Hans Uhlmann -  - E-Book

Hans Uhlmann E-Book

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Beschreibung

Wie viele fortschrittliche Künstler seiner Zeit, hatte auch Hans Uhlmann unter der Herrschaft der Nationalsozialisten zu leiden. Politisch klar linksstehend, wurde er 1933 festgenommen und für fast zwei Jahre inhaftiert. Die in dieser Phase entstandenen Tagebücher werden in diesem Band erstmals veröffentlicht. Sie geben Auskunft über Uhlmanns Haltung zu Politik, Gesellschaft, Literatur und den zermürbenden Gefängnisalltag unterm Hakenkreuz. Begleitet und ergänzt wird der Originaltext durch Beiträge von Carmela Thiele, Dorothea Schöne, Annelie Lütgens und Michael Glasmeier. Bei diesem E-Book handelt es sich um einen reinen Textband. Die Buchausgabe enthält darüber hinaus die Skizzenbücher aus der Gefängniszeit. Hans Uhlmann (1900–1975), der besonders für seine Metallarbeiten bekannt ist, zählt zu den bedeutendsten deutschen Künstlern der Nachkriegszeit. Ab 1950 war er Professor an der HdK Berlin und nahm an zahlreichen großen Ausstellungen, wie der Biennale São Paulo, der documenta oder der Biennale Venedig, teil.

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Seitenzahl: 297

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Hans Uhlmann

Hans Uhlmann

Tagebücher aus der Gefängniszeit 1933—1935

Herausgegeben von

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Übersetzt von

Bernadette Uhlmann

eine Publikation

des Kunsthaus Dahlem

in Kooperation mit

mit freundlicher

Unterstützung von

Impressum

Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung Raumlineaturen – Grafik von Hans Uhlmann 1933–1960

Kunsthaus Dahlem, Berlin

03.04.2022 – 19.06.2022

Herausgeberinnen

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Übersetzung

Bernadette Uhlmann

Redaktion

Carmela Thiele, Dorothea Schöne, Petra Gördüren

Projektmanagement

Fabian Reichel

Lektorat

Petra Gördüren

Grafische Gestaltung

Neil Holt

Schrift

Arnhem

Verlagsherstellung

Vinzenz Geppert

Druck

Graspo CZ, A.S.

Papier

Munken Print White

Vol. 1,5, 90g/m2

© 2022 Hatje Cantz, Berlin, und die Autorinnen

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag GmbH

Mommsenstraße 27

10629 Berlin

www.hatjecantz.de/

Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe

Das Kunsthaus Dahlem wird betrieben von der Atelierhaus Dahlem gGmbH, einer Tochtergesellschaft der Bernhard-Heiliger-Stiftung, Berlin.

isbn 978-3-7757-5252-7 (Printausgabe)

isbn 978-3-7757-5274-9 (ePub)

Printed in the Czech Republic

Umschlagabbildung

En fil de fer, um 1934

Foto: Ralf Hansen

© VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Inhalt

Grußwort

Uta Kuhl

Vorwort und Danksagung

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Editorische Notiz

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Über innere Freiheit

Einleitende Worte zum Gefängnistagebuch von Hans Uhlmann

Carmela Thiele

Hans Uhlmann

Tagebücher aus der Gefängniszeit Berlin 1933–1935

Anmerkungen

»Eroberung der Luft«

Hans Uhlmanns Verständnis der Drahtplastik im Spiegel zeitgenössischer Diskurse

Dorothea Schöne

Ideen drücken gegen die Wände«

Hans Uhlmanns Wort-, Zeichnungs-, Drahtpoesie

Michael Glasmeier und Annelie Lütgens

Hans Uhlmann. Biografie

David C. Ludwig

Impressum

Grußwort

Die »Überwindung von Erdschwere und Masse, Entmaterialisierung und Durchsichtigkeit, Beweglichkeit über Zeiten und Räume« – Plastik, »bei der die Materie überwunden scheint«, so formulierte der Bildhauer Hans Uhlmann seine Idealvorstellung für die plastische Kunst.1 Der Zeichner Hans Uhlmann dagegen lässt mit seinen dicht gespannten Strukturen Raum auf dem Papier geradezu physisch spürbar werden. Seine späten Kreidezeichnungen wirken wie eine Materialisierung von Kräften in Raum und Zeit. Und schon die abstrahierten figürlichen Kompositionen des Künstlers lassen, einem Tanz ähnlich, Zeit und Bewegung sichtbar werden.

In der Sammlung der Stiftung Rolf Horn bildet die Werkgruppe aus 25 Arbeiten des Künstlers, darunter die beiden Plastiken Pyramidenskulptur und Gruppierung, einen markanten Schwerpunkt. Präsentiert werden hier Uhlmanns Arbeiten im Dialog mit Werken zeitgenössischer Berliner Künstler wie Werner Heldt oder Bernhard Heiliger. Dennoch nimmt Hans Uhlmann mit seinem plastischen Werk und mit seinen Arbeiten auf Papier eine ganz eigenständige Position ein, in die verschiedene Entwicklungsstränge der Kunst des frühen 20. Jahrhunderts eingegangen sind.

Die Sammlung des Berliner Mäzens Rolf Horn und seiner Frau Bettina ist seit 1988 auf der Museumsinsel Schloss Gottorf in Schleswig zu sehen. Bis heute ist sie für die Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen die wichtigste Leihgabe aus Privatbesitz. 1995 fand sie ihre Heimat in einem ehemaligen Stallgebäude des 19. Jahrhunderts, der heutigen Galerie der Klassischen Moderne. Den Umbau und die Innenausstattung hatte Rolf Horn selbst vornehmen lassen und großzügig finanziert. Mit der Gestaltung beauftragte er den Berliner Ausstellungsarchitekten Jürg Steiner. Nach dem Tod des Stifters – Rolf Horn verstarb nur wenige Wochen vor der Eröffnung der neuen Räume im März 1995 – entwickelte sich die Sammlung unter der Leitung von Bettina Horn weiter. Durch Neuerwerbungen und Sonderausstellungen bleibt sie lebendig; Leihgaben, wie die Präsentation der Werke Hans Uhlmanns im Kunsthaus Dahlem, stärken ihre Verbindung zu anderen Museen.

