Harzsturm - Roland Lange - E-Book

Harzsturm E-Book

Roland Lange

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Beschreibung

Bauunternehmer Heinze will vom Aufschwung im Harz profitieren und verstrickt sich beim Bau einer riesigen Baumhotel-Anlage in illegale Machenschaften. Ein Mitarbeiter und Vertrauter Heinzes will auspacken. Damit setzt er eine tödliche Spirale in Gang. Zur selben Zeit scheint Stefan Blumes Leben aus den Fugen zu geraten. Freundin Katja hat ihn vor die Tür gesetzt. Ziellos reist er nun mit einem Wohnmobil im Harz umher. Auf einem Campingplatz lernt er einen Mann kennen, der einen USB-Stick mit brisanten Informationen bei sich trägt. Als ihn dieser Mann kurz darauf mit vorgehaltener Waffe zu einer gemeinsamen Fahrt ins Ungewisse zwingt, ahnen sie beide nicht, dass über dem Harz ein gewaltiger Sturm aufzieht. Mitten im tobenden Unwetter erfährt Blume, dass Katja verschwunden ist und zudem des Mordes verdächtigt wird. Er nutzt die erste Gelegenheit, um seinem Entführer zu entkommen und sich auf die Suche nach Katja zu machen. Nach und nach begreift er, dass ihr Verschwinden, der USB-Stick seines Entführers und die Interessen skrupelloser Immobilienhaie miteinander verwoben sind. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt.

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Um reisen zu können, muss man ein Zuhause haben, das man verlassen und zu dem man zurückkehren kann. (Peter Høeg, „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“)

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comFotos von Roland Lange: Sabine PrilopeISBN 978-3-8271-9785-6

Roland LangeHarzsturm

Die Akte Stefan Blume

• Stefan Blume – richtiger Name: Matthias Wagenfeld.

• geboren und aufgewachsen in der DDR, Stasi-Agent, ledig, pflegt eine Beziehung mit Katja Ortlepp.

• Wagenfelds Stasi-Waffenbruder ist Gerhard Hauser, mit dem er auch befreundet ist.

• Nach dem Mauerfall: Wagenfeld und zwei Genossen wollen eine Liste mit Agentennamen an die West-Justiz übergeben und sich damit Straffreiheit erkaufen.

• Gerhard Hauser, von Wagenfeld nicht eingeweiht, deckt den verräterischen Plan auf und vereitelt ihn. Wagenfelds Komplizen verlieren bei „Unfällen“ ihr Leben.

• Wagenfeld verschwindet Hals über Kopf, flieht auf die Philippinen. Seine Freundin Katja lässt er ohne Abschied ahnungslos zurück.

• Jahre später taucht Wagenfeld mit neuer Identität wieder in Deutschland auf. Er ist jetzt Stefan Blume. Eine im Zuge dieser Verwandlung erfolgte Gesichtsoperation ist missglückt. Er ist nicht mehr in der Lage, sich mimisch auszudrücken. Seine starren Gesichtszüge kaschiert er mit einem Vollbart.

• Stefan Blume betreibt nach seiner Rückkehr in Hannover einen kleinen Laden für gebrauchte Elektrogeräte, die er ankauft, verkauft und repariert. Eine Fassade. Inoffiziell arbeitet er als Privatdetektiv für eine handverlesene, vertrauenswürdige Kundschaft.

• Blume hält sich so weit wie möglich aus der Öffentlichkeit fern. Trotz seiner neuen Identität hat er Angst, erkannt zu werden und seinem Ex-Freund und jetzt Todfeind Gerhard Hauser in die Hände zu fallen. Er ist überzeugt, dass Hauser für den Verrat Rache nehmen und ihn liquidieren will.

• Als Stefan Blume im Fall eines in der DDR entführten kleinen Jungen ermittelt, der dreißig Jahre später wieder auftaucht, ist er auf die Hilfe seiner alten Freundin Katja Ortlepp angewiesen. Er sucht nach ihr und findet sie als Inhaberin eines Western-Saloons und Besitzerin mehrerer Ferienhäuser im Harz.

• Blume und Katja kommen sich wieder näher und er zieht bei ihr ein. Seinen Elektroladen verkauft er unfreiwillig an eine Immobiliengesellschaft, hinter der er Gerhard Hauser vermutet.

• Blume arbeitet seitdem als Buchhalter für Katja in einer Bürobaracke hinter dem Saloon. Von dort aus betreibt er weiterhin inoffiziell seine Detektivgeschäfte. Er scheut nach wie vor die Öffentlichkeit.

• Blumes Angst, von Gerhard Hauser entdeckt zu werden, entwickelt sich zu einer Paranoia. Die Beziehung zwischen ihm und Katja ist zunehmend belastet.

• Während einer Ermittlung begegnet Blume unerwartet seinem Todfeind Hauser. Der hat ihn enttarnt und scheint mit ihm Frieden schließen zu wollen. Ein Irrtum. Wenig später steht ihm der Mann mit vorgehaltener Waffe gegenüber, bereit, abzudrücken.

• Eine Explosion verhindert, dass Hauser Blume tötet. Später erhält Blume die Nachricht, dass Hauser in der Pension seiner Cousine verbrannt ist.

• Nach Hausers Tod glaubt Blume, endlich Frieden zu finden. Doch dann sieht er den vermeintlich Toten auf dem Berliner Hauptbahnhof in einen ICE steigen und verschwinden. Niemand glaubt ihm das. Die alte Angst ist wieder da, denn Blume weiß, Hauser wird ihn weiter jagen.

Kapitel 1

Paul Everding traute seinen Augen nicht. Keine fünfzig Meter von ihm entfernt segelte ein Motorrad durch die Luft. Davon losgelöst eine Handbreit über der Maschine der Fahrer. Kamen auf ihn zugeflogen, wie aus heiterem Himmel – wenn man das zu dieser fortgeschrittenen Tageszeit so sagen konnte. Das Motorrad prallte auf dem Boden auf, überschlug sich zwei, drei Mal, wurde von den Baumstümpfen gebremst und blieb dann an der steilen Böschung liegen. Fast vor seinen Füßen. Der Fahrer war ein Stück weiter oben hängen geblieben. Zwischen den nachwachsenden jungen Bäumen und Büschen.

Everding stand wie festgenagelt am Fuß des Abhangs. Auf einem Waldweg. In der Dämmerung. Sein Auto parkte nur wenige Meter entfernt. In einem Tunnel aus dichtem Strauchwerk, in dem es stockdunkel war. Gerade hatte er zum zweiten Mal die Geldscheine gezählt und grinsend wieder in das Kuvert geschoben. Was für eine Summe! Und das bei vergleichsweise geringem Beschaffungsrisiko. Verrückt, was manche Leute für ein paar Skulpturen zahlten.

Er hatte zum Auto gehen und nach Hause fahren wollen, als sich ein diffuses Brummen in die abendliche Stille geschlichen hatte. Kurz bevor er in den Tunnel eingetaucht war. Das Geräusch war oben von der Straße gekommen, einer einsamen, kurvenreichen Nebenstrecke, die keine Leitplanken kannte und deren geteerte Fahrbahn einem Flickenteppich glich. Nur gelegentlich ließ sich darauf mal ein Fahrzeug blicken. Die Abgeschiedenheit hatte Everding seinerzeit bewogen, sich immer auf dem Waldweg unterhalb dieser Serpentinen mit seinen Geschäftspartnern zu treffen.

Heute waren es zwei Autos gewesen, die seit seiner Ankunft am Übergabepunkt auf der schmalen Straße entlanggekurvt waren. Mehr als sonst, denn für gewöhnlich war gar nichts los da oben. Aber kein Grund, sich zu sorgen. Erst als das dritte Fahrzeug vor etwa einer halben Stunde vorbeigekommen war, hatte ihn das ein wenig nervös gemacht. Das Auto, den Konturen nach zu urteilen ein Geländewagen, hatte angehalten. Direkt in der scharfen Kurve in seinem Blickfeld. Jemand war ausgestiegen, hatte etwas aus dem Kofferraum geholt, war ein oder zwei Minuten herumgelaufen. Höchstens. Everding hatte die Szene aus der Deckung heraus angespannt beobachtet, aber nicht erkennen können, was auf der Straße vor sich ging. Einen Moment lang hatte er befürchtet, das Treiben könne mit ihm zu tun haben. Doch die Person war wieder eingestiegen und weitergefahren. Kurz darauf war der Hehler aufgetaucht, und sie hatten ihr Geschäft abgewickelt. Kein Gedanke mehr an den Geländewagen. Alles wie immer. Einsam und still.

Vor wenigen Sekunden dann das Brummen, das rasch näher gekommen und lauter geworden war. Er hatte innegehalten und gelauscht. Das typische Röhren eines Motorrads. Mit reichlich PS und, wie es schien, viel zu schnell. Plötzlich ein helles Jaulen, vermischt mit einem unnatürlichen Kreischen und Scheppern. Erschrocken war er herumgewirbelt und hatte den Kopf gehoben. Vor Augen die Kulisse der riesenhaften Zahnstocher, die einst den dichten Harzer Fichtenwald bildeten und jetzt oberhalb der Straße wie drohende Mahnmale in das Halbdunkel des späten Abendhimmels ragten. Und dann hatte er das Motorrad über die Kante schießen sehen.

„Heilige Scheiße“, murmelte Everding tonlos. Er hatte den ersten Schreck überwunden, glotzte aber weiterhin entsetzt auf die Stelle, wo die Maschine von der Straße abgekommen war. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ er seine Augen die Böschung hinunterwandern, bis hin zu dem Wrack, nur wenige Schritte entfernt. Endlich erwachte er aus seiner Starre und handelte.

