Hanne - eine Rheinländerin im Chiemgau - Elisabeth Ippen - E-Book

Hanne - eine Rheinländerin im Chiemgau E-Book

Elisabeth Ippen

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Beschreibung

Hanne. Kölnerin von Geburt. Neuerdings Chiemgauerin. Nach einer Lebenskrise zog es die Rheinländerin, allen wohlgemeinten Warnungen vor Bayern im Allgemeinen und den Bayern im Besonderen zum Trotz, ins Voralpenland und dort mitten hinein in ein kleines Dorf. Konnte das gut gehen? Es konnte. Auch wenn es nicht immer einfach war. In dreißig humorvollen Geschichten wird erzählt, wie das „Ankommen“ in der neuen Heimat dank entgegenkommender Mitmenschen und einer zauberhaften Umgebung schon bald gelingt. Geschichte für Geschichte lernen die Leser/innen Einheimische und Zugezogene, bayerisches Brauchtum und bayerische Lebensart kennen, können sie teilnehmen am Alltag im Dorf, werden sie mitgenommen auf kleine und große Ausflüge in die nähere oder fernere Umgebung und erfahren sie, wie es ist, Heimweh zu haben und sich schließlich doch ganz und gar zu Hause zu fühlen an einem Ort, der wirklich zur neuen Heimat geworden ist.

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Elisabeth Ippen, geboren 1951, studierte Pädagogik für Sonderschulen, lebte dreißig Jahre in Bonn, zunächst als Mutter und Hausfrau, schrieb nebenher Jugendbücher und hielt an unterschiedlichen Bildungseinrichtungen Vorträge über Erziehung. Seit 2011 lebt sie als Autorin im Chiemgau.

Seither erschienen:

Ganz unverblümt. Sprüche und Aphorismen 2011 Zum Glück in Prien. Ein Neubeginn 2013 Der Weg ist das Ziel. Unterwegs in Süddeutschland [email protected]

Sollten einige der bairischen Worte nicht lautgetreu wiedergegeben worden sein, so liegt es daran, dass auch die Autorin eine „Zuagroasde“ ist.

Inhalt

Vorwort

Im Café

Eingeladen

Schnee

Schneeloch

Föhn

Unsinniger Donnerstag

Kölsche Tön

Auf dem Lehrpfad

Cafeteria

Ausflug

Sonne

Regen

Nebel

Cafeteria II

Karfreitag

1.Mai

Gefährliche Gegend

Übernommen

Kultur

Dörfer und Märkte

Auf dem Gipfel

Gstadt

Lustig

Wechselhaft

Heimat

Was für ein Tag

Michaelimarkt

Sonntag

Geburtstag

Christkindlmarkt

Vorwort

Mehr als fünfzig Jahre hatte Hanne im Rheinland gelebt. Sie war in Köln aufgewachsen, hatte in Köln gearbeitet, geheiratet und zwei Kinder großgezogen. Meist war sie mit ihrem Leben dort sehr zufrieden gewesen. Bis, ja, bis die Söhne zum Studieren in die Welt hinauszogen und ihren Mann urplötzlich die Mittlebenskrise überfiel. Er verschwieg es ihr nicht, auch nicht die wechselnden Liebschaften, in denen er noch einmal ein ganzer Mann sein konnte. An der eigenen Frau hatte er kein Interesse mehr. Sie kannte ihn schon zu gut.

Für Hanne brach eine Welt zusammen. Die Familie hatte ihr Sinn und Halt gegeben. Treusorgend hatte sie sich um alle und alles gekümmert. Mit einem Mal gab es nichts mehr zu sorgen und zu kümmern. Als Frau nicht mehr geschätzt, als Mutter nicht mehr gebraucht. Da machte das Leben keinen Sinn mehr.

Ihr Mann zog aus und sie zog sich zurück, ging bald kaum noch aus dem Haus. Als sich dann bei ihr ein massiver Bluthochdruck entwickelte, begannen die Freundinnen, sich um sie zu sorgen. „Hol dir Hilfe“, sagten sie immer wieder. Es dauerte jedoch, bis Hanne sich dazu aufraffen konnte und sich Rat holte. Eine Kur in einer psychosomatischen Klinik wurde ihr empfohlen und schließlich stimmte sie zu. Ein paar Wochen weg aus der Stadt, in der sie an jeder zweiten Ecke von Erinnerungen überfallen wurde. Einmal wieder ganz was anderes sehen und ganz neue Eindrücke sammeln.