Lag der Sammlungsschwerpunkt zu Beginn vor allem auf der Kunst der Brücke sowie den norddeutschen Expressionisten Christian Rohlfs, Emil Nolde und Ernst Barlach – ihrem Schaffen fühlte sich der gebürtige Kieler Rolf Horn besonders nah –, erweiterte vor allem Bettina Horn die Sammlung um neue Positionen. Dazu zählen die Werke Hans Uhlmanns, der als Begründer der abstrakten Metallplastik in Deutschland gilt. Erste Skulpturen, die allerdings nicht erhalten sind, schuf Uhlmann schon zwischen 1924 und 1926, als er für die Kieler Firma Neufeldt & Kuhnke als Ingenieur tätig war. In den frühen 1930er-Jahren begann er mit abstrakt-geometrischen Formen zu experimentieren, es entstanden erste offene Drahtskulpturen. Doch fand diese künstlerische Arbeit im Verborgenen und in völliger Isolation statt – dies besonders während seiner Inhaftierung unter den Nationalsozialisten von Ende 1933 bis 1935. Trotz der Repressalien bezeichnete Uhlmann die Jahre bis 1945 rückblickend als wichtig für seine künstlerische Entwicklung, da hier die Grundlagen für sein eigentliches Werk gelegt worden seien.

Diese Entwicklung lässt sich künftig konkret und detailliert nachvollziehen. Denn mit der Veröffentlichung von Uhlmanns Tagebüchern aus den Jahren seiner Haft in der Justizvollzugsanstalt Tegel kann eine große Lücke in der Forschung zu seinem Leben und Werk geschlossen werden. Dafür gilt dem Sohn des Künstlers, Hans Joachim Uhlmann, großer Dank. Der Leiterin des Kunsthauses Dahlem, Dorothea Schöne, ist sehr dafür zu danken, dass diese zentrale Quelle nun publiziert werden kann. Dass die geplante Ausstellung der Zeichnungen Uhlmanns ein Impuls für diese Initiative war und die Stiftung Rolf Horn mit der Leihgabe ihrer Werke zu diesem hoch verdienstvollen Projekt beitragen kann, entspricht ihrem Stiftungszweck auf das Beste und darf alle Beteiligten mit Stolz erfüllen.

Uta Kuhl, Vorstandsmitglied und Kuratorin der Stiftung Rolf Horn an der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen

1 Ulrike Nürnberger, »›Was in Deutschland kaum jemand kennt‹. Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Werk von Werner Heldt und Hans Uhlmann«, in: Werner Heldt – Hans Uhlmann. Zwei Retrospektiven, Ausst.-Kat. Galerie Brusberg; Berlin 2003 (Kabinettdruck, Bd. 28), S.6–7, S. 7.

Vorwort und Danksagung

Das Kunsthaus Dahlem hat es sich zur Aufgabe gemacht, der deutschen Nachkriegsmoderne einen Ausstellungsort zu geben. Einen besonderen Schwerpunkt im Programm bildet dabei die Bildhauerei. Zu einer umfassenden und zugleich kritischen Betrachtung der Zeit nach 1945 gehört auch, jenen Künstlerinnen und Künstlern zu öffentlicher Anerkennung zu verhelfen, die aufgrund von Verfolgung oder Feme zur Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1933 und 1945 in Vergessenheit geraten sind. Diese Aufgabe erscheint angesichts der ursprünglichen Funktion des Hauses als Staatsatelier des NS-Bildhauers Arno Breker besonders dringlich.

Nun gehört der Bildhauer Hans Uhlmann mitnichten zu den Vergessenen jener Generation. Und doch muss er, wenn nicht zu den Opfern, so doch zu den Verfolgten des NS-Regimes gezählt werden. Dies nicht nur, weil er aufgrund seiner politischen Haltung von Oktober 1933 bis Mai 1935 inhaftiert wurde, sondern auch, weil ihm bis 1945 eine freie Existenz als Künstler verwehrt war. Dass er sich aber keinesfalls vom NS-Regime brechen lassen wollte, obwohl ihn die Haftbedingungen und die Isolation schmerzten, belegen eindrücklich die Einträge der hier vorgelegten Tagebücher. Die in französischer Sprache geschriebenen Bücher sind ein einmaliges Zeitzeugnis, ein Dokument zum Haftalltag der politischen Gefangenen in der NS-Zeit. Es eröffnet zugleich aber auch einen neuen Blick auf Uhlmanns künstlerisches Werk.

Um die Existenz des Tagebuchs wussten in der Vergangenheit nur wenige. Dabei liefert es einen wesentlichen Schlüssel zum Gesamtœuvre des Künstlers. Viele seiner später realisierten Werkgruppen hat Uhlmann in der Haft gedanklich und in Zeichnungen vorbereitet. Seine in Stil und Funktion recht unterschiedlichen Skizzen zeugen von der zweifachen Bedeutung der Grafik in seinem Werk. Uhlmann betonte stets den Unterschied zwischen der Bildhauerzeichnung als Vorstudie und seinem unabhängig vom plastischen Werk zu verstehendem, grafischem Œuvre. In seinen Drahtplastiken und Faltungen, die er unmittelbar nach der Entlassung aus dem Gefängnis schuf und bis in die späten 1950er-Jahre weiterentwickelte, setzte er tastend seine Vorstellungen um.

Mit den Tagebüchern weitet sich unser Blick auf Hans Uhlmann, einen (west)deutschen Bildhauer der Nachkriegszeit, dessen Unabhängigkeit in Werk und Haltung im Kontext der Zeit neu bewertet werden muss. Bis heute prägen seine Skulpturen den öffentlichen Raum. In Berlin finden wir seine Werke vor der Deutschen Oper, in der Hochschule für Musik, im Hansaviertel, im Park von Schloss Bellevue und schließlich auch auf dem Dach der Philharmonie. Hans Uhlmann nun zu würdigen – im Rahmen einer Ausstellung seiner grafischen Werke und durch die Publikation dieses Buches – ist dem Kunsthaus Dahlem und den Herausgeberinnen eine Ehre.

