He Sees You When You´re Sleeping - Alta Hensley - E-Book

He Sees You When You´re Sleeping E-Book

Alta Hensley

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Beschreibung

Ich kenne sie besser, als sie sich selbst kennt. Ihre tiefsten Geheimnisse, ihre verborgensten Sehnsüchte. Sie weiß es nicht, doch ich beobachte sie – ohne je Fußspuren im Schnee vor ihrem Haus zu hinterlassen. Chloe Hallman, Influencerin, ist daran gewöhnt, die Feiertage allein zu verbringen, doch dieses Jahr ist alles anders. Jack, der Feuerwehrmann, geht ihr nicht mehr aus dem Sinn. Sie spürt die Dunkelheit, die er in sich trägt – und kann sich ihr nicht entziehen. Sie weiß nicht, ob sie sich nach ihm sehnt oder sich vor ihm fürchten sollte. An diesem Weihnachtsabend wird sie jedoch eine Entscheidung treffen müssen. Wird es ein Fest voller brennender Leidenschaft … oder der Beginn eines tödlichen Spiels mit einem Mann sein, dessen Liebe keine Grenzen kennt? Es ist die Nacht vor Weihnachten, und ich bin (nicht) allein im Haus... Eine erfolgreiche Influencerin und ein obsessiver Feuerwehrmann in der besinnlichsten Zeit des Jahres. Er entdeckt ihr dunkles Geheimnis, doch ist er ihr Retter, oder aber das Monster? - Für Fans von Morgan Bridges.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alta Hensley

He Sees You When You‘re Sleeping

Ausführliche Informationen über unsere

Autorinnen und Autoren und ihre Bücher

www.cinna-verlag.de

1. Auflage

Originalausgabe

Copyright © 2025 by CINNA Verlag, Bücherbüchse OHG, Siebenbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland

Copyright © 2024 by Alta Hensley, Published by arrangement with Avon, an imprint of  Harper Collins Publishers LLC

Dieses Werk wurde vermittelt durch: Agence Hoffman GmbH

Textredaktion: Tino Falke, Übersetzung ins Deutsche: Michaela Link

Covergestaltung: Caroline Keller / @caroline.dsign

Gesetzt aus der Adobe Caslon

Satz: CINNA Verlag unter Verwendung von Stockmaterial von Adobe Stock

(© liubov, © i‘m real design_work)

ISBN 978-3-911244-64-0

Inhalt

CONTENTWARNUNG

KAPITEL 1 – CHLOE

KAPITEL 2 – JACK

KAPITEL 3 – CHLOE

KAPITEL 4 – JACK

KAPITEL 5 – CHLOE

KAPITEL 6 – JACK

KAPITEL 7 – JACK

KAPITEL 8 – CHLOE

KAPITEL 9 – JACK

KAPITEL 10 – CHLOE

KAPITEL 11 – CHLOE

KAPITEL 12 – JACK

KAPITEL 13 – CHLOE

KAPITEL 14 – CHLOE

KAPITEL 15 – CHLOE

KAPITEL 16 – CHLOE

KAPITEL 17 – JACK

KAPITEL 18 – CHLOE

KAPITEL 19 – CHLOE

KAPITEL 20 - JACK

KAPITEL 21 – CHLOE

KAPITEL 22 – JACK

KAPITEL 23 – JACK

KAPITEL 24 – CHLOE

KAPITEL 25 – JACK

KAPITEL 26 – JACK

KAPITEL 27 – CHLOE

KAPITEL 28 – JACK

KAPITEL 29 – CHLOE

KAPITEL 30 – JACK

KAPITEL 31 – CHLOE

KAPITEL 32 – JACK

KAPITEL 33 – CHLOE

KAPITEL 34 – CHLOE

KAPITEL 35 – JACK

KAPITEL 36 – CHLOE

KAPITEL 37 – JACK

KAPITEL 38 – CHLOE

KAPITEL 39 – CHLOE

CONTENTWARNUNG

Diese Geschichte enthält Inhalte, die sensible Leser:innen emotional belasten könnten.

Dazu zählen unter anderem:

Stalking

Versteckte Kameras

Versuchte Vergewaltigung

Exhibitionismus

Erpressung

Spanking

BDSM

Voyeurismus

Pornografie

He Sees You When You‘re Sleeping bewegt sich bewusst in moralischen Grauzonen und lotet Grenzen aus. Wir empfehlen dieses Buch nur volljährigen Leser:innen, die sich mit den genannten Themen wohlfühlen oder bewusst mit ihnen auseinandersetzen möchten.

Bitte lies achtsam.

Stay Sinful xoxo deine CINNA Crew

KAPITEL 1 – CHLOE

Fa la la fucking la.

Ich kann nicht den ganzen Morgen im Bett bleiben und dem Tag ausweichen und doch liege ich da.

Die Lichterkette, die über die hohe, schneebedeckte Hecke draußen vor meinem Fenster gespannt ist, trägt wenig dazu bei, mich in die Stimmung für das zu bringen, was ich an diesem Tag erledigen muss. Die Spiegelbilder der funkelnden Lichter tanzen auf der vereisten Fensterscheibe und erschaffen eine Vielzahl verschiedener Farben. Aber es fühlt sich alles hohl an.

Ich atme tief ein und schmecke Tanne und Zimt von der Duftkerze, die ich habe brennen lassen, seit ich das erste Mal aufgewacht und bei dem Versuch gescheitert bin, in Arbeitslaune zu kommen.

Chloe Hallman, Influencerin, kann während der Feiertage kein Scrooge sein. Schon gar nicht als Markenbotschafterin für Moth to the Flame Designs, einer Schmuckfirma, die einen Großteil ihres Jahresumsatzes in der Weihnachtszeit macht.

Aber in diesem Moment bin ich alles andere als die geschliffene, immer fröhliche Chloe Hallman, die Instagram-Feeds und Social-Media-Profile ziert. Festlicher Jubel, freudiges Geplänkel und die lebhaften Fotos von mir, wie ich mich mit kirschroten Wangen mit Modeschmuck behänge, gehören sämtlich zum Job. Chloe Hallman ist eine Marke, eine Ikone des Frohsinns in den winterlichen Dezembertagen. Aber das bin nicht ich, nicht heute. Heute bin ich einfach nur Chloe.

Seufzend schlage ich die behagliche Patchworkdecke zurück und schwinge die Beine über die Bettkante. Meine Füße berühren den eisigen Holzboden, dann durchstöbere ich auch schon meinen Schrank nach einem passenden Outfit – vielleicht etwas in Grün und Rot, mit einem Hauch Gold. Ein Lächeln, das sich natürlich anfühlen sollte, zeigt sich, als ich einen ziemlich auffälligen Weihnachtspullover herausziehe.

Kann mir mal jemand erklären, warum Leute diese Dinger lieben?

Mein Telefon klingelt. Es gibt nur wenige Menschen in meinem Leben, die mich anrufen würden, statt eine Nachricht zu schicken, und ein Blick auf das Display zeigt mir, dass es Tante Sue ist. Natürlich. Wer sonst.

Ich zögere einen Moment lang, bevor ich den Anruf entgegennehme, der grellbunte Pullover baumelt noch immer in meiner anderen Hand.

»Hi, Tante Sue«, sage ich und versuche, ein wenig gute Laune in meine Stimme zu injizieren.

»Oh, Schätzchen! Ich bin so froh, dass ich dich erreicht habe. Ich weiß, dass du es dieses Jahr nicht zu Thanksgiving schaffen konntest, aber wir hätten dich wirklich schrecklich gern über Weihnachten hier. Ich weiß, dass Flüge im Moment grauenvoll teuer sind, aber ich habe gesehen, dass Southwest ein Sonderangebot für Phoenix hat, und der Kundendienst bei denen hat sich wirklich verbessert und … Also, wie dem auch sei, ich dachte, ich ruf dich mal an.« Ihre Stimme ist so warm und sirupartig wie eh und je.

Ich ziehe eine Grimasse und bin froh, dass sie mein Gesicht nicht sehen kann. »Ich weiß die Einladung wirklich zu schätzen, aber …«

»Ich bin mir darüber im Klaren, dass du gesagt hast, du seist allergisch gegen Katzen, aber dafür gibt es jetzt tolle Medikamente und …«

»Tante Sue«, unterbreche ich sie und kneife mir in den Nasenrücken. »Es geht nicht nur um die Katzen.«

Am anderen Ende der Leitung entsteht eine Pause, und ich kann fast hören, wie die Zahnräder sich in ihrem Kopf drehen. »Oh«, sagt sie eine Oktave tiefer.

