Hate You, Love You - Penelope Ward - E-Book

Hate You, Love You E-Book

Penelope Ward

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Liebe und Hass - zwei Seiten einer Medaille

Als ihre Großmutter stirbt, erbt Amelia ihr Häuschen direkt am Meer - allerdings nur die Hälfte. Sie muss es sich mit Justin teilen, dem Jungen, dem sie mit fünfzehn das Herz gebrochen hat. Und der sie seitdem hasst! Als sie sich nach zehn Jahren das erste Mal wieder gegenüberstehen, ist unter der Abneigung die alte Verbundenheit zu spüren. Doch Justin hat für seinen Urlaub am Atlantik seine Freundin mitgebracht ...

"Wow! Was für eine Geschichte! Süchtig machend und absolut unmöglich, aus der Hand zu legen!" AESTAS BOOK BLOG

Eine prickelnde und gleichzeitig gefühlvolle Liebesgeschichte von Bestseller-Autorin Penelope Ward

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 409

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

TEIL EINS

1

2

3

4

5

6

7

8

9

TEIL ZWEI

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Penelope Ward bei LYX

Leseprobe

Impressum

PENELOPE WARD

Hate You, Love You

Roman

Ins Deutsche übertragen von Richard Betzenbichler

Zu diesem Buch

Als ihre Großmutter stirbt, erbt Amelia ihr Häuschen direkt am Meer – allerdings nur die Hälfte. Sie muss es sich mit Justin teilen, dem Jungen, dem sie mit fünfzehn das Herz gebrochen hat. Und der sie seitdem hasst! Als sie sich nach zehn Jahren das erste Mal wieder gegenüberstehen, ist unter der Abneigung die alte Verbundenheit zu spüren. Doch Justin hat für seinen Urlaub am Atlantik seine Freundin mitgebracht …

TEIL EINS

1

Beinahe hätte mich ein Auto erfasst, als ich nach dem Besuch beim Rechtsanwalt wie benommen über die Straße ging. All die Jahre hatte ich mir wahnsinnig viel Mühe gegeben, nicht an ihn zu denken. Jetzt konnte ich an nichts anderes mehr denken.

Justin.

Oh, mein Gott.

Justin.

Kurze Erinnerungsfetzen an ihn überfluteten mein Gehirn: sein dunkelblondes Haar, sein Lachen, sein Gitarrenspiel, die tiefe Trauer und Enttäuschung in seinen hinreißenden Augen, als ich ihn das letzte Mal sah – vor neun Jahren.

Ich hätte nie damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen – geschweige denn, mit ihm zusammen ein Haus zu besitzen.

Mit Justin Banks zusammenzuleben, kam nicht infrage, nicht einmal einen Sommer lang. Na ja, vermutlich würde sich Justin ohnehin kategorisch weigern, mit mir unter einem Dach zu wohnen. Wie auch immer … Ob es uns nun passte oder nicht, das Strandhaus in Newport gehörte jetzt uns. Nicht mir. Nicht ihm. Uns. Halbe-halbe.

Was zum Teufel hat sich Nana nur dabei gedacht?

Ich wusste natürlich, dass sie ihn sehr gern gehabt hatte, aber dass sie sich ihm gegenüber so großzügig zeigen würde, hätte ich beim besten Willen nicht vorhersagen können. Er war nicht einmal verwandt mit uns, obwohl sie ihn stets als ihren Enkel betrachtet hatte.

Ich holte mein Handy heraus und wählte Tracys Nummer. Als sie dranging, seufzte ich erleichtert auf.

»Wo bist du?«, fragte ich sie.

»East Side. Wieso?«

»Können wir uns treffen? Ich muss dringend mit jemandem reden.«

»Alles in Ordnung mit dir?«

Mein Kopf war wie leer gefegt, doch dann kamen mir auf einmal lauter Erinnerungen an Justin in den Sinn. Meine Brust zog sich zusammen. Er hasste mich. So lange Zeit war ich ihm aus dem Weg gegangen, aber nun musste ich mich ihm stellen.

Tracys Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. »Amelia, bist du noch dran?«

»Ja, alles gut. Äh … wo bist du noch mal?«

»Lass uns in dem Falafel-Laden an der Thayer Street treffen. Wir essen etwas, und dabei kannst du mir erzählen, was los ist.«

»Okay. In zehn Minuten bin ich da.«

Tracy war eine recht neue Freundin, deshalb wusste sie nur wenig über meine Kindheit und Jugend. Wir unterrichteten an der gleichen Schule in Providence. Ich hatte mir heute wegen des Termins beim Anwalt meiner Großmutter freigenommen.

In dem kleinen Imbiss roch es nach Kumin und getrockneter Minze. Tracy winkte mir von einem Ecktisch aus zu – vor ihr stand bereits ein Styroporbehälter mit Hühnchen-Kebab, Reis und Tahini-Dip.

»Willst du nichts essen?«, fragte sie mich mit vollem Mund. In ihrem Mundwinkel hing ein Klecks Joghurtsoße.

»Nein. Ich habe keinen Hunger. Vielleicht nehme ich mir nachher was mit. Ich wollte bloß reden.«

»Was ist denn nur los?«

Meine Kehle war wie ausgedörrt. »Erst brauche ich was zu trinken. Bin gleich wieder da.« Der Raum schien zu schwanken, als ich zur Kühlvitrine neben dem Tresen ging.

Ich kaufte eine Flasche Wasser, setzte mich zurück an den Tisch und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe heute in der Anwaltskanzlei ein paar ziemlich irre Neuigkeiten erfahren.«

»Aha …«

»Du weißt ja, dass ich dort war, weil meine Großmutter vor einem Monat verstorben ist …«

»Ja.«

»Also, ich habe mich mit ihrem Anwalt getroffen, um ihren Besitz durchzugehen. Sie hat mir ihren ganzen Schmuck vermacht … und die Hälfte ihres Sommerhauses auf Aquidneck Island.«

»Was? Das tolle Haus auf dem Bild auf deinem Schreibtisch?«

»Ja, genau. Als ich noch jünger war, haben wir da oft den Sommer verbracht, aber in den letzten Jahren hatte sie es vermietet. Es ist seit Generationen im Besitz ihrer Familie. Das Haus ist schon älter, aber immer noch wunderschön, und man kann das Meer sehen.«

»Amelia, das ist ja sagenhaft. Weshalb bist du dann so durch den Wind?«

»Tja, die andere Hälfte hat sie einem Kerl namens Justin Banks vererbt.«

»Wer ist das denn?«

Der einzige Mann, den ich je geliebt habe.

»Nur ein Junge, mit dem ich aufgewachsen bin. Meine Großmutter hat sich um ihn gekümmert, während seine Eltern bei der Arbeit waren. Justins Haus war auf der einen Seite, meins auf der anderen und Nanas in der Mitte.«

»Dann war er für dich so etwas wie ein Bruder?«

Schön wär’s.

»Einige Jahre lang standen wir uns recht nahe.«

»Deinem Gesicht nach zu urteilen, hat sich daran wohl einiges geändert.«

»Da hast du recht.«

»Was ist passiert?«

Ich konnte das jetzt unmöglich alles wieder aufwärmen. Das hätte ich nicht durchgestanden. Heute hatte ich bereits zu viel zu verdauen. Eine Kurzfassung musste reichen.