Der Veröffentlichung gingen wesentliche Schritte voraus: Das Tagebuch wurde in den 1990er-Jahren von der Schwiegertochter des Künstlers, Bernadette Uhlmann, ins Deutsche übertragen. Diese Fassung ist auch Grundlage des aktuellen Texts. Eine besondere Bereicherung erfuhr diese Publikation durch die intensive Zusammenarbeit mit der Berlinischen Galerie. Annelie Lütgens hat als Leiterin der Grafischen Sammlung den Herausgeberinnen beratend zur Seite gestanden und Zugang zum umfangreichen schriftlichen und künstlerischen Sammlungsbestand von Hans Uhlmann und Jeanne Mammen geschaffen. Ohne dieses kollegiale Zusammenwirken entspräche diese Publikation nicht dem aktuellen Forschungsstand.

Unser Dank gilt zuallererst Hans-Joachim Uhlmann und seiner Familie, die uns dieses persönliche Material anvertraut haben. Weiterhin danken wir der Stiftung Rolf und Bettina Horn und ihrer Sammlungskuratorin Uta Kuhl für die freundschaftliche und kollegiale Zusammenarbeit. Auch der Galerie Michael Haas, der Sammlung Felix Brusberg, dem Archiv Heinz Trökes, der Berlinischen Galerie und der Stiftung Stadtmuseum Berlin als Leihgeber der Ausstellung sei gedankt für die von ihnen zur Verfügung gestellten Werke. Zu danken ist Annelie Lütgens und Michael Glasmeier für ihren Aufsatz, der kenntnisreich die Verbindungen zwischen den Tagebucheintragungen und dem Konvolut der zeitgleich entstandenen Skizzen beleuchtet. Wir danken zudem Petra Gördüren für das umfassende und weit über das Normalmaß gehende Lektorat und Projektmanagement, ebenso wie David C. Ludwig, wissenschaftlicher Volontär am Kunsthaus Dahlem, für seine Recherchen und Beiträge zum Buch. Auch sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hatje Cantz Verlages Nicola von Velsen, Fabian Reichel und dem Grafiker Neil Holt für die gute Zusammenarbeit und sensible Umsetzung dieses Buches herzlich gedankt. Und schließlich gebührt der Dank Dorothea Schuppert und dem Freundeskreis des Kunsthaus Dahlem – Bernhard Heiliger e. V., der das Zustandekommen dieser Publikation so großzügig gefördert und begleitet hat.

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Editorische Notiz

Hans Uhlmann schrieb seine Gefängnistagebücher in französischer Sprache. Bereits auf der ersten Seite deklarierte er seine Aufzeichnungen als »Etudes françaises«, als Sprachübungen. Es mag viele Gründe für diese Maßnahme gegeben haben: die Tarnung seiner politischen Äußerungen aufgrund der mangelnden Privatsphäre, aber auch der Wunsch sich während der Gefangenschaft fortzubilden und seiner Begeisterung für die französische Kultur Raum geben zu können. Die schlichten Hefte sind im Original nahezu identisch mit dem hier vorliegenden Band – mit einer Größe von 16 auf 21 Zentimetern nur unwesentlich breiter.

Im Zentrum des aus der Haft überlieferten Materials stehen zwei Hefte mit schriftlichen Tagebucheinträgen und kurzen Abhandlungen zu bestimmten Themen, die Uhlmann interessierten und besonders beschäftigten. Die Grundlage der vorliegenden Edition bildet die Übersetzung des französischen Originals durch Bernadette Uhlmann. Für die Publikation wurde das Tagebuch mit dem handschriftlichen Text abgeglichen, Absätze gegebenenfalls ergänzt und manche Begriffe und Formulierungen der deutschen Übersetzung geglättet, sowie der Text an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst.

Zwei die Tagebucheintragungen ergänzende Teile wurden nicht übernommen: zum einen eine Abhandlung mit der Überschrift »Über das Buchbinden« mit kleinen Zeichnungen über das materialgerechte Herstellen von Büchern. Da diese vor allem technische Details referierenden Seiten ohne einen erkennbaren Kontext ins erste Heft eingeklebt wurden, wurde auf ihre Transkription verzichtet. Zum anderen wurde eine mehrseitige Literaturliste am Ende des zweiten Heftes nicht aufgenommen. Unter dem Titel »Literaturgeschichtliche Notizen« führte Hans Uhlmann bedeutende Bücher auf und untergliederte diese in Regionen und Epochen wie beispielsweise »Römische Literatur«, »Frühchristliche Literatur«, »Italienische Vorrenaissance», »Deutsche Literaturgeschichte», »Frankreich 16. Jahrhundert«, »Frankreich 17. Jahrhundert« oder »der Orient«. Ob es sich um die Erfassung einer Bibliothek, eine Leseliste für die Zeit nach der Entlassung oder um die Dokumentation bereits gelesener Lektüre handelt, konnte nicht bestimmt werden. Aufgrund der Länge und fehlenden Zuordnung des Zweckes wurde auf die Wiedergabe dieser Liste hier verzichtet. Eine weitere Literaturliste, die Hans Uhlmann mit »Kleines Lektüreprogramm auf französisch und deutsch« überschrieb, ist hingegen Bestandteil dieser Publikation, da sich der Autor auf einige der darin versammelten Werke in seinen Tagebucheinträgen bezog, Exzerpte und Kommentare dazu niederschrieb oder den Erhalt der Bücher nach Besuchen seiner Schwester oder der Freundin Jeanne Mammen dokumentierte. Da nur in Ausnahmefällen bekannt ist, auf welche Ausgaben sich Uhlmann bei der Erstellung der Liste bezog, wurden die Angaben um die vollständige Nennung des Autorennamens sowie den Erscheinungsort und das Erscheinungsdatum der jeweiligen Erstausgabe ergänzt. Von Uhlmann teilweise nicht korrekt oder unvollständig angegebene Titel wurden korrigiert und wo nötig ergänzt. War keine Zuordnung möglich – weil die Angaben unleserlich oder zu unvollständig waren –, blieb die Niederschrift unkommentiert und ohne Ergänzungen.

Bei der Transkription des Tagebuchs konnten die vielen Einschübe und Absätze des Originals nicht aufrechterhalten werden. Um einen Eindruck von dem authentischen Text, den gelegentlichen Illustrationen und der Handschrift des Künstlers zu geben, sind einige Originalseiten abgebildet. Ein Anmerkungsapparat erläutert heute nicht mehr geläufige Begriffe, Lektüren, Filmtitel und den zeitlichen Kontext. Hans Uhlmann pflegte den Sprachgebrauch seiner Zeit. So nutzte er einige wenige Begriffe, die heute keine Verwendung haben dürfen. Sie gelten als rassistisch oder antisemitisch. Da der Künstler in den Augen der Herausgeberinnen keine solche Intention mit der Verwendung dieser Begriffe verfolgte, wurde entschieden, sie im Original zu belassen.

