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Eine Familie bezieht eine alte viktorianische Villa in Yonkers / New York. Schon bald geschehen seltsame Dinge. Die kleine Tochter spricht mit unsichtbaren Freunden, und auch die Eltern Liam und Ava sehen Personen, die dort nichts zu suchen haben. Ava gibt nach und nach ihren Widerstand auf und entwickelt eine auffällige Zuneigung zu dem alten Gemäuer. Liam hingegen fühlt sich derart unwohl, dass er mit dem Gedanken spielt, auszuziehen und wieder zu verkaufen. Als er im Stadtarchiv und in alten Zeitungen recherchiert, entdeckt er die wenig rühmliche Vergangenheit des Anwesens. Dort sind im Laufe der Jahrzehnte grausame Morde geschehen, die für Schlagzeilen und den Leerstand des Hauses gesorgt haben. Doch das Haus entwickelt eigene Pläne und will seine neuen Bewohner nicht gehen lassen. Ein spannender Roman mit Mystery- und Horror-Elementen, der die Leser an der Geschichte des Hauses teilhaben lässt, gut unterhält, aber auch ein wenig verstört.
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Seitenzahl: 194
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Jay Baldwyn
Haus des Bösen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
Familie Jones
Familie Dunne
Manson Ward
Penelope Torres
Das Ende der Dunnes
Familie Jenkins
Familie Blake
Das Halloween-Massaker
Epilog
Impressum neobooks
Das Zimmer war stockfinster. Bis auf drei Kerzen, deren Schein unheimliche Schatten auf die Wände und die dunklen, schweren Möbel warf, gab es keine Lichtquelle. Um den runden Tisch aus poliertem, massivem Holz saßen vier Personen – zwei ältere Ladys, bei denen es sich offensichtlich um Schwestern handelte, eine jüngere Frau, kaum älter als Ende zwanzig, und ein Mann um die Vierzig mit hagerem und wie versteinert wirkendem Gesicht. Seine fast schwarzen Augen glühten wie Kohlen, und der Mund war so schmallippig, dass er fast wie ein etwas breiterer Strich wirkte. Alle waren entsprechend der Mode des ausgehenden 19. Jahrhundert in dunkle Garderobe gekleidet und zeigten unterschiedliche Gemütszustände.
Während der Mann ruhig und überlegt seine Fragen stellte und die Ladys ihre Aufregung kaum verbergen konnten, war die junge Frau offensichtlich nicht mehr Herr ihrer Sinne. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt und die Augen derart verdreht, dass man nur das Weiß der Augäpfel sehen konnte, was ihr ein schauriges Aussehen verlieh. Das dunkle Haar, in der Mitte gescheitelt und im Nacken zu einem Knoten frisiert, ließ ihr Gesicht noch blasser erscheinen. Ihr bleicher Mund formte seltsame Laute, die kaum etwas Menschliches an sich hatten. Wenn sie sprach, tat sie es mit einer schrillen, nervtötend hohen Stimme, die sich von einem Moment zum anderen in einen tiefen Bass verwandeln konnte.
Sinn der Zusammenkunft am späten Abend war, eine zu damaliger Zeit in Mode gekommene Séance abzuhalten. Der aus dem Französischen kommende Begriff für „Sitzung“ diente üblicherweise dazu, eine Zusammenkunft einer Gruppe mehrerer Personen zu beschreiben, die unter mehr oder minder fachkundiger Anleitung oder Nutzung eines Mediums mit der Welt der Toten und des Übernatürlichen in Kontakt treten wollten, um Botschaften aus dem Jenseits zu empfangen oder mit Verstorbenen kommunizieren zu können.