»Ich habe herausgefunden, dass er mir etwas verheimlicht hat. Da bin ich durchgedreht. Näher möchte ich lieber nicht drauf eingehen. Aber sagen wir, ich war damals fünfzehn, und es war nicht so leicht, meine Hormone in den Griff zu kriegen, und dazu hatte ich noch ziemliche Probleme mit meiner Mutter. Etwas überstürzt fasste ich den Entschluss, wegzuziehen und bei meinem Dad zu leben.«

Ich schluckte den Schmerz hinunter und fuhr fort. »Ich habe alles in Providence zurückgelassen und bin nach New Hampshire gezogen.«

Gott sei Dank bohrte Tracy nicht weiter nach, um was für ein Geheimnis es sich handelte. Darüber wollte ich wirklich nicht reden. Wichtiger war, dass sie mir bei meinem nächsten Schritt half, als dass ich alte Wunden wieder aufriss.

»Im Grunde genommen bist du also vor allem weggerannt, statt dich den Schwierigkeiten zu stellen.«

»Genau. Ich bin vor den Problemen weggerannt … und vor Justin.«

»Und seither habt ihr nicht mehr miteinander gesprochen?«

»Nachdem ich weg war, bestand mehrere Monate lang überhaupt kein Kontakt. Ich habe mich so schuldig gefühlt, wie ich mit der ganzen Sache umgegangen bin. Als ich dann wieder zu Verstand gekommen bin, wollte ich mich mit ihm treffen und mich bei ihm entschuldigen. Aber da war es schon zu spät. Er wollte mich weder sehen noch mit mir reden, und ich kann ihm das auch nicht verübeln. Er hatte sich damit abgefunden, sich einen neuen Freundeskreis gesucht und ist kurz nach dem Highschoolabschluss nach New York gezogen. Wir haben uns völlig aus den Augen verloren. Offensichtlich ist er mit Nana in Kontakt geblieben. Sie war wie eine zweite Mutter für ihn.«

»Weißt du, was aus ihm geworden ist?«

»Nein, ich hatte immer zu viel Angst, es herauszufinden.«

»Na, dann wollen wir das gleich mal nachholen.« Sie legte die Gabel weg und suchte in ihrer Handtasche nach dem Handy.

»Hey! Was treibst du da?«

»Ich bin eine selbst ernannte Stalkerin, das weißt du doch.« Tracy lächelte. »Ich suche ihn auf Facebook. Justin Banks heißt er? Und er lebt in New York City?«

Ich schlug die Hände vor die Augen. »Ich kann gar nicht hinsehen. Ich werde nicht schauen. Es gibt wahrscheinlich Hunderte Justin Banks. Vermutlich findest du ihn gar nicht.«

»Wie sieht er denn aus?«

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er sechzehn. So wie damals sieht er heute bestimmt nicht mehr aus. Seine Haare waren jedenfalls dunkelblond.«

Er war echt süß. Ich sehe sein Gesicht immer noch vor mir, das könnte ich nie vergessen.

Tracy las laut Informationen über diverse Justin Banks vor, die bei Facebook auftauchten. Es war nichts Passendes dabei, bis sie plötzlich sagte: »Justin Banks, New York, Musiker bei Just In Time Acoustic Guitar.«

Mir rutschte das Herz in die Hose, und zu meiner Überraschung kamen mir die Tränen. Dass die Gefühle so vehement an die Oberfläche traten, war zutiefst verstörend. Es war, als wäre er aus dem Reich der Toten zurückgekehrt. »Was hast du gerade gesagt? Wo arbeitet er?«

»Just In Time Acoustic Guitar. Ist er das?«

Ich brachte kein Wort heraus, also schwieg ich und dachte über den Namen nach. Den hatte er schon als Junge benutzt, wenn er an irgendwelchen Straßenecken Gitarre gespielt hatte.

Just in Time.

»Das ist er«, bestätigte ich schließlich.

»Großer Gott, Amelia.«

Mein Herz schlug schneller. »Was ist?«

»Der Typ …«

»Was? Sag schon«, schrie ich beinahe, ehe ich den Rest meines Wassers hinunterkippte.

»Dieser Typ … sieht fantastisch aus. Absolut umwerfend.«

Ich schlug die Hände vors Gesicht. »Herr im Himmel. Bitte sag so was nicht.«

»Schau selbst.«

»Ich kann nicht.«

Bevor ich mich weiter weigern konnte, hielt mir Tracy ihr Handy vor die Augen. Mit zitternden Händen nahm ich es.

Heilige Scheiße!

Wieso habe ich bloß hingeschaut?

Soweit man das nach einem Foto beurteilen konnte, sah er großartig aus – so wie ich ihn in Erinnerung hatte, gleichzeitig aber auch anders. Erwachsen. Er hatte eine graue Mütze auf dem Kopf und sichtbare Bartstoppeln, die zu meiner Zeit nie richtig wachsen wollten. Auf dem Profilfoto hatte er eine Gitarre umhängen und schien in ein Mikrofon zu singen. Sein Blick war durchdringend und jagte mir einen Schauer über den Rücken. Als ich die anderen Fotos anklicken wollte, ging das nicht, weil es ein privates Profil war.

Tracy streckte die Hand nach ihrem Telefon aus. »Er ist Musiker?«

»Offenbar.« Ich reichte es ihr.

Früher schrieb er Songs für mich.

»Nimmst du Kontakt zu ihm auf?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Ich wüsste gar nicht, was ich sagen sollte. Es kommt, wie es kommen muss. Irgendwann muss ich mit ihm reden, aber ich will nicht den ersten Schritt machen.«

»Und wie soll diese Sache mit dem Haus nun genau funktionieren?«

»Na ja, der Anwalt hat mir einen Satz Schlüssel in die Hand gedrückt und gesagt, einen zweiten werde er Justin schicken. Der Besitz wird auf uns beide umgeschrieben. Außerdem hat Nana etwas Geld auf die Seite gelegt für notwendige Reparaturen und Wartungsarbeiten für die Zeit nach der Urlaubssaison. Ich nehme an, dass er dieselben Informationen bekommen hat.«

»Du willst das Haus aber nicht verkaufen, oder?«

»Nie im Leben, da sind viel zu viele Erinnerungen mit verbunden, und Nana hing wirklich sehr an dem Haus. Ich würde es gern diesen Sommer selbst nutzen und danach vermieten, wenn er damit einverstanden ist.«

»Du hast also keine Ahnung, was er mit seiner Hälfte vorhat? Du fährst in ein paar Wochen einfach hin, und wenn er da ist, ist er da, und wenn nicht, dann eben nicht?«

»Im Großen und Ganzen ja.«

»Na, das kann ja interessant werden.«

Vierzehn Jahre zuvor

Der Junge, auf den Nana seit Beginn des Sommers aufpasste, saß direkt vor ihrem Haus. Er durfte mich auf keinen Fall bemerken, wie ich zwischen den Vorhängen meines Schlafzimmers zu ihm hinuntersah. Ich wollte ihn beobachten, ohne dass er das mitbekam.

Viel wusste ich nicht über ihn. Er hieß Justin und war etwa zehn Jahre alt, so wie ich, oder elf. Er war gerade von Cincinnati hierher nach Rhode Island gezogen. Seine Eltern hatten Geld. Sie mussten welches haben, wenn sie sich das riesige Haus im viktorianischen Stil direkt neben Nanas Grundstück leisten konnten. Sie arbeiteten beide in Providence und bezahlten Nana dafür, dass sie nach der Schule auf ihn aufpasste.

Jetzt erfuhr ich endlich, wie er aussah. Er hatte struppiges blondes Haar und wollte sich offenbar selbst das Gitarrespielen beibringen. Ich stand sicher eine Stunde nur so da und schaute ihm zu, wie er die Saiten zupfte.