Neben seinen persönlichen Ausführungen zu Eindrücken aus dem Haftalltag zitierte der Künstler ausgiebig aus der von ihm gelesenen Literatur. Oftmals waren es Exzerpte aus seiner französischen Lektüre, die in dieser Edition in fast allen Fällen in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden. Da nicht zweifelsfrei geklärt werden konnte, mit welchen Ausgaben Uhlmann arbeitete, werden die Zitate in den Anmerkungen mit den für die aktuelle Bearbeitung herangezogenen Literaturangaben nachgewiesen. Konnte keine deutsche Übersetzung ermittelt werden, wurde mit einer Ausnahme das französische Original des Tagebuchtextes beibehalten. Stefan Barmann übersetzte einen für das Verständnis wichtigen Zitat-Block und ein Gedicht von Jean Cocteau.

Die Unterstreichungen, mit denen Uhlmann meist und oft auch in Kombination mit Anführungszeichen Titel markierte, wurden durch Kursivierungen ersetzt. Alle noch vorhandenen Unterstreichungen insbesondere in Zitaten wurden jedoch beibehalten. Darüber hinaus wurden vom Künstler abgekürzte Namen, soweit sie identifizierbar waren, ausgeschrieben. Ergänzungen oder Kommentare der Edito- rinnen finden sich in eckigen Klammern, runde Klammern hingegen stammen von Uhlmann, ebenso einfache Auslassungszeichen.

Nach heutigem Kenntnisstand umfasst das Gesamtmaterial neben den Textbänden drei Bücher mit Skizzen. Zwei dieser Skizzenhefte befinden sich heute in Privatbesitz, ein drittes in der Sammlung der Berlinischen Galerie. In allen drei Skizzenheften hielt der Künstler seine Eindrücke aus der Haft und Ideen für zukünftige Projekte fest. Dabei sind die Mehrzahl der Zeichnungen nicht als ausgearbeitete Werke, sondern eher als dem freien Moment abgerungene Skizzen zu verstehen. Hans Uhlmann hat die Zeichnungen auf Einzelblättern angefertigt und dann in die Hefte eingeklebt.

Dorothea Schöne und Carmela Thiele

Über innere Freiheit

Einleitende Worte zum Gefängnistagebuch von Hans Uhlmann

Carmela Thiele

Ein Tagebuch kann vieles sein: eine Chronik der Ereignisse, der Befindlichkeiten, der Gedankengänge. Es kann auch als imaginärer Gesprächspartner dienen oder als Ort, an dem sich die Gegenwart mit Erinnerungen und Zukunftsgedanken mischt. Das alles trifft auf das Gefängnistagebuch von Hans Uhlmann zu, welches der damals 34-Jährige über einen Zeitraum von etwa einem Jahr in französischer Sprache während der Haft in der Strafanstalt Tegel verfasste. Das Dokument spiegelt eine wichtige Phase im Leben des in den 1950er- und 1960er-Jahren international tätigen Berliner Zeichners und Bildhauers. Über dessen erste Schritte als Künstler war, mit Ausnahme seiner Teilnahme als Violinist im »Collegium musicum« der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, bisher wenig bekannt.1 Der musisch begabte Ingenieur vertraute seinem Tagebuch seine Ambitionen, Zweifel und Pläne an. Der Text liest sich über weite Strecken als Genese einer Künstlerpersönlichkeit, als Summe spezifischer Erfahrungen, Lektüren und zeichnerischer Erkundungen.

Der erste Eintrag des Tagebuchs datiert vom 8. April 1934. Die ersten Notizen zu seiner Lektüre französischer Klassiker entstand sechs Monate nach seiner Inhaftierung als politischer Gefangener und ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Ermächtigungsgesetzes, das die Weimarer Republik in eine Diktatur verwandelte. Der politisch linksstehende Hans Uhlmann hatte nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 seine Stelle als Assistent an der Technischen Universität Berlin verloren. Als Kommunist gehörte er zu dem Personenkreis, der gleich zu Beginn des neuen Regimes eliminiert werden sollte. Wegen unerlaubtem Plakatieren war er 1932 schon einmal auf die Polizeiwache am Alexanderplatz gebracht worden. Am 26. Oktober 1933 waren es Gestapo-Beamte, die ihn und einen »Bekannten« auf offener Straße in Berlin-Schöneberg wegen »Verdacht auf Hochverrat« festnahmen.

Diese Episode seines Lebens und die darauffolgende Odyssee durch mehrere Berliner Gefängnisse fand unter dem Titel »Kleines Verzeichnis meiner Abenteuer« ab dem 14. Oktober 1934, also erst ein Jahr nach seiner Verhaftung, schrittweise Eingang in das Tagebuch. Der Künstler gibt einen detaillierten, sachlichen Bericht dieser Vorgänge. Am 2. Juni 1934 notiert er: »Oft ist es schwierig, die wichtigen Dinge der Vergangenheit nicht zu vergessen, die Einzelheiten des Prozesses, etc. Das kommt durch die schlechte Ernährung, die langsam, aber sicher den Magen, den allgemeinen körperlichen Zustand und die Beweglichkeit der Gedanken ruiniert. Eine außergewöhnliche Prüfung für unsere Kräfte. – Ich werde Sieger bleiben!« Wenn er bemerkt, dass er gerne einen Satz seiner erkennungsdienstlich abgenommenen Fingerabdrücke für sich gehabt hätte, blitzt subversiver Humor auf – wieder ein kleiner Sieg gegen das Unrechtsregime.

