Hat die überhaupt ne Erlaubnis, sich außerhalb der Küche aufzuhalten? - Claudia Neumann - E-Book

Hat die überhaupt ne Erlaubnis, sich außerhalb der Küche aufzuhalten? E-Book

Claudia Neumann

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Beschreibung

Wie modern ist Deutschland wirklich?

Claudia Neumann hat es geschafft. Sie ist die einzige deutsche Sportreporterin, die in eine absolute Männerdomäne eingebrochen ist und sich dort seit Jahrzehnten behauptet: Sie kommentiert live im Fernsehen Fußballspiele der absoluten Weltklasse – und zwar auch die der Männer. Und genau das ist für viele ein Problem.

Wann immer Claudia Neumanns Stimme während eines Spiels zu hören ist, erlebt die Kommentatorin in den sozialen Medien einen Shitstorm. Frauen, so glauben noch immer viel zu viele, hätten im Fußball nichts zu suchen.

In ihrem Buch schildert sie, wie sie es schafft, mit all den Beleidigungen umzugehen. Und wie es sich anfühlt, plötzlich zu einer Art Ikone der Frauenbewegung erklärt zu werden, ohne je gefragt worden zu sein. Mit bewundernswerter Souveränität legt sie dabei den Finger in die Wunde:

Was läuft schief mit unserem Selbstverständnis, wenn es bei Geschlechterfragen keine Zwischentöne mehr gibt? Woher kommt der ganze Hass, der auf einmal jede*n treffen kann? Woher die unsachliche Schärfe? Was hat die (Sport-)Welt hierzulande gesellschaftlich verpasst? Welche Wege aus der Abseitsfalle gibt es?

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Seitenzahl: 231

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HarperCollins®

Copyright © 2020 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2020 by Claudia Neumann Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: ZeroMedia, München Coverabbildung: © ZDF / Torsten Silz E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959679107

www.harpercollins.de

1:0 – Die Ruhe nach dem Shitstorm

1:0

Die Ruhe nach dem Shitstorm

Das letzte Spiel

»Und der Tempo-Gegenstoß – Kevin De Bruyne zieht das Tempo an – Höchsttempo! Rechts geht Meunier – in der Mitte Lukaku – Luuuukaaaku, lässt durch auf Chadli, ich glaub es nicht! Nacer Chadli mit dem 3:2!«

Das sind die Momente, die jeden Fußballkommentator brennen lassen. Ein »Finale furioso« in einem ohnehin hochklassigen Achtelfinale. Ich liebe diesen Sport, ich liebe meinen Job!

Unser siebtes und letztes Spiel bei dieser WM war mit Abstand das beste. Taktisch eindrucksvoll, erst von den Japanern, dann von den favorisierten Belgiern. Dazu technisch individuelle Klasse auf höchstem internationalenNiveau, und ein Spannungsbogen, den auch Hitchcock nicht besser hätte entwerfen können.

Ich bin zufrieden, ich bin glücklich, ich bin fertig.

Es ist Montag, der 2. Juli, kurz vor dreiundzwanzig Uhr in Rostov am Don. Immer noch eine drückende Schwüle im Stadion, ich befreie meinen verschwitzten Kopf vom Kommentatoren-Headset. Noch geflasht und doch befreit. Begeistert von den letzten Sekunden in der Nachspielzeit, als Belgien mit einem Museums-Konter die Entscheidung gelingt, Japan mit 3:2 besiegt und ins Viertelfinale einzieht. Erleichtert, weil der Abend ordentlich gelaufen ist. Morgen geht’s Richtung Heimat: »Reporter Team 4 hat fertig!«

Es war mein letztes WM-Spiel als eine von vier ZDF-Kommentatoren.

Mein Redakteur Jens Momma, genannt Mommi, und ich fallen uns in die Arme, wir freuen uns auf ein eiskaltes Bier. Eine extrem intensive, aufregende Dienstreise durch Russland geht für uns zu Ende. Auch für ihn war’s ein emotional anspruchsvoller Spagat, da bin ich ziemlich sicher. Einerseits viel Arbeit, strapaziöse Reisen, dazu diese spezielle Drucksituation, permanent beschimpft zu werden. Auch wenn sich der Shitstorm vor, während, nach jedem Spiel gegen mich, die einzige Frau am Live-Mikrofon, richtet, ist das belastend für den Redakteur an meiner Seite, zumal wir seit vielen Jahren gut befreundet sind. Ein Team im Kreuzfeuer, das sich jetzt einfach nur auf den Feierabend freut. Drei Wochen, sieben Spiele, unzählige Flugkilometer – die Anspannung fällt ab, wir quatschen über Gott und die Welt, planen unsere Urlaube.

Die karge Hotelterrasse ist komplett verwaist, die übrig gebliebenen Wochenend-Feierbiester tanzen im Keller in der Russendisko. Eine Art Ballermann-Atmosphäre im Touristenhotel, nicht gerade das, was wir jetzt suchen. Blöderweise gibt’s nur noch dort unten Kaltgetränke. Wir entscheiden uns für »Bier to go«, wollen draußen im Mondlicht die Dezibel-Grenze senken. Alex Ruda kommt dazu, unser On-Mann heute, so nennen wir die Vor-Ort-Moderatoren.

