache kam an Bord. Auch die Guardia di Finanza, die Finanz- und Zollpolizei, die dem Ministerium für Wirtschaft und Finanzen in Rom untersteht.

Wir sollten warten.

Sie hätten keine Lösung.

 

Nichts geschah.

Uns gingen die Möglichkeiten aus. Es wurde zunehmend schwierig, die Sicherheit an Bord zu garantieren. Die Leute brauchten dringend ärztliche Versorgung an Land. Eine der geretteten Frauen sprach der Ärztin gegenüber aus, sie sei so verzweifelt, dass sie daran denke, sich das Leben zu nehmen. Sie sagte, dass sie sich sicherer fühle, wenn immer jemand bei ihr sei.

Das können wir nicht leisten. Die Crew besteht aus über 20 Personen, aus nautisch-technischem Personal wie mir und den Ingenieuren, aber auch aus medizinischem Fachpersonal und den Schnellbootcrews. Die meisten arbeiten hier in ihrer freien Zeit, wie Oscar, der Jura studiert und kurz vor der Abschlussprüfung steht. Nur drei arbeiten fest für Sea-Watch, aber es gibt einige, die schon lange freiwillig dabei sind, wie Lorenz, der sich um unsere Passagiere kümmert. Alle sind im Schichtsystem eingeteilt, denn wir müssen auf jeden Einzelnen Tag und Nacht achten – was schwieriger wird, je mehr sie unter Ungewissheit leiden und je länger ihr schlechter Zustand andauert.

Also entschloss ich mich vor zwei Tagen, den Notstand zu erklären und ohne Genehmigung in die italienischen Hoheitsgewässer einzufahren. Die Guardia di Finanza stoppte uns, nahm nun die Personalien der gesamten Crew auf, kontrollierte die Schiffszertifikate. Sie sagten, dass sicher bald eine politische Lösung käme und wir so lange warten sollten.

Dann fuhren sie wieder davon.

Gestern ersuchte ich wegen unserer Notlage den Hafen um einen Liegeplatz. Wieder stoppten uns die Schiffe der Behörden.

Die Lösung stehe kurz bevor, sagten sie.

Es kam ein Charterboot mit Presse und einigen Parlamentsangehörigen.

Viele Kameras.

Viele Telefonate.

Keine Lösung.

Heute dann Informationen vom Staatsanwalt, der uns mitteilte, dass Untersuchungen wegen Beihilfe zur illegalen Einreise gegen mich laufen. Es ist, auch wenn sich das komisch anhört, seit vielen Tagen der erste Lichtblick. Auf der letzten Mission im Mai hatten Untersuchungen bedeutet, dass er das Schiff beschlagnahmt. Wenn er dies anordnet, ist er auch für die Menschen an Bord verantwortlich, und sie können endlich an Land.

Das ist es, worauf wir heute warten.

Ich beschatte mein Gesicht mit der Hand, dann wische ich mir über die Stirn. Um uns herum fahren Fischerboote auf und ab, Jachten verlassen den Hafen. Wenn wir nicht in dieser furchtbaren Situation wären, würden wir jetzt vermutlich baden gehen. Aber wir sitzen hier und braten in der Hitze.

In dieser Zeit, das höre ich später, haben es 17 Boote nach Lampedusa geschafft, insgesamt 300 Menschen sind so in Italien gelandet, die meisten kamen wahrscheinlich aus Tunesien. Ghost Boats werden diese kleinen Boote genannt. Da die Menschen auf ihnen nun schon mal in den Territorialgewässern sind, lässt die Küstenwache sie einfach an Land gehen, dann werden Polizei oder humanitäre Dienste verständigt. Im Regelfall laufen die Leute nicht weg und versuchen sich zu verstecken, denn Lampedusa ist so klein, dass das kaum gelingt. Normalerweise sieht sie irgendein Fischer oder anderer Anwohner, meist schon längst bevor die Menschen mit dem Boot am Strand oder auf den Steinen anlanden. Dann kommen die Leute von der Behörde und bringen sie in das Aufnahmezentrum, da geht es ganz normal weiter, Identifikation, Fingerabdrücke.