Er hastete auf das demolierte Motorrad zu, würdigte es nur eines kurzen Blickes, dann suchten seine Augen den Hang ab. Irgendwo auf halber Höhe musste der Biker liegen. Er kraxelte rutschend und strauchelnd die Böschung hinauf, schaute sich suchend um, bemerkte die Spitze eines derben Wanderschuhs, die aus dem dürren Gras ragte. Neben einem Strauch. Everding umrundete das Gebüsch, sah den Fahrer vor sich liegen. Das Bein, zu dem der Schuh gehörte, gestreckt, das andere Bein unnatürlich abgewinkelt und blutgetränkt. Der Arm, auf dem der Kopf mit dem Integralhelm ruhte, ebenfalls grotesk verdreht. Ein zerschmetterter Haufen Mensch. Ein Mann. Wie selbstverständlich hatte er das erwartet und sah sich jetzt bestätigt. Der Biker trug keine Lederkombi, auch keine Handschuhe. Er steckte in einer legeren Kluft aus Jeans und einem verwaschenen Fieldjacket. Der Stoff der Jacke zerrissen. Zwischen den Fetzen war ein Nierengurt zu erkennen.

Everding kniete sich neben den Mann. Mit Zeige- und Mittelfinger versuchte er die Schlagader und den Puls zu ertasten, hörte das leise Stöhnen unter dem Helm. Er ließ vom Hals ab, fummelte stattdessen am Helmvisier herum, klappte es nach oben.

„Hallo, können Sie mich hören?“, fragte er und drehte seinen Kopf etwas zur Seite, mit dem Ohr zum Mund des Mannes hin.

Der Verletzte ächzte, gab unverständliche Töne von sich. Seine Lider hoben sich ein wenig, glasige Augen darunter, die ins Leere starrten.

„Ich verstehe Sie nicht“, sagte Everding etwas lauter. „Hören Sie, ich werde jetzt versuchen, Ihnen den Helm vom Kopf zu ziehen“, schob er hinterher.

„Polizei ... bitte ...“

„Ja, ja. Ich hole gleich Hilfe. Nur einen Moment.“

Everding löste den Kinngurt. Er kroch hinter den Verletzten, versuchte, sich an einen Jahre zurückliegenden Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, konzentrierte sich und zog vorsichtig am Helm. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie der Mann seinen intakten Arm an den Körper drückte, seine Finger nach irgendetwas zu suchen schienen. Dann hatte Everding den Kopf des Verletzten freigelegt, kroch wieder an dessen Seite. Spürte, wie die Hand, die eben noch scheinbar ziellos herumgetastet hatte, nach seinem Hoodie griff und der Mann versuchte, sich hochzuziehen. Ein Zerren, ein letztes verzweifeltes Aufbäumen, begleitet von herausgepressten Wortbruchstücken: „Pol ... zei ... ge ... ben ... schnell!“

Dann ein Röcheln, die Hand ließ los, der Arm rutschte schlaff zur Seite, der Kopf fiel zurück. Ein flehender Ausdruck lag in den Augen des Mannes, ehe sie erstarben. Von einer Sekunde zur anderen wich alle Spannung aus dem zerschundenen Körper.

Everding wusste, dass der Biker tot war, ehe er sich vergewissert hatte. Trotzdem drückte er seine Finger gegen dessen Schlagader, ertastete aber keinen Puls mehr. Langsam richtete er sich auf, sah sich um. Er war allein mit dem Toten. Auch oben, auf der kurvigen Straße, tat sich nichts. Weder Motorgeräusche noch vorbeihuschende Lichtkegel. Niemand außer ihm schien etwas von dem Unfall mitbekommen zu haben.

Und jetzt? Für einen Notruf war es zu spät. Sollte er trotzdem die Polizei alarmieren? Warten, bis die Uniformierten samt Feuerwehr und Krankenwagen anrückten? Ihnen erzählen, was passiert war? Und erklären, warum er hier, um diese Tageszeit, herumkroch? Einen Teufel würde er tun! Dem Mann war nicht mehr zu helfen! Da machte es nichts, wenn die Leiche und das Motorradwrack hier liegen blieben, bis sie jemand entdeckte. Ein schlechtes Gewissen wegen unterlassener Hilfeleistung brauchte er nicht zu haben.

Everding nickte bekräftigend. Ja, es war vernünftig, das Weite zu suchen. Wenn er blieb, gab es nur Ärger, und den konnte er nicht gebrauchen. Nach einem letzten Blick auf den Toten wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen hinunter. Irgendwoher kannte er den Mann, überlegte er. Verdammt, wo hatte er den schon mal gesehen?

Stunden zuvor ...

Bauunternehmer Klaus Heinze kochte vor Wut. Da wollte dieser kleine Scheißer ihn doch tatsächlich aufs Kreuz legen! Aber nicht nur deshalb war er außer sich. Enttäuschte Liebe kam hinzu.

Heinze hatte schon nach wenigen Jahren in seiner kinderlosen Ehe erkennen müssen, dass er seine Vorliebe für Männer nicht ewig würde unterdrücken können. Den Menschen in seinem beruflichen und gesellschaftlichen Umfeld dauerhaft das vorzuspielen, was sie sehen wollten, das glaubte er zu schaffen. Seiner Frau gegenüber den Schein zu wahren, dazu fehlte ihm jedoch die Kraft. Als er ihr seine Neigung kleinlaut eingestanden hatte, war sie zu seiner Überraschung nicht etwa durchgedreht und hatte ihre Ehe aufgekündigt. Vielmehr schien es, als habe sie längst etwas geahnt und war erleichtert gewesen, es endlich aus seinem Mund zu hören. Nach dem Bekenntnis unterstützte sie ihn, wo immer möglich, damit er für die Außenstehenden weiter glaubhaft den heterosexuellen Mann spielen konnte. Kühl kalkulierend hatte sie sich mit ihm arrangiert. Sie hatte Kosten und Nutzen abgewogen und war zu dem Ergebnis gekommen: Die Fassade des erfolgreichen Unternehmerehepaars musste aufrechterhalten werden.

Hinter den Mauern ihres ausgedehnten Privatanwesens lebten beide seit jenem Tag ihr eigenes Leben, gingen sich aber nicht komplett aus dem Weg und behandelten sich freundschaftlich. Kamen Gäste, waren sie weiter das liebende Ehepaar. Außerhalb seiner vier Wände hielt Heinze sein Schwulsein verborgen, zeigte sich mit seinen wechselnden Liebhabern nicht in der Öffentlichkeit. Die Partner für seine sexuellen Abenteuer fand er in Gayklubs und verbrachte die Nächte mit ihnen in den Kellerräumen unter dem Unternehmensbüro. In jenem Teil der Räume, der offiziell gar nicht existierte. Der einen externen Zugang hatte, für den nur er die Schlüssel besaß. Hinter dieser Tür gab es neben einem komplett eingerichteten Wohnbereich mit Küche, Bad und Toilette ein kleines abgetrenntes Zimmer, in dem Heinze Unterlagen mit brisantem Inhalt aufbewahrte und Geschäfte abwickelte, von denen außer seinen Geschäftspartnern niemand etwas wissen durfte.

Als Heinze eines Nachts in einem der einschlägigen Klubs Frank Lischka kennenlernte, wusste er sofort, dass er mehr von ihm wollte als nur einen One-Night-Stand. Und dieser begehrenswerte Kerl schien einer längeren Beziehung ebenfalls nicht abgeneigt, auch wenn sie im Geheimen stattfinden musste. Sie verbrachten regelmäßig die Nächte miteinander unter dem Bürohaus. Spätabends kam Heinzes neuer Lover durch den separaten Eingang in das Liebesnest, und sehr früh am Morgen verschwand er wieder.

Dann ging Heinze noch einen Schritt weiter. Er stellte seinen Freund in der Baufirma ein. Gab ihm einen Job im Büro, wo er mit der Verwaltungsorganisation und Logistik betraut wurde. Lischka war ein fähiger Kerl und fand sich, obwohl Quereinsteiger, ausgesprochen schnell zurecht. Heinze war glücklich mit seiner Entscheidung, hatte er den Mann, den er liebte, jetzt immer in seiner Nähe, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

Das Leben nach dem Outing gegenüber seiner Frau so zu führen, war allerdings nur möglich, weil seine Geschäftspartner es tolerierten. Vor diesen Leuten konnte man nichts verbergen. Mit dem Instinkt von Raubtieren hatten sie seine Schwäche erkannt und sein Doppelleben aufgedeckt. Sie hätten ihn fallen lassen können wie eine heiße Kartoffel, sich aber dagegen entschieden und darauf gesetzt, dass er mit ihnen kooperierte und sich ihren Anweisungen fügte.