Da Mrs. Emily Hanson kürzlich ihren Mann Elijah verloren hatte und nur schwer über den Verlust hinwegkam, nahm sie die Gelegenheit wahr, Aufschluss über seine derzeitige Befindlichkeit zu erhalten. Denn dass mit dem Tod alles zu Ende sein sollte, daran wollte und konnte sie nicht glauben. Hätte sie allerdings geahnt, was sie erwartete, hätte sie bestimmt Abstand davon genommen. Entweder wurde sie gerade Zeuge eines äußerst geschickten, aber umso verwerflicheren Täuschungsmanövers, oder es war doch etwas dran an dem, was man sich so hinter vorgehaltener Hand erzählte.
»Ist jemand unserem Ruf gefolgt und weilt jetzt unter uns?«, fragte der Mann mit seiner etwas schnarrend klingenden Stimme.
»Ja«, tönte es vielstimmig wie verzerrt.
»Wie macht sie das mit der Stimme?«, flüsterte Mrs. Hansons Schwester Ellie aufgeregt.
»Scht! … Wer bist du, wie heißt du?«
»Das tut im Moment nichts zur Sache …«
»Ist jemand bei dir?«
»Ja, er sagt, sein Name ist Elijah«, antwortete das Medium.
Mrs. Hanson stieß einen nervösen Kiekser aus und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum.
»Möchte er mit uns sprechen?«
»Nein, nur mit seiner Frau.«
»Ich bin hier, Darling. Wie geht es dir?«, fragte Emily.
»Gut, mach dir keine Sorgen. Ich werde noch lange in deiner Nähe sein.« Die Stimme des Mediums klang jetzt viel tiefer und war eindeutig einem Mann zuzuordnen.
»Er ist es wirklich. Das ist seine Stimme.« Emily war einer Ohnmacht nahe, und ihre Schwester führte gerührt ein Spitzentaschentuch zur Nase.
»Möchtest du dich ihr noch einmal zeigen?«
»Ich kann es versuchen.«
Über dem Kopf der jungen Frau bildete sich weißer Dunst, der sich immer mehr verdichtete. Als das soge-nannte Ektoplasma die Gesichtszüge von Elijah Hanson annahm, war es um seine Frau geschehen. Sie stieß einen Schrei aus und fiel bewusstlos zu Boden.
Das Ehepaar Liam und Ava Jones wollte raus aus dem Big Apple, wie New York zum Teil immer noch genannt wurde. Zusammen mit den Kindern Julian, Abigail und Sadie wollten sie künftig etwas ländlicher leben. Am liebsten auf einer alten Farm oder Ranch in einer der vielen Städte und Dörfer im Bundesstaat New York. Als Database Administrator bei einer angesehenen Firma verdiente er genug, um sich und seiner Familie ein größeres Haus bieten zu können.
Nach dem Durchforsten einiger Immobilienanzeigen war er auf eine Maklerin gestoßen, die bevorzugt Objekte im gewünschten Bundesstaat anbot. Darunter befanden sich sogar einige Schnäppchen. Den Fotos nach zu urteilen hatte es ihnen ein altes Haus in Allegany Village am Ufer des Flusses Allegheny im Südwesten von New York gelegen, angetan. Doch weil Liam unmöglich jeden Tag über vier Stunden hin und ebenso lange zurück mit dem Auto unterwegs zur Arbeit sein konnte und nicht nur am Wochenende bei seiner Familie sein wollte, hatten sie schweren Herzens darauf verzichtet und sich mehr auf die nähergelegenen Gemeinden konzentriert.
Dabei war ihnen ein viktorianisches Haus in Northwest Yonkers aufgefallen. Nun, Yonkers war nur eine Dreiviertelstunde von New York City entfernt. Das würde also passen, doch die annähernd zweihunderttausend Einwohner zählende Großstadt war nicht unbedingt das, was den Jones vorschwebte. Denn ähnlich wie in New York City gab es dort Viertel mit hoher Kriminalitätsrate, und die vielen Hochhaus-Wohnhäuser waren auch nicht das, was sie suchten. Einzig dem nordwestlichen Yonkers am Hudson River mit seinen alten viktorianischen Häusern wollten sie eine Chance geben.