Die Kur brachte tatsächlich die Wende. Leise wurde erneut Lebenslust spürbar. Wurde nach und nach stärker. Wurde so stark, dass sie wieder mehr aus dem Haus ging, sogar Ausflüge unternahm, erst mit Freundinnen, dann auch allein. Wurde schließlich so mächtig, dass in ihr eine Idee auftauchte, die immer lockender wurde, bis sie ihr nachgab.

Wegziehen. Für immer. Es sich richtig gut gehen lassen. Nicht mehr nur im Urlaub wollte sie eine schöne Umgebung haben. Nein, immer. Wo hatte sie sich bei den Familienurlauben am wohlsten gefühlt? Im Voralpenland. In Bayern.

Alle Warnungen bezüglich der sturen, holzköpfigen Bewohner dieses Landes in den Wind schlagend, zog sie in den Chiemgau. Mitten hinein in ein Dorf. In der Stadt hatte sie lange genug gelebt. Ob sie hier nun, wie mehrfach prophezeit, kaum ein Wort würde verstehen können, würde sich zeigen. Ob man sie als Rheinländerin akzeptieren würde, auch.

Dass in Bayern die Uhren angeblich anders gingen als im übrigen Deutschland störte sie nicht. Ihre ging auch nicht immer richtig.

Im Café

Hanne schaute aus dem Fenster. Grau. Graugrün. Graubraun. Und das sollte jetzt der bayerische Winter sein? Den hatte sie sich anders vorgestellt. Leise rieselnde Schneeflocken, ein verschneites Dorf, lustvolles Stapfen in tiefem Schnee, in der Sonne glitzernde weiße Hügel und Berge.

Nichts von alledem. Dabei neigte sich der Januar bereits dem Ende zu. Aber nun ja, sie war ja nicht wegen des Schnees in den Chiemgau gezogen, sondern wegen der Berge. Doch auch von denen war weit und breit nichts zu sehen, seit Tagen schon hatten sie sich in undurchdringlichen Nebel gehüllt und taten so, als seien sie gar nicht da.

Keine Berge und kein Schnee. Ärgerlich. Sehr, sehr ärgerlich. Immerhin hatte der fehlende Schnee aber auch eine gute Seite, ermöglichte er es ihr doch, weiterhin mit dem Fahrrad die neue Umgebung zu erforschen, und genau das tat sie jetzt wieder einmal. Ohne besonderes Ziel fuhr sie hügelauf und hügelab und konnte dabei zu ihrer Freude beobachten, wie die Berge sich, langsam zwar, aber unaufhörlich, ihrer Tarnanzüge wieder entledigten, wie sich das graue Gewölk über ihr lichtete, immer dünner wurde und nach und nach einem geradezu himmlischen Blau Platz machte.

Schließlich musste sie anhalten und in die Weite schauen. Dieser Himmel! Diese Berge! Majestätisch wirkten sie. Strahlten Ruhe aus. Ein paar dünne Schneefelder an den Hängen wiesen hin auf die Jahreszeit und da konnte sie ihn doch auch ein wenig genießen, diesen nur so halbherzig auftretenden Winter.

Nein, Schnee hatte er den unteren Lagen noch keinen gebracht, Kältegefühle bescherte er aber durchaus bei längeren Aufenthalten im Freien. Ein Kaffee würde jetzt gut tun. Siehe da, fast schon wie bestellt tauchte wahrhaftig ein kleines Café auf.

Hanne stellte ihr Rad ab und betrat einen gut gefüllten Raum, in dem so richtig was los war. An mehreren zusammengeschobenen Tischen saß ein Trupp Frauen mittleren Alters, an den Einzeltischen saßen in der Hauptsache ältere Männer und lasen die Tageszeitung. Und etliche von ihnen, das konnte ja wohl nicht wahr sein, es war gerade erst 10.00 Uhr, hatten Bier vor sich auf dem Tisch stehen. Keine kleinen Gläser, nein, so richtig große Humpen. Hannes Magen zog sich krampfhaft zusammen. Keine Sorge, so etwas würde sie ihm in dieser Jahreszeit nicht zumuten. Und ganz bestimmt nicht um diese Uhrzeit.

