Heartbeats on the Run – Based on Rike's True Story - Jennifer Wiley - E-Book

Heartbeats on the Run – Based on Rike's True Story E-Book

Jennifer Wiley

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Beschreibung

Mayas exzessives Workout beherrscht jede Minute ihres Alltags. Fast zu spät bemerkt Maya, wie sie sich von ihren Freunden entfremdet und sich sogar in Lebensgefahr bringt.

Maya flieht vor ihren familiären Problemen nach Köln, um unbehelligt ihr Studium zu beenden. Sie liebt die neue Umgebung, findet in ihren beiden WG-Mitbewohnerinnen echte Freundinnen und lernt Linus kennen. Durch seine unbeschwerte Art gewinnt er mit jedem Date ein bisschen mehr von Mayas Herz. Doch die Jahre in andauernder Angststarre vor den Aggressionen ihres Bruders haben Spuren in Mayas Seele hinterlassen. Ein Ventil für ihre innere Anspannung findet Maya im Sport, bemerkt aber nicht, wie das Training zunehmend ihr Leben dominiert. Schließlich vergeht kein Tag ohne mehrstündiges Work-out. Ein romantischer Wochenendausflug mit Linus wird zur Zerreißprobe – und Mayas Sportsucht gewinnt. Sie stößt Linus von sich und pusht ihren Körper so weit über seine Grenzen, dass ihr Leben auf dem Spiel steht …

Tropes: Strangers to Lovers – I have a secret – Emotional Scars – Golden Retriever Boyfriend

{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 429

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Content Note

Liebe Leser*innen,

der Roman Heartbeats on the Run – based on Rike’s True Story enthält potenziell triggernde Inhalte. Sollte es daher Themen geben, die ihr vermeiden oder nur vorbereitet lesen möchtet, dann werft bitte einen Blick auf Seite 334, wo die sensiblen Themen des Romans aufgelistet sind. Bitte bedenkt jedoch, dass diese Liste die Handlung des Buches spoilern könnte!

 – based on a true story

Weil das Leben die besten Geschichten schreibt!

Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen, schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern. Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an

[email protected]

mit folgendem Inhalt: eine kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deine Motivation, daraus einen Roman zu machen. Die Länge sollte maximal 2 – 3 Seiten sein.

Wir freuen uns, von dir zu hören!

www.penguin.de/verlage/heartlines

@penguinlovestories

Jennifer Wiley

Heartbeats on the Run

Based on Rike’s True Story

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.

Originalausgabe 10/2025

Copyright © 2025 by Jennifer Wiley

Copyright © 2025 by {heartlines} Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Silvana Schmidt

Umschlaggestaltung: das verlagsatelier ROMYPOHL, Landsberg a. L.

Umschlagmotiv: ©Shutterstock (MDMAMUNVAI, Kamila Bay)

Dreamstime.com/Phokin Whansad

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-32956-3V001

www.penguin.de/verlage/heartlines

@penguinlovestories

Kapitel 1

Maya

Klick.

Durch die Linse meiner Canon EOS 2000D halte ich den Moment fest, in dem sich alles ändern soll. Mein Neuanfang, verewigt durch sieben Umzugskisten auf elf Quadratmetern. Eine der Kisten ist mit Bettwäsche ausgelegt, um die Kamera auf dem Weg von Münster nach Köln zu schützen. Auf den ersten Blick sieht es aus, als hätte mein wertvollster Besitz den Transport heil überstanden, sie hat nur etwas Pflege nötig. Innerlich packe ich das auf meine lange To-do-Liste, die mit einem Umzug einhergeht, doch fürs Erste will ich einfach meine Ankunft genießen. Ich mache noch ein paar Fotos aus einem anderen Winkel und versuche, den Anblick der aufgewirbelten Staubkörnchen einzufangen. Die Herbstsonne strahlt gerade durch das einzige Fenster meines Zimmers und macht die Stimmung perfekt.

Trotzdem zwinge ich mich irgendwann, die Kamera wieder zurück in ihr Nest zu legen. Es wartet noch viel Arbeit auf mich. Die Umzugskisten wurden von mir nummeriert und die Inhalte auf einer digitalen Liste festgehalten. Ich dachte, das würde das Auspacken erleichtern, doch nun starre ich ein wenig überfordert auf das Chaos vor mir und weiß nicht, wo ich anfangen soll. Wie durch ein Wunder haben mein Bett, mein Schreibtisch, zwei Hängeregale und ein schmaler Kleiderschrank in mein Zimmer gepasst, aber nun verstopfen die Kisten den schmalen Durchgang zwischen den Möbeln. Wie es aussieht, muss ich vor dem Auspacken erst Tetris spielen und die Kisten neu sortieren.

Es klopft an der Tür. Sekunden später stößt sie gegen Umzugskiste Nummer sechs – meine Unterlagen und Lehrbücher für die Uni. Immerhin nichts Zerbrechliches.

»Na, kommst du klar, Maya?« Elif, eine meiner neuen Mitbewohnerinnen, sieht sich um, während sie sich ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf bindet. Erneut fällt mir auf, wie groß sie ist, es fehlen höchstens zwanzig Zentimeter bis zum Türrahmen.

»Oh, seit wir die Möbel aufgebaut haben, ist ja noch nicht so viel passiert.«

Sie hat recht. Die vergangene Stunde habe ich hauptsächlich vor mich hingestarrt.

»Ich weiß noch nicht, wo ich anfangen soll«, sage ich zähneknirschend.

»Sollen wir dir noch helfen?« Elif wirft ihren fertigen Zopf voller Tatendrang nach hinten. In den Bum-Scrunch-Leggings, die ihren durchtrainierten Körper betonen, sieht sie aus, als wäre sie bereit, es mit jedem Möbelstück und jeder Kiste aufzunehmen. Vermutlich wäre es klug, ihr Angebot anzunehmen. Doch ich habe so viele Monate, eigentlich sogar Jahre darauf gewartet, endlich in einer anderen Stadt neu anzufangen, also möchte ich diesen Moment auskosten und es richtig machen. Auf meine Weise. Mit Listen und einem Plan, damit das Zimmer am Ende so wird, wie ich es mir vorgestellt habe. Selbst wenn es dadurch länger dauert … oder mich zu überwältigen droht.

»Das ist superlieb, aber ich denke, ich muss das allein machen. Ich will mir Zeit lassen und in Ruhe überlegen, wo was hinkommt.«

»Verstehe ich gut.« Sie lächelt mich an, auf ihrer hellen Wange erscheint ein Grübchen.

War es unhöflich von mir, ihr Hilfsangebot abzulehnen? Vielleicht wäre das der Anfang unserer Freundschaft gewesen, die ich mir eigentlich wünsche. Ich will ein richtiger Teil dieser WG sein, und das, obwohl ich mir immer geschworen hatte, nie in eine Wohngemeinschaft zu ziehen.

»Steht denn das Angebot mit der Pizza noch?«, frage ich. Elif und Fiona haben mir zugesichert, dass wir heute zusammen essen, um meinen Einzug zu feiern, aber das war bereits vor zwei Tagen, als ich mit Elif telefoniert und meinen Umzugstag mit ihr abgesprochen habe.

»Fiona bereitet gerade alles vor. Hast du denn schon Hunger?«

»Ziemlich großen.«

Heute Morgen ging der Umzug in Münster so früh los, dass ich nichts runterbekommen habe.

»In einer halben Stunde in der Küche?«

»Auf jeden Fall.«

Wir nicken uns zu, kurz darauf bin ich wieder allein. Erleichtert atme ich aus und bin froh um die friedvolle Stille, die mich umgibt. Wenn ich früher von einem Leben in Köln geträumt habe, habe ich mir genau diese Stille vorgestellt. Ich wollte immer meine eigene Wohnung, mich nicht von den Gefühlen anderer abhängig machen oder mich anpassen. Nur hatte der Wohnungsmarkt in Köln andere Pläne mit mir.