Urplötzlich musste ich niesen. Sofort blickte er zu meinem Fenster hoch. Ein paar Sekunden schauten wir uns in die Augen, ehe ich mich wegduckte. Das Herz schlug mir bis zum Hals, weil er nun wusste, dass ich ihn beobachtet hatte.

»Hey, wo bist du hin?«, hörte ich ihn fragen.

Ich kauerte mich auf den Boden und schwieg.

»Amelia … Ich weiß, dass du da bist.«

Er kannte meinen Namen?

»Warum versteckst du dich vor mir?«

Langsam stand ich mit dem Rücken zum Fenster auf und antwortete. »Ich habe einen Knick in der Optik.«

»Heißt das, du hast einen Silberblick?«

»Was ist ein Silberblick?«

»Weiß nicht genau … Meine Mom sagt zu meinem Dad immer, dass er einen Silberblick hat.«

»Knick in der Optik heißt: Ich schiele.«

»Du schielst?« Er lachte. »Glaub ich nicht. Das ist echt cool. Lass mal sehen.«

»Du denkst, es ist cool, wenn sich ein Augapfel nach innen dreht?«

»Ja, ich hätte so was gern. Dann könnte man Leute anstarren, ohne dass sie das mitbekommen.«

Jetzt musste ich kichern.

»Also, so schlimm ist meins nicht. Bis jetzt.«

»Na los. Dreh dich um. Ich will es sehen.«

»Nein.«

»Bitte.«

Keine Ahnung, was über mich gekommen war, aber ich drehte mich um. Irgendwann würde er mich ja doch sehen.

Bei meinem Anblick zuckte er zusammen. »Was ist mit deinem anderen Auge passiert?«

»Es ist noch da.« Ich deutete auf mein rechtes Auge. »Da ist nur ein Augenpflaster drauf.«

»Wieso hat das die gleiche Farbe wie deine Haut? Von hier sieht es aus, als hättest du kein Auge mehr. Eine Sekunde lang hast du mich ganz schön erschreckt.«

»Es ist unter dem Pflaster. Mein Augenarzt sagt, ich muss es vier Tage pro Woche tragen. Heute ist der erste Tag. Jetzt weißt du, warum du mich nicht sehen solltest.«

»Dafür brauchst du dich doch nicht zu schämen. Ich war nur verwirrt, weil ich nicht wusste, was auf mich zukommt. Dein schielendes Auge ist also da drunter? Ich will es sehen.«

»Nein, das abgedeckte Auge ist mein gutes. Der Doktor sagt, wenn ich mein gutes Auge nicht benutze, wird das andere allmählich stärker und richtet sich langsam nach vorn aus.«

»Aha … Hab’s kapiert. Kommst du raus? Verstecken brauchst du dich ja jetzt nicht mehr vor mir.«

»Nein. Ich will nicht, dass mich sonst noch wer sieht.«

»Und was hast du vor, wenn du morgen wieder in die Schule musst?«

»Keine Ahnung.«

»Du willst also den ganzen Tag drinnen bleiben?«

»Vorläufig schon.«

Justin sagte nichts mehr, legte nur seine Gitarre weg und rannte zu seinem Haus hinüber.

Vielleicht hatte ich ihn doch vergrault.

Fünf Minuten später kam er wieder herausgerannt und stellte sich vor Nanas Haus. Als er zu meinem Fenster hochsah, traute ich meinen Augen kaum (na ja, meinem einen Auge). Über seinem rechten Auge trug er ein riesiges schwarzes Pflaster. Justin sah aus wie ein Pirat. Er setzte sich hin, nahm seine Gitarre und schrammelte los. Dann fing er auch noch an zu singen. Es war Brown Eyed Girl, aber er hatte den Text zu One Eyed Girl verändert. In dem Moment erkannte ich, dass Justin Banks ebenso durchgeknallt wie liebenswert war.

Am Ende des Lieds zog er einen schwarzen Filzstift aus der Hosentasche.

»Ich male deins auch an. Kommst du runter?«

Mir wurde so warm ums Herz, wie ich es noch nie erlebt hatte. Wenn ich jetzt zurückdenke, war das wahrscheinlich der Moment, in dem er mein bester Freund wurde. An dem Tag verlieh er mir dank meines Augenpflasters auch den Spitznamen, der mich durch meine ganze Jugend begleiten würde: Patch.

2

Es war eindeutig die Ruhe vor dem Sturm. Ich wusste es nur noch nicht.

Der Besitz war in gutem Zustand, weil Cheri, die Nachbarin und Nanas gute Freundin, sich darum gekümmert hatte. Seit zwei Wochen war ich nun in Nanas Sommerhaus – meinem Sommerhaus –, und ich hoffte, ich würde auch weiterhin meinen Frieden hier haben. Von Justin hatte ich bisher noch nichts gehört – auch von sonst niemandem. Nichts, nur meine Bücher und ich, und ich genoss den ruhigen Start in den Sommer und die salzige Meeresluft, die mich auf der Insel umwehte.

Nie zuvor in meinem ganzen Leben war ich dankbarer für so viel Frieden gewesen. Noch vor einem Monat hatte ich das Gefühl gehabt, die Welt würde untergehen. Nicht nur war meine Großmutter gestorben, ich hatte auch herausgefunden, dass mich Adam, mit dem ich seit zwei Jahren zusammen war, betrog.

An dem Abend, als es herauskam, hatten wir gerade miteinander geschlafen. Er war ins Badezimmer gegangen, um das Kondom zu entsorgen und zu duschen. Sein Handy hatte er auf dem Nachttisch liegen lassen, und so sprangen mir die ganzen Nachrichten von dieser Schlampe Ashlyn ins Auge. Normalerweise nahm er sein Handy überall mit hin, sogar ins Bad, aber dieses Mal hatte er es vergessen.

Später suchte ich sie auf Facebook und musste feststellen, dass die Hälfte ihrer geposteten Bilder sie beide zeigte. Seit sechs Monaten hatte ich das Gefühl gehabt, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmte, und nun hatte ich die Bestätigung. Kurz vor meiner Abreise zum Sommerhaus fand ich noch heraus, dass Adam zu ihr nach Boston gezogen war.

Insofern war das für mich eine Zeit voll großer Veränderungen. Mit vierundzwanzig war ich wieder Single und begann ein neues Leben in Newport, zumindest für den Sommer. Dank meiner Tätigkeit als Lehrerin in Providence hatte ich die Sommermonate frei. Ich hoffte, für die Zeit einen Aushilfsjob zu finden, im Moment allerdings freute ich mich einfach auf ein paar Wochen Erholung.

Ich startete morgens in den Tag mit einem Kaffee auf dem Balkon und dem Ausblick auf Easton’s Beach. Ich lauschte den Möwen, klickte mich durch Facebook, las das InStyle-Magazin oder hing einfach meinen Gedanken nach. Dann legte ich mich in die Badewanne im Obergeschoss, so lange mir der Sinn danach stand, zog mich schließlich an und begann den Tag. In meinem Fall hieß das: Ich machte es mir mit einem Buch auf der Couch gemütlich.

Irgendwann am Nachmittag aß ich draußen auf der Veranda ein wenig zu Mittag. Danach fuhr ich die Thames Street in Newport entlang, bummelte durch die Läden, schaute mir mundgeblasenes Glas, billigen Schmuck und Bilder mit Seefahrermotiven an und gönnte mir ein Eis oder einen Kaffee.

Der Tag endete typischerweise mit einem Ausflug zum Dock, um frisch gefangenen Hummer oder Venusmuscheln zu kaufen. Die dünstete ich in einem Topf draußen im Garten. Schließlich setzte ich mich mit einer Flasche gekühltem Weißwein zum Abendessen und genoss den Sonnenuntergang über dem Atlantik.