Die Immobilienmaklerin Alexa Coleman erwartete sie schon vor dem Grundstück. Die blondgesträhnte Enddreißigerin in schickem Businessoutfit mit über-schlanker Figur und falschem Lächeln trug eine dünne Mappe in der Hand. Hinter ihr konnte man das schloss-ähnliche Gemäuer mit Erkern und Türmchen sehen, was allen ein bewunderndes »Oh« entlockte.
»Bin mal gespannt, wo der Haken ist«, sagte Liam, dem man so schnell nichts vormachen konnte.
»Wie schön, dass Sie hergefunden haben«, tönte Mrs. Coleman, »ist es nicht wundervoll? Fast ein Märchenschloss.«
»Doch, sehr beeindruckend«, meinte Ava, »warum will man es verkaufen?«
»Die Erbengemeinschaft hat kein Interesse daran, weil alle ihre eigenen Häuser haben.«
»Weiß man, wer es erbaut hat?«, fragte Liam.
»Ein irischer Einwanderer, wie es viele in dieser Gegend gibt. Doch fragen Sie mich bitte nicht nach dem Namen. Auf jeden Fall schien er einen guten Geschmack gehabt zu haben. Aber treten Sie doch bitte näher! Der herrliche Garten geht hinter dem Haus noch weiter. Dort liegt sogar der größte Teil der Fläche.«
Auf dem Weg zum Haus kriegten sich die Kinder schon in die Haare. Denn jedes von ihnen wollte am liebsten das Zimmer mit dem halbrunden Fenster im obersten Geschoss haben.
»Ihr könnt ja jeweils eins von den Zimmern mit Erker haben, wie es sich für eine Prinzessin gebührt«, zog Julian die Mädchen auf. »Wenn ihr euch die Haare lang wachsen lasst und zum Zopf flechtet, kann ein verwunschener Prinz daran zu euch hinaufklettern.« »Du spinnst«, meinte Abigail, »das geht doch gar nicht.«
»Doch«, widersprach Sadie, »in einem Märchen kommt so was vor.«
»Ja, aber eben nur im Märchen …« Die manchmal etwas altkluge Abigailmit den gleichen dunklen Haaren wie ihre Mutter, die mit ihren neun Jahren bereits den Widerspruchsgeist in sich entdeckt hatte, beraubte ihre kleine Schwester, die mehr nach ihrem Vater kam und goldblonde Engelslöckchen hatte, jeglicher Illusion.
Als Fünfjährige lebte Sadie mitunter in einer Fantasiewelt, was den elfjährigen Julian veranlasste, sie gelegentlich zu verspotten, denn er hatte ganz vergessen, dass er in ihrem Alter nicht anders gewesen war.
»Das Zimmer mit dem bunten Fenster bekomme jedenfalls ich«, ließ Julian nicht locker und strich sich unwirsch eine Strähne seines aschblonden Haares aus dem Gesicht.
»Leider muss ich dich in deinem Enthusiasmus etwas bremsen, mein Sohn«, sagte Ava, »über die Verteilung der Zimmer entscheiden euer Vater und ich. Ihr könnt Wünsche anmelden, mehr aber auch nicht.«
»Gut, dann betrachte meine Äußerung eben als Wunsch«, grummelte Julian.
»Goldig, die Kinder können es scheinbar gar nicht abwarten einzuziehen«, säuselte Mrs. Coleman.