»Ich habe zu dieser Jahreszeit wirklich viel zu tun.«

Es folgt ein peinliches Schweigen. »Ich weiß, dass deine Mutter nicht wollen würde, dass du über die Feiertage allein bist«, beginnt sie. »Und …«

»Tante Sue, bitte«, unterbreche ich sie, meine Stimme schärfer als beabsichtigt. Ich hole tief Luft und mäßige meinen Ton. »Ich weiß, du meinst es gut, aber ich bin nicht allein. Ich habe Freunde hier. Und Pläne.«

Es ist nicht ganz gelogen. Ich habe Freunde, auch wenn unsere Pläne eher von der Variante »Vielleicht trinken wir mal was zusammen« sind, nichts Konkretes.

»Na ja, falls du deine Meinung änderst …« Ihre Stimme verliert sich und es schwingt noch immer Hoffnung darin mit.

»Dann gebe ich dir Bescheid«, sage ich und weiß, dass ich es nicht tun werde.

Wir verbringen die nächsten zehn Minuten mit Updates und Small Talk aber ich kann ihre Enttäuschung noch immer spüren.

Als ich den Anruf beende, schlägt eine Welle von Schuldgefühlen über mir zusammen. Zum einen bin ich nicht allergisch gegen Katzen. Und ich könnte ohne Weiteres nach Phoenix fliegen. Meine Ausreden sind fadenscheinig. Ich weiß, Tante Sue meint es gut, aber der Gedanke, Weihnachten mit der Familie meiner Tante zu verbringen, umgeben von Erinnerungen an meine Eltern und daran, wie sehr wir alle die Feiertage geliebt haben, ist mehr, als ich ertragen kann.

Ich werfe den schrillen Pulli aufs Bett, lasse mich daneben auf die Matratze sinken, dann fahre ich mit den Fingern über die kratzige Wolle. Mom hätte dieses Monstrum geliebt. Sie hatte immer eine Schwäche fürs Dramatische, wenn es um festliche Bekleidung ging.

Ein plötzlicher Ruf von draußen unterbricht meine Gedanken. Schnell gehe ich zum Fenster und drücke das Gesicht gegen das vereiste Glas, um besser sehen zu können. Draußen liegt mein zweiundachtzig Jahre alter Nachbar in einem Schneehaufen, eine Schaufel neben sich.

Ich sehe zu, wie er stöhnend versucht, neben seinem schneegesäumten Weg zur Tür wieder auf die Beine zu kommen. Seinem alten Körper missfallen die Anstrengungen, und ich zucke mitfühlend zusammen.

»Bleiben Sie liegen, Mr Haven!«, rufe ich. »Ich komme raus und helfe Ihnen.«

Ich steige in das nächstbeste Paar Stiefel und halte kaum inne, um mir eine Jacke zu schnappen, bevor ich zur Tür hinauslaufe. Die eisige Winterluft von New York trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube, aber ich kämpfe mich hindurch und durch die dicke Schneeschicht, die uns der Sturm der vergangenen Nacht eingetragen hat.

»Sind Sie verletzt? Sie hätten mich um Hilfe bitten sollen«, tadle ich ihn, während ich nach sichtbaren Verletzungen Ausschau halte. »Wieso schaufeln Sie Ihren Gehweg selbst frei?«

»Ich wollte ihn frei machen, bevor der Postbote kommt. Hab nicht damit gerechnet, auf die Nase zu fallen.«

Ich schaue hinüber zu meinem freigeschaufelten Weg. Dank des Vermieters liegt darauf kaum ein Flöckchen Schnee. Weiß der Geier, warum er meine Seite unserer Doppelhaushälften freischaufelt und die von Mr Haven nicht.

»Sie hätten an meine Tür klopfen sollen, Mr Haven«, ermahne ich ihn, während ich versuche, ihn vom Boden hochzuziehen. Seine Hand zittert in meiner, zerbrechlich und kalt, und ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich drinnen herumgelungert habe, eingemummelt in meine Flanelldecke und in der Wärme der nach Zimt duftenden Kerze.

»Lassen Sie mich helfen«, ruft ein Mann, der mit seinem Hund Gassi geht, von der anderen Straßenseite. Seine massige Gestalt verschwindet fast unter mehreren Schichten von Thermokleidung, seine Wangen sind von der Kälte gerötet und die Mütze hat er tief über seine Ohren gezogen. Bei dem Hund handelt es sich um einen großen Husky, der aufgeregt mit dem Schwanz wedelt. »Sind Sie verletzt?«, fragt er, während er den Hund am Verandageländer festbindet und sich neben Mr Haven kniet.

»Ich glaube nicht«, antwortet Mr Haven mit zittriger Stimme vor Kälte oder vielleicht wegen des Sturzes.

»Ich bin Feuerwehrmann. Wenn Sie es mir erlauben, würde ich Sie gern kurz untersuchen, um sicherzustellen, dass nichts gebrochen ist, bevor wir Sie hochziehen«, bietet er an, und sein Atem gefriert in der Luft, während er spricht.

Seine Augen sind freundlich, ein leuchtendes Grün, das von dem weißen Winterwunderland absticht. Sein Blick schweift kurz zu mir und er schenkt mir ein kleines Lächeln, während er Mr Haven untersucht, der langsam wieder Farbe kriegt.

»Ich bin Jack«, stellt sich der Fremde vor, nachdem er sich davon überzeugt hat, dass Mr Haven keine ernsthaften Verletzungen davongetragen hat. Er hält mir eine Hand hin. Sein Name klingt vertraut, als sei er in den Winkel meines Geistes eingeritzt.

»Chloe«, antworte ich, schüttle ihm die Hand und rede mir ein, nur von der schneebeladenen Brise zu erschauern. »Und das ist Mr Haven. Jemand, der nicht hier draußen sein und seinen eigenen Gehweg freischaufeln sollte.«

Falten entstehen an seinen Augenwinkeln, als er lächelt, oder vielleicht zieht er eine Grimasse – schwer zu sagen. »Also schön, Mr Haven«, erklärt er und hilft dem Mann wieder auf die Füße. »Wie wär's, wenn Sie es für den Rest des Tages ruhig angehen lassen würden?« Er greift nach der Schaufel und fügt hinzu: »Sie lassen sich von Chloe ins Haus helfen und ich beende, was Sie angefangen haben.«

Mr Haven versucht zu protestieren, aber unser beider entschlossene Mienen sind offensichtlich zu viel für ihn. Mit einem verwirrten Kopfschütteln gibt er nach und stützt sich schwer auf meine Schulter, als wir langsam zu seiner Haustür gehen.

Der Husky, der offensichtlich fertig ist mit einer Runde neugierigen Schnupperns, schießt auf uns zu, um uns am Eingang abzufangen. Mit glitzernden, blauen Augen schmiegt er sich in Mr Havens unsicheren Griff und entlockt dem alten Mann ein echtes Lächeln.

Ich schaue Jack über meine Schulter hinweg an. Er schaufelt jetzt fleißig und sein breiter Rücken bewegt sich bei der Anstrengung. Es schneit wieder heftiger, dicke Flocken fallen stetig zu Boden und dämpfen die Geräusche der Stadt.

»Vielen Dank, Jack«, sage ich und der Wind weht meine Stimme zu ihm hinüber. Er hält inne, um meinen Dank mit einem Nicken und einer gehobenen Hand zur Kenntnis zu nehmen, bevor er weiterschaufelt.

Drinnen in Mr Havens Haus ist es warm und gemütlich und es riecht nach alten Büchern und Kaffee. Ich helfe ihm, seinen schweren Mantel und seine Mütze auszuziehen, und führe ihn zu seinem Sessel am Kamin, wo Miss Patches, seine Kalikokatze, sich zusammengerollt hat. Bei unserem Auftauchen hebt sie den Kopf und miaut entrüstet, als schelte sie uns dafür, ihren Frieden gestört zu haben. Als Mr Haven sich in die Kissen sinken lässt, stößt er einen schwachen Seufzer der Erleichterung aus.

»Ich werde Ihnen einen Tee machen, damit Sie sich aufwärmen können«, erkläre ich und gehe in die Küche. Ich fülle den Kessel mit Wasser und stelle ihn auf den Herd und die Gasflamme tanzt unter dem kalten Metall. »Warum haben Sie denn nicht darauf gewartet, dass der Vermieter Ihren Weg freischaufelt?«

»Dieser alte Kauz?«, sagt er aus dem Nebenzimmer. »Der taugt nur für eine Sache, nämlich zu Anfang des Monats unsere Miete in Empfang zu nehmen.«

»Das ist nicht wahr«, widerspreche ich. »Meinen Weg hat er freigeschaufelt. Das tut er eigentlich immer.« Er hat nicht nur nach jedem Unwetter meinen Gehweg freigeschaufelt, er hat auch die Weihnachtsbeleuchtung vor meinem Fenster aufgehängt. Na schön, nur eine einzelne, einfache Lichterkette auf meiner hohen Hecke, aber ich weiß die Anstrengung zu schätzen.