Das wahre Leben.

Eine Weile verlief jeder meiner Tage nach genau diesem Muster – bis zum bösen Erwachen.

Als ich eines Abends mit meinem Einkauf fürs Dinner aus Newport zum Haus zurückkehrte, stand die Vordertür weit offen. Hatte ich nicht abgeschlossen? Hatte der Wind sie aufgerissen?

Mein Puls schoss in die Höhe, als ich die Küche betrat und dort eine große, langbeinige Tussi mit kurzem platinblonden Haar vorfand. Sie sah aus wie eine junge Mia Farrow und räumte Vorräte ein.

Ich räusperte mich. »Hallo?«

Sie zuckte zusammen und drehte sich um. »Oh, mein Gott. Hast du mir einen Schrecken eingejagt.« Lächelnd kam sie zu mir herüber und hielt mir die Hand hin. »Ich heiße Jade.«

Mit ihrem hübschen Gesicht, den hohen Wangenknochen und diesem Kurzhaarschnitt hätte sie gut und gern ein Model sein können. Ich war mit meinen langen dunklen Haaren und meiner kurvigen Figur äußerlich das genaue Gegenteil von ihr.

»Ich heiße Amelia. Wer bist du?«

»Justins Freundin.«

Das Herz rutschte mir in die Hose. »Aha … ich verstehe. Wo ist er?«

»Er ist gerade zum Supermarkt und zum Spirituosenladen gefahren.«

»Wie lange seid ihr schon hier?«

»Seit etwa einer Stunde.«

»Und wie lange bleibt ihr?«

»Das steht noch nicht fest. Wir wollten mal sehen, wo es uns diesen Sommer so hintreibt. Mit dieser Entwicklung hatten wir nicht gerechnet … Du weißt schon … das Haus.«

»Ja, ich weiß.« Ich blickte auf ihre französisch pedikürten Zehen, die aus den High Heels hervorlugten. »Arbeitest du?«

»Ich bin Schauspielerin … also, am Broadway, genauer gesagt momentan Off-Broadway. Ich stecke zwischen zwei Engagements, muss aber voraussichtlich immer wieder mal nach New York zum Vorsprechen. Was machst du?«

»Ich bin Lehrerin. Deshalb habe ich den Sommer über frei.«

»Ach, das ist ja cool.«

»Ja, macht Spaß. Wo arbeitet Justin derzeit?«

»Im Moment arbeitet er von zu Hause aus. Er verkauft Software. Das kann er von überall machen. Hin und wieder hat er aber auch Auftritte. Dass er Musiker ist, weißt du?«

»Na ja, viel weiß ich nicht mehr von ihm.«

»Was ist zwischen euch eigentlich vorgefallen, wenn ich fragen darf?«

»Hat er dir nie von mir erzählt?«

»Nur, dass ihr zusammen aufgewachsen seid und dass du die Enkelin von Mrs H. bist. Ehrlich gesagt hat er dich zum ersten Mal erwähnt, als der Brief von dem Rechtsanwalt kam.«

Obwohl das zu erwarten war, machte es mich dennoch traurig. »Das wundert mich nicht.«

»Wieso sagst du das?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Wart ihr mal ein Paar?«

»Nein, das nicht. Wir waren nur gute Freunde, haben uns aber aus den Augen verloren, als ich weggezogen bin.«

»Verstehe. Die ganze Sache ist ein bisschen merkwürdig, oder? Ich meine … so aus heiterem Himmel das Haus hier zu erben.«

»Meine Großmutter war ein großzügiger Mensch, und sie hat Justin sehr gern gehabt. Meine Mutter war ihr einziges Kind, und Nana hat Justin geliebt wie ihren eigenen Sohn, insofern …«

»Deine Großmutter hat das Haus dir und nicht deiner Mutter vermacht?«

»Vor ein paar Jahren hatten Mom und Nana einen ziemlichen Streit. Gott sei Dank haben sie sich vor Nanas Tod wieder versöhnt, aber es war danach nie mehr wie vorher.«

»Das tut mir leid.«

»Danke.«

Jade breitete die Arme aus und zog mich an sich. »Ich hoffe sehr, dass wir Freundinnen werden. Ich würde mich freuen, wenn wir zusammen einkaufen gehen und die Insel erkunden könnten.«

»Ja, das wäre nett.«

»Du isst doch heute mit uns zu Abend, oder?«

Ich war noch nicht bereit, Justin gegenüberzutreten. Ich musste eine Geschichte erfinden, um hier zu verschwinden …

»Äh, heute eher nicht. Ich muss los …«

»Das kannst du am besten, was?« Hinter meinem Rücken ertönte eine tiefe Stimme, die ich fast nicht erkannt hätte.

»Und das wäre?«, fragte ich nervös, ohne mich umzudrehen.

»Abhauen«, sagte er lauter. »Das kannst du am besten.«

Ich hatte Mühe zu atmen, doch erst als ich mich umdrehte, hätte ich beinahe endgültig die Nerven verloren.

Oh, mein Gott!

3

Justin stand direkt vor mir, aber der Junge, den ich zurückgelassen hatte, war offensichtlich von einem schlanken Muskelpaket verschluckt worden. Er hatte mit dem Justin von vor neun Jahren so gut wie nichts mehr gemein. In seiner Miene spiegelte sich unverhohlene Wut, und das machte ihn unglaublich sexy. Ich hätte mich allerdings wohler gefühlt, wenn ich nicht der Grund dafür gewesen wäre.

Seine Haut hatte einen wunderbaren Bronzeton, der perfekt zu seinen natürlichen hellen Strähnen in seinem dunkelblonden Haar passte. Das glatte Gesicht, an das ich mich erinnerte, war nun kantig und unrasiert. Um seinen Bizeps wand sich ein Tattoo – ein Seil mit einem Stacheldraht. Er trug eine Cargoshorts in Tarnfarben, dazu ein enges weißes Tanktop, das seine wie aus Stein gemeißelte Brust betonte.

Keine Ahnung, wie lange ich ihn so musterte. Obwohl ich zu verblüfft war, um einen Ton von mir zu geben, meldete sich mein Herz umso lauter. Tief im Innersten wusste ich, dass meine Reaktion nicht nur eine körperliche auf sein umwerfendes Äußeres war. Vielmehr gab es trotz all der Veränderungen eines, was ich sofort wiedererkannte: seine Augen. Darin sah ich den gleichen Schmerz wie bei unserer allerletzten Begegnung.

Mühsam brachte ich zumindest seinen Namen heraus. »Justin …«

»Amelia.« Der tiefe, kehlige Klang seiner Stimme vibrierte durch mich hindurch.

»Ich war mir nicht sicher, ob du je hier auftauchen würdest.«

»Warum sollte ich nicht?« Er grinste spöttisch.

»Um mir aus dem Weg zu gehen?«

»Da überschätzt du dich gewaltig. Natürlich wollte ich herkommen. Die Hälfte des Hauses gehört mir.«

Seine Worte trafen mich. »Ich habe auch nichts anderes behauptet. Es ist nur … Ich habe nichts von dir gehört.«

»Ach, ist das so?«

Jade war unser Schlagabtausch sichtlich unangenehm. Sie räusperte sich. »Ich habe Amelia gerade gefragt, ob sie nicht heute Abend mit uns essen will. Dann könntet ihr euch gegenseitig auf den neuesten Stand bringen.«

»Offenbar hat sie schon was anderes vor.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich ihn.