»Wie Kinder eben so sind. Sie lassen sich leicht von der äußeren Hülle blenden. Von der Redewendung: „außen hui und innen pfui“ haben sie noch nichts gehört.« Liam machte ein ernstes Gesicht, um seiner Feststellung noch mehr Ausdruck zu verleihen.«
»Die trifft aber auf dieses Prachtstück nicht zu, wie Sie gleich bemerken werden. Sie werden entzückt sein. Das verspreche ich Ihnen.«
»Ich kann es gar nicht abwarten, mich selbst davon zu überzeugen. Aber irgendeinen Grund muss es doch geben, warum das Haus relativ preiswert veräußert wird.«
»Nehmen Sie es meinem Mann nicht übel. Er ist der Realistischste in unserer Familie und sieht überall Fallstricke lauern.«
»Einer muss euch doch auf den Grund der Tatsachen zurückbringen …«
»Es gibt einen einfachen Grund, warum das Objekt sich preislich von den anderen abhebt«, fühlte sich Mrs. Coleman veranlasst zu bemerken, »die meisten Häuser dieser Gegend sind schon aufwendig restauriert worden.«
»Aha, und dieses gleicht einer Ruine, ja?«
»Ich bitte Sie. Davon kann wirklich keine Rede sein. Es hat nur immer eine Teilsanierung gegeben, und vieles ist in dem ursprünglichen Zustand verblieben. Ein Umstand, der von Romantikern durchaus geschätzt wird.«
»Nur scheinen Ihre Romantiker nicht über die entsprechenden Mittel zu verfügen oder nicht genügend handwerklich begabt zu sein, sonst hätte doch schon einer zugegriffen«, ließ Liam sich nicht beirren.
»Sie werden gleich sehen, was ich meine …«, Alexa Coleman holte einen alten Schlüsselbund hervor, schloss die aufwendig geschnitzte Tür auf und machte eine einladende Geste, »bitte schön, treten Sie ein!«
Der Familie verschlug es augenblicklich die Sprache. Die bis zur Hälfte getäfelten Wände, die Leuchter und Wandlampen zum Teil im Originalzustand, die kostbaren Tapeten und vor allem die hochherrschaftliche Treppe mit gedrechseltem Handlauf waren einfach überwältigend.
»Dürfen wir nach oben gehen, Mom?«, fragte Julian aufgeregt.
»Ja, aber bleibt bitte zusammen. Und pass auf deine Schwestern auf, dass sie keinen Unsinn machen!«
»Wir sind doch keine Babys mehr«, maulte Abigail und schleifte Sadie hinter sich her, um ihren Bruder einzuholen.
Liam und Ava sahen sich im großen Living Room, im Speisezimmer und in der Küche um. Alles machte einen zwar ein wenig verstaubten, aber durchaus ordentlichen Eindruck. Liam konnte es nicht lassen, die Maklerin hin und wieder ein wenig zu provozieren. So meinte er: »Die Steckdosen scheinen auch noch aus der viktorianischen Zeit zu stammen. Ach, nein, damals gab es ja noch keine Elektrifizierung. Na gut, sagen wir: aus den Siebzigern.«
»Immer zu Scherzen aufgelegt, Ihr Mann, ja?«, wandte sich Mrs. Coleman an Ava.
»Als Mann hat er eben ein anderes technisches Verständnis.« Ava nahm Liams Äußerungen weniger ernst als die Maklerin, denn in seinen Augen sah sie, dass er sich längst in das Haus verliebt hatte.
Angesichts der technischen Geräte in der Küche musste Liam dann noch bemerken: »Ein Wunder, dass es keine offene Feuerstelle gibt. Aber der Gasherd scheint mehr Jahre als ich auf dem Buckel zu haben. Ich wage gar nicht, nach der Heizungsanlage zu fragen.«
»Die wurde regelmäßig gewartet und funktioniert einwandfrei. Wenn Sie mir in den Keller folgen, können Sie selbst schauen.«
Überraschender Weise behielt die Maklerin Recht. Die Feuerungsanlage war zwar nicht das neueste Modell, machte aber einen soliden Eindruck. In den übrigen Kellerräumen gab es kaum etwas zu sehen. Irgendwie glichen sich Keller aller Häuser mit ihren nackten Glühbirnen, rauen Wänden und staubigen Böden.
