Hazel Blue - Manuela Letsch - E-Book

Hazel Blue E-Book

Manuela Letsch

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Beschreibung

Als Hazel mit 12 Jahren ihre Mutter verliert, lernt sie zum ersten Mal ihren bis dahin unbekannter Vater Mason kennen. Er ist zwar bereit, die elterliche Sorge für Hazel zu übernehmen, denkt aber nicht daran, seine uneheliche Tochter mit nach Hause zu nehmen. Hazel ist sein dunkles Geheimnis, von dem seine Frau und seine Söhne nie erfahren sollen.

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… in liebevoller Erinnerung an meinen Grossvater Otto.

Jeder Tag mit dir war ein Geschenk,

an das ich heute noch oft voller Dankbarkeit zurückdenke …

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

1. Kapitel

Mason musterte skeptisch die bunte Leuchtreklame des Restaurants. Für ein dringendes, wichtiges Gespräch, wie Catherine es in ihrer E-Mail ausgedrückt hatte, schien ihm das schrille amerikanische Lokal nur bedingt geeignet. Allerdings hatte er Catherine schon seit Jahren nicht mehr persönlich getroffen, deshalb ging er davon aus, dass wenn sie ein Gespräch mit ihm für dringend erachtete, es wohl tatsächlich wichtig war. Darum hatte er zugesagt.

Catherine und er hatten in den letzten zwölf Jahren nach ihrer kurzen Affäre nur sporadisch Kontakt gehabt: Mal hatte sie ihm ihre neuen Bankdaten für die Überweisung der monatlichen Unterhaltsbeiträge für die Tochter mitgeteilt, mal hatte sie ihn um eine Erhöhung eben dieser Beiträge gebeten, weil das Mädchen zwischendurch in einer Pflegefamilie betreut werden musste, offenbar aufgrund einer psychischen Erkrankung und eines Klinikaufenthalts von Catherine selber.

Mason stiess die schwere Eingangstür auf und betrat den im amerikanischen Stil üppig dekorierten und mit Country-Musik erfüllten Raum. Er sah sich suchend um. Das Lokal war um diese frühe Zeit noch praktisch leer. Eine Frau zapfte Bier hinter dem Tresen ab. Sie stellte das volle Glas auf ein Tablett zu drei weiteren Stangen und lächelte ihn an. »Was kann ich für Sie tun?«

Mason sah sich diskret um. Es hatte noch nicht viele Gäste. Ein junges Paar sass Händchen haltend an einem Zweiertisch neben dem Eingang. An einem grossen runden Tisch sassen vier Männer in Arbeiterkluft und unterhielten sich laut. Für sie waren wohl die vier Feierabendbier. Am Tresen sassen zwei weitere Männer, von denen jeder gedankenverloren in sein halbleeres Glas starrte. Einer tippte zum Rhythmus der Musik auf den Holztresen. Mason beugte sich näher zur Kellnerin. »Ich bin mit Catherine Miller verabredet«, sagte er leise.

Die Kellnerin nickte wissend und deutete dann in die hinterste Ecke des Restaurants. »Der letzte Tisch. Ich bin gleich bei Ihnen.« Sie nahm das Tablett und brachte die Bier an den Stammtisch.

Mason schritt den schmalen Raum hinunter bis zum letzten Tisch. Catherine war nicht da. Sie hatte auf Mason noch nie einen besonders pünktlichen Eindruck gemacht. Aber Mason war nicht bereit, lange auf sie zu warten, schliesslich hatte er noch anderes zu tun.

Seine Gedanken erstarrten und Mason blieb abrupt stehen, als ein Mädchen unter dem Tisch hervorkroch. Es lächelte entschuldigend und legte die Farbstifte, die es am Boden zusammengeklaubt hatte, wieder auf die rot-weiss karierte Tischdecke und setzte sich auf das rote Kunstleder der Bank neben eine zerknüllte Jacke.

Mason spürte, wie er rot wurde und seine Atmung sich beschleunigte. Das Mädchen nahm keinerlei Notiz von ihm. Es kannte ihn ja gar nicht. Erst als es bemerkte, dass er neben dem Tisch stehen blieb und nicht wie wahrscheinlich erwartet in Richtung Toiletten weiterging, hob es den Blick erneut und zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.

Das Blau ihrer Augen war überwältigend. Mason war es, als blickte er geradewegs in einen Spiegel. Er suchte vergeblich nach Worten und war froh, als die Kellnerin zu ihm trat.

»Nehmen Sie Platz«, forderte die Frau ihn auf. »Catherine kommt bestimmt bald … Hazel, deine Cola … Kann ich Ihnen auch schon etwas zum Trinken bringen?«

Mason hätte am liebsten Nein gesagt, auf dem Absatz kehrt gemacht und das Lokal fluchtartig wieder verlassen, aber Hazels fragender Blick hielt ihn gefangen. Er nickte widerstrebend. »Eine Stange bitte.« Sein Mund fühlte sich ganz trocken an. Er zog den Mantel aus und legte ihn über die Lehne des benachbarten Stuhls, bevor er sich Hazel gegenüber hinsetzte.

»Du bist Catherines Tochter?«, fragte er, weil ihm sonst nichts einfiel.

Hazel nickte stumm. Abwartend.

»Deine Mutter hat mich um das heutige Treffen gebeten«, fuhr Mason fort. »Sie hat nicht erwähnt, dass du auch hier sein würdest. Machst du Hausaufgaben?«

Hazel schnitt eine Grimasse und nickte. »Geometrie«, murmelte sie schliesslich ohne Enthusiasmus.

Mason musste schmunzeln. »Magst du Geometrie nicht?«

Hazel seufzte. »Es ist kompliziert.«

»Deine Mutter kann dir bestimmt helfen.«

Hazel schob die Unterlippe vor und sah ihn durchdringend an. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Vielleicht«, murmelte sie, es klang allerdings nicht sehr überzeugt.

Mason überlegte, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte. Geometrie hatte schliesslich zu seinen Lieblingsfächern gehört. Und wäre es nicht irgendwie seine Aufgabe, ihr zu helfen? Doch da kam die Bedienung und brachte sein Bier. Sie stellte es auf einen Untersatz vor ihn und wuselte Hazel liebevoll durch die Haare. »Noch immer nicht fertig?«

Hazel schüttelte seufzend den Kopf und fuhr sich frustriert durch die langen, haselnussbraunen Haare. Dann klappte sie das Heft zu und stopfte die Farbstifte ins Etui zurück. Sie nahm eine Hand voll Popcorn aus der Schale in der Mitte des Tisches und beobachtete Mason scheinbar ratlos. Schliesslich hellte sich ihr Gesicht auf. »Sind Sie von der Modern Dance Academy?«

Mason schüttelte den Kopf, wusste allerdings nicht, was er sagen sollte. Darf ich mich vorstellen? Ich bin dein Vater! War er das überhaupt? Rein biologisch betrachtet schon, aber gehörte nicht mehr zum Vatersein? Dinge wie Geometrie erklären zum Beispiel. Oder Schulaufführungen besuchen. All die Dinge, die er von allem Anfang an kategorisch abgelehnt hatte. Er hatte Hazels Unterhalt bezahlt. Anstandslos. Zu mehr war er nie bereit gewesen. »Du interessierst dich für Tanz?«, fragte er, weil sie ihn immer noch abwartend ansah.

Hazel begann zu strahlen. »Dann sind Sie also doch von der MDA?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Nein, bin ich nicht, tut mir leid. Wie kommst du darauf?«

Hazel biss auf ihre Unterlippe und seufzte tief. »Ich dachte nur«, murmelte sie. »Ich habe meiner Mutter gesagt, ich wünsche mir zum Geburtstag, dass ich auf die MDA gehen darf … und da heute mein Geburtstag ist, dachte ich halt … Sie hat gesagt, dass es zu teuer ist, aber sie würde schauen, was sie machen könne. Und sie hätte eine Überraschung für mich.«

Mason nahm hastig einen Schluck Bier, um seine Nervosität zu verbergen. »Du hast heute Geburtstag? Wie alt bist du denn geworden?« Wie lange lag seine Affäre mit Catherine schon zurück?

»Zwölf.«

»Schon zwölf? Gratuliere! Was hast du dir abgesehen von einer Tanzausbildung an der MDA denn noch gewünscht?«

Hazel zuckte gelangweilt mit den Schultern.

»Eine Fahrt auf einem Containerschiff vermutlich«, lachte die Kellnerin und trat zu ihnen.

Hazel schüttelte mit trotzig vorgeschobener Unterlippe den Kopf. »Daran glaube ich nicht mehr«, erwiderte sie irritiert.

»Wollt ihr schon bestellen oder wartet ihr auf Catherine?«, erkundigte sich die Frau.

»Ich nehme den Cheeseburger«, bat Hazel.

»Und Sie?«

»Für mich nichts, danke.« Mason sah auf die Uhr. »Ich sollte bald wieder los.« Als die Kellnerin wieder in der Küche verschwunden war, fragte er: »Du willst ernsthaft auf einem Containerschiff mitreisen?«

»Haben Sie eine Reederei?«, fragte Hazel und Mason sah, wie ihre Augen für einen Augenblick lang aufleuchteten.

