Titus Nervianus - Sina Blackwood - E-Book

Titus Nervianus E-Book

Sina Blackwood

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Beschreibung

Seit Freyas Tod spürt Titus, der einsame Meermann, noch deutlicher als je zuvor, wie allein er ist. An manchen Tagen überlegt er gar, sein Leben zu beenden. Doch die Kraft, die ihn immer wieder an Land treibt, hält ihn auch davon ab. Heute hat ihn eine merkwürdige Unruhe befallen, sodass er beschließt, den Tag im Haus zu verbringen. In der Nähe des privaten Bootsstegs ortet er völlig überrascht eine bekannte Aura, was ihn schnell vor neue, ungeahnte Herausforderungen stellen wird.

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Seitenzahl: 228

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

Bérénice

Gelebte Träume

Neu sortiert

Das Testament

Die Vierte im Bunde

Zielsicher

Operngeflüster

Glückliche Fügungen

Verwicklungen

Die Nadel im Heuhaufen

Verbündete

Bérénice

Seit Freyas Tod sind zwei Jahre vergangen, in denen Titus, der einsame Meermann, noch deutlicher als je zuvor spürte, wie allein er eigentlich war. An manchen Tagen überlegte er gar, sein Leben zu beenden. Doch die Kraft, die ihn immer wieder an Land trieb, hielt ihn auch davon ab. Zudem hätte es Freya nicht gewollt, wie er ganz sicher wusste, weil sie es stets betont hatte. Manchmal raffte er sich auf, an der kleinen Bandschleifmaschine seine Fingernägel, die eigentlich dolchspitze Krallen gewesen wären, zu maniküren, um im Notfall als Mensch agieren zu können. Er hatte sogar einmal einen Techniker bestellt, der seine Rollstühle wartete und reparierte. Dank Internet und Terminlieferung konnte er einkaufen, ohne das Haus verlassen zu müssen, wenn es ihn nach menschlicher Kost gelüstete oder er Material zum Arbeiten brauchte.

Heute hatte ihn eine merkwürdige Unruhe befallen. Weil die vom ziellosen Herumschwimmen nicht besser wurde, beschloss er, den Tag im Haus zu verbringen und alte Videos anzuschauen, obwohl er drei Tage zuvor erst ins Meer zurückgekehrt war.

In der Nähe des privaten Bootsstegs ortete er plötzlich eine bekannte Aura. Er blieb unter der Oberfläche, um herauszufinden, wer sich auf dem Grundstück aufhielt. Von der Kante des Stegs baumelten zwei schlanke Beine ins Wasser. Bérénice! Die Urenkelin von Giulio, der Freyas Ex-Schwiegervater, zudem einer ihrer besten Freunde gewesen war. Die offizielle Besitzerin von Haus, Boden und Konto. Was mochte sie hierher getrieben haben?

Titus tauchte geräuschvoll direkt am Steg auf, sodass man von dort nur seinen Oberkörper sehen konnte. „Buongiorno, Bérénice!“

„Huch! Hast du mich erschreckt! Guten Morgen!“, rief die junge Frau. „Wunderbar, dass du doch zu Hause bist. Hast du ein paar Minuten Zeit für mich? Ich muss dringend mit dir reden.“

„Wäre schön, wenn du drinnen warten könntest, ich bin gerade kleidungstechnisch etwas unpässlich“, schmunzelte Titus, was sie glauben ließ, er sei nackt im Wasser. Er entriegelte mit der Fernbedienung die Tür.

„Oh ... natürlich“, stammelte Bérénice. „Du konntest ja nicht ahnen, dass ich ohne Voranmeldung hereinplatze.“

„Zweite Tür links! Ich bin gleich da!“, rief Titus noch hinterher, sich rasch abtrocknend, Shirt und Schlupfsack überstreifend, um seine untere Körperhälfte zu verbergen. Dann zog er sich in seinen Rollstuhl.

Bérénice hockte fast verschüchtert auf der Sesselkante. Keine Spur davon, sowohl hier die Herrin als auch über das Bankimperium ihres Großvaters zu sein.

Titus kam hereingefahren und öffnete die Jalousien. Er las in ihren Gedanken, wie in einem offenen Buch, nur dass die Seiten durcheinander gekommen zu sein schienen. „Hattest du eine angenehme Reise?“, fragte er, um die Situation etwas zu entspannen.

„Der Urlauberverkehr hielt sich Grenzen“, sagte Bérénice lächelnd.