Einen Raum konnten sie nicht besichtigen, denn die mit mehreren Riegeln gesicherte Tür ließ sich partout nicht öffnen. Keiner der Schlüssel am Bund passte.
»Vielleicht hält man dahinter das Schlossgespenst gefangen«, ulkte Liam.
»Sei nicht albern, Darling. Für Gespenster sind Türen und Wände kein Hindernis«, sagte Ava.
»Auch wieder wahr …«
»Ja, wenn Sie hier unten alles gesehen haben, sollten wir in die oberen Etagen hinaufgehen«, machte sich Mrs. Coleman, die es auf einmal eilig zu haben schien, bemerkbar.
»Komm! Ich bin schon ganz gespannt auf die Schlafzimmer«, sagte Liam, »und ob die Kinder kein Chaos angerichtet haben.«
»So schlimm sind sie nun auch wieder nicht …«
In der ersten Etage gab es sechs Schlafzimmer und zwei Bäder, die einen Mix aus Modern und Alt aufwiesen. Während die Waschbecken, WCs und Duschen neueren Datums waren, hatten die Vorbesitzer offensichtlich den Charme der guten, alten Zeit gemocht, denn die gusseisernen Wannen auf Tatzenfüßen und die Armaturen machten einen antiken Eindruck. Auch die Fliesen auf Wänden und Böden stammten aus vergangener Zeit, wie man an Form und Farbe erkennen konnte. Zum Glück waren sie überwiegend intakt. Ava fand das Flair der Bäder charmant und direkt gemütlich. Liams Kommentare hielten sich hingegen in Grenzen.
In der obersten Etage war der Streit um das große Zimmer mit dem halbrunden Fenster in vollem Gange, als die Eltern nach oben kamen. Ava versuchte zu schlichten.
»Jetzt seid bitte vernünftig, Kinder. Da es sich hier um das mit Abstand größte Zimmer handelt, könnten die beiden Mädchen es höchstens gemeinsam nutzen. Alles andere wäre ungerecht.«
»Nein, ich will mein eigenes Zimmer haben«, quengelte Abigail.
»Ich auch«, pflichtete ihr Sadie bei.
»Na, seht ihr. Für Julian, als Ältestem, wäre es am besten geeignet, falls euer Dad es nicht als Arbeitszimmer nutzen will. Seht euch doch mal die Erkerzimmer an, die ich persönlich viel gemütlicher finde.«
»Und was ist mit mir? Ich meine, wenn Dad das Zimmer nutzen will«, wollte Julian wissen, »mehr als zwei Erkerzimmer gibt es wohl nicht.«
»Du irrst, mein Schatz. Das dritte liegt nach hinten raus und ist sogar das größte.«
»Über die Zimmerverteilung könnt ihr euch später streiten«, sprach Liam ein Machtwort, »zuerst müssen eure Mom und ich uns einig sein, ob wir überhaupt hier wohnen wollen.«
»Also, ich will«, sagte Ava, »so etwas Tolles in der Preislage werden wir kaum wiederfinden. Und du bist doch nur glücklich, wenn du etwas zu werkeln hast.«
»Ja, und dazu gibt es hier reichlich Gelegenheit … weil ich auch sonst nichts zu tun habe, außer meinem Nebenjob, der uns allen den Unterhalt finanziert.«
» Deine Eltern würden uns bestimmt unterstützen.«
»Das möchte ich, ehrlich gesagt, nicht. Sie haben es mir auch schon angeboten, aber ich will das aus eigener Kraft schaffen … Also gut, ich bin einverstanden.«
Ein vielstimmiger Jubelschrei der Kinder war die Folge, der auch Mrs. Coleman, die unten wartete, nicht verborgen blieb.