Sie bestellte direkt an der Theke einen Latte macchiato und nahm Platz am letzten freien Tisch. Es dauerte nicht lange, da kam eine junge Bedienung mit fragendem Blick an ihren Tisch. „Cappuccino?“

Der konnte nicht für sie sein. Hanne wies zum Nebentisch hinüber. Vielleicht da?

Nein, war sich die Bedienung mit einem Mal ganz sicher. Der war für sie.

„Aber ich hatte einen Latte macchiato bestellt.“

„Oh, da ist Ihr Auftrag wohl falsch weitergegeben worden.“ Standhaft blieb die junge Dame mit der Tasse in der Hand neben ihr stehen.

„Na gut“, sagte Hanne, „da nehme ich ihn eben. Obwohl mir der Cappuccino oft zu stark ist.“

Die Bedienung sah erleichtert aus, stellte ihr die Tasse hin, neigte sich dann plötzlich zu ihrem Ohr hinab und flüsterte: „Ist sowieso dasselbe, nur, dass der Latte macchiato im Glas serviert wird“. Mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen schwebte sie davon.

Was? Latte macchiato und Cappuccino, alles eins? Sollte sie jetzt lachen oder weinen? Hanne entschloss sich, zu lachen. Ein wenig verwundert war sie ja schon. Hatte das ernsthaft noch keiner der sich häufiger in diesem Café aufhaltenden Gäste bemerkt? Oder wirkte hier der aus der Medizin bereits hinlänglich bekannte Placebo-Effekt und sie schmeckten alle genau das, wovon sie dachten, dass sie es gerade tranken?

Vom Frauenstammtisch drang Gelächter zu ihr her. Immer neue Salven brandeten auf. Hanne spitzte die Ohren, doch leider wurde ausschließlich bairisch gesprochen. Oder? Die größten Lachsalven erzielten jetzt hochdeutsche Worte, angereichert allerdings mit englischem Vokabular. „Frauenpower“ schallte es zu ihr herüber. Und dann „Powerfrauen“. Und jetzt schütteten sie sich drüben aus über das Wort „Turbofrauen“.

War da eine Verschwörung im Gange? Gegen die Männer gar? In ihrer alten Heimat sagte man den bayerischen Männern eine gewisse Dominanz nach.

Am Stammtisch wurde es wieder leiser und einzelnen, ihr etwas verständlicheren Bruchstücken konnte Hanne entnehmen, dass der Stammtisch noch gar keiner war, sondern gerade erst gegründet wurde. Oder gegründet worden war. Die ersten Frauen brachen bereits auf. „Pfüati“ oder „Pfüeti“ oder so riefen sie den Zurückbleibenden zu.

So sehr sie sich auch bemühte, Hanne konnte es einfach nicht verstehen. Pfüwas? Und was hieß das? Sie hatte das Wort nun schon mehrfach gehört, konnte in dieser Silbenkombination jedoch keinerlei Sinn erkennen.

Auch Hanne brach wieder auf. Sie zahlte und verließ das Café. „Pfüati“ rief ihr die freundliche Bedienung hinterher. Oder hieß es nicht doch „Pfüeti“?

Hanne trat den Rückweg an und traf vor der Haustür eine Nachbarin, mit der sie sich bereits einige Male unterhalten hatte.

„Na, wo waren Sie denn heute?“, wurde sie gefragt und da erzählte sie von ihrer Kaffeeüberraschung im Café.

Die Nachbarin schaute erstaunt drein. „Was, die auch?“ rief sie aus und erzählte von einem anderen Café, in dem ihr statt ihres Latte macchiato ein Cappuccino berechnet worden war. Auch sie hatte erfahren, dass man ein und demselben Kaffee nur jeweils einen anderen Namen gab. Sie fand das gar nicht so lustig wie Hanne, die erneut lachen musste. Sie machten es sich einfach ein wenig einfacher als andere. Die Bayern. Diese Bayern jedenfalls.