„Espresso?“

„Gern!“

Titus wechselte in den Rollstuhl mit Hubsystem über, füllte die Maschine und nahm aus dem Gefrierfach Gebäck. „Ich bin leider nicht ganz auf Besuch eingestellt.“

„Kein Problem. Ich hätte ja auch Kuchen mitbringen können, wenn ich hier einfach hereinplatze“, seufzte Bérénice. „Klassische Patt-Situation.“

Titus stellte Wasser und Saft auf den Tisch, polierte die Gläser aus dem Schrank noch einmal mit einem Tuch auf, ehe er sie zum Gebrauch freigab. „Du wirkst deprimiert“, sagte er mit prüfendem Blick. „Wo drückt der Schuh?“

„Überall“, murmelte Bérénice. „Ich bin hier, weil es mir mein Urgroßvater geraten hat.“

Titus machte eine überraschte Handbewegung, wobei er sie fragend anschaute. Giulio war schon vor vielen Jahren verstorben. Titus nahm den fertigen Kuchen aus der Mikrowelle, füllte die Tassen mit heißem Espresso und setzte sich Bérénice gegenüber an den Tisch. Die inhalierte mit einem hingebungsvollen Schnuppern den Duft des starken Gebräus.

„Fast wie es Freya immer getan hat“, huschte es durch Titus‘ Gedanken. Ihm fiel auf, dass er Bérénice vielleicht nur fünf oder sechs Mal gesehen hatte. Als kleines Mädchen mit lustigen blonden Zöpfen, das es liebte, mit Freya zu basteln und sich von ihm Märchen oder über die Wunder des Meeres erzählen zu lassen.

Da begann Bérénice zu sprechen: „Urgroßvater hat immer gesagt: Wenn du mal groß bist, und gar nicht weiter weißt, und du glaubst, dass niemand mehr helfen kann, dann fahre nach Imperia zu Titus.“

„Das hat er gesagt?“, staunte der Meermann.

„Ja. Und er hat verlangt, dass das sein und mein Geheimnis sei. Kein anderer Mensch dürfe jemals davon erfahren“, erklärte Bérénice, Titus beinahe liebevoll anlächelnd. „Mit meinen Eltern hätte ich nicht drüber sprechen brauchen, denn die wollten einfach nicht begreifen, dass es irgendwas Besonderes geben musste, dass euch, meinen Urgroßvater und Onkel Gaspare ein so langes Leben schenkte. Ich sei eine unverbesserliche Träumerin, hieß es dann, und ich solle mich auf mein Studium konzentrieren, weil ich als einzig Fähige die Fahne des Imperiums hochhalten müsse. Punkt. Ich habe es dann auch ganz nach Wunsch durchgezogen ... bis ... bis ... bis deine Nachricht kam, Freya sei verstorben.“ Bérénice zog geräuschvoll die Nase hoch, ein Taschentuch hervornehmend. „Plötzlich waren da wieder die Worte meines Urgroßvaters, dass es für mich Besseres gäbe, als ein Zahnrad im Finanzgetriebe zu sein. Ich erinnerte mich Satz für Satz an das, was er mir aufgetragen hatte.“

„Dafür, dass du es, ohne die Hintergründe zu kennen, ganz nach seiner Bitte, Buchstabe für Buchstabe erfüllt hast, bin ich dir unendlich dankbar. Ich bin deinem Wohlwollen ausgeliefert, wenn es um dieses Fleckchen Land oder das Geld geht, was ich mit Freya gemeinsam erarbeitet habe“, bekräftigte Titus.

„Das habe ich begriffen, weil er es mir gar so intensiv und streng geheim ans Herz legte“, erwiderte Bérénice. „Und wenn ich sehe, dass du dich optisch nicht verändert hast, seit ich dich kenne, du seit fast einem Menschenleben auf allen Fotos gleich aussiehst, dann weiß ich, dass es ein sehr brisantes Geheimnis sein muss.“

„Aber du bist nicht in erster Linie hergekommen, um das zu lüften“, stellte Titus klar. „Was ist passiert?“

„Es ist kompliziert“, murmelte Bérénice. „Marcel, der Urenkel von Gaspare, versucht mich zu erpressen. Er will Großvaters Villa haben, seit meine oberschlaue Mutter lauthals getönt hat, sie werde dieses ‚Gruselhaus‘ nicht mehr betreten. Kostenlos will er es natürlich! Du hattest recht, dass ich mich möglichst von ihm fernhalten sollte. Nur ist das leichter gesagt als getan, wenn er seine Konten auf unserer Bank hat. Daher weiß ich aber auch, dass er die Villa nur haben will, um sie meistbietend zu veräußern, damit er seine immens hohen Spielschulden decken kann.“

Titus richtete sich auf. „Ach schau an, dann kommen also die Gene der Moreau in dieser Generation doch schon wieder durch. Damit habe selbst ich nicht gerechnet.“

Bérénice stellte mit einem Ruck die Tasse auf den Tisch. „Du weißt davon? Es hieß in Urgroßvaters geheimem Brief an mich, das sei ein absolutes Familiengeheimnis.“

„In das Freya und ich auf äußerst merkwürdige Weise verstrickt worden sind“, gab Titus bekannt.