»Nein, von Schiffen verstehe ich nichts. Es ist nur … ein nicht alltäglicher Wunsch für ein zwölfjähriges Mädchen … finde ich.«

Hazel schien verlegen. Sie kaute auf der Unterlippe und erklärte schliesslich: »Meine Mutter hat mir immer erzählt, mein Vater sei Hochseekapitän auf einem dieser Riesenschiffe, die Container um die ganze Welt transportieren. Deshalb war er immer unterwegs und konnte uns nie besuchen.« Sie starrte aus dem Fenster. »Aber ich glaube, das stimmt nicht. Ich meine …« Sie sah ihn Hilfe suchend an. »Irgendwann haben auch Kapitäne von Hochseeschiffen Ferien, oder nicht?«

»Wahrscheinlich schon«, stimmte Mason ihr zu. Ihm war nicht wohl in seiner Haut.

»Ich glaube, er hat uns vergessen«, stellte Hazel fest.

Mason schwieg und sah erneut auf die Uhr. »Deine Mutter scheint uns auch vergessen zu haben«, bemerkte er. »Um welche Zeit hast du mit ihr abgemacht?«

»Halb sechs. Und Sie?«

»Ebenfalls. Denkst du, sie kommt noch?«

Hazel zog ratlos die Schultern hoch, dann schwiegen beide. Mason suchte verzweifelt nach einem unverfänglichen Thema, doch es wollte ihm partout nichts einfallen. Die Kleine wollte auf die Tanzakademie! Deswegen wollte Catherine ihn sprechen. Weil das eine Stange Geld kostete. Oder hatte sie vorgehabt, das Geheimnis um Hazels verschollenen Vater zu lüften? Tatataa, liebe Hazel, dein Vater ging gar nie zur See. Er lebte all die Jahre auf der anderen Seite der Stadt. Und er kam nie vorbei, weil er dich nicht kennenlernen wollte. Aber heute Abend ist er hier!

Mason rutschte nervös auf seinem Stuhl herum, checkte das Smartphone und sah erneut auf die Uhr. Schliesslich ging die Tür zur Küche auf und die Kellnerin brachte einen grossen Teller mit einem Cheeseburger und Pommes Frites. Sie stellte ihn auf den Tisch, daneben eine grosse Flasche Ketchup, und sah Mason fragend an. »Immer noch nichts für Sie?«

»Nein, danke, ich … sollte weiter.« Er wandte sich an Hazel, die ihn fragend ansah, und holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Aktentasche. »Ich notier dir die Nummer meines Geschäftshandys. Für Catherine. Sie soll mich doch einfach unter dieser Nummer anrufen, wenn sie etwas mit mir besprechen möchte. Gibst du ihr den Zettel bitte?«

Hazel nickte und sah die Nummer an, die er auf den Zettel geschrieben hatte. »Okay«, meinte sie leise.

»Es … es tut mir leid«, stammelte Mason. »Aber ich muss wirklich los. Kann ich dich so alleine lassen? Kommst du klar?«

Hazel nickte schweigend.

»Gut, dann … dann geh ich mal wieder. Hat mich … hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Noch einen schönen Geburtstag.« Er stand auf und schlüpfte in seinen Mantel.

Hazels blaue Augen hingen an seinen. Mason musste sich zwingen, sich loszureissen. Er versuchte es mit einem Lächeln.

»Mach’s gut, Hazel!« Dann wandte er sich hastig ab und trat an den Tresen. Die Kellnerin sah ihn fragend an.

»Ich möchte gerne bezahlen«, erklärte er und holte sein Portemonnaie hervor. »Das Essen der Kleinen und die Cola gehen ebenfalls auf mich und … Bringen Sie ihr später noch ein Stück Kuchen, so einen Geburtstag sollte man feiern. Sie haben doch Kuchen? Oder ein Eis vielleicht?«

»Am liebsten mag sie den Coupe Dänemark«, verriet die Frau mit einem Augenzwinkern.

»Sehr gut, danke, dann setzen Sie mir den bitte auch gleich auf die Rechnung.« Er hielt ihr die Kreditkarte hin. »Kommt es oft vor, dass Catherine mit ihr hier abmacht und nicht auftaucht?«

Die Frau sah ihn fragend an.

»Ich meine, kommt die Kleine alleine zurecht?«

Die Frau nickte und nahm die Kreditkarte entgegen.

»Catherine wohnt nicht weit von hier. Das ist ihr Stamm lokal. Wir passen hier auf Hazel auf, keine Sorge.« Sie schob die Kreditkarte ins Lesegerät und reichte es ihm, damit er den PIN-Code eingeben konnte. Danach gab sie ihm die Quittung. »Besten Dank. Einen schönen Abend.«

Mason warf einen letzten Blick zum hintersten Tisch, von wo aus Hazel ihn immer noch unverwandt beobachtete. Er hob zaghaft die Hand zum Gruss, dann drehte er sich um und verliess eilig das Lokal.

2. Kapitel

Nach dem Cheeseburger brachte Josefine Hazel noch einen Coupe Dänemark mit einer brennenden Wunderkerze darauf. Sie setzte sich zu ihr und versuchte, aus Hazels Geometrie-Aufgaben schlau zu werden, konnte ihr aber nicht weiterhelfen. »Das ist nie meine Stärke gewesen«, entschuldigte sie sich.

Hazel zuckte mit den Schultern. »Es macht nichts«, murmelte sie. »Ich will ohnehin Tänzerin werden. Und dafür brauche ich keine Geometrie.«

Josefine lachte. »Ich bin sicher, ich werde dich mal auf einer grossen Bühne tanzen sehen.«

Hazel lächelte. »Danke für den Nachtisch, Jo.«

»Der war nicht von mir, Süsse, der war von dem Herrn, der hier war.«

Hazel machte grosse Augen. »Oh! Ich dachte, er wäre von der Tanzakademie, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Egal! Ich glaube, ich sollte mal nach Hause.«

Josefine erhob sich. »Mach das. Ruf an, falls deine Mutter nicht zuhause ist.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »So, ich muss weitermachen.«

Hazel schenkte ihr ein warmes Lächeln und sah ihr nach, als sie hinter dem Tresen verschwand. Dann packte sie ihr Unterrichtsmaterial in ihren Rucksack, zog die Jacke an und stand auf. Im Vorbeigehen winkte sie und Josefine eilte ihr hinterher und steckte ihr noch ein Tütchen Gummibärchen zu. Dann stand sie draussen auf dem Gehweg.

Sie hätte das Tram nehmen können, aber sie zog es vor, zu Fuss zu gehen. Sie hatte es nicht eilig. Sie schlenderte durch die Strassen und kickte eine leere Zigarettenpackung vor sich her, während sie ein Gummibärchen nach dem anderen zerkaute. Auf dem heruntergekommenen Quartier-Spielplatz vor ihrem Haus traf sie die Nachbarsjungen beim Breakdance.

»Hi Haz!«, rief ihr einer der Jungs zu. »Machst du mit?«

Hazel sah zu ihrer Wohnung hoch. In der Küche brannte Licht. Sie schüttelte den Kopf, dass die Haare in alle Richtungen flogen. »Heute nicht, ich muss mal nach meiner Mutter sehen.«

Sie rannte die Treppen hinauf, den Laubengang zur letzten Wohnungstür hinunter und stiess die Tür auf. »Mama?!« Sie warf ihren Rucksack hin, schlug die Tür laut zu und kickte die Schuhe von den Füssen.

»Hazel?«

Hazel blickte hoch. Ihre Mutter stand im Flur. Sie sah verschlafen und etwas desorientiert aus und hatte sich in eine Wolljacke gewickelt.

»Wo warst du?«, schimpfte Hazel. »Wo hast du gesteckt? Du hast mich mit irgendeinem Typen bei Jo sitzen gelassen! Was hast du dir nur dabei gedacht?!«

Hazel sah, wie ihre Mutter, die ohnehin schon blass war, noch bleicher wurde. »Oh, wie spät ist es denn?« Sie warf einen verwirrten Blick auf ihre Uhr. »Mist, ich muss eingeschlafen sein. Ich hatte so starke Kopfschmerzen, da habe ich zwei Tabletten genommen. Ich wollte doch fit sein heute Abend! Und dann habe ich mich noch einen Augenblick hingelegt, nur kurz … Ich habe gar nicht gemerkt …« Sie sah Hazel zerknirscht an. »Das tut mir so leid«, flüsterte sie.

Hazel erwiderte den Blick finster, dann senkte sie den Kopf. »Schon gut«, murmelte sie. »Dein Typ war allerdings nicht sehr erfreut, dass du ihn extra hinbestellst und dann nicht aufkreuzt.«

»Welcher Typ?«, fragte Catherine verwirrt. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Mason! Dann ist er gekommen? Wie findest du ihn?«

Hazel verdrehte die Augen. »Mama, wenn du einen Kerl kennenlernen möchtest, solltest du selbst zum Date gehen, nicht mich hinschicken.« Sie schob sich an ihrer Mutter vorbei und verschwand im Badezimmer.

Als sie wieder auf den Flur trat, stand ihre Mutter immer noch da in ihrer Wolljacke, die ihr viel zu gross war. »Dann hast du schon gegessen?«

Hazel nickte. »Du?«

Catherine schüttelte den Kopf und lehnte sich müde an die Wand. »Du weisst, dass ich nicht essen kann, wenn ich diese starken Kopfschmerzen kriege. Das schlägt mir auf den Magen. Ausserdem bin ich danach immer so müde.«

»Dann leg dich doch wieder hin«, schlug Hazel vor. »Ich kann dir was zu essen bringen, wenn die Kopfschmerzen nachgelassen haben.«

Catherine lächelte und zog ihre Tochter in eine feste Umarmung. »Was würde ich nur ohne dich machen?«, flüsterte sie und begann zu weinen.

