Wehe, wenn Santa kommt! - Jay Baldwyn - E-Book

Wehe, wenn Santa kommt! E-Book

Jay Baldwyn

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Beschreibung

Jeweils zu Weihnachten geschehen grauenvolle Morde in einer amerikanischen Kleinstadt. Ganze Familien werden ausgelöscht oder einzelne Mitglieder verschwinden. Wie der Nikolaus bestraft der Killer Menschen für ihre Lieblosigkeit, Gier oder unzureichenden Erziehungsmaßnahmen. Seine ungewöhnlichen Methoden lassen vermuten, dass da überirdische Kräfte am Werk sind. Inspector Amos Snider bemüht sich redlich hinter das Geheimnis zu kommen, bis auch seine Familie ins Visier des Killers gerät. Ein spannender Horrorroman mit Mystery-Elementen. Nichts für zarte Gemüter.

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Seitenzahl: 179

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Jay Baldwyn

Wehe, wenn Santa kommt!

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Der Junge war ganz allein im Livingroom. Seine kleine Schwester spielte in ihrem Zimmer, der Vater zog sich im Schlafzimmer bequeme Sachen nach dem Kirchgang an und die Mutter machte sich in der Küche zu schaffen. Der Truthahn brutzelte im Ofen vor sich hin und verströmte seinen Duft im ganzen Haus. Überall stand Weihnachtsdeko herum, und neben dem prächtig geschmückten Baum gab es auch jede Menge Tannenzweige, deren Duft aber nicht gegen den Braten ankam. Am Kamin hingen große Socken, die in der Nacht gefüllt werden sollten, denn erst morgen würde Bescherung sein. Es hieß, Santa Claus stiege nachts durch den Kamin, um seine Gaben zu verteilen. Dabei wollte er bestimmt nicht gestört oder beobachtet werden, aber es war ja noch früh am Abend. Trotzdem starrte der Junge wie gebannt auf den Kamin. War da nicht ein Poltern im Schornstein? Und rieselte nicht Asche von oben in den Kamin?

Tatsächlich landete kurz darauf ein Mann auf dem glimmenden Kaminfeuer. Aber er sah ganz anders aus als der Junge es erwartet hatte. Er trug zwar die typische Kleidung – eine rote Jacke, die dazu passende Hose und halbhohe Schaftstiefel – doch der ehemals weiße Pelzbesatz war grau und unansehnlich. Dasselbe galt für seinen langen Bart und die buschigen Augenbrauen. Der Zipfel seiner roten Mütze hing ihm über das linke Auge, was ihm ein zusätzlich unheimliches Aussehen verlieh. Ebenso das von Ruß geschwärzte Gesicht und die rissigen, ungepflegten Hände. Auch trug er keinen Sack bei sich, weder prall gefüllt noch leer.

Den Jungen überkam ein ungutes Gefühl. Ängstlich wollte er: »Mom? Dad?« rufen, doch aus seinem Hals kam nur ein heiseres Krächzen, das bestimmt niemand im Haus hörte. Während der unheimliche Mann sich den Staub von der Kleidung klopfte, trat der Junge die Flucht nach vorn an. Er stürmte aus dem Zimmer, um sich irgendwo zu verstecken.

»Ja, renn nur. Ich finde dich doch«, brummte der Mann kaum hörbar. »Warst wohl nicht artig das Jahr über und hast Angst vor der Strafe? Zu Recht, die wirst du bekommen.«

Der Junge rannte ins Esszimmer, in dem eine alte, prächtige Truhe stand. Seine Mutter bewahrte darin die Tischwäsche auf, deshalb strömte ihm ein frischer, sauberer Geruch entgegen, als er den Deckel öffnete. Nachdem er hineingeklettert war, zog er die Kordel nach innen und schloss leise den Deckel. Nach zirka einer Viertelstunde wagte er, die Truhe für einen winzigen Spalt zu öffnen. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Das ins Zimmer fallende Licht warf einen Schatten auf die Wand, der nichts Menschliches an sich hatte. Eine Glocke, wie man sie gelegentlich um den Hals von Kühen findet, gab einen tiefen Ton von sich. Wie eine Totenglocke, dachte der Junge schaudernd. Zusätzlich hörte man ein klapperndes Geräusch, als würde etwas Hartes auf den Steinfliesen auftreffen. Der Kleine hatte genug gesehen und schloss den Deckel, um mit aller Kraft an der Kordel zu ziehen. Dabei zitterte er wie Espenlaub.