Bérénice zog eine Kassette mit vier Fingerprintfeldern aus der Aktentasche und einen handschriftlichen Brief Giulios. Sie stellte die Kassette auf den Tisch, ihm das Papier reichend.

Ein kurzer Blick. „Ich kenne den Inhalt des Briefes und des Kästchens.“ Titus schaute Bérénice forschend an. „Und ich denke, du bist stark genug, die Informationen zu verkraften. Es wäre trotzdem besser, du bliebest ein paar Tage hier. Dann könnte ich dir sofort Rede und Antwort stehen, denn es wird heftig werden.“

Bérénice nickte stumm, nahm das Handy aus der Tasche, um ihren Sekretär anzurufen. „Ich werde die nächsten fünf Tage nicht im Haus, nicht einmal im Land, und nur, im absoluten Notfall, telefonisch erreichbar sein.“

Titus zog die Box etwas näher heran, legte außer dem Daumen alle vier Finger der rechten Hand auf die Scanflächen. Ein leises Knacken. Er probierte, ob sich der Deckel wirklich anheben lassen würde, dann schob er es Bérénice zu, die er aufmunternd anschaute.

Sie klappte es auf und nahm ein kleines, aber ziemliches dickes, Buch heraus, dessen Seiten per Hand beschrieben waren.

Titus schlug vor: „Du machst es dir im Wohnraum bequem. Ich meine, richtig bequem – Beine hoch, Kissen im Rücken. Ich bestelle uns Essen und kümmere mich um alles andere.“ Er begleitete Bérénice in das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. „Schau ganz in Ruhe nach, welch streng geheimes Material du nun in den Händen hältst.“

Bérénice blieb ein paar Augenblicke regungslos sitzen, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie hörte, wie Titus aus dem Nebenzimmer eines der ortsansässigen Nobelrestaurants anrief und einen Rundumservice für fünf Tage orderte.

Er lenkte den Rollstuhl wieder herein. „Möchtest du lieber allein sein?“

„Nein. Nein, bitte bleibe hier. Ich habe ein wenig Furcht vor dem, was ich gleich erfahren werde.“

„In Ordnung.“ Er nahm sich ein Buch aus dem Regal, um ebenfalls zu lesen.

Bérénice schlug die erste Seite auf, sich in die akribischen Aufzeichnungen ihres Urgroßvaters vertiefend, die damit begannen, wie seine Ex- Schwiegertochter Freya und ihr neuer Partner Titus seinen Sohn Gaspare vor dem Ertrinken bewahrt hatten. Bérénice las die Passage gleich mehrmals. „Deine Freya war Gaspares Frau gewesen?“, hauchte sie ungläubig.

„Das ist exakt“, bestätigte Titus.

Kopfschüttelnd vertiefte sich Bérénice wieder in die ungewöhnlichen Aufzeichnungen. Als zwei Stunden später der Lieferservice klingelte, schreckte sie zusammen. Sie eilte in die Küche, um Titus zu helfen.

Als er einwenden wollte, sie sei sein Gast, begann sie zu lachen. „Ich sehe dir an der Nasenspitze an, was du gerade dachtest! Ich habe mich dir regelrecht aufgedrängt, da ist es nur fair, wenn ich das erledige, was dir im Rollstuhl schwerer fällt.“

Titus schloss für einen Moment die Augen. Bérénice erwartete Vorwürfe. Stattdessen flüsterte er: „Du hast unglaublich viele Eigenheiten, die Freya so einzigartig machten.“

„Wirklich? Sie war, obwohl ich sie nicht oft gesehen habe, mein heimliches Vorbild bei allem, was ich bisher getan habe. Sie hat mit mir gebastelt und kleine Missgeschicke einfach weggelacht. Meine Mama hat stets nur die Nase gerümpft, wenn ich nicht sofort fehlerfrei agiert habe. Mir von Freya beibringen zu lassen, wie man Schmuck fertigt, hat sie mir schlichtweg verboten. Ich hätte euch so gern hier besucht.“

„Wenn du es immer noch lernen willst, kannst ich dir zeigen, wie es geht“, schlug Titus vor. „Du wirst ja nicht volle fünf Tage brauchen, um Giulios Memoiren zu lesen. Bis wohin bist du überhaupt gekommen?“

„Bis da, wo in der Tiefgarage das Licht ausging. Das fiel genau mit dem Klingeln zusammen, weshalb ich gar so erschrocken bin.“ Sie nahm die fertig angerichteten Teller aus den Warmhalteboxen. „Du hast doch nicht etwa meinetwegen beim 5-Sterne-Service bestellt?!“

„In der Hauptsache“, gab Titus bekannt. „Mir tut es aber auch gut, wieder einmal wirklich stilvoll zu essen.“ Er legte ein weißes Tischtuch mit Damastservietten auf, stellte einen der wundervollen antiken Leuchter auf die Tafel und nahm zwei Flaschen Champagner aus dem Barfach.