Hazel löste sich ruckartig aus ihren Armen. »Leg dich hin, Mama. Ich bin gleich bei dir.« Sie verschwand in der Küche, öffnete den Kühlschrank und untersuchte den Inhalt. Schliesslich entschied sie sich für die restlichen Spaghetti vom Vortag, holte eine Pfanne und begann, Spaghetti plus Sauce aufzuwärmen. Sie stellte einen Teller und ein Glas auf ein Tablett, legte Gabel und Suppenlöffel dazu, schenkte Wasser ein, rührte in den Spaghetti und wartete, bis sie warm waren. Dann streute sie etwas Reibkäse darüber, kippte alles auf den Teller, vergewisserte sich, dass der Herd ausgeschaltet war und die leere Pfanne nicht mehr auf der heissen Herdplatte stand, nahm das Tablett und verliess die Küche.

Catherine hatte sich ins Bett zurückgezogen. Sie setzte sich lächelnd auf, als Hazel zögernd auf der Schwelle erschien. »Du bist ein Schatz, Hazel, danke dir!« Sie nahm das Tablett entgegen und Hazel kuschelte sich neben sie.

»Und du bist sicher, du möchtest nichts?«

Hazel schüttelte den Kopf. »Ich hatte einen Cheeseburger mit Pommes und einen Coupe Dänemark.«

»Die liebe Jo«, murmelte Catherine, während ihr erneut Tränen in die Augen traten.

Hazel beobachtete sie stumm. Nach einer Weile flüsterte sie: »Du solltest zum Arzt, Mama. Es wird wieder schlimmer.«

»Ich weiss, Schatz.«

»Warum machst du es dann nicht?«

»Ich weiss doch, was dann kommt«, erklärte Catherine. »Er wird mich wieder in eine Klinik schicken. Aber ich will nicht mehr! Ich kann dich doch nicht schon wieder im Stich lassen.»

»Ich komme schon klar. Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«

»Ich weiss«, schluchzte Catherine. »Aber ich vermisse dich dort jeden Tag. Das halte ich nicht noch einmal aus.«

»Vielleicht kann dir der Arzt andere Medikamente geben …«

Catherine nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie holte tief Luft. »Ich werde anrufen. Versprochen! Wie war es heute in der Schule?«

Hazel zuckte mit den Schultern. »Wie immer.«

»Hast du Hausaufgaben?«

»Schon gemacht.«

»Alles?«

»Ja …« Hazel zögerte. »Fast alles … Ich will nicht mehr. Schliesslich ist mein Geburtstag«, fügte sie mit leichtem Trotz an.

Catherine strich ihrer Tochter über die Haare. »Und ich wollte mit dir nach dem Abendessen noch ins Kino gehen. Magst du trotzdem noch hingehen?«

Hazel schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Vielleicht besser am Wochenende, Mama. Morgen muss ich doch zur Schule. Ich bin müde.« Sie seufzte schwer.

Catherine gähnte. »Ich ja auch … Willst du hier schlafen, Maus?«

Beinahe hätte Hazel am nächsten Morgen ihren Wecker im Zimmer nebenan nicht gehört. Als sie endlich hochschreckte, brauchte sie einen Augenblick, bis sie das Geräusch identifizieren konnte. Sie rollte sich zur Seite und glitt leise aus dem Bett. Ihre Mutter schlief tief und fest. Hazel tapste in ihr Zimmer hinüber und schaltete den Wecker aus, dann zog sie frische Kleider an und ging in die Küche. Der Teller mit den verkrusteten Resten, die Catherine nicht hatte fertig essen mögen, stand neben der Spüle. Hazel öffnete den Kühlschrank und holte Milch heraus. Sie schüttete die letzten Frosties aus der Müesli-Packung und notierte, dass sie welche kaufen musste.

Sie zog die Krimskrams-Schublade auf und holte das Haushaltsportemonnaie hervor. Sie nahm die Zwanzigernote heraus, die es noch darin hatte, und stopfte sie in die Gesässtasche ihrer Jeans, dann setzte sie sich auf den Tisch, stellte die Füsse auf den Stuhl und nahm ihre Müeslischale in die Hand. Hastig schaufelte sie die Cerealien in den Mund, schlürfte die Milch und strich sich, nachdem sie die Schale abgestellt hatte, mit dem Handrücken über den Mund. Dann fiel ihr der Termin ein. Das Gespräch mit der Schulleiterin.

Sie stellte die Schale in die Spüle, ging sich die Zähne putzen, bürstete ihre langen Haare und nahm sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Einen Augenblick stand sie unschlüssig an der Schwelle zu Catherines Schlafzimmer.

»Mama?«

Catherine murmelte etwas und drehte sich auf die andere Seite.

»Mama!«, bat Hazel etwas lauter.

Catherine öffnete die Augen. »Ach, du bist schon fertig angezogen? Wie spät ist es denn?«

»Halb acht, ich muss gleich los.«

Catherine setzte sich langsam auf und gähnte verschlafen. Dann lächelte sie. »Mein grosses Mädchen«, murmelte sie. »Schon so selbständig. Hast du gegessen?«

Hazel nickte. »Aber jetzt hat es kein Müesli mehr.«

»Macht nichts, Schatz. Im Tiefkühler hat es noch Toast, davon nehme ich mir zwei Scheiben.«

Hazel nickte. Sie zögerte einen Augenblick, dann bat sie leise: »Du solltest wirklich deinen Arzt anrufen, okay?«

Catherine nickte. »Werde ich, versprochen.«

»Und um vier ist das Elterngespräch.«

Catherine bekam grosse Augen. »Was für ein Gespräch?«

»Mit der Schulleiterin. Wegen … neulich.«

»Die Sache mit Emma?«

Hazel nickte und biss sich auf die Lippen. Emma hatte ihre Mutter eine Psychotante genannt und Hazel einen Freak und da war Hazel ausgerastet. Sie hatte sie angeschrien und geschubst. Etwas gar heftig. Emma war gestürzt und hatte sich den Kopf am Türrahmen gestossen. Anschliessend war Hazel noch auf ihre Brille getreten.

»Das hätte ich glatt vergessen«, gestand Catherine.

Hazel zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Aber ich glaube, Frau Torino wird sauer, wenn wir nicht erscheinen.« Ursprünglich hätte es ein Gespräch mit dem Klassenlehrer werden sollen, aber nachdem Hazel und Catherine zum vereinbarten Termin nicht erschienen waren, hatte der Lehrer die Sache an die Schulleitung übergeben. Hazel hatte ihm versichert, dass so etwas nie mehr vorkommen und ihre Mutter dieses Mal pünktlich zum Gespräch erscheinen würde. Das hoffe er, hatte ihr Lehrer geantwortet und angefügt, dass er andernfalls die Beiständin, Frau Gabriel, hinzuziehen würde.

Hazel wusste, dass ihre Mutter Frau Gabriel nicht mochte. Die Beiständin trat immer dann auf den Plan, wenn in Hazels Leben etwas ganz schief lief. Wie damals, als Mama eine Weile lang einen Freund gehabt hatte, der zu viel Alkohol getrunken und auch mal zugeschlagen hatte. Einmal hatte er sich so heftig mit Mama gestritten, dass Hazel dazwischen gegangen war, um die beiden zu trennen. Da hatte er sie verprügelt. Er war rasend vor Wut gewesen und Catherine hatte alle Mühe gehabt, ihn wieder zu beruhigen. Die Schramme, die Hazel sich am Esstisch geholt hatte, hatte mit zehn Stichen genäht werden müssen. Offenbar hatte ihre Unterstufenlehrerin ihr nicht geglaubt, dass sie auf dem nassen Boden ausgerutscht und gegen den Briefkasten gefallen war. Davon kriege man doch keine blauen Flecken an Armen und Beinen, hatte sie gemeint. Und eine Mieterin im gleichen Haus, die das Geschrei gehört hatte, hatte sich beim Jugendamt gemeldet.

Seither kam Frau Gabriel immer dann, wenn es Probleme gab. Deshalb mochte Catherine sie nicht, und auch Hazel fand, dass sie sich nicht einmischen sollte. Catherine und sie kamen gut alleine zurecht. Meistens wenigstens. Als Catherine aber plötzlich in schweren Depressionen versunken war und nur noch weinend im Bett gelegen hatte, war Hazel dann doch erleichtert gewesen, als Frau Gabriel nach drei Tagen von einer Nachbarin davon erfahren und alles in die Wege geleitet hatte: Catherine war für ein paar Wochen in eine Klinik gegangen und Hazel zu einer Familie in Pflege gekommen. Das hatte nicht so gut geklappt, aber Frau Gabriel war ziemlich geduldig gewesen und hatte eine andere Familie gesucht. Bis Hazel schliesslich zu Rosa-Ana Diener gekommen war. Dort war sie seither schon ein paarmal gewesen, wenn ihre Mutter etwas Ruhe gebraucht hatte.

»Ich werde in der Schule sein«, versprach Catherine und seufzte. »Um vier Uhr. Und sobald du weg bist, rufe ich den Arzt an und frage, ob er heute noch Zeit für mich hat, okay?«

Hazel nickte und wandte sich ab.

»Hazel?«

Hazel drehte sich in der Tür noch einmal um.