Ins Netz wirft heute niemand mehr einen Blick, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Ich ignoriere Facebook, Twitter, Instagram und all die anderen Brutstätten wüster Beschimpfungen tatsächlich konsequent. Alles Übungssache, schwirrt es mir durch den Kopf, aber natürlich weiß ich, was da so abgeht. Meine Vorstellungskraft für Wortwahl und Duktus in den sozialen Netzwerken ist groß genug, aber ich habe bereits vor längerer Zeit beschlossen, diese Art der Meinungsäußerung nicht an mich heranzulassen, solange sich der Umgangston auf überwiegend unterirdischem Niveau bewegt. Vielleicht braucht es eine gewisse Reife und persönliche Erfahrung für den Turnaround, in jedem Fall ein bestimmtes Selbstverständnis in Bezug auf Kommunikation.

Bing Bing, und noch mal Bing Bing! Bei Mommi und mir meldet sich eine WhatsApp-Nachricht an. Kollege Martin Schneider sendet erste Impressionen von der Rückkehr in die Heimat. Er hatte tags zuvor seinen letzten Kommentatoren-Einsatz bei dieser WM, ist mit seinem Redakteur, dem Ex-Profi Hanno Balitsch, in der Nacht noch abgeflogen, kreuz und quer durch Europa. Jetzt grüßt er bereits aus Wuppertal.

Unsere Reporter-Team-WhatsApp-Gruppe, eigens für die WM eingerichtet, war so cool wie praktisch: Mal fragt einer nach dem besten Steakhaus in Kaliningrad, mal warnt ein anderer vor den langen Warteschlangen beim Sicherheitscheck am Flughafen Domodedovo, und vor der Abreise nach Rostov bittet mich Béla Réthy, im Hotel nach einer liegen gebliebenen Hose zu fragen. Man kennt, schätzt und hilft sich – früher vor allem analog, heute auch digital. Bélas Hose findet sich übrigens später wieder. Martin Schneider vom Reporter Team 3 hat sie im Hotel in Nischny entdeckt.

Wir sind weit mehr als nur eine Interessengesellschaft, in der das Geschlecht nun wirklich überhaupt keine Rolle spielt. Im Übrigen kennen alle männlichen Kollegen das Phänomen der Netz-Bashings auch aus eigener Erfahrung. Fußballkommentatoren gehören zur beliebtesten Zielscheibe der sogenannten Hater. Die Frau setzt dem Ganzen dann nur noch die Krone auf.

Haltung haben, Haltung zeigen, Haltung bewahren

Je lauter, hässlicher die Netz-Hetzer sich artikulieren, desto größer der mediale Wirbel. In der ZDF-Pressestelle gehen haufenweise Interviewanfragen für mich ein, einige Printkollegen kontaktieren mich auch direkt, weil wir uns kennen über all die gemeinsamen Jahre der Berichterstattung.

»Du kannst dir jetzt die Talkshow aussuchen, angefragt haben fast alle.« Aha, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es fühlt sich jedenfalls nicht gut an, dass sich so viel Aufmerksamkeit an meiner Person entlädt. Auch wenn ich mir jederzeit bewusst darüber bin, dass ich nur stellvertretend für das Phänomen einer neuen Hetz- und Hexenjagd stehe. Immerhin ein kleiner Trost zum Schutz der eigenen Persönlichkeit.

»Die Ebene, auf der das Thema ›Frau als WM-Kommentatorin‹ gelandet ist, ist noch mal eine ganz andere als vor zwei Jahren während der EM«, erklärt mir ZDF-Chef Thomas Fuhrmann. Alles richtig, dass ich bislang kein öffentliches Wort habe verlauten lassen, Konzentration auf das Wesentliche sei der ideale Weg. Aber nach meinem letzten Spiel hält er es für ratsam, dass ich mich positioniere. »Klar, das mach ich. Will ja nicht wie eine beleidigte Leberwurst rüberkommen«, entgegne ich. Wir verabreden ein Interview mit einer jungen Kollegin der ZEIT.

Mir ist wichtig, dass sie meinen Standpunkt versteht. Ich finde diese Netz-Auswüchse furchtbar, kann gar nicht genug Verachtung für dieses gesellschaftliche Phänomen ausdrücken. Es betrifft ja alle, die in irgendeiner Form eine ungewohnte Haltung verkörpern. Aber an mich ranlassen, tief hinein in die Seele, tue ich es nicht. Ich lese diese Einträge tatsächlich nicht. Die Frage »Wie gehen Sie damit um?« habe ich in den letzten drei Jahren gefühlt dreitausendmal gehört.

Ich weigere mich, irgendeine Form von Opferrolle anzunehmen. Ich bin leidenschaftliche Fußballreporterin, nicht mehr und nicht weniger. Niemand darf diese Tatsache auch nur annähernd infrage stellen. Kritisieren, sachlich – gerne. Ablehnen, aus gefühlter Gewohnheit heraus – meinetwegen auch. Aber beschimpfen, beleidigen, bedrohen aus einem antiquierten männlichen Selbstbild heraus? Nein, das geht gar nicht, ich lasse nicht zu, dass es ein persönliches Trauma wird.