Bérénice drapierte lächelnd Dessert und Besteck. „Bei dir ist das Tischritual fast so anheimelnd, wie bei Urgroßvater Giulio. Zu Hause ist es einfach nur steife Etikette.“

„Du wirst dich an seinen Butler Manuel sicher nicht mehr erinnern können, der war ein Meister aller Tischsitten. Von steif, wie ein Pinguin, bis geschmeidig hingebungsvoll“, schmunzelte Titus.

„Und wie ich mich an ihn erinnere!“, rief Bérénice. „Er hat als Pensionär noch bei Urgroßvater gelebt. Wohnrecht auf Lebenszeit. Er ist zwei Jahre vor Urgroßvater gestorben. Er hat mich manchmal vor Bestrafung durch meine strenge Mama gerettet, indem er mir Flecke buchstäblich aus der Kleidung gezaubert und Eselsohren aus Heften und Büchern gebügelt hat. Er war ein wundervoller Mensch.“

„Ja, das war er. Ich habe ihn sehr gemocht“, verriet Titus. Er hob sein Glas. „Auf das Vermächtnis deines Urgroßvaters, und dass es dir gelingen möge, es zu bewahren.“

„Das wäre mein innigster Wunsch. Auf Urgroßvater!“ Bérénice lächelte dankbar.

Als Titus die Tafel aufhob, trug Bérénice das Geschirr in die Küche, wandte sich anschließend gleich wieder dem Tagebuch zu. Titus tauchte inzwischen für einen kurzen Moment ins Meer ab, wobei er direkt unterm Steg blieb. Ehe Bérénice ihn vermisste, kam er mit Tafelwassernachschub herein.

Bérénice wischte gerade eine Träne weg. „Was sind das nur für Bestien, die versucht haben, euch zu ertränken?“

Titus warf einen Blick auf die aktuelle Seite. „Du wirst es gleich erfahren, wenn er chronologisch berichtet.“

Wenig später schaute sie ihn entsetzt an. „Abgründe. Tiefste Abgründe. Urgroßvaters erste Frau war eine Moreau? Sie hat tatsächlich versucht, ihren eigenen Sohn und euch alle umbringen zu lassen?! Und was sie Gaspare vorher angetan haben, ist widerwärtig. Gut, dass Freya plötzlich da war. Wer weiß, was sonst geschehen wäre!“

„Ich habe damals gewusst, wen ich aus dem Wasser ziehe. Auch, in welchem Verhältnis er wirklich zu Freya stand.“

„Hm, das hat Urgroßvater am meisten beeindruckt.“ Bérénice ließ den Finger über den Satz gleiten. Plötzlich riss sie die Augen auf. „Du hast auf meine Gedanken geantwortet!“

Titus blinzelte. „Das ist einer der Gründe, warum dich Giulio zu mir geschickt hat.“

„Und wohl auch einer von vielen Gründen, weshalb dich meine Mutter unheimlich findet.“ Bérénice hielt sich entsetzt den Mund zu. „Es ... es tut mir leid.“

„Muss es nicht. Denn du hast noch das gleiche reine Herz, das du als Kind hattest. Ich habe immer gewusst, wie sie über mich denkt. Sie war nicht die Erste, die mich Monster nannte.“ Titus winkte ab. „Dabei ist es bei ihr nur der Neid, weil ich ewig jung aussehe, und sie sichtbar altert. Später dehnte sie diese Missgunst auf Freya aus, die einen jung wirkenden Mann hatte, obwohl ihr Haar weiß und ihre Haut faltig geworden war.“

„Oh ja! Das traue ich ihr zu! Das waren also die wahren Gründe, aus denen sie jeden Kontakt zu euch unterbunden hat!“

„Sagen wir so: Wir haben auch Berührungspunkte möglichst vermieden, weil ich die Gedanken kannte“, stellte Titus klar. „Lust auf Eis und Cappuccino?“

„Liebend gern! Ich habe doch glatt vergessen, dass ich in Italien bin, wo beides besonders gut schmeckt!“

„Für mich ist ausschließlich wichtig, dass du keine Angst vor mir hast. Aber sonst wärst du nicht hiergeblieben, oder gar nicht erst gekommen“, erklärte Titus, eifrig Milchschaum aufschlagend.