Nach einer gefühlten Stunde hatte er den Eindruck, keine Luft mehr zu bekommen. Wieder hob er den Truhendeckel vorsichtig an, um durch den schmalen Spalt zu sehen. Noch immer schlotternd, lauschte er auf jedes Geräusch im Haus. Doch das Einzige, das er hörte, waren seine Zähne, die aufeinander schlugen. Hatte es nicht vorhin an der Tür geläutet? Entweder hatte jemand geöffnet oder der Besuch war unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Möglichst kein Geräusch verursachend, klappte er den Deckel ganz auf, stieg heraus und schlich zur Tür. Sein Herz klopfte wie wild, als er auf den Flur sah. Aber da war nichts. Es herrschte eine geradezu gespenstische Stille. Selbst aus der Küche drang kein Laut.

»Mom?«, flüsterte er und lugte um die Ecke in die Küche.

Erst jetzt bemerkte er den scharfen Geruch nach verbranntem Fleisch. Der Truthahn musste schon zu Kohle geworden sein. Nach dem Ausschalten des Backofens sah er die Schuhe seiner Mutter hinter dem Küchenblock, der mitten im Raum stand. Doch sie standen nicht auf dem Boden, sondern ragten mit den Spitzen nach oben.

»Mom?«, rief er erneut leise.

Keine Antwort.

Als er schließlich hinter den Block schaute, sah er seine Mutter auf dem Boden liegen. In ihrer Brust klaffte ein tiefer Spalt, und sie lag in einer großen Blutlache. Das Grauen schnürte ihm die Kehle zu, deshalb kam wiederum nur ein heiseres Krächzen statt lauter Schreie aus seiner Kehle. Dann rannte er wie von Furien gehetzt die Treppe hinauf, um nach seinem Vater und seiner kleinen Schwester zu sehen.

Sein Dad lag ausgestreckt im Kinderzimmer. Er war nur an seiner Kleidung zu erkennen, denn ihm fehlte der Kopf. Seine Schwester lag blutüberströmt in ihrem Bett. Man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass sie nicht mehr lebte. Jetzt fand der Junge seine Stimme wieder. Er schrie aus Leibeskräften, so lange, bis er heiser war. Dann lief er zurück zur Treppe, verfehlte die erste Stufe und stürzte kopfüber nach unten. Wimmernd blieb er am Fuße der Treppe liegen, um schließlich mit letzter Kraft zur Tür zu kriechen. Es kostete ihn eine enorme Anstrengung, sich aufzurichten, die Klinke herunterzudrücken und sich ins Freie zu retten. Auf dem Weg zu den Nachbarn versagten ihm die Beine. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden und blieb bewusstlos liegen.

1. Kapitel

Die amerikanische Kleinstadt war festlich geschmückt. Die Vorgärten und Häuser waren bestückt mit Lichterketten und funkelnden Figuren. Lebensgroße Engel, Nussknacker und mindestens ein Nikolaus aus Kunststoff. Daneben gab es glitzernde Sterne und grelle Leuchtschriften. Bei Einsetzen der Dämmerung wetteiferten die Hausbesitzer um die prächtigste Dekoration. Die Schneemänner aus Plastik auf dem Dach, Krippen im Garten und verschneiten Eisenbahnen bestanden aus Hunderttausenden kleiner Lichter, neuerdings sogar LED, und die Stromrechnungen stiegen enorm an.