Zur Kernaussage dieses Interviews wird meine Empfehlung an die Netz-Trolle erhoben, doch einfach länger zur Schule zu gehen. Bildung halte ich für den Schlüssel zur Vermeidung gesellschaftlicher Negativauswüchse. Das klingt wie eine plakative These, wie ein politisches Wahlversprechen. Aber meine Erfahrung belegt, dass das Leben demokratischer Werte tatsächlich vom geistigen Horizont der Menschen gesteuert wird. Keine gescheite Debatte ohne Abwägung von Argumenten und Gegenargumenten, Thesen und Gegenthesen. Natürlich darf ein Fernsehzuschauer eine Frauenstimme unter den Fußballkommentatoren ablehnen, er darf es auch äußern. Schön aber wäre, wenn er dabei eine tolerierbare Wortwahl verwendet und wenn er akzeptiert, dass es auch andere Meinungen dazu gibt.

Viele andere Medien übernehmen später Zitate aus dem »ZEIT«-Interview. Das muss erst mal reichen, denke ich, alles Weitere später. Für den Inhalt meiner Arbeit interessiert sich an dieser Stelle im Übrigen fast niemand. Warum auch. Natürlich realisiere ich, dass es bei allen Diskussionen nicht um meine Person als Fußballkommentatorin geht, sondern dass sich die daraus abgeleitete Debatte um Gleichberechtigung wieder einmal verschärft. Wie modern ist Deutschland wirklich? Das ist die eigentliche Frage, die uns alle umtreibt.

Dann holt’s mich doch ein

Langsam, aber sicher setzt der Prozess der Reflexion ein. Er dauert allerdings länger, als ich mir das je hätte vorstellen können. Es ist nicht der digitale Verbal-Müll, der mich verwirrt, das kenne ich ja schon. Was mir aufs Gemüt schlägt, ist die Bedeutung, das Gewicht, das meine Rolle als WM-Kommentatorin erhält.

Endlich daheim, aber immer noch unter Strom. Die ersten Nächte schlafe ich schlecht, wache nachts auf und frage mich: »Wann geht der Flieger, haben wir schon die Daten zum Schiri?« Erst nach einer kleinen Weile kapiere ich: Albtraum! Es ist vorbei! Weiterschlafen!!

Eigentlich wollte ich die WM jetzt richtig genießen, die verbleibenden Spiele ab Viertelfinale als Fußballfan vor dem Fernseher verfolgen. Ohne Leistungsdruck, mich einfach erfreuen an guten, spannenden Partien. Freunde rufen an, laden ein zu Grillfesten und gemeinsamen Fußballabenden. Mir fehlt die Lust, fühle mich irgendwie antriebslos, kann mich nicht aufraffen, unter die Leute zu gehen. Es fühlt sich komisch an, aber ich sage alles ab – so kenne ich mich eigentlich gar nicht.

Vielleicht fürchte ich die immer selben Fragen.

So verfolge ich alle Spiele zu Hause, allein, freue mich über gelungene Kommentare der Kollegen, bemerke aber auch den ein oder anderen Widerspruch in der Berichterstattung. Dann stelle ich mir vor: Wow, wenn du das jetzt gesagt hättest, würden einige im Netz sofort die nächste Protestwelle starten. Zeitgeist, Frauenverachtung, die große Gesellschaftsanalyse ist mir in diesem Moment zu anstrengend.

Mein Mailpostfach quillt über. Wenn ich’s jetzt ignoriere, wird’s ein Horror, all die Post in ein paar Wochen abzuarbeiten. Also überfliege ich die Eingänge, vieles wird sogleich weggelöscht, bei einigen Nachrichten schaue ich genauer hin. Mir unbekannte Absender schicken persönliche Anmerkungen, klug anmutende Weisheiten, tröstend gemeinte Zitate aus der Weltliteratur.

Ich beschließe, eine Woche Wellnessurlaub zu machen. Ich und Wellness! Ganz allein, ohne Freund und Feind. Bis gestern ein formidabler Widerspruch. Abschalten, runterkommen, durchatmen und Sendepause. Krönchen richten! In der ZDF-Redaktion melde ich mich für die nächsten drei Wochen ab, bin nicht erreichbar, beantworte keine Mail mehr.

Abschalten. Runterkommen. Sendepause.

Wohin mit mir und meiner aufgewühlten Gefühlswelt? Erst mal telefoniere ich mit meinen Liebsten, einem nach dem anderen erkläre ich: »Hey, mir geht’s gut, bin nur ein bisschen platt.« Meine Mutter gibt mir das Gefühl, all diese negativen Begleiterscheinungen meiner Tätigkeit, die auch ihr nicht verborgen geblieben sind, gut einordnen zu können. »Den Shit-Kram lese ich gar nicht«, versichert sie mir. Sie ist bereits achtundsiebzig Jahre alt, aber ziemlich versiert im Umgang mit dem Internet. Ich glaube ihr, dass die Berichterstattung über ihre Tochter sie nicht wirklich belastet. Ganz heimlich ist meine Mutter sicher sogar stolz auf mich, obwohl sie vor fünfundvierzig Jahren vieles probiert hat, meine Fußballleidenschaft zu brechen. In den 1970er-Jahren waren Fußball spielende Mädchen noch nicht en vogue, um es freundlich auszudrücken.