Eingeladen

Hanne war unter die Männer gefallen. Buchstäblich. Beschwingt vom Anblick einer zwar immer noch nicht weiß verschneiten, aber heute immerhin weiß bereiften Welt, schier überwältigt vom Anblick der Bäume und Sträucher mit ihren so zart und filigran in den blauen Himmel strebenden Zweigen, und nahezu geblendet von der in der Morgensonne funkelnden kristallenen Decke auf der Obstwiese nebenan, war sie zur Bäckerei geeilt, um sich zur Feier dieses wundervollen Tages ein paar Brötchen zu kaufen. Und da war es geschehen. Zack, war sie ausgerutscht auf dem über Nacht gefrorenen Rinnsal aus einem Regenrohr.

Der Sturz war unaufhaltsam gewesen, hatte erst geendet zu Füßen einer Gruppe Herumstehender, allesamt männlichen Geschlechts, und alle sofort um sie bemüht. Man(n) hatte ihr aufgeholfen und sich besorgt erkundigt, ob sie sich wehgetan hätte. Nein, hatte sie nicht. Dass das Steißbein sich schmerzlich bemerkbar machte, hatte sie lieber verschwiegen.

Einer der Herren war ganz besonders besorgt gewesen und hatte es sich nicht nehmen lassen, sie nach Hause zu begleiten, hatte sie auf den erlittenen Schrecken hin für den Nachmittag zum Kaffee eingeladen und danach gleich auch noch zu einem Abendessen am nächsten Wochenende, um sich, wie er sagte, persönlich davon zu überzeugen, ob der Sturz nicht doch noch Spätfolgen zeigen würde. Außerdem wollte er ihr, der frisch Zugezogenen, die gute bayerische Küche etwas näher bringen.

Von der wusste sie nur: viel Fleisch, bevorzugt Schweinshaxen, Würste, Innereien, Sülze. „Ich bin Vegetarierin“, war es ihr spontan entfahren. Sie war sofort beruhigt worden. Bayerische Knödel seien ausgesprochen lecker. Und die Mehlspeisen erst. Aber natürlich gebe es auch Gemüse und Salat. Da hatte sie zugesagt, zumal dieser Mann wirklich nett zu sein schien, bestes Hochdeutsch sprach, auch ganz normal aussah. Keine Lederhose oder so. Ob er auch ein Zugezogener war?

„Wie geht`s?“, fragte er fürsorglich, als er sie am Sonntagabend abholte.

„Gut“, sagte sie, und wäre da nicht der beharrliche Schmerz an einer längst grün-rot-blau verfärbten intimen Stelle gewesen, hätte es sogar gestimmt. Mit äußerster Vorsicht nahm sie Platz am Gasthaustisch. Dann blickte sie sich um. Gemütlich. Holztische und Holzstühle, ein langer Stammtisch in der Ecke, und an den Wänden Ölgemälde, Landschaften und Portraits ernst dreinschauender bayerischer Damen und Herren in Tracht.

Die Gaststätte war gut besucht, ihr Begleiter hatte sicherheitshalber einen Tisch reservieren lassen. Die Speisekarte kam, bot wie erwartet reichlich Deftiges, ihr Bekanntes wie die Hax`n, die Leberknödel und den Leberkäs, aber auch Unbekanntes.

„Lüngerl?“, las sie fragend vor. „Lunge?“ Er nickte.

„Und Fleischpflanzerl? Tofu?“

„Tofu?“

„Na, verarbeitete Sojabohnen, gern als Fleischersatz angepriesen.“

Da lachte er. Aber nein, es handelte sich um ganz gewöhnliche Frikadellen, andernorts auch Bouletten genannt.

Dass Maultaschen weder Taschen in den Mäulern irgendwelcher Tiere noch eine bayerische, sondern eine schwäbische Spezialität waren, wusste Hanne sogar und wählte also ihr Bekanntes. Gefüllt mit viel Spinat und übergossen mit einer Pilz-Rahmsoße erwiesen sie sich als ausgesprochen lecker.

Hanne genoss die Gasthausatmosphäre, auch, wieder einmal ausgeführt zu werden, hatte bald sogar den verschwiegenen Schmerz in der peinlichen Region vergessen, denn der Abend gestaltete sich überaus angenehm, die Unterhaltung floss nur so dahin, sie verstanden sich bestens, konnten dann aber leider immer öfter nicht mehr verstehen, was sie sich zu sagen hatten, denn die gesellige Runde am Nebentisch wurde mit jeder Runde Bier lauter. Besonders einer der Männer regte sich immer mehr auf. Verstehen konnte sie nur ein Wort. „Saupreis“.