Als ich Fiona und Elif vor drei Monaten kennenlernte, wurde ich sofort freudig empfangen. Schon beim ersten Treffen haben wir viel geredet und gelacht. Hinterher verkündeten mir die beiden, dass sie genau so jemanden wie mich gesucht haben, um ihre vorherige Mitbewohnerin zu ersetzen, die nach ihrem Studienabschluss weggezogen ist. Ich wusste, dass das meine beste Option sein würde, um hier zu leben und meinen Master zu machen. Wären da nicht die Unwägbarkeiten, die das Zusammenleben mit anderen Menschen mit sich bringt. In einer Gruppe gibt es keine Kontrolle, keine absolute Sicherheit. Und auf Konflikte, Streit und Anpassung bin ich wirklich nicht scharf. Ich ertrage das kein zweites Mal.

Ein Brennen fährt durch meine rechte Daumenkuppe. Ich habe schon wieder an meinem Nagelbett geknibbelt. Ein kleiner Fetzen Fleisch hat sich gelöst, die Haut färbt sich rot. Ich lutsche das Blut ab, während ich versuche, meine Unsicherheit irgendwie wegzuschließen.

Einhundertsechzig Kilometer liegen zwischen meiner alten und meiner neuen Heimat und geben mir Raum zum Atmen.

Genau darauf kommt es an.

Kurzerhand schiebe ich ein paar Kisten hin und her und erkämpfe mir so den Zugang zum Schreibtisch und den zwei Wandregalen darüber. Dann schnappe ich mir den Karton, den Elif so schwungvoll an die Wand geschoben hat, und räume die Fachliteratur ein, die ich für mein Studium brauche. Bücher zu empirischen Methoden der Kommunikationsforschung, politische Kommunikation in der Mediengesellschaft, interkulturelle Medien. Ich sortiere die Bücher alphabetisch, danach folgen meine Studienunterlagen, die ich in den Schreibtischfächern einsortiere. Ordner mit allen Mitschriften zu meinem Bachelorstudium.

Ich falte den Umzugskarton zusammen. Als Nächstes kommt Kiste Nummer drei, in der sich Stifte und Notizhefte befinden. Und mein Briefbeschwerer in Form eines Elefanten, an den ich beim Lernen gerne mein Smartphone lehne, um die Zeit im Blick zu behalten. Ich teste gerade, ob der Elefant im richtigen Winkel steht, als eine neue Nachricht eingeht. Unwillkürlich sehe ich auf mein Smartphone und wünschte sofort, ich hätte es nicht getan.

Bist du gut angekommen? Können wir reden?

Jakob.

Natürlich ist er es.

Natürlich schreibt er mir, nur sechs Stunden nachdem ich ihm gesagt habe, dass ich erst mal Abstand will.

Starr sehe ich zu der Umzugskiste Nummer sieben, in der sich meine Erinnerungsstücke befinden. Bilder von meiner Südafrikareise, von Festivals und Konzerten. All diese Fotos, die bald mein neues Zimmer schmücken werden, suggerieren Leichtigkeit und Freude. Doch sie zeigen nur Ausschnitte. Nur ein paar Momente des Glücks zwischen vielen Augenblicken des Leids.

Ein Kloß in meinem Hals bringt mich zum Räuspern.

Mein Herz pocht unangenehm und verstärkt das beklemmende Gefühl, keine Luft zu bekommen, obwohl es eben noch so wohltuend war, tief einzuatmen und mir vorzustellen, dass hier in Köln alles anders werden wird.

Genau darauf muss ich mich fokussieren: meinen Neuanfang.

Ich drücke die Nachricht weg. Jakob wird sehen, dass ich sie gelesen habe, aber darum darf ich mir jetzt keine Gedanken machen. Stattdessen fliehe ich regelrecht in die Küche, in der es nach Tomatensoße duftet.

Die Gemeinschaftsküche ist ein wildes Durcheinander aus verschiedenen Holzmöbeln, aber schon bei meiner Besichtigung habe ich mich in die Sitzecke in Nussbaum verliebt. Vier Bilderrahmen schmücken die Essecke, hinter dem Glas liegt ein Poster mit lachenden Kaffeetassen. Von der Küche aus hat man Zugang zum Balkon, auf dem Fiona bei meiner Besichtigung Tomaten und Basilikum angepflanzt hat. Nun, da der Herbst da ist, tragen die Tomatensträucher keine Früchte mehr, aber durch ein Vordach sind immerhin die Balkonmöbel vor der Witterung geschützt. Mit ein paar Decken kann man sicher noch draußen sitzen. Wenn man den Kopf ein wenig nach links neigt, sieht man sogar die Silhouette des Kölner Doms.

»Du kommst genau richtig.« Fiona steht bereits mit Handschuhen am Ofen. »Die Pizza ist jeden Moment fertig.«

Meine zweite Mitbewohnerin erinnert mich mit ihren roten Locken und ihren blauen Augen an die Disney-Prinzessin Merida. Im Gegensatz zu Elif, die sogar mich überragt, ist Fiona zwei Köpfe kleiner als ich. Schon bei meinem Besichtigungstermin ist mir ihr Strahlen aufgefallen, mit dem sie den ganzen Raum einnimmt.

Ich setze mich an den Tisch, meine Hände liegen sofort verkrampft auf der Tischplatte. Sicher wirke ich absolut fehl am Platz, aber diese dämliche Nachricht von Jakob geistert mir weiterhin im Kopf herum.

»Wir haben einfach mal ganz viel Gemüse draufgepackt.«

Fiona holt das Blech heraus, der Duft der Tomatensoße wird sofort stärker.

»Zur Feier des Tages gönnen wir uns ein Gläschen Rotwein.« Elif steht auf und greift nach einer Flasche. »Maya, trinkst du auch Wein?«

»Immer her damit«, erwidere ich grinsend, nehme mir aber vor, ihn angesichts meines noch leeren Magens erst nach dem Essen zu trinken.

»Auf deinen Einzug«, verkündet Elif, sobald wir alle am Tisch um die Pizza herumsitzen. »Schön, dass du da bist.«

»Finde ich auch.« Fiona bändigt ihre Lockenmähne mit einer Haarklammer, bevor sie jeder von uns ein Pizzastück auf den Teller legt. Elif beginnt bereits mit dem Essen, während ich mich noch umsehe. Am Kühlschrank hängen mehrere Postkarten mit verschiedenen Sprüchen.

»Heute ist ein guter Tag für einen guten Tag«, lese ich eine davon vor. »Die Karte gefällt mir.«

»Die hab ich ausgesucht.« Fiona grinst. »Wir haben ein WG-Ritual: Immer, wenn wir zusammen ausgehen, suchen wir in den Waschräumen nach der Postkarte mit dem kitschigsten Spruch.«

»Was, wenn die guten Karten alle schon weg sind?«

Elif schielt zum Kühlschrank. »Dann gibt’s so eine Vollkatastrophe wie die pinke Karte.«

Ich folge ihrem Blick. Ein ziemlich hässlicher Affe mit Sonnenbrille auf grell-pinkem Hintergrund. Das Leben ist affengeil.

»Ich mag sie irgendwie.« Fiona zuckt mit den Schultern. »Und meine Mutter findet den Spruch flott.«

»Das sagt dann wohl alles.« Elif hebt eine Augenbraue. »Deine Mutter steht auch auf diesen komischen Pullunder, der den gleichen Pinkton hat.«

»Ich hatte in der Grundschule mal so einen«, sage ich. »Pink mit Gänseblümchen.«

Fiona gluckst. »Ich wusste doch, dass du die Richtige für uns bist, Maya.«

Der Satz wärmt mich von innen.

»Kann’s kaum erwarten, nach einer Karte mit einer noch grelleren Farbkombi zu suchen.«

»Und der Spruch soll richtig kitschig sein?«, hake ich nach.

»So kitschig und peinlich, wie es nur geht.«

Fiona grinst, ihre Begeisterung ist ansteckend.

»O ja, bin dabei!«

Elif schüttelt den Kopf. »Das kann ja heiter werden.«

Ich lehne mich richtig gegen die Stuhllehne, endlich fühle ich mich nicht mehr so steif, ein bisschen mehr wie ein Teil dieses Trios. Ein guter Anfang.