Ich erkläre meiner Familie gegenüber für die nächste Zeit eine komplette Digitalabmeldung, einfach nur zur Vermeidung eines Fehlalarms. So. Und wohin jetzt? Nach Portugal, an die geliebte Algarve? Nein, besser nicht zur Hauptsaison, grölende Party-Strandurlauber sind das Letzte, was ich jetzt um mich herum erleben will. Außerdem spüre ich eine große Aversion, jetzt schon wieder in ein Flugzeug zu steigen. Nee, Portugal ist raus aus der Verlosung.

Ein Kollege und guter Freund empfiehlt mir Wellness in Tirol, er kennt ein tolles Hotel aus seiner Zeit als Box-Berichterstatter. Wladimir Klitschko hat sich in diesem Sportparadies häufig auf seine WM-Kämpfe vorbereitet. Das erscheint mir plötzlich als der ideale Zufluchtsort: Kämpfen, rausboxen aus dieser vernebelten Gedankenwelt, das mach’ ich.

Aber vorher genieße ich das WM-Finale: Noch daheim und allein kann ich mich auf das Spiel konzentrieren, bin richtig gespannt auf beide Teams. Kroatien cool, Frankreich clever. Die Franzosen sind, insgesamt betrachtet, ein würdiger Weltmeister. Russland 2018 ist Geschichte. Tief durchatmen, vom Einfall der Hochsommersonne geblendet, fahre ich wie befreit im Cabrio nach Österreich.

Mein erster Blick, noch vor dem Check-in, geht zu den Tennisplätzen. Gigantisch! Sechs perfekt präparierte Sandplätze, direkt am Fuße des Wilden Kaiser, dazu noch zwei Hallen mit jeweils drei Plätzen. Guter, gelenk- und rückenschonender Belag. Juhu, wetterunabhängig kann ich Bälle schlagen. Ich verabrede mich sofort für den frühen Abend mit einem der Tennistrainer.

Es wird eine harte Stunde, ich bin körperlich auf dem Tiefpunkt. Einziger Hoffnungsschimmer, bei mehr als fünfunddreißig Grad: Die Schläge funktionieren, die einhändig gespielte, überrissene Rückhand erhält sogar Applaus von den Fachleuten am Rande des Courts.

Die Poollandschaft, indoor wie outdoor, ist großartig. Ich fühle mich wohl, lese Ian McEwans »Nussschale«, ein grandioses Buch. Und doch ertappe ich mich dauernd dabei, vom Lesen abzuschweifen.

Habe ich mich verrannt oder irgendetwas falsch gemacht? Wo ist die Stelle, an der ich falsch abgebogen bin? In komplizierten Phasen des Lebens neigt der Mensch dazu, alles infrage zu stellen. Ein naturgesteuerter Reflex. Harte Schale, weicher Kern? Da ist immer was dran, ich beschließe augenblicklich, Schwäche als Teil meiner Stärke zuzulassen.

Es wird eine gute Woche. Sport bis zur absoluten Erschöpfung – wobei die physische Belastbarkeitsgrenze ehrlicherweise bedenklich tief gesunken ist – und offene, ehrliche Auseinandersetzung mit mir selbst. Das Wechselbad zwischen Whirlpool und Eistonne, zwischen wütenden und versöhnlichen Gedanken wirkt befreiend.

Am Ende bin ich ziemlich sicher, dass es mir gut geht, dass mein Weg alternativlos ist, dass ich mir und meiner Persönlichkeit sehr treu geblieben bin, auch wenn es manchmal unangenehm wird. Bestätigt und gestärkt werde ich durch viele interessante Zuschriften, einige erreichen mich schon während der WM, die meisten erst in den darauffolgenden Wochen und Monaten. Es melden sich überraschend viele Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik oder Kultur, sichern mir Unterstützung zu, bereichern mich mit klugen Lebensweisheiten oder laden mich ein zu Podiumsvorträgen, Neujahrsreden und Firmenjubiläen. Schlagzeilen rund um eine Fußballweltmeisterschaft entfalten eine Art Fächerwirkung, weil sie das übliche Sommerloch entsprechend fluten. Auch von Spitzenpolitikern gibt’s Post: Sie reagieren fast reflexartig auf die vermeintliche Missachtung der Gleichberechtigung und laden mich zu Diskussionspanel ein. Danke, aber nein danke, vor einen Karren mag ich mich nicht spannen lassen.

Nach einer intensiven Woche fahre ich nach Hause, deutlich entspannter. Auf dem Heimweg noch einmal im Schliersee ab- und wieder aufgetaucht. Irgendwie symbolisch in diesem Jahrhundertsommer.