Dem Ton nach zu urteilen schien der Preis für Schweine gerade nicht besonders günstig zu sein. „Saupreis“, klang es wieder zu ihr herüber und fragend schaute sie ihren Tischnachbarn an.

Peter, sie waren nach dem Prosecco zum „Du“ übergegangen, schaute verlegen drein. „Saupreuß“ sprach er das Wort dann auch für sie verständlich aus und erläuterte, dass viele Bayern, er natürlich nicht, alle Menschen nördlich ihrer Landesgrenzen als Preußen bezeichneten. Diese ausgeprägte, von Generation zu Generation vererbte Abneigung stamme noch aus dem 19. Jahrhundert, als die Preußen nach ihrem Sieg über Österreich und Bayern zur bestimmenden Macht in Deutschland aufgestiegen waren und den Bayern viele äußerst unbeliebte Maßnahmen aufgezwungen hatten.

Nun ja, das war sogar zu verstehen. Aber es kamen doch längst nicht alle Menschen außerhalb Bayerns aus ehemals preußischen Landen. Sie zum Beispiel kam doch aus dem Rheinland. Und das hatte vor zweihundert Jahren ein ähnliches Schicksal erlitten wie die Bayern.

„Ach“, sagte Peter, „da wird meist nicht so genau unterschieden“.

Hanne lächelte still in sich hinein. Bayern schienen eine besondere Vorliebe für Eintöpfe zu haben und so wie in manchen Cafés einfach unterschiedliche Kaffeesorten aus einem Topf genommen wurden, warfen manche Bayern einfach alle Nordländer in einen Topf. Wieder was gelernt.

„Kommst du aus dem Chiemgau?“, wollte sie von Peter wissen.

Halb und halb. Ein Großelternpaar war von hier, das andere kam aus Niederbayern, seine Eltern lebten in München, wo er auch aufgewachsen war. Doch hatte ihn der Chiemgau schon früh derart in seinen Bann gezogen, dass er schließlich sogar hergezogen war, nun aber leider täglich zur Arbeit nach Rosenheim pendeln musste. Was gar nicht so ohne war zu Berufsverkehrszeiten.

Peter seufzte, sagte dann, er müsse am nächsten Morgen früh aufstehen, habe in den kommenden Wochen auch sehr viel zu tun, und läutete mit diesen Worten das Ende des Abends ein.

Ein echter Bayer war er also. Ein echt netter. „Auf Wiederschaun“, übte sich Hanne im bayerischen Abschiedsvokabular, nachdem er sie, immer noch ganz der Kavalier, bis vor die Haustür gebracht hatte.

„Tschau, Servus“, sagte der nette Bayer. Aber nichts von „Auf Wiederschaun“. Schade. Sehr schade.

Doch da drehte er sich noch einmal um und schickte ihr ein „Pfüati“ hinterher. Oder ein „Pfüeti“? Was hieß das nur? Vielleicht so etwas Ähnliches wie „Bis bald“?

Schnee

Hanne stand am Fenster und drückte sich wie als Kind die Nase an der Scheibe platt. Wunderbar. Es hatte endlich geschneit. Und schneite immer noch. In dicken Flocken kam es weiß von oben herunter, legte sich leise, leise auf Wiese, Bäume und Dächer ringsum und verwandelte die Umgebung ins so lang ersehnte Märchenland. Berge gab es wieder einmal keine mehr, dafür aber Schnee.

Raus aus den Pantoffeln. Rein in die Schuhe. Und dann nichts wie raus aus dem Dorf und rein in die Landschaft. Dass Bürgersteige und Straßen längst geräumt waren und ihr übliches Dunkelgrauschwarz zeigten, konnte Hannes romantischen Gefühlen keinen Abbruch tun. Verzaubert schaute sie immer wieder hoch ins wirbelnde Weiß. Große Flocken, kleine Flocken. Sie streckte die Zunge raus und fing einige auf. Sie schmeckten noch genauso wie in der Kindheit. Nass. Ob sich schon Schneebälle formen ließen? Patsch! Da klebte ein erster am Baumstamm. Patsch! Ein zweiter. Ob sie mit dem dritten genau auf den ersten treffen konnte? Patsch! Gewonnen!