»Wie läuft es denn bei dir?«, fragt Fiona. »Kommst du beim Auspacken gut voran?«

»Langsamer, als ich wollte, aber es wird.« Ich schiele zu Elif, die gerade einen Champignon von der Pizza pult und ihn sich in den Mund schiebt. »Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich deine Hilfe abgelehnt habe?«

»Ach, Quatsch. Das war doch nur ein Angebot. Ich kann voll verstehen, dass du das allein machen willst. Es hat ja auch jeder seine eigene Ordnung.«

»Oder manchmal auch keine«, murmelt Fiona und sieht Elif herausfordernd an, die ihr daraufhin die Zunge herausstreckt.

»Wenn alles eingeräumt ist, könnte ich aber sicher etwas Hilfe brauchen. Beim Anbringen meiner Lichterketten zum Beispiel. Und ich wollte mir eine Pflanze kaufen, aber dafür müssen erst die Kisten weg, sonst habe ich keinen Platz. Vielleicht besorge ich fürs Erste Blumen.«

»Hier in der Nähe gibt es einen süßen Blumenladen«, sagt Elif. »Da komme ich immer dran vorbei, wenn ich zur Sporthochschule fahre.«

»Ach ja, ich hatte ganz vergessen, dass du Sport studierst. Dann kannst du mir vielleicht bei der Suche nach einem Fitnessstudio helfen?«

»Du willst ins Gym?« Elif strahlt mich an, als hätte ich ihr allein mit dieser Aussage einen Traum erfüllt.

»In Münster war ich auch in einem Fitnessstudio angemeldet, aber im Grunde war der Laden scheiße. Die Kurse, für die ich mich eigentlich interessiert habe, wurden da gar nicht angeboten. Meistens war ich dann nur beim Zumba und beim Jumping Fitness. Manchmal habe ich auch an den Geräten trainiert oder war auf dem Laufband.«

»Was für Kurse interessieren dich denn?«, hakt Elif nach.

»Spinning wollte ich schon immer mal ausprobieren.«

»O. Mein. Gott! Dann musst du mit zu Tamara kommen! Ich hatte noch nie so eine gute Kursleiterin wie sie. Nur bei ihr kann man richtig Vollgas geben.«

»Klingt ganz nach meinem Geschmack.«

Elif beißt von ihrer Pizza ab, ihre Augen blitzen euphorisch auf. »Morgen Nachmittag gehe ich hin. Komm doch mit und mach einen Probekurs.«

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, meinen freien Tag noch komplett für die Umzugskisten zu nutzen, bevor am Montag die Uni beginnt, aber ein geeignetes Fitnessstudio zu finden, steht ebenfalls weit oben auf meiner Liste. Abgesehen davon, dass es sicher spaßiger sein wird, einen Kurs auszuprobieren, in dem ich schon jemanden kenne.

»Ist gebongt. Dann muss ich nur noch meine Sportsachen aus den Kisten kramen.«

»Da haben sich ja die zwei Richtigen gefunden«, murmelt Fiona grinsend.

»Du machst eine Ausbildung zur Erzieherin, oder?«, frage ich sie zwischen zwei Bissen.

»Genau, ich bin im letzten Jahr. Ich arbeite in einer Kita in Köln-Weiden.«

»Und du studierst Kommunikationswissenschaften?«, fragt mich Elif. »Klingt irgendwie trocken.«

»Jap. Ist es manchmal auch. Vor allem die Analyse von Medien fand ich immer langweilig. Aber andere Inhalte sind wirklich spannend.«

»Und du hast deinen Bachelor ja auch schon in der Tasche, oder?«, fragt Fiona.

Ich nicke. Innerlich bereite ich mich auf die Frage vor, was nach dem Master kommt, obwohl ich das selbst noch nicht weiß. Doch meine beiden Mitbewohnerinnen diskutieren nun darüber, ob Elif gut im analytischen Denken ist. Ich lehne mich ein wenig zurück und lausche dem Gespräch.

»Was war denn neulich, als du dachtest, dein Laptop sei kaputtgegangen?«, zieht Fiona Elif auf. »Du hast dich eine Stunde damit beschäftigt und warst kurz davor, das Teil aufzuschrauben, dabei war einfach nur dein Akku leer, weil du vergessen hast, den Schalter von deinem Mehrfachstecker umzulegen.«

»Bin ich ein Computergenie? Nein. War das etwas unglücklich? Ja. Aber ich habe das Problem genauestens analysiert und am Ende gelöst. Oder nicht?«

Fiona starrt Elif grinsend an. »In einer Stunde … wegen eines Ladekabels!«

»Tja, ich habe nur gesagt, dass ich das Problem analysiert habe. Von Effizienz hat niemand gesprochen.«

Die beiden prusten gleichzeitig los, ich hingegen nehme einen Schluck Wein und schmunzle, ganz in diesem Moment versunken. So ein heiteres, zwangloses Abendessen ist genau das, was ich am ersten Tag meines Neuanfangs gebraucht habe … und doch bin ich es nicht gewohnt, so entspannt an einem Tisch zu sitzen und nicht den großen Knall zu erwarten.

»Lassen wir das lieber«, beendet Fiona den Schlagabtausch mit Elif und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Wir wollen Maya doch nicht schon am ersten Tag verschrecken.«

»Ach, wir werden jede Menge Spaß haben.« Elif schwenkt ihr Weinglas. »Wie fühlt es sich denn für dich an, jetzt in Köln zu sein?«

»Sehr aufregend. Ich habe schon lange davon geträumt, mal etwas anderes außer Münster zu sehen.«

»So ging es mir auch, als ich fürs Studium herkam«, sagt Elif. »Ich komme ursprünglich aus dem Sauerland, da war mir alles zu klein und erdrückend. Die Großstadt ist wie für mich gemacht.«

»Ich bin am Rand von Köln aufgewachsen«, erzählt Fiona. »Da war auch alles viel kleiner als hier in Lindenthal, was mir aber eigentlich gefallen hat. Ich bin nur ausgezogen, weil es bei uns so voll war. Vier kleine Geschwister«, fügt sie hinzu. »In einer Vierzimmerwohnung.«

»Wow! Das klingt nach Trubel.«

»Wie ist es bei dir?«, fragt Elif. »Wohnt deine Familie noch in Münster?«

Ich widerstehe dem Drang, meine Finger zu kneten. Stattdessen nehme ich noch einen Schluck Wein.

»Genau. Ich habe mit meiner Mutter und meinem älteren Bruder zusammengelebt.«

»Auch noch während des Bachelorstudiums?«

»Ja.«

Atmen. Nicht an ihn denken.

»Die Uni war nur zehn Minuten von unserer Wohnung entfernt, und ich hatte nicht genug Geld, um auszuziehen. Nebenbei habe ich gekellnert, aber alles, was ich mir dabei angespart habe, nutze ich jetzt. Ich wusste, dass ich spätestens mit meinem Master umziehen werde.«

Fiona spielt mit einer ihrer Locken. »Ist sicher komisch, jetzt von zu Hause weg zu sein. Wirst du deine Familie nicht vermissen?«

Ich kenne keine ehrliche Antwort darauf.

Ist das Lodern, das ich in meinem Herzen spüre, wirklich ein Vermissen? Oder einfach nur das Nachbrennen von dem großen Knall, den meine Umzugspläne ausgelöst haben?

Vielleicht ist es auch das beklemmende Gefühl, in den letzten Jahren wie gefesselt gewesen zu sein und nun die ersten unsicheren Schritte in die Freiheit zu machen.

»Ich hoffe, meine Mutter kommt klar«, versuche ich es mit der Halbwahrheit. »Sie arbeitet so viel … und ich habe einiges im Haushalt erledigt, was jetzt wieder an ihr hängen bleibt.«

Genau wie Jakob.

Ein Beben jagt durch meinen Körper. Jetzt knete ich doch meine Finger.

Ich will nicht über Jakob reden, will nicht an ihn denken.