»Keine Ahnung … Vielleicht weil du eine stinkende Einkaufstüte mit dir rumträgst?«

»Das sind frische Meeresfrüchte.«

»Besonders frisch riecht das für mich nicht.«

»Herrgott. Wir haben uns neun Jahre nicht gesehen, und da führst du dich so auf?« Ich wandte mich an Jade. »Ist er immer so ein Rüpel?«

Bevor sie antworten konnte, funkte er dazwischen. »Offensichtlich bringst du diese Seite an mir zum Vorschein.«

»Glaubst du, Nana würde über dein Verhalten glücklich sein? Irgendetwas sagt mir, dass sie uns das Haus nicht hinterlassen hat, damit wir uns streiten können.«

»Sie überließ uns beiden das Haus, weil wir ihr beide etwas bedeutet haben. Das heißt nicht, dass wir uns gegenseitig etwas bedeuten müssen. Und überhaupt: Wenn es dir so wichtig ist, was Mrs H. gedacht hat, dann hättest du vielleicht nicht fortlaufen sollen.«

»Das war unter die Gürtellinie.«

»Die Wahrheit tut weh, was?«

»Ich habe versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen, Justin, ich …«

»Darüber will ich jetzt nicht reden, Amelia«. Er schaute mich grimmig an. »Das ist Schnee von gestern.«

Dass er mich mit meinem richtigen Namen anredete, brachte mich aus der Fassung. Abgesehen von dem Tag unserer ersten Begegnung hatte er mich immer Patch oder Patchy genannt. Meinen richtigen Namen aus seinem Mund zu hören, fühlte sich wie eine Ohrfeige an – als wollte er damit klarstellen, wie weit wir uns auseinandergelebt hatten.

Justin wirkte weit weniger sexy, als er nun die Schotten dichtmachte und nach draußen stürmte, um die Lebensmittel zu holen. Die Tür knallte er hinter sich zu.

Ich zuckte zusammen und schaute zu Jade, deren Blick vor Verwirrung permanent von links nach rechts und zurück wechselte.

»Na, das war ja ein freudiges Wiedersehen«, witzelte ich.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. So habe ich ihn noch nie erlebt. Es tut mir wirklich leid.«

»Es ist nicht deine Schuld. Ob du es glaubst oder nicht: Wahrscheinlich geschieht mir das ganz recht.«

Noch schlimmer als die ruppige Begrüßung war allerdings, dass er mich während des Essens und den ganzen Abend über konsequent ignorierte. Das schmerzte mich mehr als alles, was er zu mir hätte sagen können.

Wenn der Abend schon schrecklich gewesen war, so sorgte der Schlafmangel dafür, dass der nächste Morgen noch schlimmer wurde.

Offenbar konnte Justin seine Wut an Jade abreagieren. Sagen wir mal, Gitarrespielen war nicht das einzige Talent, bei dem er sich über die Jahre weiterentwickelt hatte. Mitten in der Nacht wurde ich von Jades Stöhnen wach. Die Wände zitterten buchstäblich.

Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich wälzte mich im Bett herum, und meine Gedanken sprangen hin und her zwischen der Erinnerung an Justins Worte vom Vorabend und der Vorstellung, wie es im benachbarten Schlafzimmer wohl zugehen mochte. Natürlich ging mich Letzteres nicht wirklich etwas an, aber ich konnte nicht anders.

Es war sieben Uhr morgens, und im Haus war es so still, dass ich annahm, die beiden müssten erschöpft von ihren Sexkapaden Schlaf nachholen. Als ich nach unten schlich, um mir Kaffee zu machen, stand er bereits in der Küche vor dem riesigen Fenster und blickte aufs Meer hinaus. Die Kaffeemaschine lief. Er wandte mir den Rücken zu und hatte mich noch nicht bemerkt.

Ich nutzte die Gelegenheit, um seinen Körper zu bewundern, die makellose Haut auf seinem muskulösen nackten Rücken. Eine schwarze Trainingshose brachte seinen perfekten Hintern voll zur Geltung. Mir war nie bewusst gewesen, was für einen unglaublichen Hintern er besaß. Dass ich mich körperlich dermaßen zu ihm hingezogen fühlte, ärgerte mich unter den gegebenen Umständen. Es hinderte mich jedoch nicht daran, ihn weiterhin zu begutachten. In der Mitte seines Rückens hatte er ein rechteckiges Tattoo. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was es war. Da drehte er sich plötzlich um und durchbohrte mich mit einem mörderischen Blick. Ich zuckte zusammen.

»Gaffst du Leute immer so an, wenn du glaubst, sie sehen es nicht?«

Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter. »Woher hast du gewusst, dass ich hier stehe?«

»Du hast dich im Fenster gespiegelt, du Genie.«

Mist.

»Du hast überhaupt nicht reagiert, da habe ich geglaubt, du hättest mich nicht bemerkt.«

»Offensichtlich.«

»Legst du es darauf an, dass ich dich hasse oder so? Wenn ja, dann bist du auf dem besten Weg.«

Justin antwortete nicht, sondern drehte sich wieder zum Fenster um.

»Warum tust du das?«, fragte ich.

»Was tue ich denn?«

»Du knallst mir alles Mögliche vor den Latz, und dann machst du sämtliche Schotten dicht.«

»Wäre es dir lieber, ich knalle dir noch mehr vor den Latz?« Er sprach noch immer in Richtung Fenster. »Ich versuche, meine Wut über dich in den Griff zu bekommen, Amelia. Darüber solltest du dich freuen. Ich weiß, wann ich aufhören muss … im Gegensatz zu gewissen anderen Personen.«

»Sieh mich wenigstens an, wenn du mit mir sprichst.«

Er drehte sich um und kam langsam auf mich zu, bis sein Gesicht fast meins berührte. Ich konnte seine Worte auf meinen Lippen spüren, als er fragte: »Besser so? Wäre es dir so lieber?«

Ich konnte seinen Atem regelrecht schmecken. Mein ganzer Körper wurde in seiner Nähe schwach. Ich wich zurück.

»Das habe ich mir gedacht«, knurrte er.

Ich ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und tat so, als suche ich etwas. Es ärgerte mich, dass meine friedlichen Morgenstunden nun der Vergangenheit angehörten.

»Stehst du immer so früh auf?«, fragte ich.

»Ich bin ein Morgenmensch.«

»Das sehe ich … so frisch und vergnügt«, sagte ich sarkastisch. »Andere Menschen brauchen aber ihren Schlaf.«

»Ich habe letzte Nacht prima geschlafen.«

»Ja, sicher … nachdem ihr mich traumatisiert habt. Ihr müsst ja nach der vielen Rumvögelei in Tiefschlaf gefallen sein. Ging es nicht noch ein bisschen lauter?«

»Also entschuldige mal. Wenn ich in meinem eigenen Haus nicht mehr ficken darf, wo denn dann?«

»Ich habe nicht gesagt, ihr dürft nicht, nur dass ihr ein wenig mehr Rücksicht nehmen könntet.«

»Definiere Rücksicht.«

»Seid leiser.«

»Tut mir leid, aber ich kann nicht leise ficken.«

Sosehr mir die Antwort missfiel, ich hatte so eine Ahnung, dass mir dieser Satz heute Nacht noch öfter durch den Kopf gehen würde.

»Vergiss es. Ganz offenbar weißt du nicht, was Rücksicht heißt.«

»Rücksicht auf dich? Wieso? Weil du niemanden zum Bumsen hast? Warum lachst du dir nicht einen von den Kerlen unten am Dock an? Vielleicht würdest du dich dann nicht mehr um anderer Leute Angelegenheiten kümmern.«

»Welche Kerle unten am Dock?«

»Ja, du weißt schon … die Kerle, die auf Booten leben und diese ekligen Fische verkaufen, die du gestern Abend gegessen hast.«

Ich schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen. Ich hatte nicht vor, diesen Kommentar einer Erwiderung zu würdigen.