Die exzessive Tradition der Weihnachtsbeleuchtung stammte angeblich aus Deutschland. Denn im Erzgebirge war es Sitte gewesen, geschnitzte Leuchterfiguren oder Kerzen ins Fenster zu stellen, um den Bergleuten im Dunkeln heimzuleuchten. Noch vor der Industrialisierung hatte Massenware aus dem Erzgebirge wie Holzspielzeug und Weihnachtsschmuck den Markt überschwemmt. Selbst der erste Christbaum war bereits 1781 von einer deutschen Baronin in Nordamerika eingeführt worden. Auch Santa Claus, den viele immer noch für eine Erfindung von Coca Cola hielten – tatsächlich hatte Coca-Cola ihn in den 1930ern als Werbefigur benutzt –, stammte zwar dem Namen nach vom holländischen „Sinterklaas“, publiziert aber hatte ihn wiederum ein Deutscher – Thomas Nast ein Cartoonist des 19. Jahrhunderts, im pfälzischen Landau geboren und mit sechs Jahren mit seiner Familie nach New York gekommen. Er zeichnete einen gemütlichen, dicken Mann mit einem Sack voller Geschenke, der am Nordpol mit den Rentieren unterwegs war oder am Kamin die Socken füllte. Weit entfernt von einem Knecht Ruprecht, der mit der Rute die Kinder bestrafte.

Im Hause Avens herrschte am Weihnachtsabend keine besonders festliche Stimmung. Sidney Avens ging der Trubel sichtlich auf die Nerven. Außerdem hatte er Stunden verbracht, um den Fehler in einer der Lichterketten zu finden. Seine Frau Lacy war von dem Chaos in der Küche genervt und die Kinder Pete und Melody quengelten herum, weil der versprochene Besuch von Santa Claus scheinbar ausblieb.

Als es endlich an der Haustür läutete, ging Lacy aufmachen, nachdem sie ihre Küchenschürze abgebunden hatte.

»Sie kommen reichlich spät«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Sorry, Ma’m, ich habe das Haus nicht gleich gefunden«, sagte der Mann, der dem Klischeebild eines Weihnachtsmannes voll und ganz entsprach mit seinem roten, mit Fell abgesetztem Anzug, dem weißen Rauschebart und einem gefüllten Sack auf dem Rücken. Die rosigen Wangen und die Nickelbrille gaben ihm etwas Groß-väterliches, Vertrauenerweckendes. Doch hinter den Gläsern blitzten wache, eiskalte Augen.

»Dann kommen Sie rein. Ich gehe nur kurz in die Küche, den Ofen ausschalten.«

„Santa“ ging in den großzügigen Wohnbereich, wo der Hausherr vor dem Fernseher saß, Pete auf sein Handy starrte und Melody in einem Comic blätterte. Sie war die Einzige, die dem Besucher Aufmerksamkeit schenkte.

»Ho-Ho-Ho, ich komme von weit her und habe euch Geschenke mitgebracht«, ließ Santa seinen Spruch ab. »Wart ihr denn auch schön brav das Jahr über?«

Keine Reaktion.

»Pete, jetzt leg doch mal das Handy weg!«, sagte Lacy zu ihrem achtjährigen Sohn. »Und du, Schatz, mach bitte den Ton des Fernsehers einen Moment aus. Dann wollen wir doch mal sehen, was Santa uns mitgebracht hat.«

»Als ob ihr das nicht genau wüsstet«, maulte Pete. »Ihr habt doch im Kaufhaus den Sack bestückt.«

»Was haben wir denn da für einen vorlauten, kleinen Burschen? Da werde ich wohl gleich die Rute hervorholen müssen.«

»Das wagen Sie nicht …«

»Ganz recht. Meine Kinder werden nicht geschlagen«, brummte Sidney.

»Ich habe den Eindruck, hin und wieder eine kleine Tracht Prügel würde ihnen guttun.«

»Darüber steht Ihnen kein Urteil zu.«

»Ich will endlich wissen, was in dem Sack ist«, quengelte Melody.