»Du bist so selbstständig. Ich bin sehr stolz auf dich.«

Hazel versuchte zu lächeln und nickte stumm. Im Flur zog sie Schuhe und Jacke an, schwang ihren Rucksack über die Schulter und verliess die Wohnung.

3. Kapitel

Hazel sprang mit einem Satz auf den Schreibtisch und von da mit einem Salto auf das Fensterbrett, warf sich aus dem Fenster, kriegte den dicken Ast der Linde im Hof zu fassen, machte einen Felgaufschwung, sprang auf den Abfalleimer hinunter und landete katzengleich auf dem Schulhof.

Zumindest hätte sie das gemacht, wäre das Fenster nicht geschlossen gewesen.

»Hazel Miller!«

Hazel zuckte zusammen und blickte in die ungeduldig funkelnden Augen der Schulleiterin.

»Meine Geduld ist allmählich zu Ende.«

Meine auch. »Sie wird bestimmt gleich kommen«, beschwichtigte Hazel. Vielleicht könnte sie sich mit der Schulter gegen die Scheibe werfen. Wie John McClane. Durch einen Scherben regen zum Baum hinüberhechten, der Rest bliebe gleich: Rückwärts rolle um den Ast, Abfalleimer, katzengleiche Landung.

»Hörst du mir überhaupt zu, Hazel?«

Nein. »Ja.«

Frau Torino durchbohrte sie mit ihrem Blick. »Nun, was habe ich gesagt?«

Wahrscheinlich die Sache mit der Brille. »Wegen Emmas Brille?« Hazel sah dem Blick der Schulleiterin an, dass sie richtig geraten hatte.

»Und was hast du dazu zu sagen?«

Ganz ehrlich? Nicht viel! »Sie lag auf dem Boden, ich sah sie nicht, bis ich darauf trat.«

»Es gibt Kinder, die gesehen haben, dass du mit voller Absicht darauf getreten bist. Was sagst du dazu?«

Hazel seufzte ungeduldig. Was sollte sie dazu schon sagen?

»Emmas Vater hat mich angerufen«, fuhr die Schulleiterin fort. »Die Brille muss ersetzt werden, er wird die Rechnung deiner Mutter schicken.«

Hazel zuckte betont gleichgültig mit den Schultern. »Okay. Sonst noch was?«

»Von dir erwarte ich, dass du dich bei Emma entschuldigst.«

Hazel verdrehte die Augen. »Muss das sein?! Sie mag mich nicht, ich mag sie nicht. Am besten ist es, wenn wir uns nicht zu nahe kommen.« Ein vernünftiges Argument!

Die Schulleiterin musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Hazel, dieser Ton gefällt mir gar nicht. Ausserdem sollte deine Mutter zum heutigen Termin ebenfalls erscheinen.«

»Vielleicht habe ich es ihr etwas zu kurzfristig gesagt«, versuchte Hazel ihre Mutter zu verteidigen. »Sie arbeitet heute und kann nicht einfach fehlen.«

Frau Torino seufzte sichtlich genervt. Ihre Augen schickten Blitze in Hazels Richtung. Sie drehte sich zum Computer um und begann entschlossen, auf die Tastatur zu hämmern.

»Kann ich gehen?«, fragte Hazel ungeduldig und tippte nervös mit dem linken Fuss auf den Boden.

»Noch nicht, Hazel Miller!«

Frau Torino tippte schwungvoll auf eine Taste, worauf der Drucker hinter ihr zum Leben erwachte. Sie schwang den Stuhl herum, nahm das Papier aus dem Ausgabefach, las es kurz durch und setzte dann ihre Unterschrift darunter. Darüber kam ein offizieller Schulstempel. Sie wedelte das Papier einen Augenblick in der Hand, damit die Stempelfarbe trocknete, stopfte das Ganze in einen Umschlag und klebte ihn zu. »Hier, für deine Mutter. Du bringst mir den Zettel morgen vor der ersten Unterrichtsstunde unterschrieben zurück, sonst sehe ich mich gezwungen, Frau Gabriel einzuschalten.«

Hazel nickte stumm. Die Schulleiterin reichte ihr den Umschlag, hielt ihn aber noch einen Augenblick lang fest und musterte Hazel streng. »Ich hoffe, ich sehe dich nicht so bald wieder in meinem Büro.«

Das hoffte Hazel auch. Auf dem Nachhauseweg ging sie noch im Denner vorbei und kaufte ein, was sie für nötig hielt. Sogar ein paar Karotten und einen Eisbergsalat legte sie zur Müeslipackung, der Milch und der Schokolade in den Korb, während sie im Kopf die Preise zusammenrechnete, damit es auch sicher reichte.

Als Hazel nach Hause kam, war ihre Mutter nicht da. Hazel legte den Umschlag der Schulleiterin gut sichtbar auf den Küchentisch und packte wütend ihre Hausaufgaben aus. Sie hatte sich Mühe gegeben, die Strafpredigt der Schulleiterin an sich abperlen zu lassen, aber sie mochte es nicht, so kritisiert zu werden. Was wusste die Frau schon?! Was Emma gesagt hatte, interessierte sie nicht, nur die kaputte Brille.

Hazel starrte ins Leere. Sie war auch wütend auf ihre Mutter, obschon sie versuchte, das zu ignorieren. Sie wusste, dass ihre Mutter nichts dafür konnte; sie war krank. Aber dennoch fand Hazel, dass sie zum Elterngespräch hätte erscheinen müssen. Und jetzt gerade wäre es auch ganz nett, wenn sie bald käme und ihr bei diesen Aufgaben half, sonst drohte schon bald ein weiteres Gespräch wegen Hazels mangelnder Arbeitshaltung, wie ihr Lehrer das gerne nannte.

Hazel riss eine Packung Kekse auf und knabberte lustlos auf einem herum, während sie auf das Diktat starrte, das sie am übernächsten Tag hatten. Schliesslich legte sie es zur Seite – sie konnte es sich schlecht selbst diktieren –, öffnete stattdessen ihr Mathematikheft und versuchte, die Aufgaben zu lösen. Es schien ihr sinnlos. Das würde sie in ihrem Leben nie mehr brauchen. Entnervt schlug sie das Heft zu, griff zum Telefon und wählte die Handynummer ihrer Mutter. Nach dreimaligem Klingeln schaltete sich die Combox ein.

»Mama, wo bist du?«, fragte Hazel, wartete einen Augenblick und unterbrach die Verbindung. Eine Weile starrte sie auf die Tischplatte vor sich, dann stand sie abrupt auf. Sie trat auf den Laubengang hinaus und sah zum verwaisten Spielplatz hinüber. Es war bald Abendessenzeit, und da verschwanden die Mütter mit Kleinkindern und der Platz gehörte den Grossen. Zugegeben, Hazel war noch nicht so gross, umso stolzer war sie, dass sie dazugehörte. Als sie auf der gegenüberliegenden Seite die beiden schwarzen Zwillinge aus ihrem Wohnblock kommen sah, rannte sie in die Wohnung zurück, zog ihre Turnschuhe an und schlüpfte in ihre Jacke.

Die beiden Jungs hatten bereits den Bluetooth-Lautsprecher eingeschaltet, als Hazel atemlos auf dem Spielplatz erschien. »Hi Haz«, grüssten die beiden abwesend. Sie bewegten sich wie Roboter zum Beat der Musik. Hazel beobachtete sie einen Augenblick aufmerksam, bevor sie ihre stakkatoartigen Bewegungen zu imitieren begann. Nach und nach kamen weitere Jugendliche dazu. Alle, die was draufhatten beim Tanzen. Sie bildeten einen Kreis und sahen einander beim Performen zu.

Hazel war die Jüngste. Sie war stolz, sich einen kleinen Platz in dieser Dance-Crew erobert zu haben. »Es gibt dümmere Arten, seine Zeit zu vertreiben«, meinte ihre Mutter dazu. »Versprich mir nur, dass du keinen Alkohol und keine Drogen anrührst.« Und da sie vom Laubengang aus direkt zum Spielplatz hinüberblicken konnte, hatte sie keine Bedenken, Hazel mit den Grossen abhängen zu lassen.

Hazel hatte in allen Räumen das Licht angezündet, bevor sie nach draussen gegangen war. Jetzt im Dunkeln wirkte die Wohnung vom Spielplatz aus bewohnt und einladend. Hazel stellte sich vor, wie ihre Mutter inzwischen nach Hause gekommen war und ein Abendessen zubereitete.

»Haz?«

Hazel hob erstaunt den Blick. Bob, der grössere der Zwillinge, musterte sie fragend.

Hazel hob die Augenbrauen.