Hans Uhlmann entwickelte während der Haft eine brennende Leidenschaft für die französische Literatur, las Voltaire und Molière, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, Jules Laforgue, Jean Cocteau und Raymond Radiguet, André Malraux und Louis-Ferdinand Céline. Er verschlang aber auch Romane von Thomas Mann, Hans Fallada oder Knut Hamsun, kopierte Zeilen aus Gedichten von Heinrich Heine und durchforstete Grundlagenwerke zu Kunst und Kultur. Er las und schrieb fast ausschließlich in französischer Sprache. Seine Schwester Margarete (Marga) sowie die Künstlerin Jeanne Mammen, die in Paris und Brüssel gelebt und studiert hatte, versorgten ihn mit der gewünschten Lektüre und mit Zeichenmaterial, überbrachten Grüße der Familie, der Mutter Selma und von seinem Schwager, dem Maler und Zeichenlehrer Otto Möller.

Wer das Tagebuch liest, entdeckt einen wachen Geist, der mit allen Mitteln gegen den Verlust seines klaren Denkvermögens und seiner Wahrnehmungsfähigkeit ankämpft, der sich gegen Hunger und Kälte behaupten muss, gegen die monotone und ermüdende Arbeit in der Buchbinderei der Strafanstalt und gegen die Gitterstäbe, die ihn vom Rest der Welt trennen. Was durch sie hindurchdringt ist der Schall, die Kakofonie der Großstadt, der Hans Uhlmann nachts lauscht. Vorstellung und Realität verschmelzen ihm in solchen Momenten zu einer anderen Wirklichkeit. In den Pausenzeiten rettet der Künstler sich in detaillierte Beschreibungen seiner Haftkameraden, er hört ihre Geschichten an, schreibt sie nieder und zeichnet mit schnellen Strichen ihr Porträt. Diese Studien heitern ihn auf; er hat ein Faible für den Witz und das Talent zum Slapstick seiner berlinernden Mitinsassen. Er schildert aber auch die gereizte Stimmung unter den Gefangenen, macht seinem eigenen Ärger Luft und notiert Informationen von »draußen«.

Neben den vielen sachlichen Passagen, der minutiösen Beschreibung seiner Zelle etwa, stehen Abschnitte, die das Unwirkliche seiner Lage beschreiben. Der Künstler wähnt sich mitunter in einem absurden Traum, in dem gleichgekleidete Männer bei Nebel mechanisch den Hof fegen. Die sich während des Bads bunt verfärbenden Wände der Duschen aus Zink transformieren die Anstalt in einen magischen Ort. Die Füße der Mitgefangenen, die unter den Duschtrennwänden hervorlugen, erinnern ihn an den berühmten Avantgarde-Film Entr’acte von René Clair, an dem Francis Picabia, Marcel Duchamp, Man Ray und Erik Satie mitgewirkt haben.

Der junge Hans Uhlmann besuchte Theater, Konzerte und Kinos. Er erwähnt Brechts Dreigroschenoper, aber auch Apollon Musagète von Igor Strawinsky oder Rosamunde, die Musik Franz Schuberts zum gleichnamigen Schauspiel. Er ist nicht nur vielseitig interessiert, sondern entwickelt darüber hinaus einen Sinn für Poesie. So erschafft er sich auf dem Papier den »Schutzengel Minna« in Gestalt einer Drahtseilartistin. Die Idee des Schutzengels könnte von Jean Cocteaus Figur des Heurtbise aus dem Theaterstück Orpheus angeregt sein, das Hans Uhlmann laut Tagebuch schon im Untersuchungsgefängnis Moabit gelesen hat. Mit Cocteau – und vielen anderen Zeitgenossen – teilt er seine Begeisterung für den Zirkus und das Varieté, für Drahtseilakte und Trapeznummern, in denen Artisten mit scheinbar großer Leichtigkeit der Schwerkraft trotzen. Am 23. April 1935 kopiert er Cocteaus Gedicht Miss Aérogyne, Femme volante in das Tagebuch. Es ist inspiriert von dem Verwandlungsspiel des Travestiekünstlers und Artisten Barbette, alias Vander Clyde. Im Tagebuch erwähnt Hans Uhlmann, dass er Cocteaus Text Barbette über dessen Verwandlungskünste gelesen hat. Womöglich sah er ihn aber mit eigenen Augen, denn seine Künstlerfreundin Jeanne Mammen schuf Zeichnungen von Barbette, der mehrfach in Berlin gastierte.2

Cocteau ist nicht die einzige Quelle, die dem Eingeschlossenen dazu dient, den Luftraum nicht nur physikalisch, sondern auch in seiner poetischen Ambivalenz zu begreifen. Am 2. Februar 1935, als das Ende der Haft in greifbare Nähe rückt, zitiert der Bildhauer Charles Baudelaires Gedicht Élévation(Erhebung) aus dessen Gedichtsammlung Die Blumen des Bösen: »… glücklich, wer (sich mit kräftigem Flügel aufschwingen kann den heiter leuchtenden Gefilden zu! Ihm steigen die Gedanken lerchengleich in freiem Flug zum Morgenhimmel, – ) über dem Leben schwebt er, und mühelos versteht er die Sprache der Blumen und der stummen Dinge!«

Wenig später schreibt der Künstler auch im Zusammenhang mit seiner künstlerischen Arbeit von »der Poesie der Dinge«. Am 5. Januar 1935 notiert Hans Uhlmann in seinem Tagebuch, er arbeite an einem Vorwort für seine Drahtfiguren-Mappe und habe die Absicht, »diese Sammlung von Zeichnungen durch eine Serie von Fotografien zu ergänzen; von bisher noch nicht hergestellten Drahtkonstruktionen – und von Fotografien, die die Poesie der Dinge beleuchten und zeigen, die provozieren und ein Leben spüren lassen, das dem Leben dieser Konstruktion ähnlich ist«.