»Dann wollen wir doch mal nachsehen.«

Santa griff tief in den Jutesack, und von einem Moment auf den anderen stand ein riesiges Puppenhaus auf dem Teppich. Wie er das gemacht hatte, blieb sein Geheimnis, aber Lacy war tief beeindruckt.

»Das war zwar so nicht abgesprochen«, sagte sie, »aber es ist wirklich hübsch, nicht wahr, Mel?«

»Ich finde es ausgesprochen hässlich«, sagte die Sechsjährige. »Und die uralten Möbel … Gab es keine modernen?«

Als Nächstes erhielt Pete ein hübsch verpacktes Päckchen, das er argwöhnisch beäugte. Als er achtlos das Papier abriss und mehrere Computerspiele zum Vorschein kamen, verzog er angewidert das Gesicht.

»Was soll das denn? Die habe ich doch alle schon. Und wo ist die Cyberbrille, die ich mir gewünscht habe?«

Santas Gesicht überzog ein Lächeln. Er war scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen.

»Dann wollen wir doch mal sehen, was wir für Mommy haben.«

Lacy erhielt eine schmale Geschenkbox, die ein glitzerndes Armband enthielt.

»Igitt, das ist ja Modeschmuck der billigsten Sorte. Damit würde ich niemals vor die Tür gehen.«

»Kommen Sie bitte einen Moment nach draußen?«, sagte Sidney und ging demonstrativ vor, um sogleich den Hobbykeller anzusteuern. »Hier liegt wohl eine Verwechslung vor. Kann es sein, dass Sie sich in der Adresse geirrt haben?«, fragte er im Schein einer einfachen Bauleuchte.

»Keineswegs, jeder bekommt das, was er verdient hat. Ihre Frau ist keine echten Juwelen wert. Und Ihre unerzogenen Bälger sollten lernen, was Demut ist. Der Bengel muss in seinem Alter nicht über die neueste Technik verfügen, und andere Mädchen hätten sich angesichts des herrlichen Puppenhauses vor Freude nass gemacht.«

»Sagen Sie mal, wie reden Sie denn mit mir? Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus. Ich werde mich bei Ihrer Firma über Sie beschweren.«

»Das bleibt Ihnen freigestellt. Nur fürchte ich, Sie werden nicht mehr dazu kommen.«

Oben wurde Lacy langsam unruhig.

»Ich möchte mal wissen, wo euer Vater so lange bleibt. Was hat er nur mit dem Mann alles zu bereden? … Ach, da sind Sie ja wieder. Und wo ist mein Mann?«

»Ihr Gatte zieht es vor, sich im Hobbykeller zu beschäftigen.«

»Aber das gibt’s doch gar nicht. Am Heiligen Abend. Wenn er nicht in fünf Minuten zurück ist, gehe ich ihn holen.«

»Na, gefällt euch das Haus jetzt schon besser?«, fragte Santa scheinheilig.

Melody schüttelte entschieden den Kopf, und Pete gab seine Art von Kommentar ab:

»Wer spielt schon noch mit einem Puppenhaus? Mit so einem Quatsch konnte man früher mal kleine Mädchen beeindrucken. Heutzutage wollen sie mindestens eine Barbie Traumvilla.«

»Aus Plastik, ja. Für Naturmaterialien hat eure Generation doch keinen Sinn mehr.« Santa räusperte sich. »Sehr schade, dass ihr das Haus nicht mögt. Es wird für längere Zeit euer Zuhause sein.«

»Was soll der Blödsinn denn?«, fragte Lacy. »Machen Sie gefälligst den Kindern keine Angst.«

»Ach, ich denke, die kleinen Satansbraten kann so schnell nichts erschüttern.«

„Santa“ schnipste mit den Fingern, und im nächsten Moment waren Pete und Melody verschwunden. Stattdessen fiepten zwei weiße Ratten im Puppenhaus zum Gotterbarmen.

Lacy war kurz vor einer Ohnmacht. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Dann machte sie eine ruckartige Bewegung und rannte wie wild in den Keller hinunter. Sekunden später ertönte ihr markerschütternder Schrei.