»Ob du auch dabei bist?«

»Wobei?«

Bob verdrehte die Augen. »Du hast nicht zugehört, ich hab’s gedacht. Starrst zu eurer Wohnung rauf, als hättest du sie noch nie gesehen … Wir möchten uns im nächsten Frühling für die Qualifikation zu den Schweizer Meisterschaften im Streetdance anmelden. Ich habe gefragt, ob du dabei bist?«

»Ich?« Hazel bekam grosse Augen. »Ihr würdet … würdet mich echt mitnehmen?«

Bob zuckte mit den Schultern. »Klar, du gehörst doch auch dazu. Ich meine … du schaffst den Backflip aus dem Stand und dein Head Spin wird immer besser. Und diese Capoeira-Dinge, die du machst, die bauen wir auch ein ... Wird viel Arbeit. Wir wollen in der Schule fragen, ob wir jeweils am Dienstagabend in der Turnhalle trainieren können.«

»Und wer macht die Choreo?«

Bob schob die Unterlippe vor. »Na wir zusammen ... Und Thomy fragt seine Cousine, die geht auf die MDA und will mal Choreografin werden. Macht nächstes Jahr ihren Abschluss. Falls sie zusagt und uns unterstützt, kannst du bei dieser Gelegenheit gleich ein bisschen mit ihr über die Schule quatschen.«

Hazel lächelte und nickte. »Ja, ich bin dabei. Klar, sicher!«

So musste sich Glück anfühlen. Hazel sprang auf die Bank, machte einen Backflip auf den Boden und lachte. Um sie herum bewegten sich alle im Einklang mit den Hip-Hop-Klängen aus dem Lautsprecher und Hazel spürte, wie der Rhythmus durch sie hindurch floss, während die Welt um sie herum sich langsam auflöste, bis nur noch sie übrig war. Sie und die Musik …

Der Alltag kam unerbittlich zurück, als Bob die Musik ausschaltete. »Wir müssen nach Hause«, meinte er entschuldigend, und Hazel merkte, dass nur noch Bob, Nathan und sie auf dem spärlich beleuchteten Spielplatz waren. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wohl auch«, meinte sie. »Dann bis morgen.«

Wieder zuhause wanderte sie durch die ganze Wohnung. Jedes Mal, wenn sie einen Raum betrat, hatte sie das Gefühl, ihre Mutter im nächsten Zimmer zu hören, aber die Wohnung war genauso leer wie zuvor. Sie schien Hazel trotz der überall brennenden Lampen jetzt, als es draussen dunkel war, sogar noch eine Spur leerer zu sein. Hazel ass eine Schale Cornflakes mit Milch. Nachdem sie die Schale ausgespült hatte, ging sie duschen, putzte die Zähne und trocknete die Haare. Dann kroch sie ins Bett ihrer Mutter. Hier würde sie sie spüren, wenn sie nach Hause kam, sich mit tausend Küssen bei ihr entschuldigte und sie in die Arme schloss. Ich liebe dich, Hazel, vergiss das nie. Ich liebe dich!

Unter dem Kopfkissen lag das Smartphone ihrer Mutter. Zwei Anrufe in Abwesenheit stand auf dem Display und eine Erinnerung an den Termin in der Schule. Hazel legte das Telefon auf den Nachttisch, löschte das Licht und vergrub das Gesicht im Kopfkissen, das nach ihrer Mutter roch.

Der Wecker riss Hazel aus einem wunderschönen Traum. Sie tanzte auf einer grossen Bühne im warmen Scheinwerferlicht vor einem begeisterten Publikum, das von den Stühlen aufsprang und zum Takt in die Hände klatschte. Hazel setzte sich schlaftrunken auf und sah sich um. Ihre Mutter war nicht zurückgekommen, das spürte sie sofort. Dennoch ging sie noch einmal suchend durch alle Zimmer der kleinen Mietwohnung. Langsam wurde sie nervös. Sie riss den Umschlag der Schulleiterin auf und las das Schreiben an ihre Mutter. Sie wurde darin aufgefordert, einen der folgenden drei Termine anzukreuzen, da ein Gespräch über Hazels Verhalten dringend von Nöten sei. Hazel kreuzte den dritten an, der lag am weitesten entfernt, und unterschrieb mit dem Namen ihrer Mutter. Sie wollte nicht, dass die Schulleiterin Frau Gabriel anrief. Vielleicht war ihre Mutter am Nachmittag ja wieder zu Hause; dann brauchte niemand zu erfahren, dass sie Hazel eine Nacht lang allein gelassen hatte. Sie war ja schliesslich kein kleines Kind mehr.

Den Umschlag gab sie gleich vor der ersten Unterrichtsstunde ihrem Klassenlehrer ab, um der Schulleiterin nicht in die Augen schauen zu müssen. Sie hielt den ganzen Tag lang den Kopf unten, liess im Matheunterricht die Tirade des Lehrers über sich ergehen – der kleine Teil der Aufgaben, den sie gemacht hatte, war mehrheitlich falsch – und ignorierte das Kichern hinter sich.

Zu Mittag hatte Hazel keinen Appetit und keine Lust, in den lauten Schulhort voll kleiner Kinder zu gehen, auch wenn sie wusste, dass ihr Nicht-Erscheinen für weiteren Ärger sorgen würde. Sie kaufte sich stattdessen ein Sandwich vom letzten Geld und zog sich zum Fahrradunterstand zurück, wo ein paar ältere Schüler herumhingen und rauchten, sie aber in Ruhe liessen, als sie merkten, dass sie sich nicht von ihnen necken liess.

Hazel brachte die Nachmittagslektionen hinter sich, ohne sich konzentrieren zu können, und hätte sich deswegen beinahe noch eine Strafarbeit eingefangen. Je näher das Ende des Schultages rückte, umso angespannter war sie. Sie fragte sich, ob ihre Mutter schon wieder zurückgekommen war und wie es ihr ging. Und was sie machen sollte, falls ihre Mutter immer noch nicht da war.

Der Nachhauseweg dauerte doppelt so lange wie sonst. Hazel hatte plötzlich das Bedürfnis, noch im nahegelegenen Park vorbeizufahren und ein paar Freerun-Runden über Parkbänke, Mäuerchen und Abfalleimer zu üben, bevor sie endgültig nach Hause ging. Das würde ihrer Mutter noch etwas mehr Zeit geben, wieder in Ordnung zu kommen.

Zuhause stellte Hazel fest, dass sie immer noch alleine war. Der Anrufbeantworter blinkte. Es war der Hausarzt, der ihre Mutter um einen Rückruf bat. Hazel rang mit sich und ihrer langsam aufkeimenden Panik, die dann allerdings schlagartig überhand nahm. Hazel begann zu zittern. Sie tigerte noch eine Weile durch die leere Wohnung, bevor sie sich eingestand, dass kein Weg darum herum führte, Frau Gabriel anzurufen. Ihre Handynummer hing am Kühlschrank und Hazel wählte mit zitternden Fingern.

»Hier Gabriel, wer ist am Apparat?«

»H-hazel Miller.«

»Hazel?« Die Stimme der Beiständin bekam eine besorgte Note. »Ist etwas passiert?«

»Ich weiss nicht. Meine Mutter ist nicht zuhause.«

»Vielleicht ist sie noch bei der Arbeit. Hat sie keine Nachricht geschrieben?«

»Nein. Ich glaube nicht, dass sie arbeitet.«

»Seit wann ist sie weg?«

»Seit gestern.«

Eine Weile herrschte Stille in der Leitung, dann räusperte sich Frau Gabriel. »Okay, Hazel, es ist gut, dass du angerufen hast. Wir machen Folgendes. Ich rufe in der Reinigung an und frage, ob deine Mutter dort ist oder ob jemand weiss, wo sie sein könnte. Kannst du inzwischen deine Tasche packen? Ich gebe Rosa-Ana Bescheid. Dann hole ich dich ab und bringe dich zu ihr.«

Hazel schwieg.

»Hazel?«, hörte sie Frau Gabriels Stimme. »Bist du noch am Telefon?«

»Ja.«

»Versuch dir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Wir finden deine Mutter schon wieder.«

»Okay.« Hazels Stimme war zu einem Flüstern geschrumpft. Sie lauschte noch eine Weile dem Freizeichen in der Leitung, dann ging sie in ihr Zimmer. Kurz überlegte sie, ob sie einfach nach draussen gehen sollte, aber schliesslich holte sie ihre Sporttasche aus dem Schrank und packte ein, was sie einpacken musste, frische Wäsche, Zahnbürste und Zahnpasta, einen Kamm, das Duschgel ihrer Mutter, das Turnzeug für übermorgen und ihr Kissen.

4. Kapitel

Nachdem sie gepackt hatte, verfiel Hazel in Hektik. Sie machte die Betten, stellte das saubere Geschirr in den Schrank und reinigte Tisch und Chromstahl, bis sie glänzten, warf die herumliegenden Kleider in den Wäschekorb und lüftete die Wohnung. Es sah ordentlich und sauber aus und niemand würde ihrer Mutter vorwerfen können, dass sie den Haushalt nicht im Griff hatte.

Anschliessend zog sie mit einem schlechten Gewissen Catherines Nachttischschublade auf und griff nach der Aluminiumdose, die zuhinterst stand. »Nur für Notfälle«, hatte ihre Mutter ihr immer eingeschärft. Hazel konnte nicht genau sagen, woran es lag, aber heute schien der passende Tag zu sein. Sie blickte kurz hinein und vergewisserte sich, dass die Dose voll mit Geldscheinen war, dann stopfte sie sie zu ihren Kleidern in die Tasche. Im besten Fall konnte sie sie einfach wieder zurückstellen.

Als es in der Wohnung nichts mehr weiter zu tun gab, breitete Hazel ihr Mathematikbuch auf dem Küchentisch aus und begann zähneknirschend mit den Hausaufgaben vom Vortag. Richtig konzentrieren konnte sie sich nicht. Zum Glück dauerte es nicht allzu lange, bis es klingelte. Es war Frau Gabriel. Hazel drückte auf den Summer, ging zurück in die Küche und setzte sich wieder an ihre Aufgaben. Sie blickte mit einem leisen Seufzer hoch, als Frau Gabriel zu ihr in die Küche kam.