»Ha! Nicht dieser faule Narr. Ich kenne Lionel seit Jahren und dieser Mann hat keinen Fuß mehr auf dieses Grundstück gesetzt seit … wer weiß?«

Ich kehre mit dampfenden Pötten ins Wohnzimmer zurück. »Aber wenn er es nicht war, wer war es dann?«, frage ich und reiche Mr Haven seinen Tee.

Mr Haven kichert und hält den Pott zwischen seinen knorrigen Händen umfasst. »Vielleicht die Weihnachtswichtel. Oder Sie haben einen hilfsbereiten Stalker.«

KAPITEL 2 – JACK

An wie vielen Abenden habe ich das jetzt schon getan? Herumgelungert, beobachtet, gewartet. Es ist zu einer unbeherrschbaren Sucht geworden.

Ich hocke tief unter das Fenster geduckt und achte darauf, den Schnee nicht aufzuwühlen, der frisch gefallen ist, seit ich das letzte Mal heimlich den Weg frei geschaufelt habe. Ich darf keine Spuren hinterlassen, dass ich hier war.

Ich kann mich nicht davon abhalten herzukommen, Abend für Abend. Der Rausch, ungesehen zu beobachten, in ein Leben hineinzuspähen, das nicht mein eigenes ist, hat seine Haken tief in mich geschlagen. Ich sage mir jedes Mal, dass es der letzte Abend sein wird, dass ich mich von diesem Zwang befreien werde.

Aber ich kann nicht.

Aus irgendeinem Grund kann ich nicht aufhören.

Mein Atem formt kleine Wolken in der eisigen Luft, während ich langsam den Kopf hebe, um über das Fenstersims zu spähen. Das warme Licht von drinnen fällt heraus, ein starker Kontrast zu der Dunkelheit, die mich umhüllt. Und da ist sie …

Beim Blick auf dem Schnee um mich herum kehren meine Gedanken zu diesem Morgen zurück. Dass ich Chloe von Antlitz zu Antlitz gesehen habe. Ich habe sie berührt. Nur kurz, aber unsere Hände haben sich berührt. Ich kann noch immer die Wärme ihrer Haut spüren und die Weichheit ihrer Finger, als sie meine gestreift haben, während ich ihrem Nachbarn geholfen habe. Als ich Mr Haven heute Morgen der Länge nach ausgestreckt auf dem Schneehaufen gesehen habe, bin ich mir vorgekommen wie ein richtiger Mistkerl. Im Lauf der letzten Jahre habe ich aus drei Gründen Chloes Gehweg nach jedem Schneesturm freigeschaufelt.

Der erste Grund ist, dass Schnee Fußspuren bedeutet. Verräterische Fußspuren. Das Letzte, was ich brauche, sind Abdrücke meiner Stiefel, eine Spur geradewegs bis vor ihr Fenster.

Der zweite Grund ist, dass es mir Trost schenkt. Es erinnert mich an meine Kindheit, als meine Mutter noch lebte und wir eine kleine Familie waren. Ich habe Gehwege freigeschaufelt, um etwas zusätzliches Geld zu verdienen, damit ich meiner Mom in der Drogerie im Viertel schokoladenüberzogene Kirschen und ein Parfüm namens Charlie Blue kaufen konnte.

Der dritte Grund ist … Na ja … Ich will nicht, dass Chloe ausrutscht.

Und doch habe ich diesen armen Mann genau dieses Schicksal erleiden lassen.

In dem Moment, in dem ich dem Mann hochgeholfen habe, habe ich den Vorsatz gefasst, seinen Gehweg genauso sauber zu halten wie den von Chloe.

Die rote Katze des Nachbarn streift meine Beine, und ihr pelziger kleiner Leib strahlt unvermittelt Wärme in der Abendluft aus. Ich beuge mich vor, um sie wegzuscheuchen, und meine Hände zittern leicht von dem Adrenalin, das durch meine Adern rauscht.

»Schscht«, zische ich leise. »Du wirst mich noch verraten.«

Die Katze schaut nur blinzelnd mit leuchtenden Augen zu mir auf, bevor sie in den Schatten der hohen Hecke rings um das Grundstück davonschlüpft. Ich presse mich gegen die dornigen Zweige, das Herz noch immer hämmernd in meiner Brust, während ich versuche, mich zu sammeln.

Obwohl ich mich als Profi in diesem Stalkerspiel betrachte, bin ich nie wirklich entspannt. Die Angst, erwischt zu werden, ist immer da.

Diese Hecke ist das Einzige, das mich vor neugierigen Blicken verbirgt – die einzige Barriere zwischen mir und einer Entdeckung. Trotzdem weiß ich, dass ich jedes Mal, wenn ich draußen vor Chloes Schlafzimmerfenster stehe, ein enormes Risiko eingehe.

Ein Auto fährt auf der Straße vorbei, und Scheinwerfer gleiten über den Garten. Instinktiv ducke ich mich und mein Herz rast. Das Verandalicht des Nachbarn geht plötzlich an. Ich erstarre und wage kaum zu atmen. Hat mich jemand gesehen? Aber nein, es ist der Bewegungssensor. Trotzdem ist es eine krasse Erinnerung daran, wie heikel meine Position ist.

Ich sollte gehen. Ich weiß, dass ich gehen sollte. Aber ich kann mich nicht losreißen, nicht jetzt schon. Nur noch ein paar Minuten, sage ich mir.

Es sind immer nur noch ein paar Minuten.

Ich schaue auf meine Armbanduhr, deren leuchtende Zeiger mir sagen, dass mir noch eine Stunde bleibt bis halb zwölf – bevor die Lichterkette angeht. Ich muss das Beste aus meiner Zeit machen. Auf keinen Fall will ich mit Rot und Grün angestrahlt werden und Chloe einen Herzinfarkt bescheren, wenn sie sieht, dass ich sie von der anderen Seite der Glasscheibe aus anstarre. Aber zumindest für den Moment bin ich in der Dunkelheit und sie ist abgelenkt von ihrer Arbeit.

Die alten Fenster und das ebenso alte Haus verschaffen mir einen Vorteil und lassen die Geräusche von drinnen nach draußen dringen.

Ihre Stimme ist klar und munter. Sie sitzt vor ihrem Handy, das auf einem Ständer ruht, und ihr Gesicht strahlt vor Begeisterung, während sie über ihr neuestes Schmuckstück spricht.

»Leute, seht euch die hier an«, sagt sie und liebkost die mit roten Juwelen besetzte Kette, die auf ihrem perfekten Schlüsselbein ruht. »Sie ist klobig, aber perfekt für eine Weihnachtsparty. Hat einen gewissen Retrotouch, ist aber auch modern. Es ist die richtige Mischung, um einen tollen Gesprächsaufhänger abzugeben. Und das Rot passt genau zu all den Weihnachtsfarben, die wir zu dieser Jahreszeit tragen. Außerdem ist der Preis moderat. Ich würde der Kette auf jeden Fall zehn von zehn Punkten geben.«

Wegen meiner abendlichen Besuche weiß ich mehr über Schmuck, als irgendein Mann in meinem Beruf wissen sollte. Feuerwehrleute kennen sich mit Feuer und Rauch aus, nicht mit Gold und Silber. Aber Chloes Leidenschaft ist ansteckend und ich habe mich mehr und mehr zu ihr hingezogen gefühlt, ein Suchtfaktor, während die Abende sich immer länger hingezogen haben.

Ich kenne jedes Detail ihrer kurvigen Gestalt, die Art, wie sie sich aufrecht hinsetzt, wenn sie ein besonders schillerndes Stück präsentiert, oder wie sie sich eine lose Strähne ihres dunkelbraunen Haares hinters Ohr streicht, wenn sie über die Präsentation eines Schmuckstücks nachdenkt.

Ich habe mir ihren Zeitplan eingeprägt, ihre Angewohnheiten, wie ihre Augen aufleuchten, wenn sie wegen eines Stücks wirklich aufgeregt ist. Es ist zu einer Obsession geworden, mir bis spät in die Nacht ihre Schmuckvideos anzusehen, mein Gesicht in der Dunkelheit meiner Wohnung vom Handybildschirm beleuchtet.

Bis auf die Abende wie den heutigen, wenn ich in der Kälte draußen vor ihrem Fenster stehe. Beobachte. Meine Fantasie schweifen lasse. Stalke.

Ich habe mir ihre Videos so oft angesehen, dass ich bei ihren enthusiastischen Beschreibungen praktisch ihre Lippen lesen kann. Mein Atem bildet weiße Wolken, als ich näher heranhusche, darauf bedacht, ungesehen zu bleiben. Ich sollte gehen. Ich weiß, dass ich das sollte. Aber ich kann mich nicht vom warmen Schein ihres Zimmers losreißen, von ihrem Anblick, wie sie sich konzentriert auf die Unterlippe beißt. Nur noch ein paar Minuten, sage ich mir. Nur noch ein klein wenig länger.