Plötzlich hob er die Kaffeekanne hoch. »Willst du?«

»Willst du jetzt nett sein?«

»Nein. Ich habe mir nur gedacht, dass du aus irgendeinem Grund hier rumhängst. Das kann nur der Kaffee sein.«

»Das ist meine Küche.«

Er kniff die Augen zusammen. »Unsere Küche.« Als er zwei Tassen aus dem Schrank holte, fragte er: »Wie trinkst du ihn?«

»Mit Milch und Zucker.«

»Ich kümmere mich darum. Du kannst dir in der Zwischenzeit einen BH anziehen.«

Ich schaute auf meine Brüste hinunter. Da ich so früh nicht mit ihm gerechnet hatte, hatte ich gar nicht darauf geachtet. Mir war die Sache so peinlich, dass ich schleunigst in mein Zimmer flüchtete und mich anzog.

Als ich zurückkam, stand er wieder am Fenster und trank seinen Kaffee.

»Besser so?«, fragte ich in Bezug auf meine Kleidung.

Er drehte sich um und musterte mich von oben bis unten. »Kommt darauf an. Wenn du mit besser meinst, dass ich deine Titten nicht mehr sehe, dann ja. Wenn du fragst, ob du insgesamt besser aussiehst, dann ließe sich darüber diskutieren.«

»Was ist denn damit?«

»Es sieht aus, als hättest du alles selbst genäht.«

»Es stammt aus einem der Läden hier auf der Insel, und es ist tatsächlich handgefertigt.«

»Aus einem Kartoffelsack?«

»Das glaube ich kaum.«

Vielleicht doch?

Er lachte. »Dein Kaffee steht auf dem Tresen, Lumpenpüppchen.«

Mein erster Gedanke war, ihm ordentlich kontra zu geben, dann aber dachte ich mir, dass er es vermutlich genau darauf anlegte. Statt meine Wut zu zeigen, musste ich ihn durch Freundlichkeit bezwingen.

»Danke, das ist wirklich sehr nett von dir.«

Arschloch.

Ich trank einen Schluck und spuckte ihn sofort wieder aus. »Was hast du denn da reingetan? Der ist ja viel zu stark.«

Sein Gelächter dröhnte durch die Küche, und obwohl ich es hasste, dass es auf meine Kosten ging, war es doch das erste Mal, seit er hier war, dass er lachte. Das führte mich kurz in die Vergangenheit zurück und erinnerte mich daran, dass dieser Vollidiot da vor mir einmal mein bester Freund gewesen war.

»Schmeckt er dir nicht?«

»Er ist ein bisschen stark für mich. Was ist das?«

»Eine Kaffeekombination.«

»Was soll das denn bedeuten?«

Justin schlenderte zum Hängeschrank und holte eine Dose und ein Päckchen heraus. »Mein eigenes Rezept. Kubanischer Kaffee mit diesem hier gemischt.« Er zeigte auf das schwarze Päckchen, auf dem ein Totenschädel und zwei gekreuzte Knochen abgebildet waren.

»Was zum Teufel ist da drin?«

»Kaffee. Ich bestelle ihn online. Alles andere hat mir zu wenig Koffein.«

»Deshalb hast du mir eine Tasse angeboten? Du wusstest genau, dass ich dieses Gebräu nicht runterbringe, oder?«

Wieder stieß er sein raues Lachen aus, nur lachte er diesmal viel länger als vorher.

Jade kam in die Küche. Sie trug ein langes schwarzes T-Shirt – vermutlich das, das er nicht trug. »Was ist denn so lustig?«

Justin schaute verschmitzt über seine Tasse hinweg. Er lächelte. »Wir trinken bloß Kaffee.«

Jade schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht etwa diesen Dreck getrunken? Ich verstehe nicht, wie einem das Zeug schmecken kann.«

Ich erinnerte mich daran, dass ich ihn mit Freundlichkeit fertigmachen wollte. Ich nippte erneut am Kaffee und nickte. »Also, beim ersten Schluck kam er mir ziemlich stark vor, aber allmählich gewöhne ich mich daran.«

Er schmeckte abartig.

»Sei lieber vorsichtig. Das Zeug ist nicht zu unterschätzen. Justin ist dagegen immun, aber das einzige Mal, als ich ihn getrunken habe, konnte ich vier Nächte lang nicht schlafen.«

Justin kicherte. »Letzte Nacht konnte Amelia offenbar wegen uns nicht schlafen.«

Jade sah mich an. »Ach, du Scheiße. Das tut mir leid.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ging schon. Nach einer Weile hab ich mich daran gewöhnt.«

»War das der Zeitpunkt, ab dem du gern mitgemacht hättest?«, fragte Justin.

Du kannst mich mal!

Darauf würde ich nichts erwidern.

Je länger er so süffisant grinste, desto entschlossener wurde ich, die ganze verdammte Tasse auszutrinken, nur um ihn zu ärgern.

»Ehrlich gesagt wundert es mich, wie gut er mir schmeckt«, log ich.

Jade ignorierte Justins vorherigen Kommentar. »Wollen wir nach dem Frühstück in die Stadt fahren, Amelia? Was hältst du davon? Ich würde mir von dir gern die Insel zeigen lassen.«

»Abgemacht. Das wird bestimmt nett.«

Sie ging zu Justin und legte ihm einen Arm um die Hüfte. »Willst du uns begleiten, Liebling?«

»Nein, ich habe allerhand zu erledigen«, sagte er, trank den Rest seines Kaffees aus und stellte die Tasse dann in die Spüle.

»Na schön, dann eben nur wir Mädels.«

Seit dem Kaffee war ich total aufgedreht. Als wir an dem Vormittag durch Newport liefen, rief mir Jade andauernd zu, ich solle nicht so rennen. Anscheinend konnte sie in ihren High Heels nicht mit mir mithalten.

Irgendwann am Nachmittag gönnten wir unseren Füßen eine Pause. Wir setzten uns auf eine Holzbank mit Blick auf ein halbes Dutzend am Dock festgemachter Segelboote. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser.

»Wie hast du Justin kennengelernt?«, fragte ich.

»Ich war in einem Club namens Hades in New York. Justin trat an dem Abend dort auf. Die ganze Zeit schaute er zu mir, während er sang, und nach dem Auftritt kam er zu mir herüber. Als er mir sagte, beim letzten Lied habe er nur an mich gedacht, wäre ich fast gestorben. Seither sind wir unzertrennlich.«

Mein Gesicht fühlte sich heiß an. Ich wollte mir allerdings nicht eingestehen, dass Eifersucht der Grund dafür war. Der Gedanke an ihre so innige Verbindung während seines Auftritts war mir irgendwie unangenehm. Vielleicht weil mich das an die Songs erinnerte, die er früher für mich geschrieben hatte. Man sollte doch annehmen, dass mich nach der letzten verfluchten Nacht nicht mehr vieles umhauen würde.