»Aber lasst uns lieber mal darüber sprechen, wie hier der Haushalt aufgeteilt ist. Welche Aufgaben gibt es?«

Kapitel 2

Maya

Studien haben gezeigt, dass Musik sich auf den Gemütszustand auswirken kann. Ich spüre diese Magie, die mit dem dröhnenden Bass in meinen Magen dringt und mich mit Motivation flutet. Schweiß läuft mir die Stirn hinunter, und mein Herz rast, aber auf meinem Gesicht ist ein breites Lächeln, während wir zu lautem Technobeat in die Pedale treten. Tamara pfeift und spornt uns damit an, noch schneller zu werden.

Elif und ich grinsen. Bei ihr sieht es genauso spielerisch und leicht aus wie bei Tamara – kaum Anstrengung zu erkennen, nur reinste Energie. Und ich liebe es.

»Hoch und runter«, fordert Tamara auf. »Passend zum Beat.«

Die anderen sind ein paar Sekunden schneller als ich, aber ich denke nicht darüber nach. Ich finde meinen eigenen Rhythmus, auch wenn meine Oberschenkel bereits brennen. Anstatt mich davon stoppen zu lassen, gebe ich nur noch mehr Dynamik in meine Bewegungen. Ich spüre jede Faser meines Körpers, gehe bis an meine Grenzen. Absolut belebend.

Eine Stunde lang heizt uns Tamara richtig ein. Als wir von den Rädern steigen, zittern meine Beine, aber das Grinsen ist noch immer da, eingemeißelt auf meinen Lippen, während mein Kopf wunderbar leer ist. Da sind keine To-dos, keine Probleme, keine Sorgen oder Unsicherheiten. Nur das wundervolle Gefühl, meinen Körper zu spüren und stolz auf mich zu sein.

»Das war unglaublich«, sprudelt es aus mir heraus. »Ich liebe Spinning.«

»Du bist krass. Bei meinem ersten Kurs war ich so am Ende, dass ich mehrere Pausen einlegen musste.«

»So schnell wie ihr war ich noch nicht. Aber ich hole dich schon noch ein.«

Elifs Augen blitzen auf. »Ist das etwa eine Herausforderung?«

»Ein kleiner sportlicher Wettkampf hat ja noch nie geschadet.«

»Ich verliebe mich gerade ein bisschen in dich. Die Mitbewohnerin meiner Träume.« Elif wickelt sich ihr Handtuch um den Nacken und greift ihre Wasserflasche.

»Dann meldest du dich im Studio an?«

»Auf jeden Fall. Hast du noch fünf Minuten? Dann erledige ich das mit der Anmeldung gleich.«

Elif wartet an der Bar, wo sie sich einen Proteinshake holt, ich hingegen suche die Studio-Mitarbeiterin auf, um meinen Vertrag zu besprechen. Die Unterschrift fühlt sich unglaublich gut an, wie eine weitere Säule, die meinen Neuanfang stützen wird. Ein Studienplatz, eine Wohnung, Freundinnen, ein Hobby. Und schon in drei Tagen beginne ich meinen Nebenjob in einem kleinen Café. Ich habe mich vor ein paar Monaten während meiner Wohnungsbesichtigungen dort vorgestellt und einen Aushilfsjob bekommen. Mein Erspartes allein reicht nicht aus, um mir mein Studium zu finanzieren.

Grinsend halte ich das Mikrofaserhandtuch hoch, das ich zur Vertragsunterzeichnung bekommen habe, und wedle Elif damit zu.

»Darf ich gratulieren?«, ruft sie mir entgegen, als ich auf sie zugehe.

»Jawohl. Mach dich auf schweißtreibende Trainingssessions mit mir gefasst. Ich will richtig in Form kommen.«

»Sehr cool.« Elif lässt mich von ihrem Shake probieren. Er schmeckt nach Schokolade. »Aber wenn du es richtig ernst meinst, musst du auf jeden Fall darauf achten, deinem Körper genug Energie zu geben. Viele Proteine und moderate Alltagsbewegung, um das Herz-Kreislauf-System zu stärken.«

»Zum Glück habe ich ja eine Expertin in meiner Nähe.«

2

Als ich mich für mein Bachelorstudium an der Universität zu Köln angemeldet habe und dort nicht aufgenommen wurde, ist ein kleiner Traum geplatzt. Schon damals hatte ich die Vorstellung, endlich Münster zu verlassen und neu anzufangen, auch wenn mir die Dringlichkeit dieses Vorhabens erst ein paar Monate nach meiner Unibewerbung klar wurde. Mit dem Abitur in der Tasche war ich zum ersten Mal auf Reisen, habe zum ersten Mal etwas nur für mich gemacht, ohne dabei an meine Familie zu denken – und ab da wusste ich, dass sich etwas ändern musste. Dass ich in Köln nicht genommen wurde, hat mich deshalb lange beschäftigt. Insgeheim wusste ich, dass diese Millionenstadt mir Glück bringen würde. Immerhin sind die Menschen im Rheinland bekannt für ihre Lebenslust, und ich habe gehofft, das würde sich auf mein Leben übertragen, sobald ich einmal hier wäre.

Als ich an diesem Morgen die humanwissenschaftliche Fakultät betrete, überkommt mich ein heimeliges Gefühl. Auch wenn ich noch niemanden kenne, begegnen mir fast alle Studierenden mit einem freundlichen Lächeln. Hinter mir reden zwei Leute mit kölschem Dialekt über den letzten Abend, der in einer der vielen Kneipen geendet hat. Ich werde wohl Fiona und Elif fragen müssen, ob sie auch mal mit mir in eine Kneipe gehen, denn ich hatte für gemütliche Abende mit Kölsch schon immer etwas übrig. Nicht nur zu Karneval.

Meine erste Vorlesung für heute ist interkulturelle Bildung. Einer der Basiskurse, die ich für den Master in interkultureller Kommunikation und Bildung benötige. Die Professorin ist eine Frau mit blondem Bob, die nicht älter als vierzig sein kann. Sie lächelt uns freundlich zu, während wir unsere Plätze aufsuchen – die meisten noch ein wenig verschlafen, mit Kapuzen auf dem Kopf.

Eine Dreiviertelstunde lang spricht Professorin Wirtz darüber, welche Fähigkeiten und Kenntnisse notwendig sind, um in einer multikulturellen Gesellschaft erfolgreich zu sein. Sie plant mit uns eine Übersicht über die historischen und aktuellen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die sie in den nächsten Stunden mit uns erörtern will: Migrationsbewegungen, Abwanderungsprozesse und Bevölkerungsentwicklung. Ich notiere mir so viel ich kann auf meinem Tablet, auch wenn mir das meiste dieser Einführung nicht neu ist. Einige der Fachbücher, die auf der Literaturliste von Frau Wirtz stehen, habe ich bereits gelesen. Die anderen Bücher werde ich mir nach der Vorlesung in der Bibliothek ausleihen, denn es hat sich für mich bewährt, die Stoffe vorab zu kennen.

Ein paar der Studierenden bleiben nach der Vorlesung noch vor dem Saal stehen und unterhalten sich, ich halte mich aber zurück. Dafür ist später auch noch Zeit, ich folge lieber meinem Plan. In der Bibliothek werde ich schnell fündig und leihe mir drei der Fachbücher aus, danach besuche ich die Mensa. Im Gegensatz zu der frischen Herbstluft draußen ist es dort stickig und warm. Der Duft von fettigen Kartoffelpuffern liegt in der Luft. Nach dem heftigen Training gestern ist mir etwas Leichtes lieber, also entscheide ich mich für ein Gericht mit Reis, Tofu und Gemüse. An einem der Tische ist noch ein Platz frei. Der Student, der gerade über Kopfhörer ein YouTube-Video guckt, nickt mir nur kurz zu. Es ist mir recht. Small Talk kann anstrengend werden, und außerdem sind diese ganzen Veränderungen auf einmal weit aufwühlender, als ich es mir vorgestellt habe. Mein Kopf ist eigentlich noch dabei, den Umzug zu verarbeiten, und kann sich noch nicht auf so viele neue Leute einstellen.