»Das Nächste«, höre ich sie sagen, »ist etwas aus meiner persönlichen Sammlung.« Sie greift nach einer kleinen Samtschatulle und hält sie behutsam in beiden Händen.

»Die hat meiner Mutter gehört«, murmelt sie mit einer Sanftheit in der Stimme, die mir das Herz zusammenkrampft. »Ich schätze, ich teile das hier mit euch, weil … na ja, es ist Weihnachten. Und sie hat die Feiertage immer geliebt. Sie war normalerweise nicht der Typ, der sich in Schale geworfen oder extraschicke Kleider angezogen hat, aber Weihnachten hat sie es getan. Und Schmuck gehörte immer dazu.«

Sie öffnet die Schatulle langsam und achtet darauf, den Inhalt nicht durcheinanderzuschütteln. Ich muss meine Augen anstrengen, um von meinem Platz aus etwas zu sehen.

In der Schatulle liegt ein Ring mit einem Edelstein, der das Licht ihrer Lampe strahlend einfängt und bricht. Ein blauer Saphir, geschliffen in Form eines Ovals und umringt von kleinen Diamanten, glitzert zu mir herüber.

»Es ist nicht das wertvollste Schmuckstück der Welt«, sagt Chloe leise, fast ehrfürchtig. Sie nimmt den Ring aus seiner samtenen Halterung, um ihn ihren Followern zu zeigen. »Aber er hat ihr gehört. Und jetzt gehört er mir.«

Gewissensbisse verursachen mir Magenkrämpfe, als mir das Ausmaß meines unbefugten Eindringens bewusst wird. Trotz der räumlichen Entfernung, trotz der verborgenen Natur meiner Anwesenheit dringe ich in einen ihrer intimsten Momente ein – sie erzählt etwas Persönliches über ihre Familie.

Ja, sie erzählt es all ihren Followern, aber sie erzählt es nicht mir.

Und doch kann ich mich von dieser Szene nicht losreißen, als sie behutsam den Ring ihrer Mutter an ihren Finger steckt. Selbst aus dieser Entfernung kann ich sehen, dass ihr Tränen in die Augen steigen, während sie versucht, die Fassung zu bewahren.

»Aber genug von mir.« Sie blinzelt die Feuchtigkeit in ihren Augen plötzlich weg und zwingt sich für ihr Publikum zu einem Lächeln. »Lasst uns zu etwas Angenehmerem übergehen.«

Sie greift nach einem anderen Gegenstand auf ihrem Tisch, doch ich bin außerstande, mich darauf zu konzentrieren, was sie als Nächstes sagt.

Meine Gedanken versinken in einem Sumpf aus Schuldgefühlen und Verwirrung, einer Sehnsucht, die ich zu unterdrücken versucht habe. Im Schatten verborgen, fechte ich eine stumme Schlacht mit mir selbst aus, während Chloe ihre Aufnahme fortsetzt. Sie ahnt nichts von meiner Anwesenheit, aber ich bin eingeweiht in jedes Wort, das sie spricht, jedes Gefühl, das sie zur Schau stellt. Doch es geht nicht darum, dass ich ein stummer Zuschauer bin; es geht auch darum, wie sich diese gestohlenen Momente auf mich auswirken. Dass sie mich Dinge fühlen lassen, die ich noch nie zuvor bedacht habe.

»Also schön, los geht's. Das hier ist etwas verspielter und traditioneller für die Feiertage.« Sie hält ein Paar rentierförmiger, silberner Ohrringe hoch. Die Geweihe sind geschmückt mit winzigen, vielfarbigen Edelsteinen.

Plötzlich vibriert mein Handy in meiner Tasche und liefert eine unwillkommene Ablenkung. Eine Nachricht von meinem Chef – ein Gebäudebrand. Alle Mann werden gebraucht. Die Pflicht ruft. Es ist mein freier Abend, aber es ist nicht ungewöhnlich, dass ich solche Nachrichten bekomme oder dass meine Kumpel mich fragen, ob ich eine Schicht für sie übernehmen kann. Ich bin Single, habe keine Kinder oder familiäre Bedürfnisse, habe kein richtiges Leben, das der Rede wert wäre, und ehrlich, ich liebe meinen Job. Abgesehen davon, Chloe zu beobachten, habe ich kaum etwas auf dem Programm. Jämmerlich, ja, aber so ist es.

Der gute alte Jack ist für dich da.

Doch es zahlt sich aus, ein Workaholic zu sein. Ich habe einen Parkplatz am Revier einige Blocks von meiner Wohnung entfernt, was mir ein Vermögen spart.

Ich werfe einen letzten Blick auf Chloe und ritze diesen Moment in die Winkel meines Gedächtnisses ein. Sie lacht jetzt, an die Stelle ihres Kummers noch vor wenigen Momenten ist hemmungslose Freude getreten, als sie über das nächste Schmuckstück redet.

Als ich wenig später an ihrem Haus vorbeifahre, werfe ich noch einen Blick darauf. Die einzelne Lichterkette wird gleich anspringen, wie jeden Abend, wenn ich gegangen bin. Und wie immer verspreche ich mir, dass dies das letzte Mal sein wird, dass ich hergekommen bin, um Chloe von draußen zu beobachten.

Aber tief im Innern weiß ich, dass es eine Lüge ist.

Chloe Hallman ist meine Droge.

KAPITEL 3 – CHLOE

Auf der Fähre von St. George nach Manhattan lehne ich mich an die Reling und die salzige Brise peitscht durch mein Haar. Ich sollte hineingehen, da es arschkalt draußen ist, aber die Aussicht auf die Wand aus Glas und Stahl vor mir bereitet mich mental auf meine Meetings bei Moth to the Flame Designs vor. Ich muss noch einmal mein Schwindel-Spiel in allen Schritten durchgehen. Tief einatmen, tief ausatmen.

Ich bin ein kreatives Kraftwerk.

Meine Ideen sind frisch und innovativ.

Sie hätten mich nicht gebeten, ihre Markenbotschafterin zu werden, wenn ich nicht das gewisse Etwas hätte.

Ich kriege das hin.

Ich komme nur ein paarmal die Woche in die Firma, um den Schmuck abzuholen, den ich vorstellen soll, und um an einigen Meetings teilzunehmen. Man sollte meinen, ich hätte mich daran gewöhnt, aber ich habe immer das Gefühl, weit außerhalb meiner Liga zu spielen, wenn ich das Gebäude betrete und in den eleganten, schicken Räumen der Firma lande, bei den tadellos gekleideten Angestellten. Aber an diesem Ort wird von mir erwartet, dass ich mit meiner Social-Media-Präsenz blende und sie davon überzeuge, dass ich jeden Penny meines zugegebenermaßen großzügigen Vertrages wert bin.

In der Eingangshalle zupfe ich meinen Secondhand-Blazer zurecht – vintage und meiner Meinung nach trendig – und versuche, das Selbstbewusstsein zu kanalisieren, das ich auf der Fähre heraufbeschworen habe. Die Aufzugfahrt in den dreizehnten Stock fühlt sich endlos an und mein Magen schlägt währenddessen Purzelbäume.

Als sich die Türen öffnen, begrüßt mich der vertraute Duft von Leder und teurem Parfüm. Ich setze mein schönstes Influencerinnen-Lächeln auf, stolziere zur Rezeption, während meine todschicken Heels über den Marmorboden klappern.

»Guten Morgen, Chloe«, zirpt die Empfangsdame mit perfekten, schimmernden Zähnen. »Sloane erwartet dich im Verkaufsraum.«

»Danke, Marissa«, antworte ich und versuche, ihre Begeisterung nachzuahmen.

Die Tür zum Showroom ragt vor mir auf und ich hole ein letztes Mal tief Luft, bevor ich sie aufdrücke. Der Raum wird gebadet in sanftes, schmeichelhaftes Licht, das jedes Schmuckstück funkeln lässt wie Sterne.

Sloane, eine der Designerinnen und eine echte Freundin, steht in der Mitte des Raumes. Ihr rotes Haar ist zu einer eleganten Hochfrisur aufgesteckt. Sie dreht sich mit einem Lächeln zu mir um. »Wir haben so tolle neue Stücke für die Feiertage. Die musst du sehen.«

Als ich auf Sloane zugehe, wird mein Blick sofort von der blendenden Ansammlung von Schmuck angezogen, die auf mit Samt ausgekleideten Tabletts vor ihr ausgebreitet ist. Zarte Goldketten, verziert mit schimmernden Kristallen, kühne Statement-Stücke mit strahlenden Edelsteinen und kunstvoll entworfene Ringe, die das Licht aus jedem Winkel auffangen. Obwohl Moth to the Flame für erschwinglichen Modeschmuck steht, sind die Stücke immer elegant und haben eine Klasse, die mich umhaut. Es ist eine Schatztruhe der Schönheit, und einen Moment lang vergesse ich meine Unsicherheit.