»Ich sehe, Sie haben sich entschieden«, sagte sie, als die Familie herunterkam, und zückte ihre Mappe, »möchten Sie noch ein paar Eckdaten erfahren oder wollen wir gleich einen Termin zur Vertragsunterzeichnung vereinbaren?«
»Das können wir machen«, antwortete Liam, »ich hoffe, wir bereuen nicht irgendwann den Entschluss.«
»Bestimmt nicht. Herzlichen Glückwunsch!«
Die nächste Zeit verging für Ava mit Umzugsvorbereitungen. Ein Käufer für ihr vergleichsweise kleines Haus fand sich schnell, doch die Arbeit, alles in Kisten und Kartons zu verstauen, war nicht zu unterschätzen. Weiterhin mussten Julian und Abigail in ihren bisherigen Schulen abgemeldet und in den neuen angemeldet werden.
Liam nahm sich immer wieder ein paar Stunden frei, um die Handwerker im Haus einzuweisen. Vorerst waren es nur drei Elektriker, die die alten Leitungen, Lichtschalter und Steckdosen erneuerten, und vier Maler, die für neue Tapeten und den einen oder anderen Anstrich sorgen sollten.
Als Liam die Elektriker in Empfang nahm, erlebte er eine böse Überraschung. Schon auf dem Weg zum Haus meinte er, hinter einem der Schlafzimmerfenster ein Kind zu sehen. Etwas ganz und gar Unmögliches, denn er besaß die einzigen Schlüssel für das Haus. Oder sollte es noch mehr geben, die man ihm nicht ausgehändigt hatte?
Oben auf der Etage angekommen, öffnete er vorsichtig die Tür. Und da stand wirklich ein kleines Mädchen in altmodischer Kleidung, das ihm den Rücken zudrehte. Der Schreck, der ihm in die Glieder fuhr, war nichts gegen das, was anschließend folgte.
Das Mädchen drehte sich langsam zu ihm um, als spüre es seine Anwesenheit. Es sah ihn aus schwarzen, wie leblos wirkenden Augen an, blieb aber stumm. Dann hob es langsam seine kleine Hand und deutete mit dem Zeigefinger auf ihn. Im selben Moment löste sich seine Gestalt langsam auf. Mehr noch, sie zerbrach förmlich in Tausende von Stücken, als habe man eine Porzellanfigur zu Boden fallen lassen. Nur waren es keine Scherben, sondern Abertausende von dicken schwarzen Fliegen, die sich auf das Fenster und die Wände setzten oder wild im Raum herumflogen.
Liam stürzte hinaus, schloss die Tür hinter sich und wehrte mit seiner Jacke diejenigen ab, die ihm gefolgt waren, indem er wild um sich schlug. Nach ein paar Minuten war der Spuk vorbei. Zurück blieb nur ein Häufchen toter Fliegen, die auf dem Holzboden wie Fremdkörper wirkten.
»Alles in Ordnung, da oben?«, hörte er einen der Elektriker hinaufrufen.
»Ja, ich denke schon«, stammelte Liam und ging die Treppe hinunter, »fangen Sie bitte erst hier unten an. Oben gibt es ein kleines Problem.«
»Uns egal, wo wir anfangen«, war die Antwort.
Liam brauchte dringend frische Luft. Im Garten nahm er sein Smartphone zur Hand und suchte im Internet einen Kammerjäger in der Nähe. Der versprach zum Glück, gleich vorbeizukommen. Ungläubig blickte Liam zum Fenster hinauf und sah, dass die Scheiben wie eine unruhig wabernde, schwarze Masse wirkten. Es war also keine Einbildung gewesen.
Plötzlich bemerkte er am Zaun einen älteren Mann, der interessiert zu ihm herüberblickte.
»Kann ich etwas für Sie tun? Gehören Sie zu den Handwerkern?«, fragte er unsicher.