Verflixt. Sie hatte für dieses Vergnügen leider die falschen Handschuhe an. Wolle! Hatte sie überhaupt andere? Jedenfalls waren die hier inzwischen völlig durchnässt und ihre Finger eiskalt. Da half nur noch der Gang zurück ins Dorf. Da Teekochen mit gefühllosen Fingern aber vermutlich nicht so einfach sein würde, ging sie lieber gleich in ihr Stammcafé in der Bäckerei gleich um die Ecke. Frau Chefin hatte Pause, Herr Chef bediente persönlich.

„Endlich Schnee“, strahlte Hanne ihn an.

„Naa, das wird heuer aber trotzdem nichts Rechtes mehr“, dämpfte der Bäcker ihre Euphorie. „Und überhaupt hat sich der Schnee in den letzten Jahren sehr rar gemacht. Aber vor sechs Jahren, mei, da lag Schnee von Mitte November bis Mitte April und jeden zweiten Tag hat`s neu losgeschneit. Das war ein Winter!“

„Ja, das war einer“, pflichtete ihm der alte Mann am Fenstertisch bei. „Früher gab es wirklich noch echte Winter“, fügte er hinzu und begann zu erzählen von den strengen Wintern in seiner Jugend, als die Temperaturen manchmal bis unter die 30-Grad-Marke gefallen, Schiffs- und Bootsverkehr auf dem dick zugefrorenen Chiemsee unmöglich geworden war und Pferdegespanne den Transport von und zu den beiden Inseln übernommen hatten. Reger Verkehr hatte in solch eisigen Zeiten auf dem See geherrscht. Sogar Autos und Motorräder waren auf den Eisschichten herumgefahren. Einmal, aber das hatte ihm sein Vater erzählt, das war noch vor dem zweiten Weltkrieg gewesen, da war sogar ein Flugzeug auf dem See gelandet. Gut erinnern konnte er sich auch noch daran, wie die Kinder von der Fraueninsel mit Pferdeschlitten zur Schule gefahren worden waren. Das hatte er selbst gesehen. Er hatte sie ganz schön beneidet. Er hatte immer zu Fuß gehen müssen. Auch bei Schnee. Und manchmal nur in dünnen Schuhen oder sogar barfuß. Das konnte man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Der alte Mann schwieg kurz, dann glänzten seine Augen auf. Es war aber nicht nur hart gewesen damals, es hatte auch wunderbare Eissportfeste gegeben. Ja, eine rechte Gaudi war das gewesen. Besonders die Pferdeschlittenrennen. Und Skifahren hatte man noch können. Den ganzen Winter lang. Da hatte sich die Jugend auf der Eglwies getroffen und ihren Spaß gehabt. Dort hatte er dann auch die Marie kennengelernt, die dann später seine Frau wurde.

Lebte die Marie noch?

Ja. Leider war sie aber nach der Hochzeit ganz anders gewesen als vorher gedacht. „Diese Weiber. Erst tun sie so brav und dann kommandieren sie einen nur noch herum.“

Der alte Mann hatte es ganz leise in sein schütteres Bärtchen gemurmelt, aber Hanne hatte sehr gute Ohren. Sie lächelte vor sich hin. Zu den dominanten Männern schien er nicht zu gehören.

Jetzt nahm er einen tüchtigen Schluck aus seinem Bierglas und griff erneut zur Zeitung, die er während des Erzählens beiseite gelegt hatte. „Ja, das waren wirklich noch richtige Winter“, schloss er seine Erinnerungen ab, „so einen milden Winter wie heuer hat es da nie gegeben.“

„Doch“, entfuhr es Hanne, „1935.“ Rein zufällig hatte sie kürzlich in der Chronik geblättert, die bei ihrer Vermieterin im Wohnzimmer lag.

Der alte Mann schaute sie verblüfft an, wandte sich dann endgültig der Zeitung zu. „Weiber“, murmelte er vor sich hin, „immer wissen s` alles besser.“

Oh weh, sie hatte ihn wahrhaftig nicht beschämen wollen. Aber bereits in der Schule war sie des Öfteren wegen ihres „vorlauten Verhaltens“ getadelt worden. Doch wenn etwas absolut nicht gestimmt hatte, dann hatte sie das nicht einfach so stehen lassen können. Alles musste seine Ordnung haben. Dieser, zugegebenermaßen doch recht „preußisch“ anmutende Charakterzug schien ihr bis heute treu geblieben zu sein. Eine lupenreine rheinische Frohnatur war sie allerdings auch nie gewesen.