Heinze hatte eingewilligt. Alles andere wäre sein Untergang gewesen. Denn zu einem früheren Zeitpunkt, als ihm die kleine Baufirma nicht mehr gereicht hatte und er den etablierten Großbetrieben Konkurrenz machen wollte, hatte er auf das Geld dieser Leute zurückgegriffen. Sehr viel Geld. Das steckte jetzt in einem Unternehmen, dem er genau genommen nur noch seinen Namen gab. Seine Partner besaßen die Mehrheitsanteile und hatten sich damit die Entscheidungsgewalt gesichert. Von ihnen hing es ab, ob und wie lange sich Heinze-Bau am Markt halten würde. Und diejenigen, die im Hintergrund die Fäden zogen, hatten entschieden, dass das jetzt bundesweit operierende alteingesessene Familienunternehmen eins ihrer Standbeine sein sollte. Ihr Ziel war es, den gesamten Harz zu erobern. Sie sahen ein riesiges Potenzial, das brachlag und erschlossen werden wollte. Für eine verwöhnte, zahlungskräftige Klientel. Nicht kleckern. Klotzen! Das war ihr Motto. Wie etwa mit dem Nature & HeavenWellness Resort. Demnächst sollte das aktuelle Prestige-Objekt der Heinze-Bau seiner Bestimmung übergeben werden: ein Baumhotel! Ein Bauwerk, das alle vergleichbaren Projekte in jeder Beziehung übertraf und schon heute als weiterer Leuchtturm im Harz gehandelt wurde, neben den Weltkulturerbe-Stätten und neben den Eventanlagen an der Rappbode-Talsperre. Es sollte nicht das einzige Großprojekt bleiben.

Alles war bisher gut gelaufen. Als Lischka in Heinzes Leben auftauchte, hatten seine Partner diese heimliche Beziehung toleriert und sich auf seine Loyalität und Umsicht verlassen. Seinen Lover zum Mitarbeiter in der Firma zu machen, hatte ihn hingegen einige Überredungskunst gekostet, bis sie seinen Wunsch akzeptierten. Heinze nahm an, dass sie Lischka spätestens ab dem Zeitpunkt überwacht hatten. Ob es einen konkreten Anlass dafür gegeben hatte oder einem generellen Misstrauen gegenüber jedermann geschuldet war, wusste er nicht.

Und jetzt musste er einsehen, dass ihre Maßnahmen gerechtfertigt gewesen waren. Vielleicht war es das, was Heinze am meisten in Rage versetzte: seine eigene Naivität und Arglosigkeit. Er hatte Lischka und dessen Liebesschwüren geglaubt, ihn zu keiner Minute einer solchen Hinterlist verdächtigt. Nie im Leben hätte er gedacht, der Mann, den er liebte, könne ihn, während er schlief, hintergehen. Und doch hatte er es getan. Hatte geduldig und mit geschickter Verführungskunst auf sein Ziel hingearbeitet, sich Zugang zu den geheimen Unterlagen verschafft, Kopien gemacht und auf einer SD-Karte gespeichert.

Heinze fragte sich, ob Lischkas Liebe nur gespielt gewesen war, einzig, um an ihn, oder besser, an die heißen Dokumente heranzukommen. Davon musste er, nach allem, was ihm jetzt bekannt war, ausgehen. Und es wäre dem Kerl tatsächlich gelungen, das Unternehmen in den Abgrund zu stürzen, hätten Heinzes Geschäftspartner keine Vorsorge getroffen und, ohne vorher mit ihm darüber zu sprechen, Lischkas Wohnung verwanzt. So hatten sie seine Gespräche mitverfolgen können und von seinen Plänen mit der SD-Karte erfahren.

Lischka hatte die heißen Unterlagen verkaufen wollen. Für eine beachtliche Summe. An einen Mann, der sich Josef nannte. Möglich, dass der tatsächlich so hieß. Vielleicht war es nur ein Deckname. Ob der Käufer ein privates Interesse an den Daten gehabt hatte oder den Justizbehörden angehörte, war genauso wenig klar gewesen. Dafür aber der Zeitpunkt und der Ort der Übergabe. Eine Köte auf einem abgelegenen Platz im Harz. Den Weg dahin hatte der Käufer Lischka genau beschrieben.

Alles das erfuhr Heinze erst von seinen Partnern, als die längst über Lischkas Schicksal entschieden hatten und ein kleines Aufräumkommando gerade dafür sorgte, dass sein Lover die Köte im Harz nie erreichen würde! Der Käufer würde sich fragen, warum der Mann mit der SD-Karte nicht zur vereinbarten Zeit auftauchte, und nach einer Weile begreifen, dass der Deal geplatzt war. Ein, zwei Tage würde es vermutlich dauern, bis bekannt wurde, dass ein Motorradfahrer Opfer seiner riskanten Fahrweise geworden war. In einer Kurve auf einer Schicht feinen Steingerölls weggerutscht und von der Fahrbahn abgekommen. Ins Tal gestürzt. Noch am Unfallort verstorben. Ein weiteres tragisches Biker-Schicksal, von denen es im Harz jedes Jahr etliche gab.

Lischka hatte sich verkalkuliert.

Kapitel 2

„Und ihr seid sicher, dass er die SD-Karte nicht bei sich hatte?“, fragte einer der beiden geschniegelten Anzugträger, die in dem kleinen Konferenzraum hinter einem Tisch saßen, mit dem Bauunternehmer Heinze in ihrer Mitte. Seine leise Stimme klang freundlich, konnte die knisternde Spannung, die im Raum lag, aber nicht neutralisieren. Im Gegenteil!

Vor dem Tisch hockten zwei Männer, die für gewöhnlich eine Aura aus bedrohlicher Brutalität umgab, mit ihren düsteren Stoppelbart-Gesichtern, ihren Tattoos und ihrer Lederkluft. Lange schwarze Haare, zum Zopf gebunden, der Dicke, blondiertes Stachelhaar der andere, Schmächtige. Grobschlächtige Kerle, denen man besser auswich, wenn man ihnen begegnete. In diesem Moment wirkten sie aber eher wie geprügelte Hunde mit eingezogenem Schwanz.

Die Szene mutete wie eine absurde Gerichtsverhandlung an. Das hohe Gericht hinter dem Tisch, die beiden Schlägertypen schuldbewusst gebeugt auf der Anklagebank davor.

„Wir haben ihn gründlich durchsucht! Sie war nicht mehr da“, erklärte der Schwarzhaarige und richtete sich ein wenig auf, versuchte, so etwas wie Selbstsicherheit zu demonstrieren. „Aber bis zu seinem Abflug hatte er sie noch. Hundertprozentig.“ Er nickte, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. „Wenn er sie vorher ... also, wenn er die Karte unterwegs jemandem übergeben hätte, wäre uns das nicht entgangen.“

„Ist das so?“ Der Anzugträger schaute wie abwesend zur Decke, rieb sich nachdenklich das Kinn. „Vielleicht ist sie ihm ja an der Böschung aus der Tasche gerutscht“, gab er zu bedenken, noch eine Nuance leiser.

„Unmöglich!“, sprang der Blondierte seinem Kumpel bei. „Da, wo er lag, haben wir auf dem Boden und im Gebüsch nachgesehen und alles um ihn herum genau gecheckt. Sogar ziemlich weiträumig. Falls ihm das Ding beim Aufprall aus der Tasche gerutscht sein sollte, hätten wir es gefunden. Aber nichts.“

„Nichts ... Hm ... Hat sich die Karte etwa in Luft aufgelöst?“

„Nein. Natürlich nicht!“ Der mit dem Zopf schüttelte vehement den Kopf.

„Tja, dann bleibt nur die eine Möglichkeit“, folgerte der Fragesteller hinter dem Tisch. Seine Stimme war jetzt ein Flüstern. Besser gesagt, ein Zischen – das Zischen einer Schlange. „Dieser Fremde, der bei ihm war, hat die Karte.“ Unvermittelt flog die flache Hand des Anzugträgers krachend auf die Tischplatte und ließ die beiden Männer neben ihm heftig zusammenzucken. „Der Kerl, den ihr Schwachköpfe habt entwischen lassen!“, brüllte er. Der Wutausbruch ließ die zwei Rambos noch tiefer in sich zusammensinken. Verschüchterte Zwerge jetzt.

„Wir ... wir haben alles versucht“, setzte der Blonde stockend zu einer Rechtfertigung an, „aber es ging so schnell. Der Typ ist wie aus dem Nichts aufgetaucht, und ehe wir dann da unten waren ...“

„Ihr hättet euch eben etwas beeilen müssen, verdammt!“

„Wie denn?“, bellte der Schwarzhaarige und starrte den Anzugträger wütend an. Es schien, als habe er vergessen, wer ihm da gegenübersaß. „Wir konnten doch nicht mit Hurra die Böschung runterstolpern! Damit der Kerl uns sieht? Er wäre abgehauen, ehe wir ihn erreicht hätten. So oder so wäre er uns entwischt. Außer, wir hätten ihn abgeknallt. Aber wir dachten ...?“

„Ihr dachtet? Was denn?“

„Na ja, wir sollten ja möglichst geräuschlos vorgehen. Keine unnötigen Probleme verursachen.“

Der Wortführer hinter dem Tisch musterte den Mann mit kalten Augen. Erwiderte nichts. Einige endlose Momente trugen sie ein stummes Gefecht miteinander aus. Dann, von einer Sekunde zur anderen, entspannte sich die Miene des Anzugträgers, und ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel. „Ja, du hast recht“, lenkte er ein. „Abknallen wäre nicht gut gewesen. Wir hätten jetzt vielleicht die SD-Karte, wüssten aber nicht, warum der Kerl überhaupt da herumgekrochen ist, ob er mit unserer kleinen Schwuchtel in Verbindung stand und ob womöglich noch jemand ... nein, besser so. Trotzdem – holen müssen wir ihn uns. Lebend!“

Die beiden Schläger nickten unisono. Wirkten erleichtert. Dem Strafgericht gerade noch mal entkommen. Der mit den gefärbten Stachelhaaren fummelte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche.