Zu dieser Ergänzung seiner Zeichnungsmappe kam es offenbar nicht, doch fotografierte Uhlmann einen Teil seiner rund vierzig zwischen 1935 und 1942 realisierten Metallplastiken aus unterschiedlichen Blickwickeln und mit unterschiedlich gesetztem Licht. Dies belegen entsprechende Aufnahmen im Archiv der Berlinischen Galerie, die aus dem Atelier von Jeanne Mammen stammen.3

Das erwähnte Vorwort war dem ersten Tagebuch-Heft als Anhang beigefügt. Der Text enthüllt den ästhetischen Hintergrund seiner zwischen Realismus und Verfremdung oszillierenden Drahtkopfentwürfe. Analog zu seiner Arbeit mit Ton und Gips, was ihm geläufig war, plante der Bildhauer Draht zu formen und ganz im Geist der Moderne über den Widerstand des Materials zu neuen Ergebnissen zu kommen. In diesem, von ihm als zeitgemäß empfundenen Werkstoff wollte er »Sinnbilder erlebter Formen« schaffen. Wenn er vom Biegen, Verwinden und Verlöten von Draht unterschiedlicher Stärke spricht, von der Eigenwilligkeit des Materials, klingt es so, als ob Hans Uhlmann bereits vor seiner Tegeler Haft ausgiebig mit Draht experimentiert haben könnte. Bekannt ist aber bislang nur sein Drahtkopf Zur lächelnden Berolina, die der Künstler für den mobilen Bücherwagen fertigte, mit dem er und Jeanne Mammen im Sommer 1933 ihren durch die NS-Diktatur bedingten Verdienstausfall wettmachen wollten.4

Der Ingenieur und Künstler, der, wie er an anderer Stelle im Tagebuch erwähnt, es liebte, durch die Straßen von Berlin zu wandern, spricht vom »seltsamen Leben einer Schaufensterpuppe« aus Rohrgeflecht oder Draht, von »Plastiken ondulierter Wasser-Luft«, von der »Poesie der Friseurläden«. Er zieht Vergleiche zu »den Skeletten sachlicher Brücken und schlanker Türme«. Auch durch sie könne man hindurchsehen, auch sie sind von »Licht und Luft durchspült«. Hans Uhlmann plante ein Buch mit Aufnahmen, die zeigen, »wie Formen der (nutzbaren) Wirklichkeit zuweilen ganz offen und unverschämt ein geheimes Drahtleben zur Schau stellen«.

Das Gefängnistagebuch von Hans Uhlmann ist nicht nur ein authentisches Zeitzeugnis und ein berührendes Dokument inneren Aufbegehrens gegen das Unrecht, sondern belegt in vielen Details den in keiner Tradition stehenden, eigenständigen Ansatz des Bildhauers. Die wenig beachtete poetische Facette im Werk Hans Uhlmanns, der lange als Künstler-Ingenieur rezipiert wurde, wird damit erst richtig sichtbar. Viele seiner abstrakten Skulpturen haben etwas von einem Vogel, der bereit ist, sich in die Lüfte zu erheben wie etwa die Figur auf dem Dach der Berliner Philharmonie am Kulturforum. Hans Uhlmann schreibt im Tagebuch, er wolle »Zeichnungen schaffen, die aus jedem Strich leben«. Dasselbe gilt auch für viele seiner der Schwerkraft trotzenden, momentane Gleichgewichte repräsentierenden Skulpturen.

1 Erste Teilveröffentlichung: DLF Feature, Tagebuch Hans Uhlmann – Im Käfig, 21.04.2015. Carmela Thiele, »Jeanne Mammen und Hans Uhlmann, eine Künstlerfreundschaft im Berlin des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit«, in: Jeanne Mammen, Die Beobachterin, Retrospektive 1910–1975, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie 2017, S. 169–176.

2 Von Jeanne Mammen existieren drei Zeichnungen von Barbette. Vgl.: Annelie Lütgens, »Damenimitator Barbette I«, in: Jeanne Mammen 2017 (wie Anm. 1), S. 98.

3 Sammlung Künstler:innen-Archive der Berlinischen Galerie: BG-Ar 7/81.27, BG-AR 7/81,30. Vgl. auch: Carmela Thiele, »Hans Uhlmann«, in: Kunst für Keinen, 1933–1934, Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main 2022, S. 252–254.

4 Die Drahtplastik Zur lächelnden Berolina ist im Besitz der Berlinischen Galerie (1932/33, Draht mit Holzperlen, Papier, 46 × 29 × 30 cm; BG-S 1286/78).

Hans Uhlmann

Tagebücher aus der Gefängniszeit Berlin 1933–1935

Französische Studien

»Nimm ferne deinen Flug, sehr fern von diesen kranken Dünsten; geh, läutere in den höheren Lüften dich, und trinke, gleich reinem Himmelsaft, das klare Feuer, das die lichten Räume füllt.«

»Ihm steigen die Gedanken lerchengleich in freiem Flug zum Morgenhimmel, – hoch über dem Leben schwebt er, und mühelos versteht er die Sprache der Blumen und der stummen Dinge!«

(aus: Charles Baudelaire, Erhebung, Die Blumen des Bösen)

8. April 34

Voltaire

Ich habe Voltaire eher zufällig als absichtlich kennengelernt; ich wollte Molières Komödien lesen; ich hatte sie in der Bibliothek verlangt und bekam – Voltaire. Wie schrecklich! Molière gibt es hier in Tegel nicht. Meine Schwester hat ihn mir geschickt, zusammen mit einigen anderen französischen Büchern, aber ich bekam sie nicht, man lehnte es ab, sie mir auszuhändigen. Ich war traurig, fing aber an Voltaire zu lesen. Ich hatte eine vage Vorstellung von diesem Dichter, besonders von seinen Werken. Ich kannte nur einige Daten aus seinem Leben, ich wusste von seinen Beziehungen zum Hof von Versailles und zu Madame de Pompadour und von seinen Beziehungen zu Potsdam und Friedrich dem Großen. Ich hatte in Sanssouci die Wohnung gesehen, die er bewohnt hatte, Gemächer, die von Friedrich den Charakterzügen seines Gastes entsprechend eingerichtet und dekoriert worden waren.

Sein Buch Théâtre enthält alle seine dramatischen Meisterwerke: Oedipus, Brutus, Zaïre, Merope, Cäsars Tod, Semiramis, Tancred; außerdem einige Vorworte, einige Briefe. Ich glaube, dass eine große Staubschicht über diesen Werken liegt, ich werde es aber ganz vorsichtig versuchen!

Also – Nanine, oder das besiegte Vorurtheil, Komödie in drei Akten, werde ich zuerst lesen; ich hoffe, darin den Geist von Versailles und der französischen Pairs zu finden, den Charme, die Intrigen.

Ich fürchte aber Larven kennenzulernen und nur Masken zu sehen – aber wir werden sehen. Und ich werde auch die Vorworte und Briefe lesen, die seine Meinungen und Gedanken über alle Angelegenheiten der Poesie und der Kunst im Allgemeinen enthalten. Hier hoffe ich, einige Perlen zu finden, einige mit Bissigkeit und Strenge formulierte Sätze, einige listige Sentenzen. – Das ist mein Vorurteil!