Es polterte, die Tür wurde aufgestoßen und ein neuer Kunde schritt zur Theke. „Scheißschnee“, knurrte er, „und auf der Autobahn nur Idioten. Kaum fallen ein paar Flocken, da geht denen schon der Arsch auf Grundeis. Am Irschenberg ging wieder mal nichts mehr. Scheißschnee. Und da kommt jetzt garantiert noch mehr.“

„Naa“, sagte der Bäcker, „Das gibt heuer nicht mehr wirklich was.“

„Doch. Garantiert geht`s jetzt wieder richtig los. Einen durchgängig milden und schneearmen Winter gab`s hier noch nie.“

„Doch“, rief es vom Fenster her. „1935.“

Beinahe hätte Hanne laut losgelacht, konnte sich aber in letzter Minute bremsen. Sie wollte den alten Mann nicht noch einmal vergrätzen. Für sie wurde es nun jedoch allerhöchste Zeit, in die Wohnung zurückzukehren. Nicht nur die Handschuhe waren nass geworden. Da waren jetzt wohl auch ein paar gut gefütterte Winterschuhe fällig. Für den Fall, dass es heuer vielleicht doch noch einen richtigen Winter geben sollte, der all das nachholte, was er bisher versäumt hatte.

„Tschau“, lächelte sie den drei Männern zu und machte sich auf den Heimweg. Männer. Bayerische Männer. Jeder auf seine Art ganz eigen.

Im Schneeloch

Der Bäcker schien tatsächlich Recht zu behalten. Keine einzige Flocke war mehr vom Himmel gefallen. Längst schon hatte sich der Februar mit ungewöhnlich warmen Temperaturen breit gemacht, auch heute schien wieder die Sonne und würde den letzten Schneeresten im Laufe des Tages endgültig den Garaus machen.

Aber hatte sie nicht kürzlich noch etwas gelesen von einem „Schneeloch“? Einem Ort in einem Talkessel, der dank seiner geschützten Lage garantiert bis zu den Osterferien Schnee hatte? Wie hieß der noch?

Reit im Winkl. Sie wusste es wieder. Und wusste auch sofort, dass sie hinfahren würde. Ob aber mit dem Auto? Schneeloch klang nach viel Schnee, Talkessel nach Berg- und Talfahrt. Wie breit waren die Straßen dort wohl? Und wer hatte eigentlich Vorfahrt bei einspurigen Strecken? Waren das nicht die Abwärtsfahrenden? Da stand ihr möglicherweise Anfahren am Berg bevor. Das war nie ihre Stärke gewesen. Überhaupt war Autofahren nicht unbedingt ihre Stärke. In Köln hatte sie zum Glück selten eins gebraucht und fuhr sich in der neuen Heimat gerade erst wieder ein.

Hanne schloss einen Kompromiss mit sich selbst, fuhr mit dem Auto zum Bahnhof in Prien und saß kurz darauf im Bus. Heiß brannte die Sonne durch die Scheiben und übergoss mit ihrem Licht eine Landschaft, in der es sichtlich Frühling geworden war. Frisch umgebrochene Felder. Wiesen voller Maulwurfshügel. Weidenkätzchen zuhauf. Im Laufe der Fahrt tauchten dann aber doch größere weiße Flecken auf und in schattigen Lagen schließlich auch immer mal wieder eine verschneite Wiese voller Langläufer und Spaziergänger.

Angekommen in Reit im Winkl war Hanne jedoch maßlos enttäuscht. Das sollte ein Schneeloch sein?

Rundum nichts als Löcher im Schnee. Gut, dass sie nicht hergekommen war, um Ski zu fahren. Einmal im Leben hatte sie auf zwei Brettern gestanden, doch gleich am zweiten Tag des Skikurses hatte sich eins der Hölzer nach einem Sturz selbständig gemacht und war auf Nimmerwiedersehen talwärts gesaust. Es hätte jemanden erschlagen können dort unten. Viel zu gefährlich, dieser Sport, hatte sie damals erkannt. Und war Wandern im Schnee nicht auch viel schöner?