»Nein, ich wohne in der Nachbarschaft. Sind Sie der neue Eigentümer?«
»Ja, meine Frau und unsere drei Kinder ziehen bald hier ein.«
»Mutig, mutig, kann ich nur sagen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Na, keiner hätte gedacht, dass sich für das verfluchte Haus jemals ein Käufer finden würde. Ich bin übrigens Aaron Stone.«
»Angenehm, Liam Jones. Was heißt verflucht? Die Maklerin hat nichts Derartiges verlauten lassen.«
»Das kann ich mir denken. Sonst wären Sie wahrscheinlich abgesprungen.«
»Ach, wissen Sie, ich bin eigentlich nicht abergläubisch.«
»Das, was ich meine, hat weniger mit Aberglauben als mit handfesten Tatsachen zu tun. Es ist ein offenes Geheimnis hier in der Gegend, dass in dem Haus schon einige Morde geschehen sind.«
»Ich hoffe, den oder die Täter konnte man fassen.«
»Das schon, wenn sie nicht das Zeitliche segneten. Aber es heißt, die Opfer finden noch immer keine Ruhe.«
»Es ist ja nett von Ihnen, mich warnen zu wollen, aber ich glaube nicht an Geister oder finstere Dämonen.«
»Schön für Sie, dann leben Sie unter Umständen ruhiger. Der eigentliche Grund, warum ich hier bin, ist, ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten.«
»Sind Sie so etwas wie ein Geisterjäger?«
Mr. Stone lachte.
»Nein, ich bin Pensionär und Hobbygärtner. Und da Sie einen großen Garten haben …«
»Verstehe, demnach fürchten Sie sich nicht vor Gespenstern?«
»Ich muss ja nicht nachts im Garten arbeiten …«
Liam hätte gerne gesagt, dass sich Geister oder Gespenster auch am Tage zeigen konnten. Den Beweis hatte er gerade erhalten. Aber er wollte nicht für neuen Gesprächsstoff in der Nachbarschaft sorgen.
»Danke für das Angebot. Ich komme gelegentlich darauf zurück. Allerdings kann sich mein Vater auch kaum zurückhalten, wenn es ums Gärtnern geht.«
»Gut, gut. Ich will mich nicht aufdrängen. Grüßen Sie Ihre Frau und die Kinder unbekannterweise. Und viel Glück im neuen Zuhause.«
»Danke, Ihnen auch noch einen schönen Tag.«
Einige Tage später erhielt Liam einen Anruf von einem der Elektriker.
»Hello, Mr. Young«, sagte Liam freundlich, obwohl er schon ahnte, dass der Mann nicht ohne Grund Kontakt aufnahm, »wie geht es voran im Haus?«
»Recht gut. Nur in das eine Schlafzimmer können wir nicht.«
»Warum, ist es abgeschlossen?«
»Das nicht, aber drinnen herrscht das Chaos. Ich hatte von draußen ein lautes Summen wahrgenommen.«
»Oh nein, nicht schon wieder.«
»Diesmal sind es keine Fliegen. Als ich vorsichtig die Tür einen Spalt öffnete, sah ich Hunderte von Hornissen. Die müssen ihr Nest da oben haben. Und da diese Viecher in dieser Anzahl einem Menschen durchaus gefährlich werden können, werden wir das Zimmer vorerst nicht betreten.«
»Schon klar. Ich informiere gleich den Kammerjäger. Verstehen kann ich es trotzdem nicht. Wir haben jedes einzelne Zimmer besichtigt. Von einem Nest gab es keine Spur.«
»Tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
»Gut, dann sein Sie bitte so freundlich und lassen den Kammerjäger herein. Wenn das so weitergeht, kann er gleich bei uns mit einziehen. Sorry, unter diesen Umständen bleibt mir nur der Galgenhumor.«
Wiederum einige Tage später brachten Liam und Ava die Kinder zu Avas Eltern und machten sich erneut auf den Weg nach Yonkers.