Zurück in Wiesbaden, meinem Lebensmittelpunkt, fühle ich mich bestens erholt, auch wenn mir die vielen, sicher gut gemeinten Fragen, wie es mir gehe, immer noch schwer auf den Keks gehen. Natürlich schwitzt man ein solches Bashing-Bombardement nicht einfach raus mit einer Handvoll Saunagängen.

Die Kollegen der ZDF-Pressestelle bitte ich, mir die gesammelten Anfragen der vergangenen Wochen zukommen zu lassen. Ich möchte mir selbst einen Überblick verschaffen – was ist da wirklich passiert in der öffentlichen Wahrnehmung? Was könnte für mich interessant, relevant sein, was lasse ich lieber aus? Ich beginne nachzulesen, was während der WM alles so geschrieben wurde. Wer sich wann wo geäußert hat zur Thematik »weibliche WM-Kommentatorin«.

In unserer heutigen Medienlandschaft wird alles multipliziert. Themen werden mitunter extrem überhöht, weil alle Aufmerksamkeit generieren wollen. Speziell im Netz müssen Klickzahlen her, nur so funktioniert das Geschäft. Die dpa schreibt als Resümee zur WM 2018: »Was bleibt, ist das historische Scheitern der deutschen Mannschaft und der unsägliche Hass gegenüber Kommentatorin Claudia Neumann.« Bäng! Das sitzt! Mir läuft ein Schauer des Grauens über den Rücken.

Ich habe ganz bestimmt auch verdammtes Glück gehabt: Seit gut einem Vierteljahrhundert übe ich meinen Beruf mittlerweile aus und hatte dabei nie ernsthafte Probleme, sondern viele tolle Erlebnisse. Und seit Jahren bin ich nun schon auch im Kreis der exponierten Vorort-Kommentatoren. Die erste echte Schwierigkeit, der erste Proteststurm, der mir in meinem Arbeitsleben entgegenweht, ist tatsächlich ausschließlich mit dem Live-Kommentar bei großen Männer-Fußballturnieren verbunden, denen – als letztes große TV-Lagerfeuer – die Aufmerksamkeit eines Millionenpublikums sicher ist.

Die »Stradivari unter den Arschgeigen« – in guter Gesellschaft

»Was labert der für einen Blödsinn!«, »Mann, ist der blind!«, »Kann denn niemand den Ton abstellen?!« Kein TV-Event produziert in lauschiger Runde so viele, von der Emotion getragene Ausbrüche wie die schönste Nebensache der Welt. Es wird geschimpft, gemeckert und zuweilen auch beleidigt. Nichts, was der Kommentator von sich gibt, trifft den Ton. Zumindest den Ton, den sich im Augenblick der Szene der Zuschauer wünscht. Und der Zuschauer, das sind dann auch noch mal Hunderte von unterschiedlichen Krakeelern. Die lauteste Stimme beansprucht vorübergehend die Meinungshoheit.

In der privaten, zumeist freiwillig zusammengestellten TV-Runde wird leidenschaftlich diskutiert, auch aus unterschiedlichen Positionen heraus. Das bringt schon das vielfältige Fan-Sein mit sich. Es gehört zum gemeinschaftlichen Erleben des Fußballs, Emotionen ausdrücklich erwünscht. Freudseligkeit und Enttäuschung sind nun mal logische Begleiter von Sieg und Niederlage. Von Angesicht zu Angesicht wird aber in der Regel eine gewisse Eskalationsgrenze nicht überschritten, die physische Anwesenheit der Gegenmeinung ist ein natürliches Regulativ. Außerdem wird überwiegend auf Augenhöhe, also ohne einen permanenten Vor-Koster, diskutiert und gestritten. Einigkeit erzielt die Runde nur in Ablehnung dessen, was die nicht eingeladene Stimme aus dem Off von sich gibt. Der Kommentator im Schwitzkasten der Selbstgerechten.

Spätestens seit der gigantischen Fußballdauerparty während der WM im eigenen Land 2006 ist eine Art Rudelbildung vor dem Fernseher oder gar der Leinwand alle zwei Jahre ein gängiges Bild. Sommerzeit ist Fußballfest. Gemeinsam feiern, jubeln, schimpfen, trauern beim Public Viewing oder bei der Privatparty. Ein Phänomen, das seinen Platz gefunden hat innerhalb des Fußballkosmos. Bei jedem Turnier verfügt das Land wieder über achtzig Millionen Bundestrainer, jeder weiß alles besser, alle sind die geborenen Fußballkommentatoren. Aufstellung, Einstellung, taktische Analysen, Spielerbewertungen werden traumwandlerisch sicher erstellt, all die vermeintlichen Profis sind furchtbare Dilettanten.

Fußball ist Volkssport, der leidenschaftliche Diskurs aller Beteiligten ist eine wesentliche Begleiterscheinung für gewollte Emotionalisierung. Wir lieben und leben Fußball wie kaum etwas anderes in unserer Gesellschaft.