„Kippen weg!“, blaffte ihn der zweite Anzugträger an. „Hier wird nicht geraucht!“ Er warf seinem Partner an Heinze vorbei einen schnellen Blick zu, dann wandte er sich wieder an die Schläger auf der Anklagebank. „Warum, verdammt noch mal, habt ihr den Kerl nicht entdeckt? Hättet ihr nicht merken können, dass da unten einer herumkriecht? Hättet ihr nicht das gesamte Gelände vorher kontrollieren müssen?“

Der Blonde hatte die Zigaretten wieder eingesteckt und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Er starrte auf seine Hände, die jetzt gefaltet zwischen seinen Oberschenkeln ruhten. Es schien, als suche er dort nach einer Antwort. „Da war keiner“, erwiderte er einige Augenblicke später ausweichend. „Wir haben da unten nichts entdeckt, als wir angekommen sind.“

„Habt ihr überhaupt hingesehen?“

„Na sicher! Und nachdem wir die Kurve präpariert hatten, noch einmal. Alles ruhig. Da hat sich nichts gerührt.“

„Aber ihr wart nicht selbst da unten, oder?“

„Nein. Dazu blieb uns keine Zeit. Wozu auch. Konnte doch keiner ahnen, so was. Wer sollte sich da schon rumtreiben so spät abends?“

„Ja, wer ...“, brummte der Anzugträger nachdenklich, um dann donnernd hinterherzuschieben: „Die Frage hättet ihr beiden Hornochsen euch besser vorher gestellt!“ Ruckartig beugte er sich vor, fixierte sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. „Habt ihr denn wenigstens einen Anhaltspunkt? Irgendwas, das euch hilft, ihn zu finden? Ihr habt ihn doch gesehen, richtig?“

„Durch das Fernglas. Als wir endlich unten waren. Aber nur von hinten. Einmal hat er sich kurz umgedreht, bevor er in sein Auto gestiegen ist. Deutlich zu erkennen war er trotzdem nicht. War ein ganzes Stück weg und zu dunkel in dem Gebüsch.“

„Zu dunkel. Natürlich!“ Der Mann ließ sich seufzend in seinem Stuhl zurückfallen. War erkennbar genervt vom Dilettantismus der beiden Rambos. „Und das Auto?“, fragte er.

„Na ja ... könnte ein alter BMW gewesen sein. Also, ein sehr alter! Weiß oder hellgrau. Aus Northeim. Der Teil vom Kennzeichen war gerade noch zu erkennen. N-O-M. Mehr aber nicht. War zur Hälfte von Ästen und Gestrüpp verdeckt.“

„Hm ...“ Der Anzugträger rieb sich das Genick. „Nicht wirklich viel.“

„Moment, da war noch was!“, fiel dem Schwarzhaarigen ein. „Auf der Heckscheibe! Da ragte auch nur ein kleiner Teil raus. Aber ich bin mir sicher, der hatte da Metallica drauf kleben. Ich kenne den Schriftzug!“

„Alter BMW? Metallica?“, meldete sich Heinze, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, zu Wort.

„Ja, genau.“

„Was ist?“, fragte der Anzugträger rechts neben dem Bauunternehmer. „Kennen Sie das Auto? Wissen Sie, wer der Mann ist?“

Heinze zog die Stirn kraus. „Schon möglich“, murmelte er nachdenklich, „ich hatte vor längerer Zeit mal einen Mitarbeiter ... Everding. So hieß er, glaube ich. Richtig! Paul Everding. Aber aus Northeim kam der nicht.“

„Sie meinen, der ist unser Mann?“

Heinze seufzte. „Der oder jeder andere. Ist nur so ein Gedanke. Everding fuhr einen alten BMW, soweit ich mich erinnere. Und Metal-Fan war er. Hat diesen Krach immer laufen gehabt. Volle Lautstärke.“

„Na, das ist doch ein Anhaltspunkt.“ Der Anzugträger nickte und wandte sich an die beiden Schläger. „Ihr wisst, was zu tun ist. Wir müssen die verdammte SD-Karte haben! Also findet diesen Paul Everding. Und zwar schnell! Der liebe Herr Heinze hat sicher ein paar alte Unterlagen zu seinem ehemaligen Mitarbeiter archiviert. Die könnten hilfreich sein. Wenn ihr ihn aufgespürt habt, stellt fest, wo er jetzt wohnt, und gebt Bescheid. Wir sagen euch dann, wie ihr weiter vorgehen sollt.“

Kapitel 3

Stefan Blume hatte sich mit seinem neurotischen Verhalten am Krater eines Vulkans entlangbewegt. Eines aktiven Vulkans! Das war ihm durchaus bewusst gewesen. Aber er hatte die Gefahr ignoriert. So war er heute Morgen von diesem unvermittelten und heftigen Ausbruch völlig überrascht worden.

„Ich habe die Schnauze gestrichen voll! Endgültig!“ Katja war wie eine Furie auf ihn zugeschossen und hatte sich mit geballten Fäusten vor ihm aufgebaut. Ihr Gesicht zornesrot, in ihren Augen brodelnde, glühende Lava. Hinter ihr, auf der Arbeitsfläche der Küchenzeile, hatte der Kaffeeautomat geräuschvoll seine Arbeit verrichtet. Eine drohend grollende Begleitmusik. „Ich kann nicht mehr! Und ich will nicht mehr!“ Sie hatte in einer heftigen Bewegung wütend den Stuhl zurückgezogen und sich zu ihm an den Tisch gesetzt, das Gesicht in ihre Hände gelegt. In Tränen aufgelöst, war sie in sich zusammengesackt. „Ich ertrage deine Nähe nicht länger“, hatte sie schluchzend gejammert. „Ich möchte, dass du mein Haus verlässt.“

„Ist es aus zwischen uns?“, hatte er sie gefragt und dabei ausgesprochen dümmlich geklungen. Wäre er nicht durch seine starre Mimik gehandicapt gewesen, hätte er seine Frage sicher mit einem einfältigen Gesichtsausdruck gekrönt.

„Ich brauche eine Zeit lang Abstand von dir.“

Eine Zeit lang – nicht für immer, nicht endgültig. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, ein Türspalt, den sie ihm offen gelassen hatte. So hatte er ihre Antwort zu seinen Gunsten interpretiert.

Es waren genug warnende Signale gewesen, die Katja ausgesandt hatte. Immer eindringlicher und in immer kürzeren Abständen zuletzt. Nur auf sich fixiert, hatte er sie nicht hören wollen. Er hatte ihre Appelle, ihre Vorschläge, ihr Flehen und Drohen in den Wind geschlagen, sich stattdessen auffressen lassen von der Angst, die an jenem letzten Urlaubstag in Berlin wieder Besitz von ihm ergriffen hatte. Sie beherrschte seine Tage, wirkte wie eine Droge. Obwohl sie ihn auszehrte, seinen Körper und seinen Geist marterte, konnte er doch nicht von ihr lassen, war süchtig nach ihr.

Gerhard Hauser lebte! Er hatte den Einsturz des Kellerverlieses überstanden und war mit seiner vermeintlichen Cousine sogar den Flammen entkommen, denen die kleine Braunlager Pension zum Opfer gefallen war. Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber was war schon unmöglich, wenn man sich auf Komplizen verlassen konnte, die mit allen Mitteln operierten?

Blume war bis heute nicht dahintergekommen, für wen genau Hauser arbeitete – ob er verdeckt für den Verfassungsschutz aktiv war, wie er hatte durchblicken lassen, oder ob er sein eigenes Süppchen kochte. Was war mit den beiden verkohlten Leichen in der Pension? Der offiziellen Darstellung zufolge waren die Wirtin Gudrun Nowak und ihr an den Rollstuhl gefesselter Cousin Gerhard Hauser bei dem Brand ums Leben gekommen. Blume hatte sogar an ihrer Beerdigung teilgenommen, davon überzeugt, seinen Todfeind endlich los zu sein – bis Hauser auf dem Berliner Hauptbahnhof vor seinen Augen aus einem Tabakgeschäft spaziert und wenig später in einen ICE gestiegen war. Zusammen mit seiner vermeintlichen Cousine.

Katja glaubte ihm seine Beobachtung bis heute nicht, hielt sie für eine Ausgeburt seiner Paranoia. Aber das war sie nicht. Mochte alle Welt ihn für einen Spinner halten, er wusste, was er gesehen hatte! Nur, wer waren dann die beiden Toten gewesen, deren Begräbnis er beigewohnt hatte? Leere Särge? Oder hatten die Verfassungsschützer Menschen sterben lassen, um zwei ihrer Kontaktpersonen zu decken? Unbeteiligte Opfer? Pensionsgäste? Er hatte sich an ein Paar erinnert, das während seines Aufenthalts in der Herberge eins der wenigen Zimmer bewohnt hatte. Ging die Behörde bis zum Äußersten, um ihre Absichten zu verschleiern? Oder war es eine andere Organisation, in deren Diensten Hauser stand? Arbeitete er mit Leuten zusammen, denen ein Menschenleben nichts bedeutete?