»Hallo Hazel«, begrüsste die Beiständin sie, und Hazel registrierte zufrieden, wie ihr Blick durch die geputzte Küche schweifte und dann an Hazel und ihren Hausaufgaben hängenblieb. Hazel nickte ihr zur Begrüssung zu und sah sie abwartend an.

Frau Gabriel setzte sich ihr gegenüber an den sauberen Küchentisch, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Finger ihrer Hände gegeneinander. »So, Hazel«, begann sie nach kurzem Zögern. »Deine Mutter war weder gestern noch heute bei der Arbeit. Sie hat gestern Morgen angerufen und sich krank gemeldet. Hast du eine Ahnung, wo sie sein könnte?«

Hazel schüttelte den Kopf und starrte in ihr Mathebuch. Wenn sie eine Ahnung hätte, hätte sie bestimmt nicht die Beiständin angerufen.

»Sie war also schon gestern, als du von der Schule kamst, nicht hier?«

Hazel nickte.

»Hast du versucht, sie anzurufen?«

Hazel nickte erneut. Sie war ja nicht blöd!

»Und?«

»Sie hat das Handy zuhause vergessen. Es lag in ihrem Bett. Ich habe es erst am Abend bemerkt.«

»Und wieso hast du mich nicht bereits gestern Abend informiert?«

»Ich dachte, sie kommt eben etwas später heim. Ich bin früh ins Bett. Und heute Morgen musste ich zur Schule«, verteidigte sich Hazel. »Ich hatte keine Zeit. Ausserdem … ich dachte, sie ist vielleicht wieder zurück, bis ich nach Hause komme.« Hazel merkte, wie ihr die Angst die Kehle zuschnürte.

»Weisst du, ob sie zu Fuss weg ist oder mit dem Auto?«

Hazel schüttelte den Kopf. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Ein Blick ans Schlüsselbrett hinter der Eingangstür und ein zweiter in den Hinterhof, wo sich die Parkplätze der Mieter befanden, zeigte allerdings schnell, dass Catherine mit dem Auto weg war.

»Vielleicht ist sie zum Arzt«, meinte Hazel unsicher und starrte auf den rissigen Asphalt des Hinterhofs. »Er hat heute auf den Anrufbeantworter gesprochen.«

»Was wollte er?«

Hazel zuckte mit den Schultern. »Sie sollte zurückrufen, mehr hat er nicht gesagt.«

»Kennst du die Autonummer deiner Mutter?«

Hazel schob die Unterlippe vor. »Ich weiss nicht. Es ist ein alter Ford, weiss.«

»Was für ein Modell?«

Hazel schluckte hörbar. »Ein Fiesta«, antwortete sie, aber es klang mehr nach einer Frage. »Ich bin mir nicht sicher«, schob sie nach.

Frau Gabriel lächelte sie aufmunternd an. »Keine Sorge, wir finden sie schon.« Sie schickte Hazel zurück in die Wohnung. »Hol deine Tasche, schau ob alle Fenster zu sind und schliess die Tür ab«, bat sie. »Ich warte vor dem Haus auf dich«.

Als Hazel im Haus verschwunden war, zog sie ihr Mobiltelefon hervor, wählte die Nummer der Polizei und gab Automarke und Farbe durch, den Namen der vermissten Person, Alter, Haarfarbe, Grösse.

Sonstige Anhaltspunkte?

Nein, es gab keine Hinweise darauf, wo Catherine Miller sich aufhalten könnte.

Ob sie bei Verwandten oder Freunden nachgefragt hatte?

»Nein, Catherine hat keine Familie mehr. Ausser ihrer Tochter.«

Ob die etwas wisse?

»Nein, sie weiss nichts. Jetzt hören sie mal gut zu. Das Mädchen ist zwölf und ist seit gestern allein in der Wohnung. Ihre Mutter ist psychisch krank, sie leidet unter Depressionen und steht unter Medikamenteneinfluss. Suchen Sie die Frau!«

Frau Gabriel steckte gerade ihr Telefon in ihre Handtasche, als Hazel aus dem Haus trat. Sie hatte eine Sporttasche und ihren Schulrucksack in der Hand. Frau Gabriel lächelte ihr beruhigend zu und nahm ihr die Tasche ab. »Komm, mein Auto steht gleich dort drüben. Ich fahr dich zu Rosa-Ana, sie erwartet uns bereits.«

Rosa-Ana Diener war Brasilianerin mit Leib und Seele. Und Mutter. Und weil sie so viel Liebe und Energie in sich trug, reichte es neben ihren drei Kindern für weitere Pflegekinder, wann immer Not an der Frau war. Hazel war schon mehr als einmal bei ihr gewesen. Das erste Mal, als ihre Mutter zehn Wochen in eine Klinik hatte gehen müssen. Damals hatte Rosa-Anas Mann noch im Haus gelebt. Inzwischen war er ausgezogen und lebte in einer anderen Stadt mit einer anderen Frau. Die drei Kinder waren bei Rosa-Ana geblieben.

Sie hatten Hazel bei ihrem ersten Aufenthalt intensiv in der Capoeira unterrichtet und die damals sechsjährige Hazel hatte ihre Leidenschaft für Bewegung und Musik entdeckt. Es war ein toller Sommer gewesen, bis die Schule angefangen hatte; doch Rosa-Ana oder ihre älteste Tochter Lisa hatten Hazel jeden Morgen mit dem Tram bis zu ihrem Schulhaus gebracht und dort auch wieder abgeholt.

Anfangs hatte Hazel bei der jüngsten Tochter, Tonia, im Zimmer geschlafen. Sie war fast gleich alt, ging aber auf die Schule im Quartier. Als Herr Diener ausgezogen war, verwandelte Rosa-Ana sein ehemaliges Büro in ein Kinderzimmer für ihre Pflegekinder. Jedes der Kinder, das regelmässig zu ihr kam, hatte seine persönliche Bettwäsche, und Hazel spürte, wie ihr warm wurde, als sie das Zimmer im zweiten Stock betrat und ihr Bett bereits auf sie wartete.

Sie setzte sich im Schneidersitz darauf und wartete, bis Frau Gabriel nach einem kurzen Gespräch mit Rosa-Ana gegangen war und sie die Tür ins Schloss fallen hörte, dann konnte sie die Angst nicht mehr länger zurückhalten, die ihr seit heute Morgen, als sie alleine aufgewacht war, wie ein Kloss im Hals steckte. Sie rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen und begann zu schluchzen.

Tonia kam aus ihrem Zimmer nebenan und setzte sich zu ihr. Kurz darauf war auch Rosa-Ana wieder da und gemeinsam sassen sie neben Hazel auf dem Bett und Rosa-Ana streichelte ihr beruhigend über den Rücken. Als Hazel aufgehört hatte zu weinen, liess Rosa-Ana die beiden Mädchen alleine und ging Tee kochen und Abendessen zubereiten.

Als Hazel zwei Stunden später am Familientisch von Rosa-Ana sass, neben ihr Tonia, ihr gegenüber Lisa und Boris, die beide von ihrer Arbeit in ihren Lehrbetrieben nach Hause gekommen waren, musste sie erneut gegen Tränen ankämpfen. Lisa reichte eine Schüssel mit Salat herum, Boris schenkte Wasser ein und Rosa-Ana schöpfte von ihrem Hähnchen-Stew mit Erdnussbutter und den Ofenkartoffeln. Hazel sog dieses Gefühl in sich auf, Teil einer Familie zu sein. Sie spürte erst jetzt, wie sehr sich das von dem Leben unterschied, das sie und ihre Mutter führten, und wie sehr sie es vermisst hatte.

Boris erzählte von seiner Ausbildung zum Hochbauzeichner, und Lisa von ihrer Arbeit als Pflegefachfrau. Sie wollte im Sommer nach Abschluss ihrer Ausbildung erst einmal ein Jahr frei nehmen und auf Reisen gehen.

Hazel hörte bewundernd zu, wo Lisa überall hinreisen wollte, zuerst einmal alle Verwandten in Brasilien besuchen, dann quer durch Südamerika, später nach Japan, wo eine Freundin von ihr ein Austauschjahr machte, und wenn das Geld noch reichte, stand noch Australien auf ihrer Wunschliste. Hazel schoss durch den Kopf, dass sie Lisa lange nicht mehr sehen würde. Sie würde sie vermissen.

Als alle satt waren, stellte Rosa-Ana die Teller zusammen und sah in die Runde. »Wer hat noch was zu tun?«, erkundigte sie sich.

Tonia sollte noch Englischwörter lernen und ein Kapitel in der Klassenlektüre lesen. Lisa wollte noch für eine Freundin, die bald Geburtstag hatte, einen Gutschein malen und Boris musste noch Aufgaben für die Schule erledigen.

»Und was ist mit dir, Hazel?«

Hazel war versucht, ganz zu vergessen, dass sie noch Aufgaben hatte, seufzte schliesslich aber tief und gestand: »Ich habe noch Matheaufgaben und wir schreiben morgen ein Diktat.«

»Brauchst du Hilfe?«

Hazel schlug die Augen nieder und nickte. »Ich verstehe die Matheaufgaben nicht.«

»Soll ich sie mit dir anschauen?«, bot Boris an.

»Was ist mit deinen eigenen Aufgaben?«, mahnte Rosa-Ana.