Nüchtern betrachtet, ist die dauernde Konfrontation zwischen Kommentator und Zuschauer ein völlig logischer Prozess. In Bezug auf fast alle Kriterien einer Reportage existiert ein nicht unerheblicher Graubereich, unterschiedliche Auffassungen sind vorprogrammiert. Das betrifft Art und Dosierung der Informationen, Einordnungen von Spielsituationen, Bewertung von Schiedsrichterentscheidungen und ganz besonders individuelle Stilfragen. Herrlich zu beobachten, wenn man die Kritiken der Zuschauer tatsächlich nebeneinander betrachtet: Der eine verschmäht exakt das, was der andere propagiert.

»Fünfzig Prozent maximal«, erklärt Marcel Reif, »mehr kriegst du nicht.« Reif gilt spätestens seit den 1990ern als Koryphäe der deutschen Fußballkommentatoren. Ein rhetorischer Feingeist mit Mut zur Meinung, zur Polarisierung. Das bringt naturgemäß deutlich mehr Gegenwind als vorsichtigere Kommentierung. Ausgerechnet die Nummer eins der Branche erfuhr vor Jahren als Erster die Wucht der instrumentalisierten Netz-Hetze. Einer beschimpfte ihn mal als die »Stradivari unter den Arschgeigen«. Immerhin höchst kreativ.

»Du willst doch nicht etwa«, Reif zögert, »… gegen diese Neandertaler …«, ich ahne das Entsetzen in seinem Gesicht.

»Nein, um Himmels willen. Nein, auf keinen Fall will ich diese Netz-Nörgler in irgendeiner Form ansprechen.« Während unseres Telefonats kann ich seine Befürchtung schnell entkräften. Wir sind uns einig im Umgang mit der anonymen Bande der Verbal-Kriminellen.

Kritik und Häme begleiten den Fußballkommentator seit jeher, selbstredend traditionell per Leserbrief oder Telefonanruf. Rolf Kramer, mittlerweile jenseits der achtzig, Kommentator der WM-Finale 1978 und 1986, erinnert sich sehr genau an die damaligen Reaktionen auf den Fußball-Live-Kommentator. Die Printkollegen, vorzugsweise der Springer-Presse, wetzen schon damals regelmäßig die Messer. »Ein Fernglas für Herrn Kramer«, titelt die BILD, nachdem der ZDF-Kommentator beim Spiel HSV gegen Kaiserslautern einen falschen Torschützen nennt. Eine Zeitlupe steht ihm noch nicht zur Verfügung.

Auch wenn sich Ausmaß und Charakter der Konfrontation durch die modernen, digitalen Kommunikationsformen natürlich erheblich verschärft haben, steht der TV-Kommentator im Fokus der Kritik, seit es ihn gibt. Bei anderen Sportarten wird über den Kommentator ebenfalls gemeckert, doch nirgendwo ist die Community so groß wie beim Fußball.

Mittlerweile bietet das Fernsehen dem Zuschauer daheim einen optimalen Blick auf das Spiel. Dreißig Kameraperspektiven mit Nahaufnahmen und Superzeitlupen bieten nicht nur Sehgenuss, sondern lassen die Zuschauer hautnah dabei sein. Zuschauer und Kommentator urteilen so zeitgleich über das Geschehen auf dem Spielfeld. Jeder, der Ahnung hat, weiß es in der Regel besser. Daran kann ich übrigens auch gar nichts Verwerfliches entdecken. Der Stil prägt die Botschaft.

Die Beziehung zwischen Fernsehkommentar und – zuschauer hat sich anscheinend zu einer Art Hassliebe entwickelt. Ein ewiges Battle um die Deutungshoheit der Ereignisse. Und eine Frau, die Männern ein Männerspiel deutet, zerstört dabei das Weltbild. Wir schreiben das Jahr 2020.

Die Live-Übertragung – ein kleiner Exkurs

Man stelle sich vor, es ist Fußball-WM, und keiner kann sie sehen. Ohne das Medium Fernsehen, ohne die Live-Übertragungen hätte die weltweite Fußballbegeisterung und auch das Public Viewing gar nicht entstehen können. Wohl jeder Fußballfan erinnert sich an sein erstes Mal, an seine persönliche Sozialisierung mit diesem Bazillus.

Gönnen wir uns einen kurzen Blick zurück: Die WM 1954 entwickelt ihren nachhaltigen Sog noch nicht aus den Bewegt-Bildern, denn der Eroberungszug des Fernsehens fängt gerade erst an. Die legendäre Hörfunkreportage von Herbert Zimmermann: »Rahn müsste schießen … Rahn schießt …« prägt stattdessen den Weltmeistermythos weit über die Nachkriegsgeneration hinaus.

Im Rahmen der Europäischen Fernsehwochen produziert das Schweizer Fernsehen mit Unterstützung ausländischer Technik und Manpower immerhin neun Spiele live, darunter als Höhepunkt das Finale zwischen Deutschland und Ungarn.

Obwohl das Fernsehen aufgrund der geringen Anzahl der Rundfunkteilnehmer – ja, so hieß das einst – noch meilenweit entfernt ist vom Phänomen eines Massenmediums, sollen schätzungsweise neunzig Millionen Zuschauer in den acht der Eurovision angeschlossenen Ländern die Direktübertragungen am Bildschirm verfolgt haben.