Nur wir mit den 40 Geflüchteten, die dringend weitere ärztliche Versorgung benötigen, stecken hier fest. Es gibt physische Notfälle, wie die Patienten, bei denen sich eine Erkrankung an Bord verschlimmert hat und die mit hohem Fieber oder heftigen Schmerzen nicht weiter an Bord behandelt werden konnten. Sie wurden von der Küstenwache abgeholt. Die Mehrzahl der Menschen leidet an posttraumatischer Belastung. Bei anderen wäre es dringend nötig, alte Wunden, die durch Gewaltanwendung in den Lagern in Libyen entstanden sind, oder unbehandelte Knochenbrüche von der Flucht vollständig zu heilen. Die italienische Küstenwache sagt, sie wären keine Notfälle. Und so wird aus einer Frage des Seerechts eine absurde Diskussion über den Gesundheitszustand der Geretteten, die auch als vollkommen gesunde Menschen ein Anrecht auf einen sicheren Hafen haben.

Beim Morgenmeeting beschreibt Lorenz, gelernter Krankenpfleger, der sich als Gästekoordinator um die Passagiere kümmert, noch einmal eindringlich die schwierige Lage.

»Die größte Gefahr ist, dass die Leute beschließen, ihr Handeln wieder selbst in die Hand zu nehmen«, sagt er. »Ich habe Angst, dass sie ins Wasser springen.«

Lorenz ist schlank und hat braune Haare, die an einer Seite abrasiert sind. Er ist schon so lange dabei wie ich, hat auch Umweltwissenschaften studiert. Das verbindet uns, genau wie der Grund, aus dem wir auf diesem Schiff sind. Niemand macht das aus Abenteuerlust oder anderen nichtigen Gründen. Keiner in meiner Crew, nicht ich selbst, am allerwenigsten die Menschen, die wir aufnehmen.

Im Gegenteil, sie alle fliehen vor Gewalt. Auf dem letzten Stück ihrer Route, im Bürgerkriegsland Libyen, machen wohl die meisten ihre schlimmsten Erfahrungen.

»Wenn ich da mit jemandem stehe und mich über die Zustände in den Lagern unterhalte, sagt er bald: ›Guck mal hier, diese Wunde am Kopf, das war ein Metallrohr‹«, weiß Lorenz zu berichten. »An einem anderen sehe ich so zehn Stellen, wo einer seine Zigarette ausgedrückt hat. Oder jemand zieht das T-Shirt hoch, zeigt eine Narbe und erklärt, das waren Stromschläge. Es ist für diese Menschen überhaupt kein Ding, jemandem ihre Verletzungen zu zeigen, weil es was Normales ist. Fast alle wurden gefoltert.«

Lorenz sagt, er wolle helfen, die Welt zu einem Ort mit mehr Freiheit und weniger Diskriminierung für alle zu machen. Und er gehört zu denen, die schon besonders häufig auf Missionen waren. Er verzichtet auf vieles, vor allem auf ein geregeltes Leben. Immer wieder spricht er aus, was wir alle denken: wie stark die Menschen sind, die so etwas aushalten und dabei dennoch freundlich sein können. Die trotzdem weiterleben, nach allem, was sie erlebt und durchlitten haben.

Viele, das steht in den medizinischen Berichten, leiden an den Folgen der Folter in libyschen Auffanglagern: an posttraumatischer Belastungsstörung wie an nicht verheilten Brüchen, Wunden von Bajonetten und Verbrennungen durch heißes Plastik, das man ihnen auf die Haut gegossen hat. Sie haben Narben am Kopf, sichtbar für jedermann, und unsichtbare Narben auf der Seele, durch Schläge, Drohungen, Menschenhandel und Versklavung, durch Todesangst und – bei allen Frauen – durch Vergewaltigung und erzwungene Prostitution, die oft dadurch erpresst wird, dass jemand ihr Kind oder ein anderes Familienmitglied bedroht. Durch die Seekrankheit sind viele außerdem dehydriert, und das verschlimmert ihren Zustand. Schlafstörungen, Nervosität, mangelnde Impulskontrolle, Angstzustände sind die Folge.