»Ich muss nicht viel machen, eine halbe Stunde reicht bestimmt.«

Rosa-Ana nickte. »Gut, dann machen Hazel und ich zuerst das Diktat, während du deine Aufgaben erledigst, und danach kannst du Hazel bei den Matheaufgaben helfen und ich frage Tonia die Englischwörter ab. Lisa …«

Lisa seufzte und zog eine Grimasse. »Ja, schon verstanden, ich mache die Küche.«

Hazel staunte, als Boris ihr die Matheaufgaben erklärte. So schwierig waren sie gar nicht. Es war bloss ihr Kopf, der ein heilloses Durcheinander gemacht hatte. Doch wenn jemand wie Boris es erklärte, klang es plötzlich wie die einfachste Sache der Welt. Deshalb zog Hazel rasch noch ihr Geometrieheft hervor, schlug es auf und schob es Boris hin.

»Meinst du, du kannst mir hierbei auch noch helfen?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Boris schmunzelte. »Das musste Tonia letzte Woche auch machen. Sie hat genau dasselbe Lehrmittel wie du.« Er blickte auf die Uhr.

»Musst du weg?«, fragte Hazel vorsichtig.

»Nein, wir wollten bloss hinterher noch einen Film schauen, den Lisa von einer Freundin ausgeliehen hat.« Er sah sich die Aufgaben an, die Hazel angefangen, aber nicht zu Ende gebracht hatte. »Naja, das haben wir schnell. Kennst du Dance?«

Hazel schüttelte den Kopf.

»Den schauen wir nachher. Mama hat heute Morgen glaube ich sogar noch Muffins gebacken. Jedenfalls hatte sie das vor.«

Während Hazel zwischen Tonia und Rosa-Ana auf der Couch lag und Antonio Banderas dabei zusah, wie er seine unfreiwilligen Schüler im Paartanz unterrichtete, fand die Polizei den verwaisten Wagen ihrer Mutter in der Nähe eines kleinen Sees. Die Beamten durchkämmten das angrenzende Waldstück und suchten im Auto nach Hinweisen über Catherines Verbleib. Frau Gabriel hatte vor Feierabend noch den Hausarzt erreicht. Er hatte sich auf sein Arztgeheimnis berufen und keine Auskunft über den Grund seines Anrufes bei seiner Patientin geben wollen. Als Frau Gabriel erklärte, dass Catherine seit dem Vortag vermisst wurde, riet er allerdings, sie schnellstmöglich zu finden, da sie auf ihn einen äusserst labilen Eindruck gemacht hatte. Er gab Frau Gabriel seine Privatnummer für alle Fälle.

Als Hazel am nächsten Tag im Tram zu ihrer Schule fuhr, ging die Suche weiter. Die Polizei hatte zwei Taucher in Anzügen angefordert, da sie nicht ausschliessen konnten, dass Catherine in den eisigen See gegangen war. Am frühen Nachmittag bestätigte sich dieser Verdacht, als die Taucher ihre Leiche fanden. Da keinerlei Gewalteinwirkung erkennbar war, und angesichts der schlechten psychischen Verfassung, in der sich die Frau laut ihres Arztes befunden hatte, musste man von einem Suizid ausgehen. Sie war an jenem Morgen tatsächlich noch bei ihm zu einem Gespräch gewesen und er hatte sie dringend gebeten, sie ein weiteres Mal für eine stationäre Behandlung in eine Klinik überweisen zu dürfen. Sie hatte sich gegen die Idee gewehrt, ihre Tochter für so lange Zeit in Pflege zu geben, hatte aber versprochen, es sich zu überlegen und sich am nächsten Tag noch einmal zu melden.

Frau Gabriel musste sich erst einmal setzen, als sie von der Polizei über Catherines Tod erfuhr. Sie brauchte einige Minuten, um sich zu sammeln, bevor sie mit zitternden Fingern Rosa-Anas Nummer wählte. Die beiden Frauen trafen sich und fuhren gemeinsam zu Hazels Schule. Frau Gabriel informierte die Schulleiterin, die sich schockiert zeigte und versprach, Hazels Klassenlehrer Bescheid zu geben, während Rosa-Ana und Frau Gabriel vor dem Schulhaus in angespanntem Schweigen auf Hazel warteten.

Als Hazel aus dem Schulhaus trat und die beiden mit ernster Miene auf dem Schulhof stehen sah, gaben ihre Beine nach und sie sank kraftlos zu Boden. Die Umwelt schien sich vor ihren Augen in Luft aufzulösen; sie nahm Rosa-Ana und Frau Gabriel nur noch schemenhaft wahr, während sie auf sie zukamen und neben ihr in die Knie gingen. Hazel verstand kein Wort von dem, was Frau Gabriel sagte, sie spürte nur Rosa-Anas Arme um sich.

5. Kapitel

Mason betrat gerade das Wohnzimmer, als das Telefon klingelte.

»Kannst du?«, bat Sandra, die sich soeben mit einem Buch auf die Couch gelegt hatte.

Mason griff zum Hörer. »Taylor.«

»Mason Taylor?«

»Das bin ich, ja. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Name ist Gabriel. Ich bin Hazels Beiständin«, erklärte die Frau am Telefon. Mason schwankte leicht, fasste sich aber sogleich wieder und verliess mit einem entschuldigenden Lächeln in Sandras Richtung das Wohnzimmer.

»Herr Taylor? … Sind Sie noch da?«

»Ja …« Mason räusperte sich. »Die Verbindung ist nicht gut. Ich höre Sie schlecht. Vielleicht wenn ich vor das Haus gehe …« Er nahm mit einer Hand seine Jacke von der Garderobe im Flur, öffnete die Haustür und zog sie hinter sich zu. »Jetzt ist es besser«, meinte er und versuchte umständlich, mit dem Telefon am Ohr in seine Jacke zu schlüpfen. »Frau Gabriel?«

»Ja, ich bin Hazels Beiständin.«

»Richtig, das haben Sie bereits gesagt. Tut mir leid, ich bin etwas verwirrt. Ich habe mit Hazel … äh … wenig zu tun. Ihre Mutter hat das alleinige Sorgerecht. Wenn mit Hazel etwas nicht in Ordnung ist, sollten Sie wohl mit ihr –«

»Herr Taylor«, unterbrach die Frau ihn knapp. »Hazels Mutter ist vorgestern tödlich verunglückt.«

Mason erstarrte. Ihm wurde schwindlig. Er war froh um die kalte Novemberluft, die seine Lungen füllte. Dann sank er auf die Stufen vor seinem Haus. »Wie?«, fragte er. »Was ist passiert?«

Frau Gabriel schien einen Augenblick zu zögern. »Ich weiss nicht, wie Ihr Kontakt zu Frau Miller war …«

»Sporadisch per E-Mail«, fasste Mason ihre Beziehung zusammen. »Sie wollte mich vor kurzem treffen, um etwas persönlich mit mir zu besprechen, erschien allerdings nicht zum Treffen und hat sich hinterher auch nicht mehr gemeldet. Was ist passiert?«

»Sie wussten, dass Catherine Miller psychische Probleme hatte?«, erkundigte sich Frau Gabriel vorsichtig.

»Ja, das war mir bekannt.«

»Sie ist ertrunken.«

»Ertrunken?!« Mason schluckte. »Wie kann …«

»In einem See.«

»Aber … bei der Kälte.«

»Die Polizei geht von einem Suizid aus.«

Mason schloss die Augen. Für einen Augenblick sah er Catherine vor sich, dreizehn Jahre jünger, die lebensfrohe, lachende junge Frau, die ihn mit ihrer Unbekümmertheit in ihren Bann gezogen hatte. Und dann sah er unvermittelt Hazel vor sich, wie sie vor wenigen Tagen verloren auf der roten Lederbank gesessen und ihn angesehen hatte.

»Herr Taylor?«

»Ich bin noch am Apparat … Entschuldigen Sie! Das … ist ein Schock! Tut mir leid, ich … Was geschieht jetzt mit … Hazel?«

»Deshalb rufe ich an. Rechtlich gesehen tragen Sie ab sofort die alleinige elterliche Sorge. Ich möchte gerne so bald wie möglich einen Termin mit Ihnen vereinbaren, damit wir sämtliche Fragen klären können, die Hazels Zukunft betreffen.«

Mason drehte den Kopf und sah zu seinem Haus hoch. »Ich … ich kann nicht …«, stammelte er. »Ich kann jetzt nicht einfach –«

»Im Moment ist Hazel bei der Pflegefamilie, bei der sie schon ein paarmal war«, beruhigte Frau Gabriel ihn. »Sie ist dort fürs erste in besten Händen, machen Sie sich keine Sorgen. Die Familie kennt Hazel schon lange und kümmert sich gut um sie. Ich schlage vor, wir treffen uns nächste Woche in meinem Büro. Ich kann verstehen, dass das für Sie ein Schock ist; Kinder bedeuten eine grosse Verantwortung und verändern unser Leben grundlegend.«

Mason wollte ihr sagen, dass er durchaus aus erster Hand wusste, wie viel Verantwortung Kinder bedeuteten, brachte aber nur ein knappes »Nächste Woche also« heraus.