In der Folgezeit entwickeln Regisseure der internationalen Fernsehmärkte eine Art Regiekonzept für Fußballübertragungen. Wo werden wie viele Kameras positioniert, und welche Aufgabe übernehmen die verschiedenen Blickwinkel, um der Dramaturgie des Spiels so gerecht wie möglich zu werden? Doch wirklich störungsfrei verläuft der Plan der Fernsehmacher nicht: Aus Sorge vor drohendem Zuschauerschwund im Stadion gibt der Veranstalter, also der Fußballweltverband FIFA, 1958 in Schweden nur zehn Spiele frei für eine Direktübertragung. Vier Jahre später in Chile fehlen technische Voraussetzungen, um das nächste Level zu erreichen. So wird die WM 1966 in England zum ersten Meilenstein der Fernseh-Live-Berichterstattung, auch weil erstmals von weltweiter Resonanz gesprochen werden kann. Neben der Eurovision sind auch die osteuropäischen Rundfunkorganisationen sowie jene in Nord-, Süd- und Mittelamerika angeschlossen.

Das Übertragungskonzept der Briten mit fünf Kameras gilt lange Zeit als stilprägend. Die Führungskamera ist nicht mehr so ultratotal eingesetzt, und es wird immer häufiger in eine Nahaufnahme geschnitten, um dichter an den spannungsgeladenen Aktionen dran zu sein. Später kommt die so wichtige Zeitlupe, die sofort eingespielt werden kann, hinzu. Das legendäre Wembley-Tor im Finale zwischen England und Deutschland lässt sich so aber nicht verhindern. Bis zur heutigen Torlinientechnologie ziehen noch viele Jahre ins Land.

Seit der Fußballweltmeisterschaft 1970 in Mexiko spielt das Fernsehen eine nicht länger wegzudenkende Rolle bei der Planung und Durchführung dieser sportlichen Großveranstaltung. Der Spielplan wird fernsehgerecht gestaltet, und beim Bau oder Umbau der Stadien sollen gute Kamerapositionen und ausreichende Sitzplätze für Kommentatoren gewährleistet sein. Durch die modernere Übertragungstechnik und die entsprechende Bilddramaturgie kommt der Fernsehzuschauer in den Genuss, das Spielgeschehen teilweise besser verfolgen zu können als das Live-Publikum im Stadion. Das Spiel wird szenisch gerecht dargestellt, mithilfe der verschiedenen Kamera-Blickwinkel transparent, das heißt maximal durchschaubar gemacht. Die Faszination wächst, das Millionenspektakel feiert seine Geburtsstunde.

Die TV-Macher der WM 1974 profitieren schon erheblich von den Erfahrungen des »Deutschen Olympia Zentrum Radio Television«, kurz DOZ, das zwei Jahre zuvor die Olympischen Spiele in München fernsehgerecht inszeniert hatte. Eine mittelgroße Kostenexplosion für damalige Verhältnisse, die Programmdirektoren heute eher schmunzeln lässt. Für die Übertragungsrechte werden achtzehn Millionen DM kolportiert, rund zweiundzwanzig Millionen kommen für die Produktion der Übertragungen hinzu. ARD und ZDF, die alternierend das Programm gestalten, berichten erstmals über alle Spiele live oder in Aufzeichnung. Hinzu kommt ebenfalls eine nie dagewesene ausführliche Vor- und Nachberichterstattung mit Interviews, Filmbeiträgen, Analysen und Expertenmeinungen.

Die Rolle des Fernsehens wird unaufhaltsam immer entscheidender für die Entwicklung des Fußballs. Heute wird ein WM-Spiel mit bis zu vierzig Kameras ausgestattet, nichts auf dem Platz bleibt im Verborgenen. Das Sehvergnügen, geprägt von messerscharfen, hochauflösenden Bildern auf riesigen Flatscreens, scheint nicht mehr zu toppen.

Stört also nur die Stimme, die aus den hochmodernen Boxen durchs heimische Wohnzimmer dröhnt.

Unter Beschuss

Man sitzt wirklich nicht bequem. Warum zum Teufel müssen es diese harten, seltsam geformten Metallsitzschalen sein? Rückenlehne im 90-Grad-Winkel, gemütlich abhängen, die Sinne schärfen – kaum möglich an diesem frühen Morgen am Flughafengate in Toulouse. Es ist Samstag, der 18. Juni 2016, ich warte auf meinen Air-France-Abflug nach Paris-Orly. Hinter mir liegen zwei Live-Spiele, die ich bei dieser Europameisterschaft fürs ZDF kommentieren durfte.

Mein Handy meldet seit Tagen Fieberschübe. Anfragen für Interviews füllen den E-Mail-Speicher, den SMS-Filter, und auch die Anrufabsender sind mir weniger bekannt als sonst. Das Ding hat also hohe Wellen geschlagen. Soll ich sagen, wie erwartet oder wie befürchtet. Ich weiß es nicht. So konkret hatte ich nicht darüber nachgedacht.