Ich nehme mir also ein Beispiel an meinem Tischnachbarn und setze Kopfhörer ein, um beim Essen Musik zu hören. Wie üblich gehe ich der Reihe nach vor: Erst esse ich das Gemüse, dann den Tofu, dann den Reis. Niemals mische ich mein Essen, es muss immer diese Abfolge sein.

»Mama ruft an«, meldet sich mein Smartphone über die Kopfhörer, als ich gerade den letzten Reis hinunterschlucke.

Starr sehe ich auf das Display und überlege, was ich tun soll. Die Anrufe von Jakob, die gestern reinkamen, habe ich alle weggedrückt, aber bei meiner Mutter bringe ich es nicht übers Herz. Also nehme ich das Gespräch an.

»Maya? Wo bist du? Es ist laut im Hintergrund!«

»In der Uni. Aber ich bin gleich an der frischen Luft, Moment.« Ich räume mein Tablett weg, schlängle mich durch die Leute und suche den Ausgang. »So, okay. Hier bin ich.«

»Tut mir leid, mir hätte klar sein müssen, dass du um die Zeit in der Uni bist. Nur habe ich diese Woche Spätschicht und bin deswegen gleich auf der Arbeit.«

Sie klingt so müde wie eh und je.

»Schon okay, ich war sowieso schon fertig mit dem Mittagessen.«

»Wie gefällt es dir in Köln? Sind alle nett zu dir?«

»Hier sind alle großartig, du musst dir keine Sorgen machen. Meine Mitbewohnerinnen sind richtig super.«

»Du hast dich nicht gemeldet …«

Schuldbewusst beiße ich mir auf die Unterlippe. »Es war alles etwas viel.«

»Verstehe ich doch. Ich habe mir nur Gedanken gemacht. Und Jakob geht es genauso.« Kurze Stille. »Er vermisst dich wirklich sehr.«

Eigentlich müssten ihre Worte so etwas wie ein schlechtes Gewissen oder Sehnsucht auslösen. Wir wissen beide, dass mein Bruder keinen Freundeskreis hat … er ist allein, hat nur uns. Und ich habe mich ja auch wirklich bemüht, ihm zuzuhören, wenn er jemanden zum Reden brauchte. Ich war immer da. Mein ganzes Leben lang, egal, wie scheiße er mich behandelt hat. Und ich wünschte wirklich, ich könnte gerade einfach auf ihn zugehen und ihm das alles verzeihen … Wäre da nicht das leise Zittern in der Stimme meiner Mutter. Sie weiß nicht, dass Jakob mich vermisst, weil er es ihr sagt, sondern weil er es sie fühlen lässt, wenn er die Beherrschung verliert. Er war sechs Jahre alt, als ich geboren wurde, und ich kenne es gar nicht anders. Jakob hat sich nicht unter Kontrolle und bestimmt damit unser Leben. Nur würde meine Mutter nie mit mir darüber reden. An die Wutanfälle meines Bruders werden Panzerschlösser gehängt.

»Du weißt, wieso ich mich momentan nicht bei ihm melden kann«, erwidere ich trotzdem, weil dieser Kreislauf endlich durchbrochen werden muss. Irgendwie.

»Aber er ist dein Bruder. Kannst du ihm nicht wenigstens zurückschreiben? Er hat doch nur uns.«

Tränen steigen in meine Augen. Ich presse die Lippen aufeinander und versuche, die Worte nicht an mich heranzulassen. Nichts von diesen Gefühlen. Jakob hatte so viele Jahre, um sein Verhalten zu ändern, es gab so viele Versuche, ihm mit Therapien zu helfen, und in der Zeit habe ich immer für ihn zurückgesteckt, habe Verständnis gehabt, habe nie etwas gesagt. Aber jetzt bin ich mal an der Reihe. Jetzt darf ich mal auf die Gefühle anderer scheißen.

Es muss einfach sein.

»Er ist mein Bruder, und ich liebe ihn, aber ich brauche noch Abstand, und den werde ich mir auch nicht ausreden lassen.« Es soll ja auch keine Dauerlösung sein, ihn zu ignorieren. Ich brauche nur etwas Zeit. »Sag ihm, dass es mir gut geht und dass er aufhören soll, mich anzurufen. Ich melde mich bei ihm, wenn ich so weit bin.«

»Aber bei mir meldest du dich?« Sie klingt traurig.

Ich schlucke einen Kloß herunter, er schmeckt ein wenig bitter. Auch meine Mutter aus meinem Leben auszuschließen, war nie der Plan. Wären die beiden nur nicht so eng miteinander verknüpft …

»Ich melde mich wieder regelmäßig, versprochen.«

Sie seufzt. »Okay. Viel Erfolg bei deinen Vorlesungen.«

Meine Mutter legt auf. Für einen kurzen Augenblick sehe ich dem Laub zu. Der Wind fegt es von den Bäumen und jagt es über die grüne Wiese des Unigeländes. Erschöpfung und Erleichterung zerren an mir, als hätte ich gerade einen Kampf ausgestanden, und es fühlt sich wie ein Sieg an. Ich bin für mich eingestanden, habe mich behauptet, aber es hat viel mehr Kraft gekostet, als ich es je für möglich gehalten hätte.

Aus meinem Rucksack krame ich meinen Proteinriegel und esse ihn auf dem Weg zu meiner nächsten Vorlesung. Ich bin etwas früh dran, aber auch nicht die Erste. Eine Studentin mit braunem Pixie Cut sitzt vor der Flügeltür auf dem Boden.

Als ich komme, sieht sie von ihrem Kreuzworträtsel auf. Lange Sternen-Ohrringe baumeln von ihren Ohren. Zusammen mit ihrer hellen Jeansjacke, auf die bunte Patches genäht wurden, machen sie den Vintage-Look perfekt.

»Hey«, murmle ich lächelnd.

»Hi. Bist du auch in Sozialpsychologie bei Professor Steinhäuser?«

»Genau. Ich bin Maya.«

»Ella«, stellt sie sich vor.

Ich setze mich neben sie auf den kalten Boden.

»Kennst du Professor Steinhäuser schon?« Soviel ich mitbekommen habe, kennen sich viele schon aus dem vorherigen Bachelorstudium. Ich scheine eine der wenigen zu sein, die von einer anderen Uni hinzugekommen sind.

Sie schürzt die Lippen. »Er ist speziell.«

»Was genau bedeutet das?«

»Sehr belesen, sehr geräuschempfindlich, sehr überkorrekt. Bei ihm solltest du dich nicht verspäten.«

»Oh. Ein Glück, dass ich eigentlich meistens zu früh dran bin.«

»Geht mir genauso.«

Ella lächelt, ehe sie sich wieder ihrem Kreuzworträtsel widmet. Ich hingegen ziehe eines der Fachbücher aus meinem Rucksack und vertiefe mich in das erste Kapitel.

Zwanzig Minuten später haben sich mit uns rund vierzig Studierende vor dem Vorlesungssaal versammelt. Sobald die Tür geöffnet wird, strömen wir hinein. Ich setze mich auf einen Platz in dritter Reihe neben Ella.

Herr Steinhäuser entpuppt sich als das typische Professorenklischee eines Mannes Mitte fünfzig mit Brille und Cordjacke. Er klappt seinen Aktenkoffer auf und holt Unterlagen heraus, dann sieht er abwartend in die Runde. Der Vorlesungssaal gleicht noch einem Bienennest – überall summt und brummt es. Lachen und Getuschel erfüllt den Saal, ein Student mit Locken grölt seinem Kumpel vor der Tür etwas zu, manche Studentinnen tauschen Nummern, checken ihre Smartphones. Professor Steinhäuser sieht in diesem Moment aus wie eine Schildkröte, mit eingezogenem Hals und Lippen, die immer schmaler werden.

Unsicher sehe ich mich um, doch die wenigsten scheinen zu bemerken, dass er darauf wartet, mit der Vorlesung anzufangen. Drei Sekunden vergehen, vier, fünf.