Wird die Enttäuschung kommen?

Er legt seine Meinungen dar und schreibt:

»Ein Anfänger wird aus allen Büchern, die wir über die Mahlerey von Kennern haben, gewiß nicht das lernen, was ihm die bloße Betrachtung eines Kopfes vom Raphael lehret.«

Sehr gut. Aber warum gerade von Raffael? Armer Schüler!

»Es ist also eben so überflüßig von den Regeln an der Spitze eines Trauerspieles zu reden, als es für einen Mahler sein würde, die Welt durch Abhandlungen über seine Gemählde einzunehmen […]«

Er schreibt aber auch ausführliche Aufsätze. Er verteidigt die Regeln der »drey Einheiten«, die Regeln von Corneille, Racine etc. gegen Herrn de la Motte (Vorwort von Oedipus).

Die Einheit des Ortes

»Hat Herr Brün Alexandern auf einem Blate zugleich in Arbela und in Indien gemahlet?«

Ich kenne Le Brun nicht; ich kenne Gemälde, vor allem von »Primitiven«, wo man zum Beispiel das gesamte Leben eines Heiligen dargestellt findet, sein gesamtes Leben auf einem Gemälde – und diese Bilder, diese perfekten Werke – kann »eine denkende und verständige Nation« sie ablehnen? Dieser Satz ist überhaupt nicht überzeugend!

»Es ist gewiß, daß der Cid rührender ist als Berenice, aber diese ist nur fehlerhaft, weil sie mehr eine Elegie als ein einfaches Trauerspiel ist, und die gute Aufnahme des Cids, dessen Handlungen wirklich tragisch sind, rühret nicht von den vervielfältigenden Begebenheiten her, denn er gefällt ohne diese Vervielfältigung […]« Warum denn? Man kann dasselbe über die »Einheit« sagen.

»....die [...] Regeln, nämlich die [...] Schönheiten...« Gibt es einen französischeren Satz als diesen kleinen Satz? Der französische Geist in seiner Reinheit! Es ist ein Bekenntnis. Man kann nicht widersprechen. Wir Barbaren!

Über die Oper

»Die Oper ist ein eben so sonderbares als prächtiges Schauspiel, welches die Augen und Ohren mehr, als den Verstand beschäftiget, welches wegen der Begleitung der Musik die lächerlichsten Fehler nothwendig machet, wo man bey der Zerstörung einer Stadt Arietten singen und um ein Grab tanzen muß, [...] Es würde eben so lächerlich seyn, wenn in Alcest Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit verlangen wollte, als Tänze und Gespenster im Cinna und der Rodogune einzuführen.« !!! Trotzdem: »Unterdessen, da die Opern an diesen dreyen Regeln nicht gebunden sind, so sind doch diejenigen am besten, die sie am wenigsten beleidigen.«

Über die Tragödien in Prosa

Gegen Herrn de la Motte: »Es hat zwar Leute gegeben, die manchmal die Schwachheit gehabt haben, sich über ihre Wissenschaft hinaus zu setzen, welches das sicherste Mittel ist, unter ihr zu seyn […].« Das ist Voltaire! Das Genie jeder Sprache ist bestimmt durch die Art ihrer Vokale und Konsonanten, ihre Inversionen, ihre Hilfsverben etc. Das Genie unserer Sprache ist Klarheit und Eleganz! Herr de la Motte hatte gesagt, »daß das Verdienst dieser Kindereien [Uhlmann setzt hinzu (Reime)] bloß die überwundene Schwürigkeit sei.«

Voltaire dazu:

»Ich läugne nicht, daß elende Verse diesen Ausspruch verdienen, bloß der Reim unterscheidet sie von der schlechten Prosa, und der Reim allein macht weder das Verdienst des Dichters, noch das Vergnügen des Lesers aus: […] die wird durch den anmuthigen Wohlklang, der aus dieser schweren Abteilung entspringt, eingenommen. Wer eine Schwürigkeit bloß deswegen zu überwinden suchet, damit er sie überwunden habe, der ist thöricht, wer aber aus diesen Hindernißen noch Schönheiten erzwingt, die den Beyfall der ganzen Welt erlangen, der ist ein geschickter und fast unnachahmlicher Geist.«

Und hier noch einmal der echte Voltaire: »Ich könnte mir noch die Freyheit nehmen, verschiedene andere Punkte mit Herrn de la Motte auszumachen, aber vielleicht dürfte man glauben, als ob ich ihn persönlich angreifen wollte, oder man hielt mich böser Absichten wegen verdächtig, von denen ich so sehr entfernet bin, als von seynen Meynungen.«

Sonntagnachmittag. Draußen scheint die Sonne. Die liebe Frühlingssonne. Ich höre die Vögel und höre jetzt auch die Schlüssel der Wärter in den Schlössern. Meine Augen sind an solches Licht nicht mehr gewöhnt. Ich denke an Zehlendorf. Zu dieser Uhrzeit besuchte ich gewöhnlich meine Schwester: Ich fühle, dass sie gerade auch an mich denkt, sicherlich alle. Heute morgen, zur Pausenzeit (eine kleine halbe Stunde), habe ich Herrn Fr. nach einigen Wochen zum ersten Mal wiedergesehen... nicht sehr verändert, ruhig wie immer.

Und dann, in den nächsten Tagen werde ich den ersehnten Brief von meiner Schwester, meiner Mutter und von Jeanne bekommen! Jeanne, bestimmt ist sie gerade beim Malen. Wenn ich doch Molière, Cocteau etc. bekommen könnte: Ich hoffe noch. Das Gefängnis wäre nicht so schwer. Ich bin aber schon glücklich wenigstens andere Lektüren zu haben: Voltaire etc. Ich lese mit viel Begeisterung und Spaß Die Wahlverwandtschaften von Goethe. Während dieser Lektüre kann man die vergitterten Fenster vergessen. Ich muss feststellen: Ich habe großen Hunger. Hunger – in jeder Beziehung. Das ist das Gefängnis.