»Mal sehen, was uns heute erwartet«, sagte Liam bitter, »vielleicht treffen wir jetzt auf Krähen in einem der Zimmer oder auf Ratten im Keller.«
»Übertreib nicht, Darling. Vögel, die Menschen angreifen, gibt es nur bei Hitchcock, und Ratten kann man vertreiben.«
»Du bist so zuversichtlich. Vielleicht war es ein Fehler, das Haus zu kaufen.«
»Nur wegen ein paar Insekten musst du nicht gleich alles in Frage stellen. In ländlichen Gegenden kann so etwas immer mal vorkommen. Ich freue mich jedenfalls, dort einzuziehen, und die Kinder auch.«
Liam überlegte, ob er Ava von dem Mädchen erzählen sollte, aber da etwas Ähnliches nicht mehr vorgekommen war, entschloss er sich dagegen, um sie nicht zu beunruhigen.
»Ich bin schon ganz gespannt, wie sich die neuen Tapeten machen und wie alles nach frischer Farbe duftet.«
»Duftet? Ich würde eher sagen: stinkt. Die neuen umweltverträglichen Farben riechen kaum besser als die alten.«
»Wir können es auch umgekehrt machen«, sagte Ava, »du setzt mich am Haus ab und fährst dann weiter in die Schule, um die Kinder anzumelden.«
»Nein, nein, das machst du besser. Ich bin nicht so scharf auf säuerliche Rektoren.«
»Feigling!«
Später war Liam froh, nicht auf das Angebot seiner Frau eingegangen zu sein. Denn die Hiobsbotschaften rissen nicht ab. Als er die Tür zum Esszimmer öffnete, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können. Alle frisch angebrachten Tapetenbahnen waren von der Wand gefallen und stauten sich auf dem Fußboden, während die alte bräunliche mit goldfarbenen Ornamenten fest an der Wand klebte. Liam war nahe daran, einen Tobsuchtsanfall zu bekommen.
»Sagen Sie mal, was für Maler sind Sie eigentlich?«, schrie er außer sich, »jeder Laie weiß, dass derart alte Tapeten vorher abgelöst werden müssen.«
»Ich habe es nur gut gemeint. Ich dachte, Sie wollen recht bald einziehen. Und da die alte Tapete fest an der Wand anlag, habe ich sie nur mit Haftgrund eingestrichen. Das ist bisher immer gut gegangen.«
»Aber diesmal nicht, wie Sie sehen. Sie hatten einfach keine Lust die alte Schicht abzukratzen, das ist es. Die Stunden, die Sie fürs Tapezieren gebraucht haben, werde ich nicht bezahlen. Damit das klar ist. Und sehen Sie zu, dass Sie die neuen Bahnen diesmal fest anbringen. Wenn’s sein muss unter Zuhilfenahme von Nägeln.«
»Sie können sich auch neue Maler suchen, falls Sie welche finden, die das Haus betreten.«
»Jetzt geht das schon wieder los. Sind Sie auch einer von denen, die an den Unsinn glauben?«
Der Maler zuckte mit den Achseln.
»Ich glaube nur das, was ich sehe. Und im Moment sind das Berge von heruntergefallenen Tapeten.«
»Lassen Sie alles so, wie es ist. Ich werde das Problem mit meiner Frau besprechen.« Liam zückte sein Handy und rief Ava an. »Hello, Schatz, wo bist du? Noch in der Schule oder schon auf dem Rückweg?«
Ava hatte darauf bestanden, nicht von Liam abgeholt zu werden, weil sie die Verkehrsverbindung von und zur Schule überprüfen wollte.
»Ich stehe an der Bushaltestelle. Die Anmeldung ging schneller als gedacht.«
»Pass mal auf! Ich wollte dich vorwarnen, damit du keinen Schreck bekommst.«
»Was denn, doch Vögel oder Ratten?«
Liam lachte gequält und erzählte dann, was vorgefallen war.
»Warte, ich bin gleich da. Und dann beratschlagen wir das weitere Vorgehen. Trink einen Kaffee oder rauch eine Zigarette zur Beruhigung!«