Alle diese Fragen waren Blume immer und immer wieder durch den Kopf gegangen. Eine Antwort darauf hatte er bis heute nicht gefunden, und so würde es vermutlich bleiben. Dafür gab es an einer Sache keinen Zweifel: Sein ehemaliger Waffenbruder wollte ihn, Blume, töten. Das hatte er ihm unten im Verlies, kurz vor der Detonation, deutlich zu verstehen gegeben. Hauser würde zuschlagen. Wie, wo und wann, das blieb sein Geheimnis. Klar war nur, er konnte es und würde es tun – eines Tages, wenn niemand damit rechnete. Es gab keinen Waffenstillstand zwischen ihnen, keine Versöhnung. Blume würde sich verstecken müssen. Oder sich wehren. Hauser zuvorkommen. Seinen Feind umbringen, bevor der ihn erwischte. Möglich, dass er es eines Tages versuchte. Aber im Moment war er nicht dazu bereit, bis zum Äußersten zu gehen. Lieber verkroch er sich weiter und bangte um sein Leben. Ein Scheißleben, das wusste er selbst. Und doch hing er daran.

Die Schockwelle von Katjas Rauswurf war noch nicht abgeebbt, da baute sich schon das nächste Problem vor ihm auf. Wohin sollte er jetzt gehen? Es gab keinen Rückzugsort, keinen anderen Menschen, bei dem er unterschlüpfen konnte. In ein Hotel ziehen? Für den Übergang? Finanziell hielt er das eine Weile durch. Katja würde sich beruhigen, bevor sein Geld zur Neige ging, und ihn wieder bei sich unterkriechen lassen. Im Hotel leben hieß jedoch, dass er nahezu schutzlos war und jeder, der es darauf abgesehen hatte, ihn finden konnte. Für einen wie Hauser saß er auf dem Präsentierteller. Aber egal, ob Hotel oder eine andere Bleibe, das machte vermutlich keinen großen Unterschied. Der Mistkerl würde ihn überall aufspüren, wenn er nur wollte. Dazu kam, dass die Anonymität, die er im Umfeld von Katjas Ponytale Saloon so geschätzt hatte, in einer Herberge mit einem ständig wechselnden Heer unbekannter Menschen das Gegenteil bewirkte. Jeder Hotelgast konnte in Hausers Diensten stehen, war vielleicht der Killer, dem er sich gegenübersah, wenn es eines Abends oder Morgens an seiner Zimmertür klopfte und er öffnete.

Was für Möglichkeiten blieben ihm darüber hinaus? Bei Maria anfragen? Sie wohnte mittlerweile bei ihrem Tischler, Dietmar Tondok, in Braunlage. Der Kontakt zu ihr war schon einige Zeit eingeschlafen. Vermutlich hatte sie in ihrem neuen Leben vor lauter Glück die Welt und die Menschen um sich herum vergessen. Auch ihre Freunde? Durfte er sie bitten, ihm für ein paar Tage Unterschlupf zu gewähren, bis er sich eine kleine Mietwohnung gesucht hatte? Einen Versuch war es wert.

Gedankenverloren fuhr er auf seiner ziellosen Reise in ein Dorf am nördlichen Harzrand ein. Er hatte nicht auf das Ortsschild geachtet, wusste nur vage, wo er sich befand. Hinter einer Kreuzung mitten im Ort fiel ihm links an der Giebelseite einer Scheune eine riesige Werbetafel ins Auge: „Autohaus Rhumetal – gebrauchte und neue Wohnmobile“. Dann war er auch schon wieder aus dem Kaff heraus. Knapp einen Kilometer lagen die letzten Häuser zurück, als eine blitzartige Idee ihn hart auf die Bremse treten ließ. Er lenkte den Toyota an den Straßenrand, hielt an, starrte auf die Landstraße vor sich, ohne etwas zu sehen. Sein Blick war nach innen gerichtet.

Ein Wohnmobil? War das die Lösung seiner akuten Probleme? Vielleicht sogar darüber hinaus und nicht nur für den Moment? Ein fahrbares Dach über dem Kopf, ein Bett, eine Kochnische, Toilette, Dusche – kurz, alles, was ein genügsamer Mensch an Grundausstattung brauchte, von weiteren kleinen Annehmlichkeiten ganz zu schweigen. An keinen festen Ort gebunden. Immer in Bewegung und somit schwer auffindbar.

Je länger Blume darüber nachdachte, desto reizvoller erschien ihm die Möglichkeit. Minuten später wendete er, fuhr zurück in das Dorf bis zur Scheune, hielt an und notierte sich die auf dem Plakat angegebene Adresse und Telefonnummer. Dann setzte er seine Fahrt fort, nach Katlenburg im westlichen Harzvorland.

Das Autohaus lag rechts an der Bundesstraße in Richtung Northeim, schräg gegenüber einer Esso-Tankstelle. Blume parkte auf dem Seitenstreifen, stieg aus und blieb vor einem hohen Metallzaun stehen. Einige Augenblicke betrachtete er abschätzend die Wohnmobile, die auf einer mit weißem Kies bedeckten Stellfläche aufgereiht waren. Die Fahrzeuge gefielen ihm, aber die Preise sprengten sein Budget. Mit so einem Caravan brauchte er nicht zu liebäugeln. Trotzdem wollte er nicht sofort wieder verschwinden. Vielleicht gab es Alternativen. Es musste ja kein neuer Camper sein.

Durch eine Pforte betrat er das Grundstück und ging zu einem verglasten Bürocontainer hinüber. In der Ausstellungshalle rechts daneben präsentierten sich die Prachtstücke des Autohauses. Aus den Augenwinkeln erspähte er direkt vorn hinter der Glasfront einen roten Oldtimer. So einer wäre auch nicht schlecht, dachte er. Für einen Moment sah er sich in dem offenen Cabrio sitzend durch die Gegend fahren und die frische Sommerbrise genießen, die ihm um die Nase wehte. In einem anderen Leben ... vielleicht.

Im Container wurde Blume von einer Frau um die vierzig empfangen. Eine hübsche, sportliche Erscheinung, leger gekleidet. Sandfarbene Sneakers, die unter dem Schreibtisch hervorlugten, die Beine steckten in weißen Jeans. Darüber trug sie einen Hoodie, türkis mit verspieltem Aufdruck. „Tanja Gerhardt, Verkauf“. So stand es auf dem Schild vorn an der Schreibtischkante. Sie begrüßte ihn und bot ihm einen Platz im Besuchersessel an.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte sie, nachdem er sich gesetzt hatte.

Blume erläuterte ihr seine Wünsche. Ein Wohnmobil, Standardausstattung, keine Luxuskarosse. Gerne gebraucht, Hauptsache der Preis stimmte, was für ihn hieß, möglichst preisgünstig. Und sein Toyota – ob er den in Zahlung geben könnte? Sollten sie sich handelseinig werden, würde er den Wagen nicht mehr brauchen.

Frau Gerhardt hörte ihm zu, saß entspannt zurückgelehnt und leicht wippend in ihrem Bürostuhl, war dennoch konzentriert.

„Ich denke, da lässt sich was machen“, sagte sie nach einem kurzen Zögern lächelnd. „Allerdings müssten Sie sich gedulden, bis wir wieder etwas Entsprechendes reinbekommen. Wann das sein wird, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Üblicherweise geht das aber recht flott. Bis wann brauchen Sie den Camper denn?“

„Möglichst sofort.“

„Hm ...“ Sie griff nach einem Kugelschreiber, tippte sich damit nachdenklich gegen die Lippen. „Das wird schwierig ... Wollen Sie sich vielleicht doch mal unsere Ausstellungsstücke ansehen? Wir haben da ein paar lukrative Angebote.“

Blume erhob sich. „Ich fürchte, das gibt mein Sparstrumpf nicht her“, sagte er. „Dann muss ich leider verzichten. Aber vielen Dank.“ Er nickte der Frau zu. „Auf Wiedersehen.“

„Moment. Warten Sie!“

Blume hatte bereits einen Schritt durch die Tür nach draußen gemacht, als sie ihn zurückrief. Er drehte sich um. „Ja?“

„Mir fällt gerade ein, dass ich Ihnen vielleicht doch helfen kann“, sagte Frau Gerhardt.

„Und wie?“ Er kam zurück zum Schreibtisch, stützte sich auf der Lehne des Besucherstuhls ab.

„Einen Gebrauchten haben wir noch. Den holen wir heute aus unserer Werkstatt. Da haben ihn die Mechaniker aufbereitet.“ Sie wandte sich dem Regal in ihrem Rücken zu, zog eine dünne Mappe aus einem Fach und legte sie vor sich auf den Tisch. „Eigentlich ist der Camper für einen Kunden reserviert, der gestern den Kaufvertrag unterschreiben und die Übergabe regeln wollte. Er ist nicht gekommen, und ich konnte ihn bisher nicht erreichen. Es ist möglich, dass er kein Interesse mehr hat. Geben Sie mir bis Ende der Woche. Sollte sich der Mann dann nicht gemeldet haben, gehört das Wohnmobil Ihnen, wenn Sie wollen.“ Sie schlug die Mappe auf und schob sie ihm über den Tisch zu. „Hier, sehen Sie. Das ist das gute Stück. Und beim Preis können wir bestimmt auch noch was machen.“

Blume betrachtete das Foto des Campers, überflog die aufgelisteten Daten. Er fuhr sich mit seinen Fingern durch den eisgrauen Vollbart, machte in Gedanken eine schnelle Bestandsaufnahme seiner Finanzen. Der Preis, der fett am Ende der Liste prangte, schien ihm angemessen, verglichen mit dem, was die neuen Camper draußen am Zaun kosteten. Aber was hieß das schon? Mit Wohnmobilen kannte er sich nicht aus. Er musste sich darauf verlassen, dass er nicht übers Ohr gehauen wurde und die Summe dem Wert des Fahrzeugs entsprach. Etliche andere Anbieter für Preisvergleiche abzuklappern oder im Internet nach einem Schnäppchen zu suchen, dazu hatte er keine Lust.