Aber zum Wandern reizte sie hier nichts. Gar nichts. Winter und Frühling rangelten miteinander um die Vorherrschaft und auch in diesem angeblich so „schneesicheren“ Ort schien eher der Frühling die Oberhand zu behalten. Obwohl doch in Wahrheit noch richtig Winter war. Und sie sich keineswegs im Rheinland befand, sondern im tiefsten Bayern.

Lustlos wanderte Hanne umher. Ja, es war ganz nett hier, die Kirche, die bemalten Hotels, Pensionen und Geschäfte, aber statt der erhofften Schneedecke gab es eben nur Schneelöcher.

Das verlangte nach einer herzhaften Entschädigung und so saß Hanne schon bald in einer Gaststube und bestellte nach dem Studium der Speisekarte die hausgemachten Kasspatzen. Auf die hatte sie jetzt große Lust. Kaum hatte sie die ersten im Mund, eröffnete die Frau am Nachbartisch das Gespräch, versicherte ihr, sie genieße gerade die allerbesten Kasspatzen weit und breit und informierte sie dann detailliert über die Anzahl ihrer Aufenthalte in diesem wunderbaren Ort. Eine weite Fahrt musste sie allerdings jedes Mal auf sich nehmen. Woher sie kam? Aus Hamburg. Hörte man das nicht? Hanne kam ja wohl auch nicht von hier. Der Sprache nach zu urteilen. Kam sie auch zum Skifahren her? Nein, sie wohnte seit kurzem in der Nähe? Ja kam sie denn zurecht mit den Bayern? Zugezogenen gegenüber sollten die doch ziemlich abweisend sein. Hatte sie jedenfalls gehört. Ach ja? Zu ihr war man bisher immer nur freundlich gewesen? Da hatte sie aber Glück gehabt.

Die Hamburgerin redete, Hanne aß, konnte die besten Kasspatzen weit und breit jedoch leider kaum genießen. Schwer lag ihr eine Laus auf der Leber und wollte nicht weiterlaufen.

Sobald der Teller leer war, beendete Hanne die recht einseitige Unterhaltung mit der Bemerkung, sie sei ohne Vorurteile hergezogen und bisher bestens klar gekommen mit den Bayern, die auch nur Menschen seien und weder besser noch schlechter als die Hamburger.

Mit Genugtuung sah Hanne die Röte aufflammen im Gesicht ihrer Tischnachbarin. Sie winkte der Wirtin, zahlte und verließ die Gaststube, allerdings nicht, ohne der Hamburgerin noch eine letzte Bemerkung hingeworfen zu haben. „Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es daraus zurück.“

Was nun? Nun brauchte sie dringend Bewegung, um der Laus endlich Beine zu machen. Sie schaute zum blauen Himmel hoch und beschloss, ein Stück weit den nahe gelegenen „Hausberg“ hochzumarschieren. Es ging aufwärts. Es ging ununterbrochen immer nur aufwärts. Das hielt sie eine Weile durch, doch dann musste sie stehenbleiben. Keine Kondition.

Eher zufällig drehte sie sich um. Oh Schreck! Über den Bergen jenseits des Talkessels ballten sich dichte, dunkle Wolken zusammen. Hatte sie nicht auch gelesen von den schnellen Wetterwechseln im Gebirge? War sie hier im Gebirge? Einen Schirm hatte sie auch keinen mit. Also nichts wie runter. Da würde sie eben früher zurückfahren als geplant.

Sie schaffte es. Gleichzeitig mit den ersten Tropfen kam sie in den Ort zurück und kaum näherte sie sich der Bushaltestelle, da prasselte es auch schon los. Aus dem Schneeloch war innerhalb kürzester Zeit ein Regenloch geworden.

Hanne sprang unters Vordach eines Geschäftes nahebei und schüttelte sich. Das war eindeutig nicht ihr Tag heute. Alles war völlig anders als gedacht.

„Hallo Hanne! Das ist aber eine Überraschung!“

Oh Gott, nein, nicht ausgerechnet diese beiden! Nicht Hilde Schmitz und Trudchen Klein aus Köln, die allergrößten Schwatztanten in ihrer früheren Nachbarschaft. Sie wussten immer alles über alle und natürlich wussten sie auch längst, dass Hanne vor wenigen Monaten nach Bayern gezogen war.

Die warteten doch hoffentlich nicht auch auf den Bus nach Prien?