Unten, in der Hobbywerkstatt, hing ein unförmiges Gebilde an einem Fleischerhaken an der Wand. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass es Sidney war, der vollständig in Lichterketten eingehüllt war. Sodass er wie ein leuchtender Kokon wirkte. Aber das Grausigste war, dass die Kette auch in seinen Mund führte und am After wieder austrat. Dadurch wirkte sein Körper auch von innen wie illuminiert. Seine starren Augen zeugten davon, dass er tot war.

Lacy rannte wie von Sinnen die Treppe hinauf und holte im Schlafzimmer aus einem Wandschrank eine alte Pistole hervor, die sie mit zitternden Fingern mit Patronen befüllte. Dann lief sie zurück in den Livingroom und richtete die Waffe auf den falschen Weihnachtsmann.

»Happy Christmas!«, sagte er grinsend. »Hat Ihnen das zweite Geschenk besser gefallen?«

Lacy drückte ohne zu Zögern ab. Doch der Schuss ging ins Leere. Dort, wo eben noch Santa Claus gestanden hatte, gab es nur noch feinen Nebel, der sich alsbald auflöste. Die entsetzte Frau raufte sich die Haare und rannte aus dem Haus. Statt die Polizei zu rufen, suchte sie ihr Heil bei den Nachbarn.

Detective Amos Snider freute sich auf den Weihnachtabend. Als er nach Hause kam, tönte aus dem Radio in der Küche „Wonderful Dream“ von Melanie Thornton. Ein Hit von 2001, den Coca Cola für seine Werbung verwendet hatte.

»Kannst du das bitte etwas leiser machen?«, sagte Amos, woraufhin seine hübsche Frau, Frances, sofort zum Radio ging. Als sie wiederkam, umringten Amos die halbwüchsigen Zwillinge Jesse und Pamela, weil sie wie stets glaubten, ihr Anliegen sei das wichtigste.

»Nun lasst doch euren Dad erst mal ankommen. Ihr habt ihn ja noch den ganzen Abend«, gebot Frances ihnen lächelnd Einhalt.

»Wenn er heute ausnahmsweise nicht gebraucht wird«, sagte Emily, Frances’ Mutter, die erhitzt aus der Küche kam.

Emily Kruger, die eigentlich Emilie Krüger hieß, kam aus dem Bergischen Land und lebte seit mittlerweile zwanzig Jahren in den Staaten. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, dass man in den USA Umlaute ignorierte, weil man sie nicht aussprechen konnte. So wurde aus Müller Muller und aus Krämer Kramer. Ihr Mann, Archibald Krüger/Kruger, war vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Aber Emily beziehungsweise Emilie war alles andere als eine lustige Witwe. Dazu war sie zu glücklich verheiratet gewesen. Jetzt bewahrte sie Archibalds Andenken und kümmerte sich mit Leidenschaft um ihre Tochter und die Enkel. An Weihnachten ließ sie sich nicht nehmen, für die Familie zu kochen. Alle hatten sich damit abgefunden, dass es statt des üblichen Truthahns die weitaus fettere Gans gab. Aber das leckere Schmalz mit Zwiebeln war dann anschließend immer ein willkommener Brotaufstrich.

»In einer halben Stunde können wir essen. Genehmigt euch doch derweil einen Drink«, sagte sie jovial.

In dem Moment läutete Amos’ Handy.

»Oh nein, nicht schon wieder«, sagte Frances mit gespielt verzweifeltem Gesichtsausdruck. »Lässt man dir nicht einmal am Weihnachtsabend deine Ruhe?«

»Verbrechen kennen keine Feiertage. Aber lass mich erst einmal hören, was los ist. Snider …«, meldete sich Amos kurz darauf und lauschte eine Weile. »Verstehe … Ja, ich weiß, wo das ist. Bin gleich da.«

»Na, habe ich’s nicht gesagt?«, tönte Emily. »Aber mach dir keine Sorgen, mein Junge. Wir heben dir eine der Keulen auf, und ein paar köstliche Klöße sowieso. Ob ich allerdings noch etwas Rotkraut vor den Kindern retten kann …«

»Jetzt mach sie nicht schlimmer als sie sind, Mom. Für ihren Vater würden sie das letzte Hemd geben. In diesem Fall den letzten Löffel Rotkraut«, sagte Frances.