„Und was ist mit meinem Toyota?“, fragte er. „Nehmen Sie den in Zahlung?“

„Oh ja ... ja, natürlich.“ Frau Gerhardt nickte. „Wir müssten nur vorher einen Blick darauf werfen. Ein alter Corolla, sagten Sie?“

„Richtig. Er steht draußen an der Straße.“

„In Ordnung. Wenn Sie mir schon mal ein paar Daten zu Ihrem Wagen geben könnten? Danach wirft mein Partner einen Blick darauf und kann Ihnen ein Angebot machen. Einverstanden?“

Eine halbe Stunde und eine kurze Probefahrt später verabschiedete sich Blume. Er hatte gehofft, für den Toyota etwas mehr Geld zu bekommen, aber ihm war nicht nach Feilschen zumute gewesen. Ohne lange zu überlegen, hatte er zugestimmt. Wenn er sich damit ein Stück Freiheit erkaufte, war es die Sache wert, redete er sich ein. Für das kommende Wochenende hatten sie sich wieder verabredet, um den Kauf dann perfekt zu machen. Bis dahin würde er doch in einem Hotel übernachten müssen. Er beschloss, sich in Northeim einzuquartieren, abzuwarten und zu hoffen, dass der Interessent, für den das Wohnmobil reserviert war, absprang und sich nicht mehr im Autohaus meldete.

Kapitel 4

Hätte Klaus Heinze auf seinen mittlerweile verstorbenen Vater gehört, würde das angestaubte Familienunternehmen längst in der provinziellen Ecke ums Überleben kämpfen, sofern es nicht schon vom Markt verschwunden wäre. Er rechnete es sich als Verdienst an, dass er sich damals gegen den Alten durchgesetzt und den Einstieg einer finanzstarken Investorengruppe in die Firma ermöglicht hatte. Seitdem spielte Heinze-Bau im Orchester der Großen mit.

Wer sich hinter dieser Gruppe verbarg, hatte er seinerzeit gar nicht so genau wissen wollen, auch nicht, in welchen Geschäftsbereichen die Herrschaften darüber hinaus aktiv waren. Ihm war es nur um das Wachstum des Unternehmens und um seine Karriere gegangen. Ihm war klar gewesen, wollte man auf dem Markt bestehen, durfte man nicht zimperlich sein. Der Erfolg rechtfertigte die Methoden – diesem Unternehmensmotto der neuen Wortführer hatte er sich angeschlossen und nach anfänglichem Zögern jede noch so zwielichtige Entscheidung mitgetragen. Seine Geldgeber hatten es verstanden, ihm jegliche Bedenken zu nehmen und ihn zum willfährigen Erfüllungsgehilfen zu degradieren. Er hatte die Rolle akzeptiert, zumal er immer noch ein gewichtiges Wort mitredete und weiterhin die Befugnisse hatte, das Unternehmen zu führen. Es ging eben nicht ohne Kompromisse, und unterm Strich verbuchte er die Entwicklung als persönlichen Aufstieg. In allen seinen Handlungen sah er sich rückblickend bestätigt, denn seitdem stand Heinze-Bau blendend da, und sie hatten bei den Auftragsvergaben viele dicke Fische an Land gezogen. So, wie das Nature & Heaven Wellness Resort, diese monumentale und zukunftsweisende Hotelanlage inmitten der dunkelgrünen Wipfel der Harz-Wälder. Eine Rarität mittlerweile, die gesunden Fichten, die es aber an diesem Ort zum Glück noch gab und die hoffentlich über weitere Jahre dem Klimawandel und den Borkenkäfern widerstanden. Wenigstens so lange, bis das Luxus-Resort zumindest die kalkulierten Gewinne eingefahren hatte. Mochten danach der Wald sterben und die Gäste ausbleiben. Na und? Dann ging es eben woanders weiter. So lief das Geschäft: War eine Goldader ausgebeutet, hieß es, neue Quellen aufzutun. Heinzes Herzblut hing an keinem seiner Bauprojekte, auch nicht an diesem Baumhotel-Komplex, den er in wenigen Minuten zusammen mit dem Architekten, den Verantwortlichen für die Bauausführung und mit einer ausgewählten Schar Gäste besichtigen wollte. Eine Exklusivführung vor der offiziellen Eröffnung für Vertreter und Vertreterinnen der Touristikbranche, des Gastronomiegewerbes, der Umweltverbände und Politik. Der unverbrauchte Glanz des Großprojektes würde sie blenden und sie glauben lassen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten, auf das Nature & HeavenWellness Resort zu setzen.

Klaus Heinze überließ es Architekt und Projektleiter, mit blumigen Worten die Vorzüge des Bauwerks zu preisen, die harmonische Integration in die Natur darzustellen und die grüne Technologie zu erläutern. Er selbst beschränkte sich auf oberflächliche Plaudereien und ließ sich vom Tross der Gäste mitziehen. Mit seinen Gedanken war er woanders. Sorge und Unbehagen waren es, die ihn umtrieben.

Vorhin, etwa eine Stunde bevor er zu dieser Führung aufgebrochen war, hatte ihn die Nachricht auf seinem Smartphone erreicht: ein Foto von dem Mann, der den beiden Schlägertypen an jenem Abend im Harz durch die Lappen gegangen war. Eine zufällige Begegnung auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Northeimer Südstadt, so stand es im Begleittext. Auf einem zweiten Foto der BMW mit dem markanten Metallica-Schriftzug auf der Heckscheibe. Ja, das war Paul Everding. Eindeutig! Der Mann, der eine Weile für ihn gearbeitet hatte, der Knacki, dem er trotz seiner kriminellen Vergangenheit nach der Entlassung aus dem Knast einen Job und eine neue Chance gegeben hatte. Der seine Hilfsbereitschaft und sein Vertrauen schamlos ausgenutzt und Werkzeug von einer Baustelle hatte mitgehen lassen! Hauste der Kerl also mittlerweile in Northeim oder im Northeimer Umland? Es schien so. Heinze hätte nicht gedacht, ihn jemals wiederzusehen. Schon gar nicht unter diesen Umständen! Was hatte der Mann vor?

Everding war an der Unfallstelle gewesen. Und nicht nur das! Er hatte sich, so schien es, um das Opfer, seinen Lover Frank Lischka, gekümmert. Hatte er dabei die SD-Karte gefunden und an sich genommen?

Das alles lag schon ein paar Tage zurück. Und jetzt lief Heinze grübelnd durch sein Luxusresort und schätzte im Stillen die Folgen ab, die das Verschwinden der Speicherkarte haben konnte – wenn sie sich, wovon auszugehen war, in Everdings Besitz befand. Bisher war nichts geschehen. Trotzdem: Nach allem, was die Überwachung von Lischka ergeben hatte, barg der Datenspeicher genug Sprengkraft, um die Heinze-Bau in Schutt und Asche zu legen und ihn zu ruinieren. Aber nicht nur er, auch seine Teilhaber würden zwangsläufig mit in einen zerstörerischen Strudel gezogen, sollte Everding, die Ratte, die SD-Karte gegen ihn einsetzen.

Heinze hatte nach dem Treffen mit den beiden Rambos im Konferenzraum sofort mit einem Mann telefoniert, der für ihn und seine Geschäftspartner einige überlebenswichtige Kontakte pflegte. Bis heute gab es, den Worten des Informanten zufolge, keine Hinweise darauf, dass die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder eine andere Behörde etwas in der Hand hielt, was der Baufirma schaden konnte. Unmittelbare Gefahr drohte also nicht.

Trotzdem war Eile geboten. Die Speicherkarte musste sichergestellt werden! Jetzt, wo Everding gefunden war, sollte das kein Problem mehr sein. Die Jungs, die für die Drecksarbeit zuständig waren, hatten den Auftrag bekommen, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Wie sie vorgingen, wollte er gar nicht so genau wissen. Hauptsache, sie waren erfolgreich.

Ein leichter Stoß in die Rippen holte Heinze aus seinen Gedanken zurück. Sie waren auf einem der vielen Balkone angekommen.

„Was für ein toller Ausblick“, raunte ihm die Vertreterin eines regionalen Reiseunternehmens ins Ohr. „Ihre Gäste werden entzückt sein!“

Er wandte sich der Dame zu und lächelte sie an. „Ja“, sagte er und ließ seine Augen über das Tal gleiten, „ich bin auch jedes Mal überwältigt, wenn ich hier stehe.“

Und dann hörte er sie wieder, die Misstöne, die den Bau seines Vorzeigeprojekts von Anfang an begleitet hatten – die Sprechchöre, Tröten und Trillerpfeifen, die aus der Ferne von einer Gruppe Umweltaktivisten herüberdrangen. Es waren die Begleitgeräusche einer Handvoll verblendeter Spinner, die glaubten, sie könnten mit ihrer ökosozialen Entrüstung den Fortschritt aufhalten. Warum ausgerechnet hier? An seinem Wellnessresort war alles Öko. Grüner ging es fast nicht! Das hatte er schwarz auf weiß. Mit Stempel und Unterschrift! Und überhaupt – wer, wenn nicht er und seinesgleichen sicherte den lärmenden Weltverbesserern ihren Wohlstand? Wer machte es ihnen denn erst möglich, da draußen, vor dem weiträumig abgesperrten Areal, herumzuplärren, anstatt selbst für ihr tägliches Brot zu schuften?

Fridays for Future! Last Generation! Herrgott, wo sind wir nur hingekommen?, dachte er voller Abscheu.