»O mein Gott, Sloane«, hauche ich und mache große Augen, als ich die atemberaubende Kollektion mustere. »Die sind absolut zauberhaft.«

Sloane strahlt, ihr Stolz unübersehbar in ihren funkelnden Augen. »Wusste ich doch, dass du sie mögen würdest. In dieser Saison konzentrieren wir uns wirklich auf Vielseitigkeit und zeitlose Eleganz mit einem modernen Twist.«

Sie greift nach einer zarten, goldenen Kette, an der ein tränentropfenförmiger Mondstein hängt. »Dieses Stück zum Beispiel kann als einfacher Anhänger getragen werden oder« – sie hantiert geschickt mit dem Strang – »umfunktioniert zu einer Lassokette für einen dramatischeren Look.«

Ich nicke und stelle mir bereits die perfekte Methode vor, dieses anpassungsfähige Stück zu präsentieren. »Das ist genial. Meine Follower werden durchdrehen bei diesem Zwei-in-eins-Aspekt.«

Während Sloane mir weiter die Kollektion vorstellt, verschwindet meine anfängliche Nervosität und wird durch ehrliche Aufregung ersetzt. Das ist der Grund, warum ich liebe, was ich tue – der Kitzel, neue, schöne Dinge zu entdecken und das mit der Welt zu teilen. Meine Gedanken überschlagen sich bereits mit Ideen für Fotoshootings und Videokonzepte, um diese Stücke zu präsentieren.

»Und hier ist das Piece de Résistance«, erklärt Sloane mit einem schelmischen Glitzern in den Augen. Sie greift hinter sich und fördert ein Samtkästchen zutage, das sie mit einer schwungvollen Gebärde öffnet.

Darin liegt ein Paar Hänge-Ohrringe, das mir den Atem raubt. Sie bestehen aus einer Kaskade winziger, schillernder Opale, die das Licht einfangen und Regenbögen durch den Raum werfen. Das Design ist kunstvoll und doch modern, eine perfekte Balance aus Eleganz und Biss.

Opale waren der Geburtsstein meiner Mutter und ihr Favorit.

»Meine Mom wäre begeistert gewesen«, sage ich mehr zu mir selbst als zu Sloane.

»Ich erinnere mich daran, dass deine Mom Opale immer geliebt hat«, antwortet Sloane mit sanfter Stimme. »Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Stein gewählt habe, als ich das Stück hier entworfen habe. In Erinnerung an ihren tollen Geschmack.«

»Sloane …« Ich schlucke mein Gefühl herunter. »Die werden definitiv der Star der Weihnachtskollektion sein«, sage ich. Meine Stimme ist jetzt kräftiger, getränkt von neu gefundenem Selbstbewusstsein. »Ich habe so viele Ideen, wie ich sie präsentieren kann.«

Sloane grinst, offensichtlich erfreut über meine Reaktion. »Ich kann es gar nicht erwarten zu sehen, was du dir einfallen lässt. Deine Kreativität erstaunt mich immer wieder.«

Während wir weiter über die Kollektion reden und einige Ideen für die bevorstehende Social-Media-Kampagne brainstormen, schmelzen meine früheren Zweifel dahin. Ja, ich mag nicht in die Schablone der typischen High-Fashion-Influencerin passen, aber genau das ist es, was mich wertvoll macht. Meine einzigartige Perspektive und Fähigkeit, ein breit gefächertes Publikum zu erreichen, ist der Grund, warum Moth to the Flame sich für mich entschieden hat.

Als wir mit unserem Meeting fast fertig sind, schwirrt mir der Kopf vor Aufregung und Inspiration. Bedächtig packe ich die Musterstücke ein, die ich für meine Content-Kreation benutzen werde.

»Wir müssen bald mal wieder was trinken gehen«, sagt Sloane. »Ich hatte so viel zu tun, aber es hat mir gefehlt, dich außerhalb der Arbeit zu treffen.«

»Unbedingt«, stimme ich zu und Wärme breitet sich bei der Einladung in mir aus. »Vielleicht nächste Woche? Ich schreib dir.«

Auf meinem Rückweg zum Aufzug haben meine Schritte einen neu gefundenen Schwung. Die Unsicherheit, die mich vorhin geplagt hat, ist einem Gefühl von Entschlossenheit und Zugehörigkeit gewichen.

»Chloe!«, höre ich jemanden hinter mir rufen.

Seufz … Tyler …

Ich drehe mich widerstrebend um und setze ein höfliches Lächeln auf, als Tyler, der Marketing-Vize, auf mich zugeeilt kommt. Sein perfekt frisiertes Haar bewegt sich keinen Zentimeter, als er auf mich zuläuft und ein breites Grinsen aufblitzen lässt, das nicht ganz bis zu seinen Augen reicht.

»Gut, dass ich dich noch erwischt habe«, sagt er leicht atemlos. »Ich wollte mit dir über deinen letzten Instragram-Post reden. Das Engagement war gut, aber ich denke, wir sollten es noch weiter vorantreiben.«

Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu verdrehen. Tyler mit seinem Businessabschluss und seinem Hang zu Firmenjargon scheint immer zu denken, er wisse es besser als ich, wenn es um Social-Media-Strategien geht.

»Oh?«, sage ich und halte meinen Ton neutral. »Was schwebt dir denn vor?«

Er stürzt sich in eine verworrene Erklärung über Hashtag-Strategien und optimale Posting-Zeiten und würzt seine Ansprache mit Phrasen wie »synergistische Herangehensweise« und »vertikale Integration«. Ich nicke die ganze Zeit und zähle im Geiste die Sekunden, bis ich die Flucht ergreifen kann.

»… und wenn wir deine persönliche Marke aggressiver pushen, könnten wir die Ad-Klicks signifikant optimieren«, beendet er seinen Satz und sieht mich erwartungsvoll an.

Ich hole tief Luft und rufe mir ins Gedächtnis, dass Tyler trotz seines nervigen Verhaltens im Prinzip mein Vorgesetzter ist. »Das sind einige interessante Ideen, Tyler. Ich werde sie definitiv für meine nächsten Posts in Betracht ziehen.«

Er strahlt, sichtlich zufrieden mit sich selbst. »Großartig! Ich wusste doch, dass du es so sehen würdest wie ich. Oh, und noch eine Sache, etwas Persönlicheres …«

Aber bevor er weitersprechen kann, öffnen sich die Aufzugtüren mit einem leisen Ping. Noch nie im Leben war ich so dankbar für eine Störung.

»Tut mir leid, Tyler, ich muss los. Ich habe heute Nachmittag noch ein Fotoshooting«, sage ich und gehe rückwärts in den Aufzug. »Ich schicke dir meinen Content-Plan für nächste Woche, okay?«

Er öffnet den Mund, um zu protestieren, aber ich drücke schnell auf den Knopf mit der Aufschrift Tür schließen. Als die Türen aufeinander zugleiten und sein enttäuschtes Gesicht verdecken, stoße ich einen Seufzer der Erleichterung aus.

Der Aufzug fährt nach unten und ich lehne mich an die Wand und schließe einen Moment die Augen. Der Kontrast zwischen meinen Begegnungen mit Sloane und Tyler könnte nicht größer sein.

Ich winke mir ein Taxi heran, um zu meinem nächsten Termin zu fahren – einem Fotoshooting für eine kleine, aufstrebende Schmuckdesignerin. Während wir durch den mittäglichen Verkehr kriechen, vergleiche ich im Geiste die beiden Marken miteinander.

Moth to the Flame Designs mit seinen schicken Büros und seiner Vertriebsreichweite bietet Stabilität und Prestige. Aber es hat etwas Aufregendes, mit kleineren, unabhängigen Designern zusammenzuarbeiten für mein … Nebenprojekt. Ich habe einen weiteren Account. Und der ist viel …nun …viel mehr ich. Es ist ein heikles Gleichgewicht, die Beziehungen für beide Accounts zu pflegen und dabei meinem eigenen Stil und meinen Werten treu zu bleiben.

Das Taxi setzt mich vor einem umgebauten Lagerhaus in Bushwick ab. Die Ziegelsteinmauer ist bedeckt mit leuchtenden Wandgemälden, das totale Gegenteil zu dem Hauptquartier von Moth to the Flame, dessen Fassade aus poliertem Marmor besteht. Ich hole tief Atem und zentriere mich, bevor ich eintrete.

Das Innere ist ein kreatives Chaos aus Werkbänken, Werkzeugen und halbfertigen Stücken. Die Luft ist geschwängert vom Duft nach Metall und Harz. Ich erspähe Hailey, die einzige Designerin, über eine Werkbank gebeugt, ihre dunklen Locken wild und ungezähmt.