»Dann bin ich ja beruhigt«, meinte Amos. »Also, bis später! Ich beeile mich.«

Als Amos nach zwei Stunden wiederkam, sah er fast grün im Gesicht aus. Im Gegensatz dazu stand der Karton, den er Jesse und Pamela überreichte und dessen Inhalt ihnen ein Lächeln ins Gesicht zauberte.

Als Frances hineinsah, verging ihr das Lächeln.

»Das kann jetzt nicht wahr sein«, sagte sie. »Wo hast du die her? Du weißt, dass ich diese Tiere nicht sonderlich schätze.«

»Aber die sind doch so süß«, rief Pamela aufgeregt und streichelte eine der beiden weißen Ratten.

»Hast du noch in einer Zoohandlung Halt gemacht?«, fragte Frances.

»Später«, antwortete Amos und machte dabei ein mürrisches Gesicht. Und Appetit hatte er wenig, was Emily allerdings nicht gelten ließ. Sie füllte ihm den Teller voll und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

»Iss, mein Junge! In deinem Beruf brauchst du alle Nervenkraft.«

»Wem sagst du das, Mom? Und was ist mit unserer?«, fragte Frances.

»Wer einen Mann mit diesem Beruf heiratet, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Aber ich muss zugeben, du hättest es schlechter treffen können.«

»Danke, Mom. Schon vor der Bescherung Komplimente? Womit habe ich das verdient?«

»Das nennt man Fishing for Compliments. Jeder in dieser Stadt weiß, dass du ein anständiger Bursche bist und dabei auch noch unverschämt gut aussiehst.«

»Mom, du bist ja heute richtig in Geberlaune«, feixte Frances. »Nicht dass du mir noch meinen Mann ausspannst …«

»Red keinen Unsinn, Kind. Über derartige Torheiten bin ich längst hinaus. Aber jetzt wollen wir ihn in Ruhe essen lassen. Und nachher erfahren wir vielleicht etwas darüber, was ihn von hier weggerufen hat.«

Als Amos aufgegessen hatte, schob er den Teller von sich weg und prustete.

»Das war ausgezeichnet, aber die nächsten zwei Tage brauche ich wohl nichts mehr zu essen. Ja, ihr seid neugierig, was los war … Kinder, geht doch bitte in eure Zimmer und macht euch langsam für die Nacht fertig. Santa Claus kommt eh nur, wenn ihr schlaft.«

»An den glauben wir schon lange nicht mehr, Dad. Aber es ist eine hübsche Tradition«, sagte Jesse. »Komm, Pam! Wenn wir nicht brav sind, bleiben die Socken leer, oder es gibt was mit der Rute.«

»Mindestens … Ich sehe nachher noch mal nach euch. Und vergesst die Zähne nicht. Und lasst die Tiere vorerst im Karton. Nach dem Feiertag kümmere ich mich um einen Käfig.«

»Schon okay, Dad. Unser Zahnpastalächeln geht uns über alles. Und die Tiere wollten wir ohnehin nicht mit ins Bett nehmen«, rief Pamela über die Schulter und ging ihrem Bruder hinterher.

»Also, zu vorhin …«, setzte Amos erneut an. »Ihr kennt doch Sidney Avens und seine Familie … In dem Haus ist heute Abend etwas Entsetzliches passiert. Ihn hat man tot aufgefunden, die beiden Kinder sind spurlos verschwunden und seine Frau redet total wirres Zeug. Angeblich sei ein grausamer Santa Claus in ihr Haus gekommen, habe ihren Mann getötet und die Kinder in Ratten verwandelt. Tatsächlich haben wir zwei zahme weiße Ratten im Wohnzimmer gefunden, die ich mitgenommen habe, da sie nicht allein im Haus bleiben können.«

»Warum, was ist mit Mrs. Avens?«, fragte Frances.