Plötzlich knallt er seinen Schlüsselbund auf den Tisch. Ich bin nicht die Einzige, die bei dem lauten Geräusch zusammenzuckt. Ella neben mir hat auch hörbar Luft eingesogen, ein paar Reihen weiter hat jemand vor Schreck seinen Stift fallen gelassen. Aber sie alle sammeln sich wieder, lachen leise darüber. Ich kann nicht lachen, denn ich bekomme kaum Luft. Die Ader an meinem Hals pocht, pocht, pocht, während ich auf meinem Stuhl versinke und mich klein mache.

Professor Steinhäuser hat zu sprechen begonnen, aber seine Worte dringen nicht zu mir durch. Ich bin zehn Jahre alt, verängstigt in meinem Zimmer. Höre das Splittern von Glas. Ich presse mir die Hände auf die Ohren und halte die Luft an. Ich darf mich nicht rühren, ich darf nichts sagen.Geräusche wie dieses bedeuten immer Gefahr, immer Herzrasen, immer Tränen.

»Ist alles okay?«, flüstert mir Ella zu. Sie mustert mich argwöhnisch. »Du siehst blass aus.«

Ihre Stimme zu hören, ist wohltuend. Sie erinnert mich daran, dass all das, was gerade in meinem Kopf passiert, reine Illusion ist. Nur ein Echo aus der Vergangenheit.

Ich bin in der Uni. Hier passiert mir nichts.

Es war nur ein Schlüssel.

»Alles gut«, wispere ich zurück. Ich traue mich nicht, lauter zu sprechen, weil ich Professor Steinhäuser nicht herausfordern will.

Es war nur ein Schlüssel. Nur ein Schlüssel.

Es kostet mich meine volle Willenskraft, an diesem Mantra festzuhalten und mich wieder ein wenig aufzurichten. Professor Steinhäuser spricht über die Analyse von Intergruppenbeziehungen, und irgendwie schaffe ich es mitzuschreiben, auch wenn meine Finger noch immer zittern. In meinem Kopf wiederhole ich mein Mantra, immer und immer wieder, und versuche, Spaß an der Vorlesung zu haben. Auf Sozialpsychologie habe ich mich am meisten gefreut, es sollte mein Lieblingskurs werden. Aber ich bin einfach nur froh, als die Vorlesung vorbei ist und ich den Professor und den Schlüsselvorfall hinter mir lassen kann.

»Hab doch gesagt, dass er speziell ist«, flüstert Ella mir zu. Wir treten zu zweit auf den Flur.

Erst als einige Schritte zwischen uns und dem Vorlesungssaal liegen, traue ich mich wieder, richtig zu atmen.

»Dann ist er immer so übellaunig?«

»Nur wenn er ignoriert wird.«

Mein Herz sackt mir in die Hose. Dahin ist die Aussicht auf einen neuen Lieblingskurs. Gerade würde ich ihn am liebsten hinschmeißen … aber das ist keine Option. Irgendwie werde ich mich wohl mit Herrn Steinhäusers Impulsivität arrangieren müssen.

Wenn ich nur wüsste, wie.

»Hoffen wir mal, dass ihm das nicht zu oft passiert.«

Das Lächeln, das ich Ella zuwerfe, fühlt sich an wie eine Maskerade. Wir tauschen noch Nummern, dann verabschieden wir uns voneinander, und ich bin erleichtert, die Uni für heute abhaken zu können. Wie kann es sein, dass schon ein kleiner Schlüsselbund mich so aus dem Konzept bringt? Meinen Start hier in Köln hatte ich mir anders vorgestellt.

In der WG angekommen, ziehe ich mir sofort meine Sportkleidung an, drehe die Musik auf meinen EarPods auf und gehe joggen. Es ist zwei Monate her, dass ich das letzte Mal laufen war, aber schon bei den ersten Schritten spüre ich die Leichtigkeit, die meinen Kopf flutet. Nichts schüttelt unliebsame Gedanken besser ab als laute Technobeats und Bewegung. Mein Körper schreit geradezu danach, während ich laufe und laufe und alles hinter mir lasse.

Kapitel 3

Linus

Ich bin nicht für Großraumbüros gemacht. Meine Schwester Sophia sagt immer, dass ich mir das nur einbilde, weil sie mich dafür zu oft in ihrem Café, der Wohlfühlstube, arbeiten sieht und das meiner Abneigung gegen Open-Space-Plätze widersprechen würde. Doch in Wahrheit kann man die Atmosphäre der beiden Arbeitsplätze kein bisschen vergleichen. In Großraumbüros wie bei Menden Media, der Werbeagentur, bei der ich arbeite, geht es hektisch zu. Ständig klingeln Telefone, Leute laufen umher, es ist entweder zu warm oder zu kalt, und während der Grippewelle muss man Sorge haben, nach einem Gespräch mit zehn Personen in einem der stickigen Meetingräume direkt flachzuliegen. In Cafés hingegen herrscht zwar ein emsiges, aber auch ein gemütliches Treiben. Dort kann ich mich entspannen und gleichzeitig konzentriert arbeiten – was selbst in meiner Wohnung nicht immer gegeben ist, weil mir dort ständig die ganze Hausarbeit auffällt, die dringend mal getan werden müsste.

Auch heute ist im Büro wieder die Hölle los. Meine Tischnachbarin Mandy hat Probleme mit ihrem Computer, und so sitzt einer der IT-Leute fluchend neben mir. Während er versucht, das MacBook wieder zum Laufen zu bekommen, gestalte ich ein Mockup für die Website einer Anwaltskanzlei. Sie wollen eine komplette Umgestaltung ihres Internetauftritts, heute um fünfzehn Uhr muss ich ihnen erste Entwürfe schicken. Gedanklich bin ich jedoch schon bei einem Auftrag für meine Nebentätigkeit. In Köln eröffnet ein neuer Skateshop, und ich soll das Logo dafür designen.

»Hey, Linus.« Mein Arbeitskollege und Kumpel Toni kommt zu mir. Seine braunen Haare blitzen unter seiner Lieblingscap hervor, die er gerade neu zurechtrückt. Das Emblem der NFL sitzt nun wieder mittig. »Wir wollen heute nach der Arbeit was trinken gehen. Falls du auch Lust hast?«

»Weiß noch nicht.«

Nach meinem Feierabend wollte ich mir heute gemütlich etwas kochen, dabei schon mal erste Ideen für das Design aufschreiben und ein bisschen an meinem Motorrad schrauben. Vor zwei Wochen habe ich mir einen Nagel in meinen Vorderreifen gefahren, und der Ersatzreifen ist erst gestern angekommen.

»Ach komm, jetzt sag nicht wieder, dass du früh rausmusst, obwohl morgen dein freier Tag ist.«

»Frei von der Agentur … arbeiten muss ich trotzdem«, erinnere ich ihn.

Lässig lehnt er sich gegen meinen Schreibtisch, auf seinen schmalen Lippen sein gewohnt schelmisches Grinsen. »Schon klar, aber du bist doch dein eigener Chef und kannst dir die Arbeitszeit selbst einteilen.«

»Stimmt, aber morgens bin ich am kreativsten. Ich will früh aufstehen und direkt loslegen, was ich wohl kaum schaffe, wenn ich mit euch weggehe. Dann trinke ich nur wieder viel zu viel Kölsch.«

Toni hebt beschwichtigend die Hände. »Das ist allein deine Verantwortung, Mann. Du kannst auch einfach bei Wasser bleiben. Tu, was dich glücklich macht.«

Was mich eigentlich glücklich macht, ist die Vorstellung, morgen direkt zur Ladenöffnung im Café meiner Schwester zu sitzen und zu arbeiten. Wenn ich mich nächsten Sommer komplett selbstständig machen will, darf ich mich nicht ablenken lassen, sondern muss Disziplin zeigen. Vor allem, da Toni mindestens einmal pro Woche zu einer geselligen Runde einlädt.

Offenbar hat Toni meine Gedanken gelesen, denn er fasst sich theatralisch ans Herz. »Dahin sind die Tage, als du noch mit mir um die Häuser gezogen bist.«

Ich schmunzle. »Es ist nicht mal sechs Tage her, seit wir zusammen feiern waren. Vergiss das nicht.«

»Und es schreit nach einer zeitnahen Wiederholung.«

»Aber nicht heute. Sorry.«

»Na schön.« Toni nimmt sich eins von den Bonbons, die bei meiner Tischnachbarin ausliegen. »Melde dich einfach spontan, wenn es doch noch passt.«

Er verschwindet wieder an seinen Platz am anderen Ende des Büros.