»Chloe!«, ruft sie, als sie mich sieht, und ihr Gesicht leuchtet auf. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Ich habe das letzte Stück für die Kollektion gerade fertiggestellt.«

Als ich näher komme, bestaune ich die kunstvollen Stücke, die vor ihr ausgebreitet liegen. Während der Schmuck von Moth to the Flame kostbar und dekadent ist, ist Haileys Arbeit dunkel und provokant. Jedes Stück erzählt eine Geschichte, von den grob behauenen, silbernen Armspangen, in die ungeschliffene Edelsteine eingelassen sind, bis hin zu den zierlichen Drahtskulpturen, die aussehen, als könnten sie sich jeden Moment in die Lüfte erheben.

»Die hier ist unglaublich, Hail«, hauche ich und streiche mit den Fingern über eine Kette, die aussieht, als sei sie aus Mondstrahlen und Sternenstaub gewebt. »Deine Arbeit wird immer besser und besser.«

Ich hasse es, das zuzugeben, denn ich liebe Sloane und ihre Entwürfe wirklich, aber Haileys Schmuck ist so viel mehr mein Ding. Er ist im Grunde Gothic. Halsbänder, Halsreife, kantig und rau. Es ist eine Mischung aus BDSM-Club und viktorianischer Eleganz, die meine Seele auf eine Weise anspricht, wie Moth to the Flame mit seinen Mainstream-Stücken das nie so ganz schafft. Ihr Schmuck füttert das Alter Ego in mir. Es befeuert die »Chlo«, wie ich sie gern nenne.

»Danke. Ich habe wirklich mein Herz in diese Kollektion einfließen lassen. Sie ist inspiriert von uralten Mythen und Legenden – du weißt schon, dem Dunklen, Perversen, worüber heutzutage niemand mehr redet.«

Ich nicke, denn ich verstehe vollkommen. Hailey hat sich immer zum Schatten hingezogen gefühlt und Schönheit in Dingen gefunden, die die meisten Menschen übersehen oder vor denen sie zurückschrecken. Es ist einer der Gründe, warum es zwischen uns gefunkt hat, als wir uns das erste Mal vor zwei Jahren bei einer Ausstellung von Underground-Kunst begegnet sind.

»Also, bist du bereit, für das Fotoshooting deine innere dunkle Göttin zu kanalisieren?«, fragt Hailey und wackelt schelmisch mit den Augenbrauen. »Dunkles Gothic-Weihnachten?«

Ich grinse und verspüre ein Aufbranden von Aufregung. »Du weißt, dass ich bereit bin. Lass uns Chlo zum Vorschein bringen.«

Hailey klatscht in die Hände. »Ja! Ich habe nebenan den perfekten Hintergrund aufgebaut. Mit schwarzem Samt und funkelnden Lichtern – wie ein nächtlicher Sternenhimmel.«

Als wir in das improvisierte Atelier gehen, streife ich zunehmend meine professionelle Persönlichkeit ab. Ich schlüpfe in mein kleines Schwarzes, mein Lieblingskleid, Netzstrümpfe und sexy schwarze Pumps. Verschwunden ist die schicke Influencerin in ihrem Secondhand-Blazer und den todschicken Heels. An ihrer Stelle kommt Chlo zum Vorschein – provokant und kühn, ohne sich für sich selbst zu entschuldigen.

Hailey legt mir das erste Stück um – ein kunstvolles, silbernes Halsband, das mit schwarzen Opalen und rasierklingendünnen Ketten verziert ist, die über mein Schlüsselbein drapiert werden. Der Schmuck liegt schwer und kalt auf meiner Haut, aber er fühlt sich richtig an. Wie eine Rüstung.

»Du siehst grimmig aus«, sagt Hailey und tritt zurück, um ihr Werk zu bewundern. »Wie eine Kriegerkönigin aus einer anderen Dimension.«

Ich drehe mich zu dem bodentiefen Spiegel um und erkenne mich selbst kaum wieder. Meine Augen wirken dunkler, meine Wangenknochen konturierter. Das Halsband verwandelt mich und holt eine Seite von mir selbst an die Oberfläche, die ich normalerweise verborgen halte.

»Also gut, Chlo«, flüstere ich meinem Spiegelbild zu. »Zeit zu glänzen.«

Das Fotoshooting verfliegt in einem Nebel aus blitzenden Lichtern und immer wieder anderen Kostümen. Jedes Stück, das Hailey mir umlegt, fühlt sich an, als würde es eine andere Facette meiner Persönlichkeit aufschließen. Die Mondstrahlkette gibt mir das Gefühl, ätherisch und mysteriös zu sein. Die grob behauenen Armspangen vermitteln mir den Eindruck, ich sei mächtig und ungezähmt.

Als wir die letzten Aufnahmen unter Dach und Fach haben, durchzuckt mich ein Hauch von Bedauern. Ich will diese Stücke nicht ablegen und wieder die normale Chloe sein.

»Weißt du«, sagt Hailey, als würde sie meine Gedanken lesen,»du könntest diesen Look beibehalten, wenn du wolltest. Die Welt könnte ein wenig mehr Chlo gebrauchen.«

Ich lache, aber fühle mich durchaus versucht. »Vielleicht eines Tages. Im Moment sollte Chloe weiter das Sagen haben, denke ich.«

Als ich wieder in mein Influencerinnen-Outfit schlüpfe, frage ich mich, was Tyler oder Sloane denken würden, wenn sie mich bekleidet sehen würden wie eine dunkle Femme fatale statt wie das süße Mädchen von nebenan. Würden sie mich überhaupt erkennen? Würden sie diesen Teil von mir verstehen?

Ich verabschiede mich von Hailey mit dem Versprechen, ihr die überarbeiteten Fotos bis zum Ende der Woche zukommen zu lassen. Als ich in die frühe Dämmerung hinaustrete, ist es so, als würde ich im Spagat zwischen zwei Welten sitzen – der eleganten Geschäftswelt von Moth to the Flame Designs und dem rohen, kreativen Chaos unabhängiger Designerinnen wie Hailey.

Fürs Erste muss ich auf dem schmalen Grat zwischen beiden balancieren. Aber eines Tages wird Chlo vielleicht bereit sein, ins Rampenlicht zu treten.

Als ich auf die U-Bahn-Station zugehe, schwirrt mir noch immer der Kopf von den Kontrasten meines Tages. Das Gewicht der eleganten Stücke von Moth to the Flame in meiner Tasche scheint mich in eine Richtung zu ziehen, während das Echo von Haileys provokanten Kreationen mich in die andere zerrt. Ich bin hin- und hergerissen zwischen zwei Versionen meiner selbst.

Der U-Bahn-Waggon ist überfüllt und ich finde mich eingezwängt zwischen einem Geschäftsmann im Anzug und einem tätowierten Künstlertypen wieder. Es fühlt sich seltsam passend an angesichts meines gegenwärtigen Gemütszustands. Der Zug setzt sich mit einem Schlingern in Bewegung und ich schließe die Augen und lasse das rhythmische Holpern meine Gedanken beruhigen.

Als ich endlich meine Haltestelle in Manhattan erreiche und auf die Straße hinaustrete, fische ich mein Handy aus der Tasche für eine weitere Aufgabe des Tages, während ich auf die nächste Fähre nach Hause warte. Ich rufe meinen Vermieter an, um mich bei ihm darüber zu beschweren, dass er meinen Gehweg freischaufelt, aber nicht den von Mr Haven.

Ich wähle die vertraute Nummer und wappne mich für das vor mir liegende Gespräch. Mister Grayson, mein Vermieter, geht beim dritten Klingeln an den Apparat.

»Hallo?«, dringt seine schroffe Stimme durch den Lautsprecher.

»Hi, Mister Grayson. Hier ist Chloe Hallman aus der Brennan 1004«, sage ich möglichst unbefangen und freundlich. Ich bin mir keineswegs sicher, ob er sich daran erinnern wird, wer ich bin. Es waren meine Eltern, die lange Zeit seine Mieter waren, ich habe lediglich den Mietvertrag übernommen – den sehr teuren Mietvertrag –, als sie gestorben waren.

»Ah, Chloe. Was kann ich für Sie tun?«

Ich hole tief Luft. »Ich wollte mit Ihnen über die Schneebeseitigung reden. Mir ist aufgefallen, dass Sie meinen Gehweg geräumt haben, was ich zu schätzen weiß, aber der von Mr Haven ist nicht gemacht worden. Ich bin ein wenig besorgt seinetwegen.«

Es folgt eine Pause am anderen Ende der Leitung. »Schneebeseitigung?«

»Ja, genau. Er ist über achtzig, und ich mache mir Sorgen, wenn er versucht, über einen nicht freigeschaufelten Weg zu gehen. Er ist hingefallen und …«

»Hören Sie, Chloe, ich kann nicht die Verantwortung für den Gehweg eines jeden Mieters übernehmen. In Ihrem Mietvertrag steht nirgendwo drin, dass ich es übernehme, Schnee zu räumen.«

Ärger flackert in mir auf. Die Chloe von heute Morgen hätte vielleicht einen Rückzieher gemacht, aber ich spüre ein wenig von Chlos Feuer in meinen Adern.