»Die liegt erst mal im Hospital. Wenn sie vernehmungsfähig ist, werde ich sie erneut befragen. Sie hat auch behauptet, der Mann habe ein riesiges Puppenhaus aus dem Sack geholt, was physikalisch gar nicht möglich ist, es sei denn, es handelte sich um ein Klapphaus. Aber sie meinte, es wäre voll alter Möbel gewesen. Im gesamten Haus gab es aber kein Puppenhaus. Eine seltsame Geschichte. Wir gehen davon aus, dass die Kinder ihren toten Vater gesehen haben und in Panik aus dem Haus gelaufen sind. Die Suche nach ihnen läuft schon.«

»Und was ist mit dem Mörder?«, wollte Emily wissen.

»Lacy Avens behauptet, auf ihn geschossen zu haben. Das Projektil fanden wir, aber keine männliche Leiche oder Blutspuren. Mrs. Avens sagt, der Santa habe sich in Rauch aufgelöst.«

»Die Arme Frau, sie halluziniert«, meinte Frances. »Kein Wunder, wenn man am Weihnachtsabend seine gesamte Familie verliert. Sucht ihr trotzdem nach ihm?«

»Dann müssten wir jeden einzelnen Santa Claus befragen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, wo so viele in der Stadt herumlaufen.«

»Was ist, wenn die Geschichte stimmt. Wenn es kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Dämon, ein Kramperl war?«

»Jetzt komm nicht wieder mit der Krampus-Sage, Mama! Damit hast du früher schon die Kinder geängstigt.«

Wenn Frances ihre Mutter auf Deutsch mit Mama ansprach, statt, wie in Amerika üblich, mit Mom, war Alarm angesagt. Das wusste Emily nur allzu gut. Dennoch war sie noch immer mit dem Brauchtum ihrer Heimat verbunden.

Das „Kramperl“ stand im Berchtesgadener Land für den Krampus, wie er im Ostalpenraum, im südlichen Bayern und der Oberpfalz, in Österreich und sogar in Teilen des Fürstentums Liechtenstein, in Ungarn, Slowenien, der Slowakei, in Tschechien, Südtirol, Trentino und Teilen des außeralpinen Norditaliens und Kroatiens genannt wurde. Eine dämonische Schreckgestalt des Adventsbrauchtums mit Hörnern, langem Schwanz und Hufen, die ursprünglich den Nikolaus begleitete. Während der Nikolaus die braven Kinder beschenkte, wurden die unartigen vom Krampus bestraft. Der Name leitete sich von mittelhochdeutsch Krampen ‚Kralle‘ oder bairisch Krampn ‚etwas Lebloses, Vertrocknetes, Verblühtes oder Verdorrtes‘ ab. In der Region Berchtesgadener Land innerhalb des gleichnamigen Landkreises kannte man zweierlei Krampusse: die ganz in Fell gekleideten „Kramperl“ und die wendigeren, mit Strumpfhosen ohne Fell und kleineren Glocken ausgestatteten „Gankerl“ beziehungsweise „Ganggerl“.

»Dann würde ich eher noch glauben, Lacy Avens habe ihren Mann selbst umgebracht. Die Kinder könnten aus Entsetzen darüber geflohen sein«, sagte Amos. »Wenn da nicht ein Umstand wäre, der mich zweifeln lässt. Sidney hing an einem Fleischerhaken an der Wand. Das hätte Lacy allein nicht bewältigen können. Es sei denn, sie hatte Hilfe. Zum Beispiel von einem Liebhaber. Könntest du dich nicht mal unauffällig im Drugstore oder im Supermarkt umhören, Fran? Vielleicht weiß jemand etwas darüber.«

»So, ich soll also deine Arbeit machen? Nein, war ein Joke. Kein Problem. Sollte Mrs. Avens ihrem Mann untreu gewesen sein, zerreißt man sich bestimmt das Maul darüber.«