Pünktlich um sechzehn Uhr verlasse ich die Agentur und fahre nach Hause. Mit der Straßenbahn sind es zwanzig Minuten bis zu meiner Wohnung – wenn die KVB sich mal dazu entscheidet, pünktlich zu sein, und meine Verbindung nicht wieder mal ausfällt. An den meisten Tagen braucht man ein festes Nervenkostüm. Heute klappt alles reibungslos.

Meine Vermieterin steht an ihrem Küchenfenster und winkt, als sie mich kommen sieht. Rosi ist achtzig Jahre alt und wohnt seit dem Tod ihres Mannes allein in ihrem Haus. Bis vor knapp zwei Jahren lebte ihre Tochter Julia noch nebenan in einer Anliegerwohnung, bis sie sich dazu entschieden hat, zu ihrem Partner zu ziehen. Julia und meine Mutter kennen sich schon ewig, und so kam ich als neuer Mieter der Wohnung ins Spiel. Seit siebzehn Monaten lebe ich nun für eine erschwingliche Miete auf dreißig Quadratmetern, darf die Garage für mein Motorrad nutzen und habe dafür ein Auge auf Rosi.

»Linus, mein Junge. Fertig mit der Arbeit?«

»Für heute schon. Bin auch ziemlich erledigt.«

»Da habe ich was für dich. Frischer Marmorkuchen.« Eine Frischhaltefolie raschelt. »Ich habe dir schon einen Teller fertig gemacht. Kuchen geht doch immer, nicht?«

»Bei deinen Backkünsten sag ich niemals Nein.«

Wäre meine Schwester nicht ebenso talentiert im Backen, hätte ich ihr wohl schon längst vorgeschlagen, Rosis Kuchen in ihrem Café zu verkaufen.

Sie gibt mir einen Teller heraus. Das Stück Kuchen darauf ist so dick, dass man problemlos zwei oder drei Stücke daraus hätte schneiden können, aber ich beschwere mich nicht.

»Sag mir Bescheid, wie es geschmeckt hat. Und hol dir gerne Nachschlag.«

»Du verwöhnst mich viel zu sehr, Rosi.«

»Ach, du kannst das vertragen. Mein Hermann hat immer gesagt, dass ein Stückchen Kuchen am Tag einen jung hält.«

»In deinem Fall muss er recht gehabt haben.«

Ich kenne zumindest keine andere Achtzigjährige mit einem so jugendlichen Lächeln.

»Du bist mir ja einer.« Sie lacht herzlich. »Aber jetzt lass dir den Kuchen schmecken und sieh zu, dass du die Füße hochlegst.«

»Du aber auch.«

Ein Kiesweg führt zu meiner Anliegerwohnung. Der Anbau ist erst fünfzehn Jahre alt und erinnert an einen kleinen Bungalow, nur für mich allein.

Drinnen erwartet mich himmlische Ruhe, die ich nach diesem Tag zwischen IT-Problemen und vollem Büro dringend brauche. Erst vor ein paar Wochen habe ich die Wand hinter meinem Bett mit Holzpaneelen verhängt, die in Kombination mit meinen rund vierzig Pflanzen für Gemütlichkeit sorgen.

Den Kuchen stelle ich vorerst auf meinen Küchentisch, um ihn später zum Nachtisch zu essen. Dann mache ich mir Musik an und suche alle Zutaten zusammen, um mir ein schnelles Curry zu zaubern. Mit einer guten Paste und Kokosmilch gelingt das immer. Eines der wenigen Gerichte, für die ich mir wirklich Zeit nehme, im kreativen Flow setze ich viel zu oft auf Fertigprodukte.

Während der Reis kocht und das Kichererbsen-Spinat-Curry auf der Herdplatte vor sich hinblubbert, gehe ich die Unterlagen von Skate4Life durch. Wenn ich morgen erste Skizzen vom Logo anfertigen will, brauche ich schon mal ein paar Ideen, mit denen ich herumexperimentieren kann.

Mein Smartphone vibriert. Toni schickt mir die Adresse vom Feierabendumtrunk, aber gerade ist meine Ruhe viel zu friedlich, um noch mal das Haus zu verlassen. Ich brauche nur mein Curry, Rosis Kuchen, mein Brainstorming-Dokument und eine Stunde, um mein Motorrad zu reparieren. Genau das Richtige, um meinen Akku wieder aufzuladen und morgen Vollgas geben zu können.

2

Pünktlich um zehn Uhr bin ich am Café meiner Schwester. Die Wohlfühlstube hat erst seit drei Minuten geöffnet, dementsprechend empfangen mich noch leere Tische und Stühle. Und ein Scheppern aus der Küche.

»Scheiße! Verfluchter Mist!«

»Ähm … Schwesterherz?« Hinter mir fällt die Tür zu. »Ist alles in Ordnung?«

Ich trete hinter die Theke und linse durch den Spalt der angelehnten Tür, die zur Küche führt. Sophia steht an der Arbeitsfläche neben dem Ofen, den Blick auf ein verkohltes Etwas gerichtet, das der Form nach wohl ein Kuchen werden sollte.

»Gibt’s Probleme?«

Sophia schnellt herum. Vor lauter Hektik sitzt ihre Brille schief auf der Nase, und ihre Wangen sind knallrot. »Linus! Gott! Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Dein Fluchen hat mich wohl übertönt.«

»Sag mir nicht, dass da draußen schon Kundschaft ist.«

»Keine Sorge, ich bin der Erste.«

Sophia zieht eine Grimasse und rückt die Brille zurecht. Wie immer, wenn sie in der Küche arbeitet, sind ihre aschblonden Haare zu einem Dutt gebunden. Hätte sie nicht so warme braune Augen und hätte sie im Café nicht immer eine Schürze mit Blumenmuster an, könnte man sie glatt für eine Oberlehrerin halten.

Ich öffne die Tür weiter und schlüpfe hindurch. Beißender Rauch dringt mir in die Nase, obwohl Sophia längst das kleine Fenster geöffnet hat.

»Was sollte das werden?«, frage ich mit Blick auf den Klumpen Kohle.

»Ein Schokoladenkuchen … sieht man doch.«

Meine Schwester wischt sich fahrig über ihr Gesicht.

»Heute geht aber auch alles schief! Erst verschlafe ich, dann vergesse ich, beim Ofen den Timer einzustellen, und jetzt habe ich nicht mal genügend Zutaten, um alles neu zu machen. Dabei habe ich heute sogar eine Reservierung für sieben Leute, und ich habe ihnen frischen Schokoladenkuchen versprochen.«

»Ich würde dir ja anbieten, für dich die Zutaten zu besorgen, aber du bist immer so pingelig.«

Sophia sieht auf die Uhr. »Und was ist, wenn ich kurz losfahre und du in der Zeit die Stellung hältst?«

Eigentlich wollte ich mich heute intensiv mit meinem neuen Auftrag beschäftigen, aber es ist lange her, dass ich meine Schwester mal so gestresst erlebt habe.

»Als könnte ich dir das abschlagen!«

Sophia gibt mir einen stürmischen Kuss auf die Wange. »Du bist der beste kleine Bruder, den es gibt.«

»Ich bin ja auch dein einziger Bruder.«

»Es dauert auch sicher nicht lange. Eine Stunde – vielleicht zwei, wenn ich dann auch noch Zeit bekomme, um den Kuchen zu backen?«

Sie setzt einen Dackelblick auf.

»Dann zisch schon los, bevor mir die Leute die Bude einrennen und ich dir dein Geschäft vermiese. Du weißt ja, Kellnern ist nicht so mein Ding.«

»Habe ich nicht vergessen. Wie viele Tassen mussten noch mal dran glauben, als du damals für Sabrina eingesprungen bist? Fünf? Und dann hast du auch noch Wasser über mich gegossen.«

»Lieber über dich als über die Kundschaft. Aber das Aufzählen meiner Verfehlungen motiviert mich nicht gerade, dir den Arsch zu retten.«

»Sorry, bin ja schon weg.«

Gemeinsam betreten wir wieder den vorderen Bereich des Cafés, der zu meinem Glück noch immer leer ist.