10. April 34

Die ganze Nacht hat es geregnet; und jetzt auch noch mittags! Ein warmer Regen, von der trockenen Erde durstig erwartet. Das ist mein Wetter! Das frische und glänzende Grün der ersten Blätter und das feuchte Grün auf den Baumstämmen! Die Nase und der ganze Körper spüren den Frühling – hier noch stärker als jemals draußen.

Gestern habe ich den Brief meiner Eltern bekommen. Ich war glücklich und traurig durch den Wunsch der Freiheit. Meine Mutter schreibt: »Ich, Deine Mutter, mache mir jetzt oft Vorwürfe, Euch zu so ehrlichen und pflichtbewussten Menschen erzogen zu haben – wir hätten noch unseren Fritz, und Du wärst jetzt nicht in Tegel. Vielleicht. – Ich habe mein ganzes Leben lang bis jetzt noch nie solche schlechten Gedanken gehabt!« Sie hat recht, meine Mutter, aber es ist gut, wie es ist!!

12. April 34

Vorhin – acht Uhr abends – zurück im Käfig! Nach elfstündiger Arbeit, von acht Uhr morgens bis jetzt, mit einer einstündigen Pause für das »Abendessen«! Ich bin sehr müde. In meinen Ohren das langweilige Gerede anderer Gefangener! Den ganzen Tag unnötige Streitigkeiten! Der Grund: oft niedere Motive, fast immer die Empfindlichkeit, die Unruhe, bedingt durch die lange Gefangenschaft! Welch ein Leben! Die Körper sind geschwächt, aus Mangel an frischer Luft und besserer Nahrung.

Man muss seine Vitalität und seine ganze Energie bewahren!

14. April 34

Vorgestern früh sah ich im Garten die glatten und feuchten Stämme und Äste der Platanen – grau und grün befleckt – wie Schlangen mit ihrer schillernden Haut. Sehr schön! So etwas zu sehen vor einer anstrengenden, elfstündigen Arbeit!

15. April 34, Sonntag

Aus Nanine (Voltaire)

Der Graf: »Wie ich Ihnen gesagt habe, Amor hat zween Köcher, der eine ist mit den entflamten Pfeilen angefüllt, die die Seele besänftigen und beruhigen, die den Geschmack läutern, unsre Empfindungen und verliebte Bemühungen lebhafter und unser Vergnügen rührender machen. In dem anderen Köcher sind nichts als grausame Pfeile, die Verdacht und Zänkereien erregen, das Herz kaltsinnig machen, und statt der Hitze einen Ekel verursachen. Sehen Sie, Madam, dies sind die Pfeile, deren sie sich wider uns beyde bedienen; und doch wollen Sie noch, daß man Sie lieben soll.«

Blaise, der Gärtner erzählt von Nanine: »[…] und darauf machte sie diesen Strauß, mit einem so gerührten und so rührenden Blicke, und ihr Gesicht war so verwirrt, sie war ganz bewegt, ganz tiefsinnig, mit einem gewissen Ansehen, einem Ansehen, zum Henker, dass man deutlich darin sehen konnte.«

Nanine, ist nicht sehr originell! Eine Bagatelle, wie er – Voltaire selbst – sie im Vorwort genannt hat!

Der Brief von Voltaire an Madame la Marquise de Pompadour (dieser Brief als Vorwort zur Tragödie Tancred, die der Pompadour gewidmet ist) enthält folgende Sätze: »Ich habe von Ihrer Kindheit an gesehen, wie die Anmuth und die Talente sich bei Ihnen entwickelten: ich habe von Ihnen zu allen Zeiten Zeugnisse einer Gütigkeit erhalten, welche sich immer gleich ist.«

Über das Theater

»Außerdem ist der Schauplatz der einzige Ort, wo sich die Nation versammlet: da bildet sich der Witz und Geschmack der Jugend [...]« Nicht immer, scheint mir! »Ich weiß wohl, daß alle Pracht des Aeusserlichen nicht so viel werth ist, als ein erhabner Gedanke, oder eine Empfindung; eben so, wie der Schmuck ohne Schönheit fast für nichts zu achten ist. Ich weiß wohl, daß es eben kein großes Verdienst ist, zu den Augen zu reden: aber ich getraue mir doch zu behaupten, daß das Erhabene und Rührende eine weit empfindlichere Würkung thut, wenn es durch ein anständiges äusserliches Wesen unterstützt wird; und daß man die Seele und die Augen zugleich rühren muß.«

Trotz des letzten Satzes: nicht ganz klar. Voltaire redet immer von der Ausstattung oder der Pracht einer Inszenierung wie von einer Zierde – er spricht nie von mimischer Kunst, der grundlegenden Kunst des Theaters.

Im gleichen Brief, gegen die Schwarzseher: »Vergebens bemühen sich viele von unsern Mitbürgern, unsern Verfall in allen Stücken zu verkündigen. Ich halte es nicht mit denen, welche, wenn sie aus einem Schauspiele kommen, bey einer niedlichen Abendmahlzeit, in dem Schose der Verschwendung und der Lust, mit ganz munterem Wesen sagen: es sey alles verlohren.«

Das Vorwort von Zaïre, eine Epistel als Widmung an den »Herren Fakener«, einem Kaufmann und englischen Botschafter. Hier findet man Folgendes: »Sie sind ein Engländer, mein werther Freund, und ich bin in Frankreich gebohren: Diejenigen aber, welche die Künste lieben, sind zusammen Mitbürger. Die rechtschaffenen Leute, welche denken, haben beinahe einerlei Grundsätze, und machen nur Eine Republik aus.«

Aus einem Schreiben an Mademoiselle Gaussin, die junge Schauspielerin, die die Rolle von Zaïre mit viel Erfolg dargestellt hat:

»[...] Vielmal beglückt ist der verliebte Mensch,

Der jeden Tag dich sehn und hören kann,

Den du mit lächelndem Gesicht empfängst,

Der sein Geschick in deinen Augen liest,

Der von der Gluth, die er verehrt, durchdrungen,

Vor deinem Knie der ganze Welt vergißt,

Von Liebe spricht und dir es widerholet.

Weh den, der nur davon in Versen spricht!«

16. April 34

Für später: Man muss die Zeit besser nutzen! Wenn man mit weniger Schlaf auskommen könnte: Man hätte den Tag für das Leben unter den Menschen und ihrer Arbeit – und die Nacht für das Werk – wenn man könnte!

22. April 34, Sonntag