»Was für Musik spielt er jetzt?«

»Also, einige Cover von Künstlern wie Jack Johnson, er komponiert aber auch viel selbst. Hauptsächlich tritt er in Clubs auf, sein Manager versucht derzeit, ihm einen Plattenvertrag zu beschaffen. Die Mädchen sind natürlich ganz verrückt nach ihm. Daran musste ich mich erst mal gewöhnen.«

»Das ist bestimmt nicht einfach.«

»Das kannst du laut sagen.« Sie neigte den Kopf. »Was ist mit dir? Hast du einen Freund?«

»Ich habe gerade eine Trennung hinter mir.«

Die nächste halbe Stunde erzählte ich ihr, wie das mit Adam gelaufen war. Mit Jade konnte man sich wirklich gut unterhalten, und sie war ehrlich empört, als sie hörte, dass Adam mich betrogen hatte.

»Na ja, besser, man findet solche Dinge heraus, solange man noch jung ist, statt zehn Jahre seines Lebens mit so einem Kerl zu verschwenden.«

»Da hast du recht.«

»Wir finden diesen Sommer jemanden für dich. Ich habe heute eine Menge scharfer Typen gesehen.«

»Echt? Die einzigen, die mir aufgefallen sind, haben Händchen gehalten.«

Sie lachte. »Nein, da waren auch noch andere.«

»Ich bin momentan wirklich nicht scharf auf eine neue Beziehung.«

»Wer redet denn von so was? Du brauchst jemanden fürs Bett … ein bisschen Spaß, besonders nach dem, was dir dein idiotischer Ex angetan hat. Du hast dir ein heißes Sommerabenteuer verdient, jemanden, der dich von den Socken haut, jemanden, an den du immer denken musst, auch wenn er nicht gerade in der Nähe ist.«

Traurigerweise ist es dein Freund, der mir momentan ständig im Kopf herumspukt.

Sie meinte es gut, deshalb lächelte ich und nickte, obwohl ich keinerlei Absichten hatte, diesen Sommer mit jemandem zu schlafen.

Auf unserem Nachhauseweg kamen wir am Sandy’s on the Beach vorbei, einem Restaurant, das bekannt war für gutes Essen und Livemusik am Abend. Draußen hing ein Schild: Aushilfen gesucht. Direkt jenseits der Brücke war eine Universität, und viele der Studenten fuhren während der Sommerferien nach Hause. Die hiesige Gastronomie brauchte deshalb zeitlich begrenzt Ersatz.

Vor der Eingangstür blieb ich stehen. »Ist es okay für dich, wenn ich kurz reingehe und mich erkundige?«

»Klar, mich würde das auch interessieren.«

Wie sich herausstellte, hatte man im Sandy’s großen Bedarf an Aushilfen. Jade und ich hatten Erfahrung im Kellnern, also setzten wir uns an einen Tisch und füllten den Bewerbungsfragebogen aus. Als wir das Restaurant wieder verließen, hatten wir beide einen Job. Der Geschäftsführer sagte, wir könnten an so vielen Abenden arbeiten, wie wir wollten. Den zusätzlichen Verdienst und die flexiblen Arbeitszeiten konnten wir uns unmöglich entgehen lassen. Jade war besonders froh darüber, dass sie auch kurzfristig absagen konnte, falls sie wegen eines Vorsprechens plötzlich nach Manhattan musste. Morgen würden wir beide dort anfangen.

Jade schlug vor, wir sollten am Abend unsere neuen Jobs mit einem gemeinsamen Abendessen und Drinks auf dem Balkon unseres Hauses feiern. Da fiel mir auf, wie friedlich der ganze Tag – ohne Justin – gewesen war.

Als wir ins Haus gingen und ich sein Parfüm roch, spielten sofort wieder die Schmetterlinge in meinem Bauch verrückt. Justin stand in der Küche und trank ein Bier. Jade lief zu ihm hinüber und legte ihm die Arme um den Hals. Justin war groß – über eins achtzig –, aber Jade war auch nicht viel kleiner. Neben den beiden war ich schon fast ein Zwerg.

Du meine Güte, er hatte sauber gemacht. Und wie!

Justin hatte die Shorts gegen eine schwarze Jeans getauscht und trug nun ein eng anliegendes graues Hemd mit schwarzen Streifen. Irgendetwas hatte er mit seinem Haar gemacht, ich kam nur nicht drauf, was. Jedenfalls betonte es das Blau seiner Augen – Augen, die sich ganz auf Jade konzentrierten.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durch die Haare und küsste ihn. »Du hast mir gefehlt, Liebling. Stell dir vor, wir haben beide Jobs in diesem Restaurant am Strand bekommen.«

»Hast du ihnen gesagt, dass du möglicherweise spontan nach New York fahren musst?«

»Der Typ hat gesagt, das spiele keine Rolle. Im Grunde genommen kann ich dort arbeiten, wann ich will.«

»Wirklich? Klingt für mich irgendwie verdächtig. Aber egal. Bist du dir sicher, dass er dich nicht nur ins Bett kriegen will, Jade?«

»Mir hat er das Gleiche zugesagt«, warf ich dazwischen.

»Dann kann das also nicht der Grund sein.«

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich kapierte, dass er mich soeben beleidigt hatte.

Bevor ich etwas erwidern konnte, schaltete sich Jade ein. »Es ist so mild heute Abend. Wir wäre es, wenn wir oben auf dem Balkon essen? Wir könnten uns die Steaks grillen, die ich mariniert habe.«

Ich brachte es nicht fertig, ihr zu sagen, dass ich kein rotes Fleisch aß, deshalb hielt ich den Mund. Er würde vermutlich denken, ich suche nur eine Ausrede, um nicht mit ihnen essen zu müssen.

Mach ihn mit Freundlichkeit fertig.

»Ich bin keine so tolle Köchin, aber ich kann einen großen Salat machen.«

Justin schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. »Super! Ich schmeiße den Grill an, und Amelia fabriziert ihren großen Salat.«

Als er nach draußen ging, rief ich ihm nach.

»Weißt du, was Nana jetzt zu dir sagen würde? Geh und wasch dir dein dreckiges Maul mit Seife aus.«

Er drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch. »Seife würde nicht reichen.«

Ich sollte mich wohl glücklich schätzen, dass er immerhin mit mir sprach, statt so zu tun, als gäbe es mich nicht. Offenbar machten wir Fortschritte.

Nachdem ich Kopfsalat, Karotten, rote Zwiebeln, Tomaten und Gurken klein geschnitten hatte, machte ich den Salat mit einer selbst zubereiteten Honig-Senf-Vinaigrette an.

Ich trug die Schüssel nach oben, wo Justin und Jade bereits am Tisch saßen. Jade hatte drei Gläser Merlot eingegossen, und Justin kostete gerade von seinem. Er hatte den Blick aufs Meer gerichtet. Die Brandung war rau an diesem Abend.

Als wir mit dem Essen begannen, schaute Justin mich weder an, noch sprach er mit mir. Ich nahm mir Salat und legte mir ein Stück Brot auf den Teller. Es dauerte eine Weile, bis ihnen auffiel, dass ich sonst nichts aß.

Mit vollem Mund sagte Jade: »Das Steak hast du gar nicht angerührt.«

»Ich esse nicht gerne Fleisch.«

Justin schnaubte. »Findest du deshalb keinen Mann?«

Ich ließ die Gabel fallen. »Du bist vielleicht ein Arsch. Ernsthaft. Ich kenne dich gar nicht wieder. Wie konnten wir jemals beste Freunde sein?«

»Das habe ich mich lange Zeit auch gefragt, bis es mir dann irgendwann scheißegal war.«

Ich stand auf, ging nach unten, lehnte mich an den Küchentresen und atmete ein paarmal tief durch, um mich zu beruhigen.