»Jawohl. Ich werde mich noch einmal melden wegen eines Termins.«

»Könnten Sie … Kann ich Ihnen die Nummer von meinem Geschäftshandy angeben? Ich … bin oft unterwegs, Sie erreichen mich zuhause eigentlich praktisch nie«, warf Mason ein und gab Frau Gabriel die Nummer seines Geschäftshandys durch. Dieselbe, die er auch Hazel für Catherine gegeben hatte. »Falls ich nicht rangehen kann, rufe ich umgehend zurück«, versprach er. »Nur nicht zu Hause anrufen!«

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten«, erwiderte Frau Gabriel nach kurzem Zögern. »Aber erlauben Sie mir eine Frage: Haben Sie eine Familie?«

»Ja!« Mason fuhr sich nervös mit der Hand durch die Haare. »Ich bin verheiratet.«

»Nun, dann würde ich Ihnen empfehlen, mit Ihrer Frau zu sprechen. Die anstehenden Entscheidungen und Veränderungen betreffen sie genauso wie Hazel und Sie.«

»Selbstverständlich«, murmelte Mason tonlos. »Das werde ich. Wissen Sie schon, wann die Beerdigung stattfinden wird?«

»Noch nicht, aber ich kann Ihnen Bescheid geben, sobald es feststeht. Entschuldigen Sie die Störung. Guten Abend.«

»Ihnen auch«, murmelte Mason, dann liess er die Hand sinken. Das Telefon rutschte ihm aus den Fingern und fiel scheppernd zu Boden.

So fand ihn seine Frau, als sie kurz darauf auf der Suche nach ihm die Tür öffnete. Mason hatte das Gesicht in beide Hände vergraben und zitterte.

»Mason, was ist los?«, fragte sie besorgt und ergriff seine eiskalten Hände.

»Ach… Achtung, das Telefon«, murmelte Mason heiser und deutete auf den Boden.

Sandra folgte seinem Blick. Sie wäre beinahe auf das Telefon getreten, das auf der zweiten Stufe lag. Das Batteriefach war aufgesprungen, die zwei Batterien lagen auf der nächsten Stufe. Sie klaubte alles zusammen und sah ihren Mann besorgt an.

Er schüttelte sich, als werfe er eine unangenehme Erinnerung ab. »Entschuldige, Schatz. Das war die Frau eines ehemaligen Schulfreundes von mir. Er ist vorgestern gestorben. Sie bat mich, an die Beerdigung zu kommen und ein paar Worte zu sagen.«

Sandra war sichtlich betroffen. »Wenn du willst, kann ich dich begleiten«, bot sie sofort an und ergriff seine Hand. »Komm, es ist viel zu kalt hier draussen.«

Mason erhob sich mit einem tiefen Seufzer und folgte ihr ins Haus. Er hängte seine Jacke auf und schenkte sich im Wohnzimmer ein grosszügiges Glas Whisky ein.

»Wer ist es denn?«, fragte Sandra. »Nicht etwa Thomas?«

Mason schüttelte den Kopf. »Du … du kennst ihn nicht. Wir hatten schon lange keinen Kontakt mehr. Wir waren in der Primarschule eng befreundet. Ich habe ihn … an der Klassenzusammenkunft letztes Jahr wieder getroffen. Wir sind ins Gespräch gekommen … So jung«, murmelte er. »Schrecklich!«

»War er krank?«

Mason sah verwirrt hoch. »Krank?« Er stockte einen Augenblick, dann nickte er. »Ja, offenbar Krebs. Bauchspeicheldrüse. Erst vor kurzem entdeckt. Es ging wohl alles ziemlich schnell.«

Sandra setzte sich ihm gegenüber. »Hat er Kinder?«, erkundigte sie sich teilnahmsvoll.

»Eine Tochter, ein bisschen jünger als Fynn.«

»Schrecklich!« Sandra sah ihn schockiert an. »Ich möchte mir das gar nicht vorstellen müssen! Wenn dir etwas passieren würde … Oder mir! Die Vorstellung, meine Kinder nicht aufwachsen zu sehen … Entsetzlich! Was für einen Eindruck machte seine Frau?«

»Sie … sie wirkte ziemlich gefasst?«

Sandra seufzte. »Gut, sie wird bestimmt all ihre Energie brauchen, um für ihre Tochter da zu sein.«

Mason nickte abwesend und starrte in sein Whiskyglas.

Als Mason sicher war, dass seine Frau schlief, stand er wieder auf. Er konnte nicht schlafen. In seinem Kopf drehten sich Fragen über Fragen. Er war erstaunt, beinahe entsetzt, wie leicht ihm das Lügen gegenüber Sandra gefallen war. Sandra wusste nichts von seiner damaligen kurzen Affäre mit Catherine und auch nicht von dem Kind, das aus dieser Affäre hervorgegangen war. Es war ein Fehltritt gewesen, den er bitter bereute. Er hätte sich hinterher ohrfeigen können, dass er sich nicht mehr Gedanken um die Verhütung gemacht hatte. Er war naiverweise davon ausgegangen, dass Catherine die Pille nahm. Er hatte ihr gegenüber nie verheimlicht, dass er verheiratet war und zwei Kinder hatte, und ihr auch ziemlich bald klar gemacht, dass er keine Absicht hatte, sich von seiner Frau zu trennen. Ob es ein Versehen von Catherine gewesen war oder sie die Schwangerschaft gewollt hatte, wusste er nicht.

Eine Abtreibung war für sie auf jeden Fall nicht in Frage gekommen und so hatte er, nachdem der Vaterschaftstest, auf dem er bestanden hatte, positiv ausgefallen war, beschämt die Vaterschaft anerkannt und mit Catherine eine Unterhalts zahlung vereinbart.

Da Catherines und sein Leben abgesehen von den monatlichen Zahlungen keinerlei Berührungspunkte aufwiesen, war es ihm nach Abbruch der Affäre eigentlich nie so vorgekommen, als belüge er seine Frau. Es war mehr ein Verschweigen gewesen, was, wie er sich jetzt am Küchentisch vor sich hin grübelnd eingestehen musste, auf dasselbe herauskam. Er konnte Sandra schlecht sagen: Du hast ja nie danach gefragt. Er hatte zwölf Jahre lange die Wahrheit vor ihr verheimlicht und vorhin hatte er eiskalt gelogen, einen Schulfreund erfunden, der an Krebs gestorben war und eine Frau und eine Tochter zurückliess, nur um seiner Frau nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Er hatte sie betrogen. Das war die ungeschminkte Wahrheit. Er hätte es ihr schon lange sagen sollen.

Mason stand auf, betrat sein Arbeitszimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Er nahm einen Notizblock zur Hand, setzte das Datum oben rechts und begann zu schreiben.

Liebe Sandra, ich habe dich betrogen. Er hielt inne und kaute nachdenklich auf dem Stift herum, bevor er fortfuhr: Als Fynn ein Jahr alt war. Kannst du dich erinnern? Er schlief sehr schlecht und raubte uns den letzten Nerv. Ich war unzufrieden mit meinem Job und fand noch nicht den Mut, mein eigenes Geschäft zu eröffnen. Ich hatte ja die Verantwortung für die zwei Kinder und dich, das hat mich vor Angst gelähmt. Du warst auch unglücklich, weisst du noch? Du wolltest wieder Teilzeit arbeiten gehen, aber Fynn hat deine ganze Energie aufgebraucht. Wenn ich abends nach Hause kam, hast du mir manchmal entnervt die beiden Buben in den Arm gedrückt und bist aus dem Haus geflüchtet, um endlich wieder einmal eine Stunde ungestört atmen zu können. Manchmal habe ich angerufen und vorgegeben, noch eine dringende Arbeit erledigen zu müssen, um den Augenblick aufschieben zu können, wenn ich nach Hause kommen musste.

Inzwischen flog der Stift über das Papier. Mason sah sich selbst, wie er in seinem ungeliebten Büro sass und schliesslich aufstand, um spazieren zu gehen. Ich fand eine gemütliche Bar, in der ich für einige Stunden vergessen konnte, wer ich war. Dort lernte ich eine junge Frau kennen, Catherine. Sie war ebenfalls gebürtige Amerikanerin, drüben aufgewachsen, in New Jersey. So hatten wir von Anfang an gemeinsamen Gesprächsstoff. Ihr Schweizerdeutsch mit Akzent erinnerte mich stark an das meiner Mutter, es fühlte sich so vertraut an. Ich habe meine Mutter wohl vermisst damals. Wir hätten ihre Hilfe brauchen können mit den beiden Buben. Ich glaube, sie wäre liebend gerne Grossmutter gewesen. Sie ist viel zu früh gestorben. Ich fühlte mich vom ersten Moment an wohl in Catherines Gegenwart. Es war alles so unbeschwert; sie hatte so viel Energie und riss mich mit. Ich vergass mit ihr für kurze Zeit einfach, wer ich war.

Wir trafen uns ein paar Mal, in der Bar, später bei ihr zuhause. Ein paar Wochen nur. Bis du anfingst, dich zu beklagen, dass ich so lange arbeitete. Du kannst dich noch erinnern, oder? Du hast mir vorgeworfen, mich hinter meiner Arbeit zu verschanzen und dich im Stich zu lassen, und mir gesagt, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ich kurz davor war, unsere Beziehung in den Sand zu setzen. Das hat mich aufgerüttelt. Ich habe Catherine erklärt, dass ich sie nicht mehr treffen wollte. Du und ich haben uns zusammengesetzt, haben besprochen, welche Erwartungen wir beide an uns selber und den anderen hatten, was wir beruflich machen wollten, wie wir die Kinderbetreuung besser organisieren und wo wir uns Hilfe holen konnten.