„Richtig. Ich habe euch schon als Kind geliebt und finde dich faszinierend, nicht unheimlich.“ Bérénice wurde rot, hob dann aber die Schultern, wobei sie meinte: „Die Katze ist doch eh aus dem Sack, weil du Gedanken lesen kannst.“

Titus blinzelte. „Deine Ehrlichkeit und deine Charakterfestigkeit wusste dein Urgroßvater sehr zu schätzen. Sonst hätte er die Aufzeichnungen vernichtet. Und ich weiß sie auch zu schätzen, sonst hätte ich die Kassette nicht geöffnet. Jedenfalls werde ich nicht in Ohnmacht fallen, solltest du versuchen, deinen geheimen Wunsch zu erfüllen.“

Bérénice wurde rot, wie eine reife Tomate. „Du musst mich doch jetzt für einen Ausbund von sonst was halten!“

„Nein. Nur für eine sehr gut aussehende junge Dame, die Lust auf Leben mit all seinen Facetten hat.“

„Du ermutigst mich?“, staunte sie ihn mit riesengroßen Augen an.

Titus lächelte. „Ich habe keine Eide geschworen, nach Freyas Tod für alle Zeiten enthaltsam zu leben. Aber ich habe ihr gegenüber jeden Schwur erfüllt.“

„Bist du unsterblich?“, hauchte Bérénice.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte Titus, beinahe hilflos die Hände hebend.

Bérénice streichelte aus einem Impuls heraus Titus‘ Hand.

„Oh, mein Gott! Die gleiche Art und Weise, wie es Freya am Tag unsres Kennenlernens getan hat!“ Laut sagte er, wie damals: „Daran könnte ich mich gewöhnen“, nur im Tonfall klang Zweifel mit.

„Wirklich?“ Das Streicheln endete in einem Halt suchenden festen Griff.

„Lies erst mal tapfer weiter. Vielleicht läufst du in ein paar Stunden lieber schreiend davon, als in der Nähe eines Monsters zu bleiben.“

Der Griff wurde stärker. „Jene, die dich über alles verehrten, sind auch nicht davongerannt. Streiche dieses hässliche Wort. Es wird sicher eine plausible Erklärung geben, die ich irgendwo im Text finden werde.“

Bérénice las wirklich ganze Passagen mehrmals. Jene, in denen es um Firmeninterna ging, überflog sie nur. Bat aber Titus um ein Blatt Papier, aus dem sie sich Lesezeichen reißen wollte.

Er hielt ihr farbige Klebezettelchen hin. „Nimm lieber dies, falls du nichts notieren musst.“

„Das ist prima, da kann ich die Stellen gleich nach Relevanz einstufen.“ Eine Seite markierte sie durch zwei roten Streifen und beantwortete Titus‘ fragenden Blick mit: „Das ist eine komplette Liste, was Adeline ihren Gatten privat gekostet hat.“

Titus schaute mit ins Buch. „Ach, du lieber Himmel! Dafür, dass sie bestenfalls vier Tage im Monat bei ihm war, er sich zudem allein um seinen Sohn Gaspare kümmern musste, der Gipfel der absoluten Frechheit. Für das Geld hätte er einen Harem samt dazugehörigen Kindern absichern können.“

Bérénice blinzelte Titus belustigt an. Sie kannte ihn nur absolut korrekt, selbst wenn er ihnen früher die wundervollsten Geschichten übers Meer in kindgerechten Worten erzählt hatte. „Das Witzige steht ihm ausgezeichnet. Ich bin neugierig, was noch hinter der unnahbaren Fassade versteckt ist.“ In dem Moment fiel ihr ein, dass sie es auch hätte laut sagen können. „Oh je!“

Titus begann herzhaft zu lachen. „Das wäre dann glatt ein Seelen-Strip.“

„Mann oh Mann, vor dir muss man sich also richtig in Acht nehmen“, kicherte Bérénice mit lustig verdrehten Augen. „Du weißt aber schon, dass ich jetzt ganz Neugier bin?“

Titus hob breit schmunzelnd eine Augenbraue. Er war genau so neugierig auf ihre Reaktion, wenn sie seine wahre Identität herausfinden werde.