Jade trat leise hinter mich. »Ich verstehe echt nicht, was da zwischen euch beiden läuft, und warum er sich weigert, darüber zu reden. Bist du sicher, dass ihr nie was miteinander hattet?«

»Ich habe es dir doch gesagt, Jade, da war nichts dergleichen.«

»Erzählst du mir, was passiert ist?«

»Das sollte er dir besser erklären. Ehrlich, ich will ihn nicht noch mehr verärgern. Ich kann dir nur verraten, dass er sauer auf mich ist wegen der Art, wie ich fortgegangen … na ja, davongelaufen bin. Alles, was davor war, hat keine Bedeutung mehr. Er ist wütend darüber, wie ich das gemacht habe.«

»Gehen wir wieder hoch und genießen wir das Essen.«

Als wir auf den Balkon zurückkehrten, saß Justin mit versteinerter Miene da und goss sich Wein nach. Ein Teil von mir hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst, ein anderer Teil aber fühlte sich schuldig, dass ich solch eine Wut in ihm ausgelöst hatte. Angeblich war es ihm mittlerweile egal, aber dann würde er sich nicht so benehmen.

Ich berührte ihn am Arm. »Wollen wir nicht einfach darüber reden?«

Er riss sich los. »Ich bin darüber hinweg. Ich rede über gar nichts.«

»Machst du es wenigstens für Nana?«

Er blickte auf, und seine blauen Augen verdunkelten sich. »Hör endlich auf, sie ständig ins Spiel zu bringen. Deine Großmutter war eine wunderbare Frau. Sie war die Mutter, die ich nie hatte. Sie hat mich nie im Stich gelassen, wie alle sonst. Dieses Haus verkörpert Mrs H., und deswegen bin ich hergekommen, nicht wegen dir. Du willst, dass ich rede, verstehst aber nicht, dass ich nichts mehr zu sagen habe zu dem, was vor zehn Jahren passiert ist. Ich habe alles aus meinem Gedächtnis gelöscht. Es ist zu spät, Amelia. Mir ist egal, ob du und Jade Freundinnen werdet, aber spar dir den Versuch, durch sie an mich heranzukommen. Wir werden keine Freunde mehr. Deinetwegen habe ich eine Scheißlaune, und ich habe nicht vor, mir den ganzen Sommer von dieser Scheißlaune verderben zu lassen. Wir wohnen im gleichen Haus. Das ist alles. Tu nicht so, als wäre da mehr. Tu nicht so, als würde dir der verdammte Kaffee schmecken. Tu nicht so, als wäre alles ganz großartig. Hör auf mit dem Scheiß und nimm die Dinge, wie sie sind. Wir bedeuten einander nichts.« Er stand auf und nahm seinen Teller. »Mir reicht’s. Jade, wir sehen uns nachher im Zimmer.«

Schweigend blieben Jade und ich sitzen und lauschten dem Rauschen der Wellen.

»Es tut mir so leid, Amelia.«

»Bitte, das muss es nicht. Er hat recht. Manches lässt sich eben nicht mehr wiedergutmachen.« Auch wenn ich es möglichst gleichgültig sagte, spürte ich doch eine Träne über meine Wange laufen.

Elf Jahre zuvor

Mom war schon wieder unterwegs. Weiß der Himmel, wo sie sich herumtrieb und mit wem. Auf meine Mutter Patricia konnte ich mich nie verlassen. Es gab in meinem Leben nur zwei Menschen, auf die ich zählen konnte: meine Nana und Justin.

Dass meine Mutter mich nachts oft allein ließ, hatte aber auch sein Gutes. Ich konnte mich rausschleichen und hingehen, wohin ich wollte. Nana glaubte die Hälfte der Zeit, meine Mutter wäre zu Hause, deshalb konnte sie mich nicht aufhalten.

Justin wollte sich in fünfzehn Minuten mit mir treffen. Wir wollten zum Einkaufszentrum und dort mit einigen Achtklässlern unserer Schule rumhängen. Sie waren die coole Clique, zu der wir auch gern gehören wollten. Weil Justin und ich unsere Zeit im Wesentlichen nur miteinander verbrachten, gehörten wir bislang keiner anderen Clique an.

Mit den Händen in den Hosentaschen wartete er an der Straßenecke auf mich. Ich liebte es, wenn er seine Baseballkappe verkehrt herum trug und seine dunkelblonden Haarsträhnen links und rechts darunter hervorlugten. Diese kleinen Dinge fielen mir in letzter Zeit zunehmend auf.

Er kam auf mich zu. »Bist du bereit?«

»Ja.«

Justin rannte los. »Wir müssen uns beeilen. Der nächste Bus kommt in fünf Minuten.«

Ich wusste nicht, warum mich der Gedanke, mit diesen Kids herumzuhängen, so nervös machte. Justin schien überhaupt nicht nervös zu sein. Er besaß im Großen und Ganzen mehr Selbstsicherheit als ich.

Als wir das Einkaufszentrum betraten, bildeten die Neonlichter einen scharfen Kontrast zur dunklen Winternacht draußen. Wir sollten uns mit den anderen bei den Fast-Food-Restaurants treffen, deshalb suchten wir einen Lageplan des dreistöckigen Gebäudes.

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als wir auf die beiden Jungs und das Mädchen zugingen, die vor Auntie Anne’s Bretzelstand warteten. Justin spürte, wie angespannt ich war.

»Sei nicht so nervös, Patch.«

Das Erste, was ich aus Chandlers Mund hörte, war: »Was zur Hölle ist denn das?«

»Wie bitte?«

»Hast du dir in die Hose geschissen, Amelia?«

Jetzt schlug mir das Herz bis zum Hals. Ich schaute an mir hinab. Trotz meiner Nervosität wusste ich, dass ich nicht die Kontrolle über meinen Darm verloren hatte. Das hätte ich schließlich bemerkt, oder? Es war auch keine Kacke. Es war Blut. Darauf war ich nicht vorbereitet, denn dies war das erste Mal, dass ich meine Periode bekam. Mit dreizehn war ich später dran als die meisten Mädchen, die ich kannte. Und jetzt war der schlechteste Zeitpunkt dafür, den man sich überhaupt denken konnte.

Justin schaute an mir herunter, dann in meine Augen, in denen die helle Panik stand.

»Es ist Blut«, formte ich lautlos mit den Lippen.

Ohne zu zögern nickte er, als wollte er mir sagen, dass er alles im Griff habe.

»Es ist Blut«, sagte er.

»Blut? Ihh … eklig«, sagte Ethan, der andere Junge.

»Amelia hat sich auf dem Weg hierher mit einem Messer gestochen.«

Ich hatte zu Boden gestarrt, hob jetzt aber ruckartig den Kopf und schaute Justin ungläubig an.

Chandler riss die Augen auf. »Sie hat sich selbst gestochen?«

»Genau.« Justin lächelte. Zu meiner Überraschung zog er ein Taschenmesser aus seiner Jacke. »Seht ihr? Das habe ich immer dabei. Das ist ein Schweizer Armeemesser. Das habe ich Amelia im Bus gezeigt. Ich habe gesagt, sie traut sich nicht, sich damit in den Unterleib zu stechen. Verrückt wie sie ist, hat sie es tatsächlich getan. Und deshalb hat sie jetzt Blut auf der Hose.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Schön wär’s, Alter.«

Die drei schauten sich an, dann sagte Chandler: »Das ist das Coolste, was ich je gehört habe.«

Ethan schlug mir auf den Arm. »Echt jetzt, Amelia, das ist ja so was von abgefahren.«

Justin lachte. »Na, jedenfalls … wir dachten, wir sagen schnell mal ›Hi‹, weil wir eh schon fast hier waren … aber jetzt sollten wir lieber mal los zur Notaufnahme.«