»Die Verletzungen passen zu den Berichten aus den Lagern und zu den Fluchtwegen«, sagt Victoria, die Ärztin, die diese Reports mit unterschreibt. Im Alltag arbeitet sie als Fachärztin für Anästhesie und Notfallmedizin, schon seit langen Jahren auf der Intensivstation in Hamburg. Sie ist vorher noch nicht auf einer Mission gewesen, hat sich dafür zum ersten Mal längere Zeit von ihren Kindern getrennt. »Ich bin wahnsinnig wütend, dass es auf der Welt so ungerecht zugeht, also musste ich was tun.«

Nachdem die Küstenwache schon vor einiger Zeit zehn gesundheitlich besonders gefährdete Personen von Bord genommen hatte, kamen sie noch zweimal wegen eines Notfalls. Ein Mann hatte das Bewusstsein verloren, der zweite hatte starke Schmerzen im Unterbauch und wurde zusammen mit seinem noch minderjährigen Bruder von Bord geholt. Jedes Mal, wenn sie einen Patienten abtransportierten, standen alle anderen Spalier, jeder wollte sich verabschieden, auch wenn die beiden kaum bei Bewusstsein waren. Das hat mich berührt, dieser Zusammenhalt von Menschen, die sich vorher nicht kannten und die auf so engem Raum zusammenleben mussten.

Mehr, als die Notfälle abzuholen, machen die Männer der Guardia Costiera nicht. Sie verstehen unsere Lage, wissen, wie das ist, weil sie selbst früher für die Seenotrettung vor der libyschen Küste zuständig waren. Sie sind nett, aber aktuell ziemlich nutzlos, denn sie helfen uns nicht mehr, als sie dürfen. Bei jedem medizinischen Notfall kam von den Menschen, die zurückblieben, die Frage, ob sie erst so krank werden müssten, um das Schiff verlassen zu können.

Sie brauchen dringend einen sicheren Hafen. Wie sich die Wartezeit auf der Sea-Watch 3 für jemanden anfühlt, der durchgemacht hat, was unsere Passagiere ertragen mussten, kann ich nur vermuten. Der Aufbruch ins Ungewisse, die lange Reise durch die Wüste, Hunger, Entbehrungen, falsche Versprechungen, Überfälle. Die blanke Verzweiflung, auf unbestimmte Zeit im Internierungslager festzusitzen, Folter, Vergewaltigung, Freunde und Familienangehörige, die einfach erschossen werden. Die Todesangst in einem unsicheren Schlauchboot auf hoher See.

Das Mittelmeer ist gefährlicher, als die meisten Urlauber es kennen, das Wetter kann schnell umschlagen, und dann bietet ein Schlauchboot mit vier Luftkammern keinen großen Schutz. Es braucht nur eine dieser Kammern Luft zu verlieren, dann kann ein so überladenes Boot sinken.

»Ich selbst habe gewaltigen Respekt vor dem Meer«, sagt Oscar. Er studiert Jura und riskiert mit seinem Einsatz als Schnellbootfahrer, eines Tages nicht von der Anwaltskammer zugelassen zu werden, falls er dafür vor Gericht landet und verurteilt wird. »Das Mittelmeer ist riesig groß, und es ist so einfach, darin verloren zu gehen. Auf der Sea-Watch 3 haben wir viel Equipment, das uns im Notfall retten kann. Vom Schnellboot aus sehen wir nur noch Wellen und Wind, und dann treffen wir auf einmal mitten im Meer auf ein Schlauchboot voller Menschen knapp einen Meter über dem Wasserspiegel. Kaum einer kann schwimmen, bei starkem Seegang ist die Gefahr besonders hoch, dass der Boden des Schlauchbootes bricht oder eine Kammer des Schlauchs reißt. Und die Rettung ist dann auch schwieriger, weil die Menschen natürlich noch mehr Panik haben. Die Kanister mit dem Benzin, das ihnen mitgegeben wurde, haben manchmal keine Deckel, und wenn das Boot kentert, läuft das Benzin unmittelbar um die Menschen herum ins Meer. Nur ein kleiner Schluck von diesem Gemisch, in dem man zu schwimmen versucht, und man wird ohnmächtig und ertrinkt. Die Leute sitzen auf dem Rand, in der Mitte schwangere Frauen, kleine Kinder. Wenn ich das sehe, wird mir jedes Mal wieder bewusst, wie riskant das ist. Wie groß muss die Not sein, dass man diese Gefahr in Kauf nimmt? Wenn man am Strand ist und das Schlauchboot bereitsteht zur letzten Etappe, hat man keine Wahl mehr, manche werden auch gezwungen einzusteigen. Und wenn ich dann von bestimmten Politikern höre, so ein Boot wäre doch seetauglich oder die Menschen machten das schließlich freiwillig … Das ist so zynisch, da denke ich mir, die müssten mal mit rauskommen und das am eigenen Leib erleben.«