„Ich glaube, ich muss eine Pause machen, mir verschwimmen schon die Buchstaben vor den Augen“, seufzte Bérénice. „Darf ich mir deine Kakteensammlung anschauen?“

„Aber natürlich! Wir können dann auch das Abendbrot inmitten der stacheligen Gesellen einnehmen, bei Fackelschein und Millionen von Sternen am Firmament.“

Bérénice nickte heftig. „Ich bin dafür!“

Weil die Dämmerung schon hereinbrach, schaltete Titus nur die Spots an besonders prächtigen Exemplaren an, was seine Wirkung auf Bérénice nicht verfehlte.

„Und alle selbst gezogen, wie ich aus meiner Kindheit weiß“, flüsterte sie beeindruckt.

„Nun, nicht ganz. Vier Raritäten habe ich als fertige Pflanzen von Freyas Geschäftspartnern zum Geschenk bekommen.“ Titus deutete auf die filigranen Gebilde, welche besonders geschützt standen. Er begann den Tisch für das Abendessen vorzubereiten, steckte Fackeln in die Halterungen und stellte sogar einen gefüllten Wassereimer für den schlimmsten Notfall bereit.

„Denkst du immer an jedes Szenario?“, staunte Bérénice.

Ein fast wehmütiges Lächeln. „Ich muss. Das ist buchstäblich meine Lebensversicherung. Nicht nur, weil ich nicht gehen kann.“

„Ich stelle es mir überhaupt sehr schwer vor, ein langes, langes Leben im Rollstuhl verbringen zu müssen“, warf Bérénice traurig ein.

„Anderen, die einmal laufen konnten, geht es sicher so. Ich betrachte es als Glückstreffer, dass die Menschheit Rollstühle überhaupt erfunden hat. Man kann nicht alles haben. Ein fast biblisch langes Leben bei jungem Aussehen und gehen zu können, schließt sich wahrscheinlich gegenseitig aus.“

„So gesehen ...“ Bérénice studierte sein zeitlos schönes Gesicht, das sicher schon antike Bildhauer zu Kunstwerken inspiriert hätte.

„Woran denkst du?“, fragte Titus, der plötzlich nur noch Gedankensequenzen empfing, die sich wie Stroboskoplicht anfühlten.

„An Urgroßvaters Blauen Salon mit dem riesigen Aquarium“, erklärte Bérénice, in weite Ferne blickend. „Meine Eltern hatten mir eine Zeitlang verboten, diesen Raum zu betreten, weil ‚gefährliche‘ Tiere im Wasser seien. Unlogisch ist, dass ich plötzlich wieder hinein durfte, obwohl sich nichts am Besatz des Beckens geändert hatte. Ich versuche gerade, mich zu erinnern, was noch im Raum war, das dann gefehlt haben könnte.“

Es fiel ihr genau beim Abendbrot ein. „Ich weiß es!“, rief sie triumphierend. „Da waren zwei große Skulpturen mit fast lebendigen Augen, vor denen sich meine Mutter wie wahnsinnig gefürchtet hatte. Und eine trug deine Gesichtszüge!“

„Steht darüber nichts im Buch?“, fragte Titus.

„Ich habe es vielleicht falsch interpretiert“, murmelte Bérénice. „Oder ich finde noch eine Textstelle, wo beschrieben wird, was mit den Statuen geschehen ist.“ Sie schaute ihn prüfend an. „Du scheinst auch zu wissen, dass es sie gegeben hat.“

„Ja, ich kenne die Plastiken. Freya hatte sie in Giulios Auftrag geschaffen.“

„Also noch ein Geheimnis“, seufzte Bérénice. „Oh, schau mal! Eine Sternschnuppe!“

Stumm folgten sie dem verglühenden Himmelsgast mit den Augen.

„Es kann kein Zufall mehr sein. Sie sieht genau so kleinste Details, wie Freya. Ich glaube, ich bin gerade dabei, mich noch einmal bis in den letzten Flossenzipfel zu verlieben.“

„Das kindliche Vergöttern eines Idols hat heute neuen Nährstoff bekommen. Ich möchte am liebsten hierbleiben, um ihm einfach nur nah zu sein. Ich habe noch nie solch ein Verlangen, wie nach diesem Mann verspürt.“

Titus‘ Herz machte einen Freudensprung. Nur hatte er im Lauf der Jahrhunderte gelernt, den richtigen Zeitpunkt für Entscheidungen abzuwarten. So ließ er sich nicht anmerken, diese klaren Gedanken besonders deutlich wahrgenommen zu haben.

Der langsam auffrischende Wind ließ Bérénice frösteln. So kehrten sie in den Wohnraum zurück.

„Ich muss dich ein halbes Stündchen allein lassen“, erklärte Titus. „Das lange Sitzen ist sehr anstrengend.“

„Mach dir keine Sorgen, ich werde noch ein bisschen lesen.“ Bérénice kuschelte sich wieder in die Sofakissen.