»Das verstehe ich, aber Mr Haven ist schon alt. Es ist eine Sicherheitsfrage. Und da Sie meinen Weg gemacht haben …«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich sorge nicht für Schneebeseitigung. Gar nicht.«

Ich halte verwirrt inne. »Aber … mein Gehweg ist geräumt worden. Er ist nur selten nicht geräumt. Ich habe angenommen, dass Sie das veranlasst haben.«

Mister Grayson stößt am anderen Ende der Leitung einen tiefen Seufzer aus. »Hören Sie, Kind. Ich weiß nicht, wer Ihren Weg geräumt hat, aber es waren weder ich noch irgendwelche von meinen Leuten. Vielleicht haben Sie einen heimlichen Bewunderer oder so.«

Mr Haven hatte bereits etwas Ähnliches gesagt, und doch rasen meine Gedanken, während ich versuche, diese neue Information zu begreifen.

»Ich …ich verstehe«, stammle ich. »Nun, dann entschuldige ich mich für das Missverständnis. Aber besteht irgendeine Chance, dass Sie dafür sorgen könnten, dass Mr Havens Gehweg geräumt wird? Ich mache mir wirklich Sorgen um ihn.«

»Nicht mein Problem«, brummt Mister Grayson. »Wenn Sie sich solche Sorgen machen, warum tun Sie es nicht selbst?«

Bevor ich antworten kann, legt er auf. Ich stehe da, das Handy noch immer an mein Ohr gepresst, und verspüre eine Mischung aus Frustration und Verwirrung.

Als ich mein Telefon sinken lasse, überläuft mich ein Schauder, der nichts mit der Kälte zu tun hat. Wer hat in all dieser Zeit meinen Gehweg freigeschaufelt? Und warum?

KAPITEL 4 – JACK

So einen Laden wie Pete's Café hätte ich früher nie betreten. Erst seit Chloe. Ich war immer der Typ Mann, der sich zu Hause seinen Kaffee kocht. Die überteuerten, hochtrabenden Cafés in meinem Viertel, die irgendwann an jeder Ecke aufgetaucht sind, habe ich gemieden. Selbst wenn ich jeden Tag auf dem Weg zur Feuerwache daran vorbeikomme.

O Mann, ich klinge langsam schon wie mein Grandpa, Gott sei seiner Seele gnädig.

Aber Chloe besucht dieses Lokal ohne Ausnahme jeden Dienstag, oft auch mittwochs und gelegentlich sogar freitags, wenn sie zu Moth to the Flame gefahren ist. Also bin ich hier. Der Mann, der einen Großteil seines Lebens als Erwachsener allein verbracht hat, es sei denn, man zählt die Arbeit mit, hängt plötzlich Tagträumen über Händchenhalten bei dampfenden Kaffeebechern nach.

Ich habe mich sogar dabei ertappt, dass ich das Pete's neulich meinem Boss gegenüber verteidigt habe, als ich die Wache mit dem verräterischen Becher betreten habe, einem Beweis der Geldverschwendung für etwas, das in einer Kanne auf der Wache auf mich gewartet hätte. »Es geht nicht nur um den Kaffee«, habe ich zu meiner eigenen Überraschung gesagt. »Es geht um das Erlebnis, die Atmosphäre.«

Als ich die schwere Holztür aufdrücke, begrüßt mich das kraftvolle Aroma frisch gemahlener Bohnen. Das Café summt von den Gesprächen der morgendlichen Kundschaft, einer Mischung aus Geschäftsleuten in Anzügen und Künstlertypen, die sich über ihre Laptops beugen.

Ich schaue mich im Raum um und mein Herzschlag beschleunigt sich, während ich nach Chloes vertrautem Gesicht suche. Sie steht bereits in der Schlange und niemand ist hinter ihr. Das heißt, nicht, bis ich den Platz einnehme.

Sie weiß nicht, dass ich hier bin.

Sie weiß das nie.

Aber ich bin es. Ich bin es immer.

Ich stelle mich hinter sie, dicht genug, um einen Hauch von ihrem Jasminparfüm aufzufangen. Meine Hände sind verschwitzt und ich wische sie mir an meiner Hose ab, während ich noch einmal die Worte probe, die ich hundertmal im Kopf einstudiert habe.

»Hallo«, will ich sagen. »Wie bemerkenswert, dich hier zu sehen.« Aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Gott sei Dank, denn wer zur Hölle sagt »Wie bemerkenswert«?

Ich kenne ihre Bestellung inzwischen auswendig. Einen großen Soja-Latte mit einer Extraportion Espresso und etwas Zimt obendrauf. Sie wird sich außerdem einen von Petes berühmten Blaubeerscones gönnen, die inzwischen auch zu einem meiner Favoriten geworden sind. Diese kleinen Arschlöcher machen süchtig.

Heute ist sie geschäftsmäßig drauf und tippt auf ihrem Handy, während sie in der Schlange wartet. Das ist eher ungewöhnlich bei ihr. Sie ist keine von diesen Frauen, die rund um die Uhr an ihren Handys hängen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, womit sie ihren Lebensunterhalt bestreitet. Aber eine Sache, die mir an Chloe immer gefallen hat, ist, dass sie eine Beobachterin zu sein scheint – wie ich. Sie betrachtet Menschen – wie ich.

Wobei sie nicht in der Dunkelheit vor dem Fenster von jemandem steht – wie ich.

»Der Nächste!«, ruft der Barista und Chloe tritt vor, um ihre Bestellung aufzugeben.

Ich lausche aufmerksam und hoffe, irgendein Detail aufzufangen, das mir vielleicht entgangen ist, irgendeinen Hinweis darauf, wer sie wirklich ist.

»Einen großen Soja-Latte, extra Espresso, Zimt obendrauf«, sagt sie, ihre Stimme melodisch und selbstbewusst. »Und … wissen Sie was? Ich werde auch einen Blaubeerscone nehmen. Es war eine lange Woche.«

Ich lächle in mich hinein. Selbst ihre kleinen Exzesse sind liebenswert.

Als sie zur Seite tritt, um auf ihre Bestellung zu warten, nehme ich meinen Platz an der Theke ein. Der Barista, ein junger Mann mit einer Brille mit dickem Gestell und einem ironischen Schnurrbart, sieht mich mit einer hochgezogenen Braue an.

»Lassen Sie mich raten«, sagt er mit einem wissenden Grinsen. »Einen großen schwarzen Kaffee?«

Ich räuspere mich und bin mir plötzlich bewusst, wie durchschaubar ich geworden bin. »Nein«, sage ich zu meiner eigenen Überraschung, »ich nehme, was sie genommen hat.«

Die Augenbrauen des Baristas zucken in die Höhe, aber er zieht die Schultern hoch und tippt die Bestellung ein. Ich nestle meine Brieftasche heraus und bin mir mit allen Sinnen bewusst, dass Chloe nur wenige Schritte entfernt steht. Während ich auf mein Wechselgeld warte, werfe ich einen verstohlenen Blick auf sie. Sie lehnt an der Theke, immer noch ganz versunken in ihr Handy, eine schwache Falte auf der Stirn.

Ich will sie fragen, was los ist, will derjenige sein, der die Sorgenfalte glättet. Aber ich bin nur ein x-beliebiger Fremder in einem Café, nicht der Vertraute, der ich so gern wäre.

»Bestellung für Chloe!«, ruft der Barista, und sie tritt vor, um sich ihr Getränk und ihren Scone zu holen. Als sie sich zum Gehen wendet, treffen sich unsere Blicke einen flüchtigen Moment lang. Mein Herz setzt einen Schlag aus, als sie mir ein höfliches Lächeln schenkt, ein Lächeln, das man jemandem schenken würde, an dem man auf der Straße vorbeigeht. Es ist nichts Besonderes, aber für mich ist es alles.