Kapitel 5

Paul Everding hatte große Pläne. Ein neues Leben in der Karibik, davon träumte er. Möglichst weit weg. Eine eigene Strandbar unter Palmen in der Tropensonne. Nirgends mehr einsteigen und hoffen, das Diebesgut später für ordentliches Geld verscherbeln zu können. Keine Angst haben, erwischt zu werden und wieder einzufahren. Knast statt Karibik. Nicht erstrebenswert, die Alternative.

Am liebsten wäre er sofort abgehauen. Aber mit dem bisher angehäuften Beutegeld würde er das Ziel seiner Träume kaum erreichen. Ein kleiner Teil davon ging jeden Monat für seinen Lebensunterhalt drauf. Ab und zu für notwendige Anschaffungen. Mit der Stütze allein kam er da nicht über die Runden. Ein paar lukrative Brüche brauchte er noch, um seine Pläne zu realisieren. Aber die infrage kommenden Objekte fanden sich nicht an jeder Straßenecke. Er musste suchen, sorgfältig recherchieren, Aufwand und möglichen Ertrag gegeneinander abwägen. Das würde dauern. Zu lange für seinen Geschmack.

All diese Gedanken waren ihm durch den Kopf gegangen. Vor ein paar Tagen. Beim Aufräumen. Gelegentlich überfiel ihn dieser Drang, in seiner kleinen Wohnung im zweiten Stock Ordnung zu schaffen. Die Klamotten, die er vorher achtlos überall in den Zimmern verteilt hatte, zusammenzuräumen, Staub zu saugen, den Geschirrspüler in Betrieb zu nehmen und die dreckige Wäsche in die Waschmaschine zu stecken. In den Automaten mit Münzeinwurf unten im Keller, wo jeder Mietpartei ein Abstellraum zur Verfügung stand. Abschließbar. Dort hatte er sein Geld deponiert. In einem Tresor, versteckt hinter allerlei Gerümpel. Da war es besser aufgehoben als in jedem Bankschließfach. Geldinstituten traute Everding nicht.

Die kleine Plastikbox mit der SD-Karte war aus der Tasche des Hoodies gefallen, als er den Kapuzenpullover von der Lehne eines der beiden Wohnzimmersessel gezogen hatte, um ihn zu den anderen Kleidungsstücken in den Wäschekorb zu werfen. Er hatte das Teil verwundert vom Fußboden aufgehoben, nicht gewusst, wie es in den Hoodie gelangt war. Anstatt aufzuräumen und Wäsche zu waschen, hatte er seinen Laptop angeworfen. Die Herkunft der SD-Karte ließ sich am besten über ihren Inhalt feststellen, hatte er überlegt. Was dann dort auf dem Display erschienen war, hatte ihn fast vom Hocker gerissen. Und mit jedem weiteren Dokument, das er geöffnet hatte, war ihm bewusst geworden, was für ein Schatz ihm in die Hände gefallen war. Sein Karibiktraum hatte unverhofft konkrete Konturen bekommen.

Lange hatte es nicht gedauert, bis Everding die Zusammenhänge klar gewesen waren. Das Material auf der SD-Karte, die Fotos, die Kopien der Lieferscheine und Rechnungen, die Videos und die Sound-Files belegten das Treiben der Heinze-Bau, seines einstigen Arbeitgebers. Und der Motorradfahrer, der ihm da oben im Harz entgegengeflogen und in seinen Armen gestorben war, das war Frank Lischka gewesen, einer von Heinzes Mitarbeitern im Büro. Das war ihm angesichts des Karteninhalts wieder eingefallen. Er hatte gewusst, dass er den Mann irgendwoher kannte! Während seiner Zeit in der Firma war er ihm ein paar Mal über den Weg gelaufen.

So sah das also aus! Ihn, Everding, hatte Heinze damals gefeuert. Hatte ihn in sein Büro gerufen und ihm die Papiere ausgehändigt, weil ihn so ein Arschloch erwischt und verpfiffen hatte. Wegen ein paar alter Werkzeuge, die er mitgehen lassen wollte, die vermutlich sowieso eines Tages ausgemustert worden wären. Heinze hatte sich enttäuscht gezeigt, was von Vertrauensmissbrauch gefaselt. Wenigstens hatte er keine große Sache daraus gemacht und darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten. Andernfalls wäre er, Everding, postwendend wieder hinter Gittern gelandet. Er war auf Bewährung draußen gewesen.

Eine generöse Geste von Heinze, so war es ihm damals vorgekommen. Jetzt erschien ihm der vermeintliche Edelmut in anderem Licht. Der Mann war keineswegs ein Wohltäter, sondern nur darauf bedacht, nicht selbst in die Schusslinie zu geraten. Er musste sich, wo immer es ging, alles vom Hals halten, was seine eigenen dreckigen Geschäfte stören konnte. Etwa, wenn polizeiliche Ermittlungen gegen einen Mitarbeiter darüber hinausgehende Neugier weckten. Man wusste nie. Aber mit Lischka als Gegner hatte Heinze nicht gerechnet, wie es aussah. Was der an Material gegen seinen Chef zusammengetragen hatte, ließ nur einen Schluss zu: Er musste dessen Vertrauter gewesen sein. Und der Bauunternehmer hatte nicht gemerkt, wie er von dem Mann hintergangen wurde.

Aber was hatte Lischka mit den Daten vorgehabt? Zum Spaß war der mit der Speicherkarte nicht im Harz herumgegondelt. Und der Abflug in der Kurve, das war ein bewusst herbeigeführter Unfall gewesen. Kein unglücklicher Ausrutscher aufgrund überhöhter Geschwindigkeit. Dessen war sich Everding mittlerweile sicher.

Dieser Lischka hatte seinen Chef in die Scheiße reiten wollen. Doch er war aufgeflogen und hatte sterben müssen. Der Wagen, der oben auf der Straße in der Kurve gehalten hatte. Der Typ, der ausgestiegen war. Um dort was zu tun? Natürlich! Um ein Hindernis aufzubauen und damit Lischkas Unfall herbeizuführen. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür.

Und dann hatte der Mann mit zerschmetterten Knochen und dem Tod vor Augen seine Mission, Heinze ans Kreuz zu nageln, an ihn, Everding, übertragen. Mit dem letzten Atemzug. So ließen sich Lischkas verzweifelte Zuckungen im Nachhinein erklären. Kein von Schmerzen getriebenes Aufbäumen und Klammern. Vielmehr noch im Sterben ein zielgerichtetes Handeln. Und es war dem Schwerverletzten gelungen, ihm die SD-Karte in die Hoodietasche zu stecken.

Immer wieder waren die Bilder des Abends im Harz in den vergangenen Tagen an Everdings geistigem Auge vorbeigerauscht. Wie jetzt, als er in der Northeimer Fußgängerzone unter einem Sonnenschirm vor der Eisdiele saß und nachdenklich an seinem Eiskaffee nuckelte. Wie in einer Dauerschleife drehten sich seine Gedanken um die SD-Karte. Mit dem Datenspeicher war ihm zweifellos ein Goldstück in die Hände gefallen. Aber was ließ sich damit anfangen? War der Speicher der ersehnte Sechser im Lotto, oder bedeutete er eher eine große Gefahr?

Der Kerl, der die Straße präpariert hatte, wo war der abgeblieben, als der Unfall passierte? Er war weggefahren. Ja und? Ein paar Meter weiter hätte er halten und zu Fuß zurückkommen können. Allein? Oder gab es Helfer, die in dem Geländewagen gesessen hatten? Bestimmt! Und sie waren da gewesen! Die ganze Zeit! Versteckt. Darauf hätte er sein letztes Hemd verwettet.

Sie hatten alles beobachtet. Lischkas Abflug den Hang hinunter, den Aufprall. Sich vom Erfolg ihrer Arbeit überzeugt. Hatten sie erwartet, den Mann tot vorzufinden und ihm in Ruhe den Datenspeicher abnehmen zu können? Es konnte nur so gewesen sein! Aber hätten sie ihn, Everding, dann nicht auch bemerken müssen? Warum war er unbehelligt geblieben? Und überhaupt – wieso hatte er nicht selbst von ihnen Wind bekommen?

Immer und immer wieder hatte er darüber nachgedacht! Nein, da war niemand gewesen. Die ganze Zeit nicht! In der vollkommenen Nachtstille wäre ihm keine Regung entgangen! Sollten sie sich dort aber doch versteckt gehalten und ihn gesehen haben – hatten sie ihn erkannt? Wussten sie, wer er war? Everding straffte sich, löste seine Lippen vom Strohhalm und setzte das Glas energisch zurück auf den kleinen Bistrotisch. Nein, wussten sie nicht! Andernfalls wären sie längst bei ihm aufgekreuzt.

Oder war alles ganz anders gewesen?

Es hatte keinen Sinn, über das Geschehene zu spekulieren. Das führte zu nichts. Nur eins war klar: Heinze würde die SD-Karte wiederhaben wollen. Wenigstens musste er sicherstellen, dass der Datenspeicher nicht in die falschen Hände geraten war. Er würde seine Leute auf die Jagd schicken.

Everding hatte längst mit dem Gedanken gespielt, dem Bauunternehmer die Speicherkarte zum Kauf anzubieten. Gleich, nachdem er sie auf seinem Rechner geöffnet und durchforstet hatte. Gemessen am brisanten Inhalt würde der Mann sicher eine ordentliche Summe springen lassen. Genug jedenfalls für eine Strandbar und ein sorgenfreies Leben in der Karibik.