Als Titus nach 20 Minuten wiederkam, war sie mit dem Buch in der Hand ganz fest eingeschlafen. Titus zog es ihr mit mildem Lächeln aus den Fingern, warf einen Blick hinein und stellte zufrieden fest, dass sie ihn erst am nächsten Morgen enttarnen werde. Er legte das Buch auf den Tisch, nachdem er eine farbige Markierung hinein geklebt hatte.

Wäre ich ein Mensch, würde ich dich in dein Bett tragen. So kann ich dich nur warm zudecken. Er holte die Bettdecke aus dem Gästezimmer, um sie schützend einzuhüllen.

Bérénice merkte nicht einmal das. Sie schlief wie ein Stein. So wagte es Titus, sanft mit dem Fingerrücken ihre Wange zu streicheln. „Träume was Schönes. Gute Nacht.“

Bérénice wurde munter, als der Lieferservice das Frühstück brachte. „Oh je. Noch mehr Arbeit meinetwegen“, murmelte sie, als ihr bewusst wurde, auf der Couch geschlafen zu haben. „Ich bin ja nicht mal kleidungstechnisch oder mit irgendwas auf Übernachtungen eingerichtet. Er wird mich hassen.“ Sie lugte vorsichtig in die Küche.

„Schau an, das Murmeltier ist aufgewacht“, rief Titus fröhlich. „Guten Morgen!“ Blinzelnd schob er nach: „Du machst dir völlig unnötige Sorgen. Wir werden schon eine Lösung für das Problem finden. Komm mit!“ Er führte sie zum Gästezimmer, dort den kleinen Wandschrank öffnend. „Hier ist ein komplettes Set für schnellentschlossene Übernachtungsgäste.“

„Super!“, jubelte Bérénice. Im fabrikoriginalen eingeschweißten Klarsichttäschchen befand sich alles, was der Mensch mindestens zur Körperpflege benötigte.

„Nach legerer Freizeitkleidung kannst du in Freyas Fundus fahnden. Ich habe alles gereinigt oder gewaschen in Schutzhüllen aufbewahrt. Sie wäre ganz sicher erfreut, wenn es jemand nutzt, der ihrer würdig ist. Denn dich hat sie genau so sehr geliebt, wie du sie. Besonders, weil wir keine eigenen Kinder haben konnten.“

Bérénice überlegte einen Moment. „Ich nehme das Angebot an.“

Über Titus‘ Gesicht huschte ein dankbares Lächeln. „Gehen wir auf die Jagd!“

In Freyas Schrank lag alles wohlgeordnet. Bérénice entscheid sich rasch für eines der hübschen Hauskleider sowie ein langes T-Shirt als Nachthemdersatz.

„Unglaublich. Auch hier ist die erste Wahl genau wie bei Freya!“, staunte Titus.

„Ich bin gleich fertig!“, versprach Bérénice, ins Bad ihres Gästezimmers eilend.

Titus öffnete das Fenster, um die herrliche Morgensonne hereinzulassen, legte die Schlafdecke zusammen und trug das Frühstück auf. Bérénice brachte die Espressokanne mit.

„Du wirst froh sein, wenn du mich wieder loshast“, seufzte sie. „Ich bringe deinen ganzen Tagesplan durcheinander.“

„Vielleicht habe ich gar keinen Plan und genieße es, ein wenig aus meinem monotonen Überlebenstrott gerissen zu werden?“, schmunzelte Titus. „Ich habe seit gestern das Gefühl, zu leben, nicht einfach nur als Relikt zu existieren.“

„Trotz deines breiten Lächelns macht mich die Wortwahl stutzig“, stellte Bérénice mit prüfendem Blick fest. Scherzhaft mit erhobenem Finger drohend, erklärte sie: „Ich werde herauskriegen, was dahinter steckt.“

„Das heißt, du willst dann nicht shoppen, sondern weiterlesen“, fasste es Titus zusammen.

„Ist das ein Sakrileg?“, fragte sie mit riesengroßen Augen, sanft den Stoff des Kleides streichelnd.

„Völlig falscher Denkansatz“, schmunzelte Titus. „Vergiss für die Tage, wo du bei mir bist, das strenge Bankprotokoll. Denk an Giulios Worte, dass es mehr gibt, als ein Rädchen im Getriebe zu sein. Du bist tief im Inneren ein fröhlicher Mensch, der sein wahres Ich in Ketten legen musste, um anderen einen Gefallen zu tun. Sag, was du denkst, ich merke es doch sowieso, wenn du dich quälst, nach Worten zu suchen.“

„Giulio hatte recht, du bist der Einzige, der anderen bis ins Herz sehen kann. Sein Rat, hierher zu kommen, ist nicht einmal mit dem gesamten Gold dieser Welt aufzuwiegen.“ Bérénice schenkte Titus ein bezauberndes Lächeln.