Die erste Frau als Live-Kommentatorin eines großen Männerfußballturniers hat die Öffentlichkeit bewegt. »Die erste Frau«, kaum ausgesprochen, geht’s mir auf den Geist. Ein Terminus, der mich von nun an verfolgt wie eine lästige Infektion. Wer wann was ins Rollen gebracht hat, ist wahrscheinlich rasch erklärt. Es sind tatsächlich diese unflätigen Beleidigungen, Beschimpfungen in den sozialen Netzwerken, die auf allen Ebenen Reaktionen auslösen. Diese unschöne gesellschaftliche Begleiterscheinung erleben wir ja mittlerweile in allen Lebensbereichen. Sogenannte Shitstorms entwickeln sich heutzutage an allen Fronten. Eine Art psychologische Kriegsführung, bei der zumeist unreflektierte Menschen offensichtlich Bindung suchen in unserer mittlerweile doch beängstigenden Nörgelgesellschaft. Zielscheibe einer solch wuchtigen Verbalaggression kann jeder werden. Nun hat’s mich also auch erwischt. Nach fünfundzwanzig Berufsjahren, in denen ich über Fußball berichte. Weitgehend widerspruchsfrei. Sechs bis acht Millionen Zuschauer haben mir bei meinen beiden Live-Spielen zugehört. Erst Wales gegen die Slowakei und dann Italien gegen Schweden. Für die meisten ist die Frauenstimme an dieser Stelle neu, ungewohnt und vielleicht zunächst auch unangenehm. Stimmlage diesseits des Mikros beeinflusst Tonlage jenseits. Was man nicht kennt, wird hinterfragt, ein nachvollziehbarer Impuls.

Mit meiner Premiere bin ich selbst nicht zufrieden, ein paar Dinge laufen unrund. Auf dem Sender bemerkbar macht sich das mit – in der Sache harmlosen – Versprechern oder vermurksten Formulierungen. Außerdem ärgere ich mich über eine falsche Zweikampfbewertung. Eine Strafraumsituation, in der unterschiedliche Zeitlupen gegensätzliche Folgerungen zulassen. Mein Fehler liegt darin, dass ich zu früh urteile und im entscheidenden Moment nicht auf den Bildmonitor, sondern aufs Spielfeld schaue. Abgelenkt von einer kniffligen Rudelbildung rund um den Schiedsrichter, verpasse ich die aufklärende Zeitlupe des Zweikampfs. Ganz klar, es hätte Elfmeter geben müssen. Auch meinem damaligen Redakteur ist diese Einstellung durchgerutscht, dafür gibt es gute Gründe. Das Korrektiv funktioniert nicht immer. Das ist die Krux, das sind die Momente, die jeder Live-Kommentator fürchtet. Erst in der Pause sehe ich diese an Eindeutigkeit nicht zu überbietende Slow Motion. In diesem Augenblick magst du im Boden versinken, stattdessen aber schleppe ich das zerknirschte Gefühl noch ein Weilchen durch die zweite Halbzeit. Natürlich habe ich die Fehleinschätzung mit dem Ausdruck des Bedauerns sofort korrigiert. Passiert – auch anderen. Ist aber in dem Augenblick überhaupt kein Trost.

Ich überlege gerade, was mir mehr auf den Keks geht, meine Müdigkeit nach viel zu kurzer Nacht oder die völlig unsortierten Gedanken um die ungebetene Aufmerksamkeit. Dann plötzlich eine verzerrte, furchtbar laute und dennoch kaum verständliche Stimme aus dem Off … mein Abflug verspätet sich um mindestens eine halbe Stunde.

Ich gehe noch mal rüber in ein kleines Bistro, bestelle mir einen Milchkaffee und schreibe eine SMS an meinen Kollegen Olli Schmidt. Schlussworte: »Ich weiß nicht, ob es das wert war.«

Unsachliche Schärfe

Die feine Klinge hat niemand erwartet. Beifallsstürme auch nicht.

Form und Fülle überraschen dann aber doch. Satzbau und Wortwahl im Netz bewegen sich auf unterstem Schulhofniveau. Von deutscher Grammatik ganz zu schweigen. Im Netz versenkt, und das hat so gar nichts mehr mit der positiven Umschreibung für ein Tor zu tun. Unser damaliger Sportchef wirkt in jenen Tagen ein wenig angefasst. Dieses Ausmaß hatte auch er nicht erwartet, seine Skepsis, dass Teile der Gesellschaft nicht die nötige Reife für eine Frau in dieser Position besitzen, hat sich für ihn mehr als bestätigt. In mehreren Stellungnahmen verweist er auf meine Fachkompetenz, auf meine Erfahrung und auf meine Widerstandsfähigkeit: »… sie wird ihren Mann stehen.« Zack! Drin in der Genderfalle. Jeder weiß, was mit dieser Redewendung gemeint ist, aber nun fliegt es ihm als politisch unkorrektes Vokabular gleich um die Ohren. Kein Scherz, ich empfinde ein bisschen Bedauern für ihn, weil er Mitleid mit mir hat. Völlig bescheuert, beides ist falsch. Berufsrisiko. Jammern auf hohem Niveau.