Das war ein guter Plan, fand er immer noch, nachdem ein paar Tage vergangen waren. Der einzig richtige Plan! Zugegeben, ein wenig riskant, wenn er daran dachte, was passieren konnte, sollte etwas schiefgehen. Dennoch – diese einmalige Chance durfte er sich nicht entgehen lassen. Aber er musste überlegt vorgehen. Nur nichts überstürzen! Alles genau vorbereiten, jeden Schritt absichern. Er wollte nicht enden wie Lischka, das arme Schwein.

Everding schlürfte geräuschvoll den letzten Schluck aus seinem Glas. Dann stand er auf, klemmte sich die Kataloge mit Urlaubszielen in den Tropen unter den Arm, und verließ den Platz vor der Eisdiele. In zwei Reisebüros war er zuvor gewesen und hatte sich schon einmal über die von Kuba bis Trinidad und Tobago reichende Inselkette beraten lassen. Kurz überlegte er im Weggehen, Klaus Heinze mit unterdrückter Nummer eine SMS zu schicken. Ihm anzudeuten, dass es da neben Lischka jemanden gab, der von der Speicherkarte und ihrem Inhalt wusste. Ihn ein wenig zu reizen. Ein übermütiger Gedanke, den er sofort wieder verwarf. Jetzt bloß kühlen Kopf bewahren und nicht leichtsinnig werden, ermahnte er sich.

Als Everding die Tür zu seiner Mietwohnung öffnete, stutzte er. Soweit er sich erinnerte, hatte er am Morgen, wie immer beim Verlassen der Wohnung, mit zwei Schlüsselumdrehungen abgeschlossen. Eine Macke, die einem irrationalen Sicherheitsbedürfnis entsprang. Er wusste aus seiner Einbrecherkarriere zwar, wie wenig diese Maßnahme bei einem billigen Türschloss wie diesem schützte. Aber jetzt war er alarmiert. Er hatte den Schlüssel nur ein kleines Stück nach links drehen müssen. Die Tür war sofort aufgesprungen. Seine Sinne schalteten blitzartig in den Alarmmodus. Langsam, darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, tastete er sich in die Diele und zog die Tür leise hinter sich ins Schloss. Auf Zehenspitzen huschte er am Bad vorbei, hin zu dem offenen Wohn- und Küchenbereich. Das Durcheinander, das in seinem Blickfeld auftauchte, bestätigte seine Befürchtung. Ein umgeworfener Stuhl, Papiere auf dem Boden, eine herausgerissene Schublade – das war vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. Er ahnte, was ihn hinter dem Wandvorsprung erwartete.

In unterdrückter Wut biss Everding die Zähne zusammen. Einem Reflex folgend wollte er sich auf das Chaos stürzen, hielt aber im letzten Moment inne, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Der alte Schrank an der gegenüberliegenden Dielenwand. In den verspiegelten Türen glaubte er, etwas gesehen zu haben. Nichts Konkretes, nicht mehr als ein Schatten. Er erstarrte, hielt den Atem an. Eine Sinnestäuschung? Nein! Jemand war in der Wohnung, hatte sich versteckt. Ein Hinterhalt!

Seine Gedanken rasten. Wie viele mochten es sein? Nur einer? Mit dem würde er vielleicht fertigwerden. Aber er ahnte, dass da nicht einer allein lauerte. Zwei? Drei? Hektisch huschten seine Augen umher. Verdammt! Nichts, was er als Waffe benutzen konnte. Hatten sie sein Kommen bemerkt? Warteten sie nur darauf, dass er ins Wohnzimmer trat und die Falle zuschnappen konnte? Den Gefallen würde er ihnen nicht tun! Er musste abhauen. Sofort! Keine Sekunde länger bleiben. Nur, wohin? Wieder raus durch die Wohnungstür? Und wenn da jetzt einer stand und ihn in Empfang nahm? Sollte er es riskieren?

Everding fasste in seine Hosentasche. Tastete nach der SD-Karte. Berührte sie mit den Fingerspitzen. Ja, sie war noch da! Seit sie aus dem Hoodie gefallen war, trug er sie immer bei sich. Hatten die Typen seine Wohnung danach durchwühlt? Hatte Heinze sie ihm auf den Hals gehetzt? Garantiert! Es gab niemanden sonst, den er in Verdacht hatte, und keinen anderen Grund. Sie waren ihm auf die Spur gekommen! Aber so schnell? Wie war das möglich? Hatten sie ihn doch gesehen und erkannt an dem Abend im Harz? Überflüssige Fragen in diesem Moment! Viel wichtiger – wie kam er jetzt aus dem Schlamassel wieder heraus?

Das Bad! Das Fenster zum Hinterhof! Er tastete sich vorsichtig zwei Meter rückwärts, ließ den Wohnbereich nicht aus den Augen. Bewegte sich seitwärts quer über die Diele, drückte mit angehaltenem Atem die Klinke der Badezimmertür herunter, verharrte erschrocken, als die Tür beim Öffnen ein leises Knarren von sich gab. Dann verschwand er im Bad, schloss hastig hinter sich ab, stürzte zum Fenster gegenüber, öffnete es, sah hinaus. Springen konnte er vergessen. Zu hoch! Er würde sich die Knochen brechen. Mit etwas Glück bekam er das Fallrohr rechts zu fassen. Daran konnte er sich herunterlassen. Hoffentlich würde es sein Gewicht aushalten und nicht aus der Verankerung reißen! Er musste es versuchen. Es war seine einzige Chance zu entkommen.

Ein dumpfes Pochen gegen die Tür. Sie hatten seine Absicht durchschaut. „Los, komm raus! Wir wollen nur mit dir reden!“, polterte eine knarzende Männerstimme.

Na sicher! Nur reden. Für wie blöd hielten die ihn? Keine Zeit, länger nachzudenken. Los jetzt! Durch das Fenster und weg, ehe sie die Tür aufgebrochen hatten.

Everding kam unbeschadet am Boden an. Nur kurz war es brenzlig geworden, als er an einer Schelle hängen geblieben war, die das Fallrohr an der Wand hielt. Er hatte sich befreien können, hatte dafür jetzt einen kleinen Riss in der Hose. Scheiß drauf! Oben waren seine Verfolger noch nicht zu sehen. Er wandte sich ab, spurtete quer über den Hinterhof, schaute sich nach einer offenen Tür in den Rückfronten der gegenüberliegenden Häuserzeile um. Zwei Zäune musste er überklettern, dann hatte er gefunden, was er suchte. Die Klinke schon in der Hand, blieb er im Schatten des tief hängenden Überdachs kurz stehen, wagte einen Blick zurück. Ein Gesicht im Badezimmerfenster, das sich suchend umsah. Dann ein zweites. Schnell schlüpfte er in das fremde Haus, tauchte in einen dunklen Durchgang ein, drückte sich an herumstehenden Kisten, Eimern und zwei Fahrrädern vorbei, erreichte die Tür an der Vorderseite. Rechts führte eine Treppe in das Obergeschoss. Er trat hinaus auf den schmalen Fußweg zwischen Hausfront und Kopfsteinpflaster. Stand auf der Mauerstraße mit der alten Stadtmauer auf der gegenüberliegenden Seite.

Wohin? Nach links in die Innenstadt? Nein, dort würden sie ihn vermutlich zuerst suchen ... und finden. Zu übersichtlich. Kein Gewimmel, wie in der belebten Einkaufsstraße einer Großstadt. Zwischen den wenigen Passanten würde er kaum untertauchen können. Northeim war nicht Berlin, die Breite Straße nicht der Ku’damm. Lieber nach rechts. Erst einmal raus aus der Stadt. Irgendwie. Ein Versteck finden, zur Ruhe kommen. Nachdenken.

Everding zog sich die Kapuze seines Hoodies über den Kopf, um nicht sofort erkannt zu werden. Dann lief er los. Bog links ab und gleich darauf wieder nach rechts. Wurde langsamer, fiel in ein schnelles Gehtempo. Wer rannte, erregte Aufmerksamkeit – das Letzte, was er gebrauchen konnte. Er durchquerte die Grünanlage, huschte zwischen den alten Bäumen hindurch. Die Sträucher gaben ihm ein wenig Sichtschutz. Dann lenkte er seine Schritte hin zum Parkplatz vor den Supermärkten. Überquerte die Straße, erreichte die aufgereihten Autos, hastete an ihnen vorbei. Immer wieder warf er einen Blick zurück. Es schien ihm niemand zu folgen. Jedenfalls nicht zu Fuß. Er musste sich auf die Fahrzeuge konzentrieren, die auf den Parkplatz einbogen. Wenn seine Verfolger in einem der Autos saßen und er sie nicht rechtzeitig bemerkte, hatten sie ihn.

Als er am Ende des Platzes die schmale Gasse zwischen den Kaufhallen passiert hatte, hielt er an und atmete tief durch. Hier, auf der Rückseite der Gebäude, wo die Waren angeliefert wurden und die wenige Meter entfernte Bahntrasse vorbeiführte, konnte er es wagen, einen Moment zu verschnaufen. Zu lange stehen bleiben durfte er aber nicht. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, wartete eine Minute, bis sein Puls sich etwas beruhigt hatte, dann trabte er weiter. Auf dem Grünstreifen neben Gleisen. Unter der querenden Bundesstraße hindurch in Richtung Friedhof. Die Gräberfelder mit dem üppigen Busch- und Baumbestand dazwischen schmiegten sich am Stadtrand an den Bahnkörper. Über mehr als einen halben Kilometer zogen sie sich daran entlang nach Osten.