„Hat er dir wenigstens auch geraten, keine Zweckehe einzugehen, nur um den Schein zu wahren?“

Bérénice nickte heftig. „Seine erste Ehe und Gaspares Misere, hat er als Paradebeispiele angeführt. Ich habe gesagt, ich hätte an Gaspares Stelle mit allen Mitteln um meinen Ex-Partner gekämpft. Da hat er gelacht und gemeint: ‚Hättest du nicht. Sogar um nichts in der Welt.‘ Na ja, jetzt wo ich weiß, wer seine Ex-Frau war und wer ihr neuer Partner, hätte ich es in dieser Konstellation auch tunlichst unterlassen.“

„Und das, wo du noch nicht mal alles weißt“, erwiderte Titus, vorschlagend: „Bei dem herrlichen Sonnenschein sollten wir in der Kakteenlandschaft lesen. Ich habe gestern noch verschiedene Getränke im kleinen Kühlschrank deponiert.“

„Du verwöhnst mich“, merkte Bérénice an.

„Ja. Gern. Und mit wachsender Begeisterung“, schmunzelte Titus.

Gelebte Träume

Sie räumten gemeinsam den Tisch ab, nahmen ihre Lektüre zur Hand, dann machten sie es sich auf der Kakteenterrasse unterm Sonnensegel bequem. Bérénice las wieder einige Passagen mehrmals. Plötzlich ließ sie das Buch sinken, Titus mit offenem Mund anschauend, wobei er wieder die Stroboskop-Gedanken fühlte. Er hob den Kopf, ahnend, dass sie soeben den Schnorchelausflug im Visier gehabt hatte.

„Aber ja! Jetzt ergibt das alles erst einen Sinn!“, rief sie triumphierend. „Du gehörst einer Spezies an, über die fast nichts bekannt ist. Und das muss auch so bleiben, um dich vor der Idiotie der Menschheit zu bewahren!“ Sie wischte ein paar Tränen fort.

„Warum weinst du?“

„Weil ich einfach nur überwältigt bin, dass das wahre Geheimnis viel größer ist, als ich jemals gedacht hätte. Zudem bin ich dankbar, dass es mir vergönnt ist, solch ein Wunder erleben zu dürfen.“ Sie nahm seine Hände, lächelte unter Freudentränen, jeden Quadratzentimeter seines Gesichts betrachtend, als sehe sie es heute zum ersten Mal.

„Dann kann ich mein Versteckspiel dir gegenüber also aufgeben“, blinzelte Titus. „Wenn ich mich kurz zurückziehe, lege ich mich nicht einfach hin, sondern in die Badewanne, weil ich sonst austrockne. Als du ankamst, war ich gerade frisch von einem zweitägigen Aufenthalt im Meer zurückgeschwommen. Ich habe dich ins Haus gebeten, um mich tarnen zu können, nicht weil ich im menschlichen Sinne nackt gewesen wäre. Seit Freyas Tod bin ich normalerweise nur ein Mal im Monat hier, um meine Pflanzen zu versorgen. Mich hatte eine undefinierbare innere Unruhe hergetrieben. Dass es einen so gut aussehenden Grund dafür geben könnte, habe ich nicht erwartet. Weißt du was? Ich hole Champagner und Gläser!“

„Oh ja! Das ist der Situation angemessen!“, strahlte Bérénice. „Ich helfe tragen!“

„Ich habe doch mein Körbchen. Solange nicht der böse Wolf auftaucht, sollte ich alles heil nach draußen bekommen“, schmunzelte Titus.

„Na, da wäre ich vorsichtig. Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, dass es hier sogar Meermänner geben soll“, kicherte Bérénice.

„Okay. Dann nehme ich den Begleitschutz an“, lachte Titus.

Als sie wieder in der Kakteenecke saßen, füllte Titus die Gläser. „Auf eine junge Frau, die keine Angst vor Monstern hat“, er hob sein Glas und ließ die Haizähne blitzen.

Bérénice grinste schelmisch. „Beim Anblick dieses Gebisses hätte der böse Wolf den Schwanz eingekniffen, sich die Flasche Rotwein aus Rotkäppchens Korb vor Schreck auf Ex hinter die Binde gekippt, falls er nicht sogar sofort geflohen wäre.“

„Au weia. Kopfkino.“ Titus musste das Glas abstellen, sonst hätte er vor Lachen alles verschüttet. Bérénice lächelte vergnügt.