Sophia schnappt sich ihre Handtasche und den Autoschlüssel.

»Scheiße«, murmelt sie plötzlich.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

Sie dreht sich zu mir um. Ein Blick in ihr ertapptes Gesicht reicht, um Hiobsbotschaften zu erwarten.

»Eventuell habe ich da noch eine Kleinigkeit vergessen.«

»Wenn du das so sagst, kann es nur schlimm sein.«

»Gleich kommt meine neue Mitarbeiterin zu ihrer ersten Schicht.«

»Nicht dein Ernst. Wann?«

»In … zwanzig Minuten?«, piepst Sophia.

»Was? Bis dahin bist du doch noch gar nicht zurück.«

Dahin ist mein heimlicher Plan, mich einfach mit meinem Tablet an einen der Tische zu setzen und darauf zu bauen, dass in der nächsten Stunde niemand kommt.

»Deswegen musst du sie in Empfang nehmen und ihr alles zeigen, okay? Bitte, Linus. Du weißt, wie sehr ich auf Hilfe angewiesen bin. Ich habe Maya schon kennengelernt, sie ist toll. Sie hat über drei Jahre Erfahrung in der Gastronomie, sie wird dir vermutlich sogar Arbeit abnehmen. Sie weiß nur noch nicht, wo alles ist.«

»Also schön«, antworte ich seufzend. »Aber du schuldest mir was.«

»Den ganzen Monat geht der Kaffee aufs Haus. Und Torten und Kuchen, so viel du willst.«

Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. »Du kennst meinen Kaffeekonsum, wenn ich in einem neuen Auftrag stecke.«

»Ganz egal. Du rettest mich ja auch gerade.«

»Okay, dann los. Rette du deinen Kuchen.«

»Mach ich.« Sophia eilt zur Tür. »Maya Nielsen heißt die neue Mitarbeiterin«, ruft sie mir gerade noch über die Schulter zu, ehe sie eilig das Café verlässt.

Stille umgibt mich. Eigentlich ist sie sehr wohltuend, würde sich nicht gerade ein Klumpen Nervosität in meinem Magen breitmachen. Auch wenn ich Sophia in den eineinhalb Jahren, die sie die Wohlfühlstube besitzt, zwei oder drei Mal ausgeholfen habe, bin ich nicht bewandert darin, Angestellte einzuarbeiten. Hinzu kommt noch die Deadline von Skate4Life. Der Skateshop möchte bis Montag erste Entwürfe seines Logos sehen, also muss ich endlich loslegen – vorzugsweise an meinem Lieblingstisch am Fenster, mit einem schwarzen Kaffee vor meiner Nase.

Solange das Café noch leer und diese Maya noch nicht da ist, kann ich immerhin schon mal ein bisschen produktiv sein. Zwanzig Minuten habe ich noch. Wenn ich inspiriert bin, reichen manchmal schon fünf Minuten für eine erste grobe Skizze. Ich öffne mein Brainstorming-Dokument, auf dem ich in einer Mindmap mehrere Ideen aufgeschrieben und favorisiert habe. Logodesign ist leicht, sofern die Auftraggebenden genau wissen, was sie wollen … nur gehören Skate4Life nicht dazu. Sie wollen etwas Junges, das den Lifestyle widerspiegelt, und am liebsten wollen sie es bunt haben. Mehr Briefing gab es nicht.

Am Anfang präsentiere ich gerne drei sehr unterschiedliche Logos – konventionell, ein wenig verspielter und dann extravagant. Meine erste Idee ist also, den Schriftzug in einem klassischen Skateboard anzuordnen, doch ich komme nicht dazu, irgendeinen meiner Einfälle zu skizzieren. Die Tür des Cafés öffnet sich. Ein Mädchen mit brustlangen goldblonden Haaren kommt herein. Ihr graziler Gang und ihre langen Beine erinnern mich an eine Balletttänzerin. Ein Bild, das durch ihren cremefarbenen Wickelpullover unterstrichen wird. Nur dass sie dazu kein Tutu, sondern eine hellblaue Mom-Jeans und lässige Sneaker trägt.

Ihre Hände spielen mit dem Riemen ihrer Tasche, während sie sich umsieht. Sie registriert mich, hält mich aber offenbar für einen Gast, denn sie lächelt nur ein wenig nervös und geht dann einen Schritt auf die Theke zu, anstatt sich einen Platz zu suchen. Vermutlich ist sie also nicht für Kaffee und Kuchen hier.

»Bist du Maya?«

Laut Uhr habe ich eigentlich noch über zehn Minuten, aber wäre das mein erster Tag hier, würde ich auch eher zu früh als zu spät kommen.

Sie sieht zu mir, ihre vollen Lippen öffnen sich überrascht. Kein Wunder, sie dachte sicher, ich wäre ein normaler Gast.

»Ja, ich sollte mich bei Sophia melden.«

»Sophia ist leider etwas dazwischengekommen.«

Ich stehe auf und strecke ihr meine Hand entgegen, auch wenn mir die Geste viel zu förmlich vorkommt. Sie kann nicht älter sein als ich.

»Ich bin Linus, Sophias Bruder. Sie hat mich gebeten, eine Weile für sie einzuspringen und dir alles zu zeigen.«

Ihr Händedruck ist sanft, quasi kaum existent. Erneut nestelt sie an ihrem Taschenriemen herum. Sie schiebt ihn sich die Schulter hinauf, obwohl er nicht verrutscht aussieht.

»Sophia hat mir schon von dir vorgeschwärmt, du wirst es also leicht haben, sie von dir zu überzeugen. Sie sagte, dass du drei Jahre gekellnert hast?«

Maya nickt. »Zwei Jahre in einer Pizzeria, ein Jahr in einem Café wie diesem hier. Das war aber bei Weitem nicht so gemütlich.«

»Meiner Schwester ist es wichtig, dass sich das Café nach einem Zuhause anfühlt.«

Maya mustert die pfirsichfarbene Wand mit den olivfarbenen Akzenten, die bunten Polstermöbel und die vielen Pflanzen zwischen den Tischen, die für eine gewisse Privatsphäre sorgen. Dann bleibt ihr Blick an den LED-Kerzengläsern hängen, die für ein gemütliches Licht sorgen.

»Das ist ihr gelungen.«

»Nun.« Ich verstaue mein Tablet schweren Herzens wieder in meinem Rucksack. »Wie du siehst, ist noch nicht viel los, also kann ich dich erst mal hinten herumführen. Da kannst du dann auch deine Sachen ablegen.«

Maya folgt mir hinter den Tresen zu einem Schrank, in den sie ihre Jeansjacke und ihre Tasche legt. Dann zeige ich ihr die Kaffeemaschine, die Kasse und die Kuchenvitrine und gehe mit ihr in die Küche, aus der sich der Rauch inzwischen verzogen hat.

»Hier backt Sophia jeden Tag Kuchen und Törtchen.«

Maya kräuselt die Nase. »Ist hier etwas angebrannt?«

»Deshalb springe ich für Sophia ein. Sie muss neue Zutaten holen und sich dann gleich noch mal in die Küche stellen. Ihr ist es wichtig, dass die Backwaren immer frisch zubereitet werden. Sollte am Abend etwas von dem Kuchen übrig bleiben, nimmt sie die Reste mit und verteilt sie in einem Altenheim hier um die Ecke. Weggeschmissen wird also nichts.«

Ihre blaugrauen Augen strahlen plötzlich, als hätte Sophias Nachhaltigkeit und soziale Ader einen kleinen Schalter bei ihr umgelegt. Sie nickt anerkennend und scheint sich gleich ein wenig wohler zu fühlen.

»Finde ich richtig gut.«

Maya hat ein wirklich süßes Lächeln, auch wenn es nicht lange anhält. Sie sieht sich schon wieder um, ganz in ihre neue Arbeitsstelle versunken.