Doch dann hält sie inne, mustert mich einen Moment, und die Erkenntnis dämmert sichtbar in ihren Zügen herauf. »Hey, ich kenne dich. Du bist der Typ, der meinem Nachbarn geholfen hat. Jack, stimmt's?«

»Ähm, ja«, stammle ich, überrumpelt davon, dass sie mich wiedererkannt hat. »Der bin ich.«

»Ich wusste gar nicht, dass du auch hierherkommst.«

Meine Achselhöhlen beginnen zu schwitzen und mein Mund wird trocken. »Ja … ich arbeite auf der Wache unten an der Straße.«

»Oh.« Sie hält inne, als würde sie die Information verarbeiten, dann lächelt sie. »Ich bin gar nicht dazu gekommen, mich ordentlich bei dir zu bedanken«, sagt Chloe, ihre Augen warm von echter Anerkennung. »Du warst so hilfsbereit und dann hast du auch noch seinen Weg freigeschaufelt, das war wirklich nett.«

Mein Gesicht wird heiß und ich habe keine Ahnung, wie ich mit dem Lob umgehen soll – erst recht nicht aus ihrem Mund. »War nur eine nachbarschaftliche Geste«, murmle ich und reibe mir den Nacken.

Sie schaut auf das T-Shirt hinab, das ich anhabe. Darauf ist das Logo des Reviers. Obwohl ich auf dem Weg zur Arbeit selten meine volle Uniform trage und mich lieber umziehe, wenn ich dort bin, trage ich oft eins der blauen Baumwoll-T-Shirts mit dem Logo des FDNY, da sie nach zehn Jahren im Job den größten Teil meines Stapels im Schrank auszumachen scheinen. Mit achtzehn habe ich als Springer dort angefangen, und seitdem ist die Wache alles, was ich kenne.

Sie nimmt einen Schluck von ihrem Latte. »Du musst einen aufregenden Job haben. Und auch gefährlich, stelle ich mir vor.«

Ich zucke die Achseln, denn ich will nicht als Angeber rüberkommen.»Manchmal ist es so eine Sache. Aber größtenteils muss man einfach für Menschen da sein, wenn sie Hilfe brauchen.«

Sie nickt nachdenklich und ich kann einen Schimmer echten Interesses in ihren Augen sehen.

»Bestellung für Jack!«, ruft der Barista.

Ich drehe mich um, greife nach meinem Getränk, und als ich mich ihr wieder zuwende, bemerke ich, dass Chloe neugierig meinen Becher beäugt.

»Soja-Latte mit Zimt?«, fragt sie mit einem Hauch von Erheiterung in der Stimme. »Ist … unerwartet.«

Mein Gesicht wird wieder heiß. »Ähm, ja. Probiere mal was Neues«, lüge ich, denn ich weiß ganz genau, dass ich das gleiche Getränk bestellt habe wie sie. Ich greife nach meinem Scone, und mir ist klar, wie schuldbewusst ich wirke. Was verrät das über mich, dass ich ihre Bestellung exakt kopiert habe?

Chloes Lippen verziehen sich zu einem wissenden Lächeln und kurz frage ich mich, ob sie meine dürftige Ausrede durchschaut hat. Aber dann nickt sie nur und nimmt noch einen Schluck von ihrem eigenen Latte.

»Also, Feuerwehrmann Jack«, sagt sie in spielerischem Tonfall, »da wir beide hier sind und du neue Dinge ausprobierst, können wir uns doch zueinander gesellen. Ich wollte mich gerade hinsetzen und meine Arbeit durchgehen, aber ich könnte eine Pause gebrauchen.«

Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Das ist der Moment, auf den ich gewartet habe, von dem ich träume seit … Jahren?

O Mann. Ist das schon so lange gegangen? Verdammt.

Und jetzt, da der Moment da ist, bin ich gelähmt vor Angst und erfüllt von dem Verlangen, endlich Kontakt zu dieser Frau aufzunehmen.

»Ich … ähm … natürlich«, gelingt es mir zu stammeln. »Das wäre großartig.«

Wir gehen zu einem kleinen Tisch am Fenster. Sonnenlicht strömt herein und spiegelt sich auf den roten Strähnchen in Chloes dunklem Haar. Sie legt ihr Handy beiseite, beißt in ihren Scone und schließt für einen Moment genüsslich die Augen.

»Gott, diese Dinger machen wirklich süchtig, nicht wahr?«, wiederholt sie meine früheren Gedanken.

Ich nicke und versuche, lässig zu wirken, während ich an meinem Latte nippe. Der Geschmack ist fremd – süßer und weicher als mein gewohnter schwarzer Kaffee. Aber ich stelle fest, dass er mir schmeckt, vielleicht will ich auch einfach nur diesen Eindruck mir ihr teilen.

»Also, Jack«, sagt Chloe und beugt sich leicht vor, »erzähl mir mehr über das Leben eines Feuerwehrmannes. Wie lange machst du das schon?«

Als ich zu einer Antwort ansetze, erfüllt mich eine Mischung aus Jubel und Gewissensbissen. Das hier ist alles, was ich gewollt habe – eine Chance, mit Chloe zu reden, sie kennenzulernen. Aber da ist eine Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnert, dass es nicht auf diese Weise passieren sollte. Dass ich nicht hier sein sollte, dass ich nicht bereits so viel über sie wissen sollte.

Ich dränge die Gedanken beiseite und konzentriere mich stattdessen darauf, wie ihre Augen aufleuchten, als ich ihr von meinem ersten großen Brand erzähle, von dem Adrenalinrausch, wenn man zu einem Notruf rast. Kurz gestatte ich mir zu glauben, dies sei normal, dass ich einfach ein Mann sei, der mit einer schönen Frau Kaffee trinkt, für die er sich interessiert.

Ich bin nicht der Stalker draußen vor ihrem Fenster, der sich jede Kurve ihres Körpers einprägt.

Aber als Chloe über einen meiner Scherze lacht, summt ihr Handy auf dem Tisch. Sie wirft einen Blick darauf und diese Sorgenfalte kehrt zurück.

»Alles in Ordnung?«, frage ich, außerstande, mich zu bremsen.

Sie seufzt und fährt sich mit einer Hand durchs Haar. »Es ist nur Kram von der Arbeit. Nichts Wichtiges.«

Ich nicke und will weiter in sie dringen, weiß aber, dass ich das nicht tun sollte. Die Probleme einer Fremden sollten mir nicht so wichtig sein. Aber Chloe ist keine Fremde für mich, auch wenn ich ein Fremder für sie bin.

»Was machst du denn beruflich?«, frage ich, als ob ich das nicht längst wissen würde.

»Ich bin Influencerin. Im Marketing tätig, könnte man vielleicht sagen. Ich präsentiere Schmuckmarken.«

»Das klingt interessant.«

Sie zuckt die Achseln, ein schiefes Lächeln umspielt ihre Lippen. »Manchmal ist es so eine Sache. Und definitiv nicht so aufregend, wie in brennende Gebäude zu rennen.«

Ich kichere und versuche, meinen Job runterzuspielen. »Glaub mir, es ist nicht alles aufregend. Manchmal ist man ewig nur in Bereitschaft, außerdem muss man die Ausrüstung sauber halten und Papierkram erledigen.«

»Na, das ist bei mir besser. Ich habe keinen Papierkram.« Chloe beugt sich vor, ihre Augen glitzernd vor Neugier. »Aber trotzdem, du musst einige unglaubliche Geschichten zu erzählen haben. Was war das Verrückteste, das du in deinem Job je erlebt hast?«

Ich halte inne und denke nach. Es gibt so viele Geschichten, die ich erzählen könnte, aber ich habe Angst davor, als arroganter Idiot rüberzukommen wie so mancher Feuerwehrmann. Ich war nie jemand, der angegeben hat, nur um ins Höschen irgendeines Mädchens zu gelangen, und doch sitze ich jetzt hier. Dies ist meine Chance, sie zu beeindrucken, ihr Interesse wachzuhalten.

»Na ja«, beginne ich,»einmal sind wir zu einem Häuserbrand gerufen worden. Als wir eintrafen, hat sich herausgestellt, dass es nicht irgendein Haus war – es war das Haus eines Messis.«

Chloes Augen weiten sich. »Oh nein, das muss schrecklich gewesen sein.«

Ich nicke und denke an das Chaos in jener Nacht. »Es war, als müsse man sich durch ein Labyrinth von Müll kämpfen, während Rauch einem entgegenwallt. Wir mussten uns Wege bahnen, nur um durchs Haus gehen zu können. Überall Müll. Wirklich überall. Und der Gestank … der Gestank eines brennenden Messihauses ist unbeschreiblich.«

Während ich die Geschichte weitererzähle, beobachte ich genau, wie Chloe reagiert. Sie schnappt in den spannenden Momenten nach Luft, lacht über die absurden Details und nickt mitfühlend, wenn ich das Unglück der Hausbesitzer beschreibe. Es ist berauschend, auf solche Weise ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben.

»Wow«, sagt sie, als ich zum Ende komme. »Das ist unglaublich. Ihr Männer seid wirkliche Helden.«

Mein Gesicht wird erneut heiß bei ihrem Lob. »Wir machen nur unseren Job«, murmle ich und bin plötzlich verlegen, weil ich spüre, wie ich rot werde.